New York

Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur

Inhalt:
Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. (Klappentext)

Rezension:

In letzter Minute hat Heinrich Mann es geschafft, die Grenze ohne Aufsehen zu überqueren, Teil des kulturellen Exodus’, der das Deutsche Reich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, erfasste. Auch andere, die sich politisch mit Werk und Worten gegen die neuen Machthaber positionierten, mussten fliehen. Viele Intellektuelle und Schriftsteller fanden sich darauf hin in Frankreich wieder.

Doch auch hier holt der Krieg jene, die sich in Sicherheit glaubten, ein. 1940 ist Frankreich besiegt, zerstückelt. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, Leib und Leben zu riskieren, sich außer Reichweite der Häscher zu bringen. In der unbesetzten Zone wird die Stadt Marseille zum Schicksalsort, an dem sich alles entscheidet.

Nach seinem Werk “Februar 33 – Der Winter der Literatur” nimmt sich der Autor Uwe Wittstock nun erneut einen kulturellen Wendepunkt an, der der Erzählung des Exodus des intellektuellen Lebens nach der Machtergreifung Hitlers in nichts nachsteht. Spannend, erzählt er die Geschichte derer, die sich versuchen, in Sicherheit vor den Zugriff der Nazis zu bringen, und derer, die dies ermöglichen. Biografien werden verwoben, wie Wege, die sich kreuzen. Ausgangspunkte sind ein Schriftsteller-Kongress im Exil, die Beobachtung ausbrechender Gewalt, Tatendrang und unermüdliche Hilfsbereitschaft.

Im Mittelpunkt der Journalist Varian Fry, der es mit seinen Mitstreitern schafft, in aller Kürze ein kleines aber effektives Netzwerk aufzubauen, in Frankreich später selbst die Fäden in den Händen halten muss, welche nicht nur durch das dortige Vichy-Regime unter Druck geraten. Akribisch folgen wir seinen Spuren und derer, denen er die Flucht verhilft.

Alma Mahler Werfel und Franz Werfel, Heinrich Mann, Anna Seghers und viele andere werden so gerettet. Fry und seine Unterstützer werden für einen entscheidenden Moment der Geschichte zu besonderen Menschen in einer besonderen Zeit.

Wie bereits in seinem vorangegangenen Werk werden die dicht gedrängten Ereignisse in Tagebuchform aufgefächert, welche das Drängen, die Eile und nicht selten die Ungewissheiten der Akteure herausstellt, deren Schicksale sich von einem auf dem anderen Tage ändern konnte.

Wieder sind es ausgewählte Personen, deren Wege hier beschrieben werden, stellvertretend für viele, die zwangsweise namenlos bleiben müssen, da wir zu wenig wissen, um von ihnen zu erzählen. Gleich zu Beginn wird dies vom Autoren selbst herausgestellt, dem der Spagat gelungen ist, ein zweites Mal ein literarisches, zudem in unseren Zeiten hoch nachdenklich machendes, Sachbuch zu schaffen.

Anhand von Tagebuchaufzeichnungen, nach dem Krieg niedergeschriebenen Erinnerungen oder Briefen, auf denen sich eine puzzleartige Recherche, die auch nach Marseille selbst führte, stützt, ist damit ein kulturelles Portrait entstanden. Kurzbiografien am Ende des Buches geben über das weitere Schicksal Aufschluss. Aufgelockert wird die Lektüre durch Kartenmaterial in den Innenseiten und zahlreichen Abbildungen, welche im Zusammenspiel diese Tage lebendig werden lassen.

Auch hier hat man, wie in “Februar 33” erneut das Gefühl, allen Personen so nahe zu sein, als würde man daneben stehen, gegen alle Widrigkeiten Fluchten zu organisieren oder zu bestreiten. Diese Chronologie geht unter die Haut, mit einem sogar noch etwas flüssiger wirkenden Schreibstil als beim Vorgänger. Ein Buch über Menschlichkeit und Mut, über unwägbare Faktoren und Sekunden, die über Gelingen oder Scheitern entschieden.

Eine unbedingte Leseempfehlung.

Autor:

Uwe Wittstock wurde 1955 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Zunächst arbeitete er als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 der Literaturredaktion angehörte, danach wirkte er als Lektor beim S. Fischer Verlag.

Zur gleichen Zeit war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. Im Jahr 2000 wurde er stellvertretender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, zwei Jahre später Kulturkorrespondent in Frankfurt/Main. Bis 2017 arbeitete er als Literaturchef des Magazins Focus. Zu seinen Werken zählen mehrere Sachbücher. 1989 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Journalismus.

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Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord

Inhalt:

Ein wohlsituierter New Yorker Geschäftsmann stürzt urplötzlich in eine mentale Krise. Um zu gesunden, so spürt er, muss er seinen von grauem erfolg geprägten Alltag hinter sich lassen, und kurzerhand tritt er eine Schiffsreise an. Doch nachdem der Aufenthalt an Bord des Frachters Arabella ihm zunächst tatsächlich Erleichterung verschafft, reicht ein einziger falscher Schritt, um all seine Gewissheiten infrage zu stellen … (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Es wird sich schon alles im Guten auflösen, denkt sich der Protagonist zunächst, der noch nicht weiß, dass mit seinem eben gemachten Schritt all seine Gewissheiten in ihren Grundfesten erschüttert werden. Henry Preston Standish, gerade noch auf dem Boden des Frachters Arabella stehend, ist ausgerutscht, über Bord gegangen und muss nun mit ansehen, wie sich das Schiff langsam immer weiter von ihm entfernt.

Sie werden schon den fehlenden Passagier bemerken und zu seiner Rettung umkehren, denkt er sich, zu Beginn noch optimistisch gestimmt. In der Weite des Ozeans beginnen bald nicht nur seine Gedanken zu kreisen.

So beginnt der erstmals 1937 veröffentlichte Roman des amerikanischen Journalisten Herbert Clyde Lewis, dem Zeit seines Lebens eine gewisse Unruhe umtrieb und der seinen Protagonisten eben dieser zumindest gedanklich aussetzt, damit eine Dynamik sich entfalten lässt, die einem schaurigen Kammerspiel gleicht.

Mit kompakten Formulierungen hat der Autor Zeile für Zeile ein Szenario aufgebaut, welches mit wenigen Figuren und auf beschränkten Raum auskommt, dennoch über die gesamte Handlungslänge eine Spannung hält, die zwischen grausamer Faszination und fast angenehmen Nervenkitzel schwankt, ist doch das beschriebene Szenario einer der Alpträume schlechthin.

Getrieben wird die handlung hauptsächlich durch die Gedanken der Protagonisten. Wechseleitig erfahren wir die von Standish selbst, der ein Wechselbad seiner Gefühle durchleben und sich dabei über Wasser halten muss, dann die der Passagiere und Besatzung des Frachters, die die Abwesenheit von einem der ihren zunächst nicht bemerken.

Das alles wird sehr punktuell erzählt. Kein überflüssiges Wort zu viel. Man hofft und bangt mit dem Hauptprotagonisten. Der Kontrast zu den Nebenfiguren steigert sich. Die Handlung indes ist damit schnell erzählt, das Ende lässt sich dennoch nicht erahnen. Es sind die Gedankengänge der Figuren, die die Handlung am Leben und die Lesenden bei der Stange halten werden.

Nebenbei hat Lewis es geschafft, auf solch engen Raum auch eine gehörige Portion amerikanischer Gesellschaftskritik einzubauen, verkörpert durch die Gegensätzlichkeit der Protagonisten.

Da der vom Erfolg verwöhnte Geschäftsmann, der plötzlich den Boden unter seinen Füßen verliert, die Weltwirtschaftskrise ist so lang nicht her, der New Deal zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans noch nicht ganz durch, auf den Frachter selbst noch ein anderer Passagier, Farmer, der mit etwas Handfesten im Alltag hantiert, dennoch eine gewisse Faszination für Standish aufbringen kann, der die Zukunft des amerikanischen Wirtschaftssystems darstellt. Solche Anspielungen gibt es viele in diesem Roman, in allerhand Nebensätzen, zwischen den Zeilen. Manchmal nur ein Wort, welches da aufblitzt.

Immer dramatischer zeigt sich die Situation für den ins Wasser gefallenen. Der im Zeitraum von wenigen Stunden spielende Roman nimmt einem mit. Der Autor schafft es, einem selbst die Panikattacke, den versehentlichen Schluck salzwasser etwa spüren zu lassen, der den durst des Protagonisten nur noch vergrößern wird.

Während die Figuren sich immer mehr voneinander entfernen, behält der Autor alles im Blick. Aus Mangel an Alternativen ist er es, der die Erzählerrolle einnimmt, damit Distanz aufbaut und doch so die Dramatik seiner Hauptfigur noch mehr herausstellt. Erzählerische Lücken, unlogische Brüche enfallen. Ob die Geschichte die erhoffte Wendung nimmt, bleibt bis zum Ende offen. Es bleibt spannend bis zuletzt.

Der Hauptprotagonist ist gezwungen, Bilanz zu ziehen, auch die sich in Sicherheit befindenden Figuren werden mit einer gewissen Unausweichlichkeit konfrontiert. Man mag sich dieses Szenario nicht in der Realität vorstellen, wohl wissend, dass es auch heute immer mal wieder vorkommt.

Lewis gelingt es, die Bilder vor dem inneren Auge aufzubauen, die zunächst ruhige Wasseroberfläche, das Nass, welches sich lauwarm anfühlt, die Sonne, deren Farben Standish in einer nie wahrgenommenen Intensität zu sehen bekommt. Welche Gedanken machen wir uns am Ende unserer Tage? Welche Bilanz ziehen wir? Wer denkt dann noch an uns und vor allem, wie? Fast philosophisch ist der Schriftsteller den Fragen mit diesem sehr punktuell gehaltenen Text begegnet, den man das Gefühl hat, langsam zu lesen und doch durch die Handlung rennt. Es geht ja schließlich ums Leben. Ums Überleben.

Der Roman bleibt im Gedächtnis, selbst wenn man nur die Erzählung selbst und nicht zwischen den Zeilen liest, die Anspielungen, auch die auf den Autoren, der seine Ruhelosigkeit in den Protganisten mit hinein geschrieben hat, gleichzeitig aber auch diesen zu sich selbst in Kontrast setzte, einmal unter die Wasseroberfläche sinken lässt. In diesem sehr reduzierten Stil erzielt der Autor dennoch eine enorme Wirkung. Vielleicht ist es daher der richtige Zeitpunkt, dass jetzt dieser Roman auch im deutschsprachigen Raum zugänglich ist.

Autor:

Herbert Clyde Lewis wurde 1909 in New York City, New York, geboren und war ein amerikanischer Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor. Zunächst arbeitete er als Reporter, und Redakteur bei verschiedenenen Zeitungen, zudem bei einer Werbeagentur. 1937 veröffentlichte er seinen ersten Roman, dem weitere folgten. Zwei Jahre später begann er als Drehbuchautor für Hollywood zu arbeiten, später für das Time Magazin. Lewis starb 1950 an Herzinfarkt.

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Donald Antrim: An einem Freitag im April

Inhalt:

Ein schonungsloser ehrlicher Bericht über Todesnähe als Lebensbegleiter: Donald Antrim beleuchtet Tragödie und Stigma des Suizids und bietet Trost, der Leben retten kann. (Klappentext)

Rezension:

Hinterher weiß Donald Antrim nicht einmal mehr, was ihn diesmal angetrieben hat, die Feuertreppe seines Hauses hochzusteigen. Prüfend tritt er ans Geländer, um in den Abgrund zu schauen. Er hält sich fest, um loszulassen. zumindest mit einer Hand, die dann doch wieder den sicheren Halt sucht. Wie wird es sein, das Sterben? Wird es schmerzhaft werden? Spürt man nichts? Wird Antrim es bereuen, in den Sekunden zwischen Leben und Tod, diese Entscheidung getroffen zu haben? An diesem Tage wird er es nicht erfahren. Aus irgendeinem Grund entscheidet er sich um, geht zurück in seine Wohnung. Ein langer, steiniger Weg über Klinikaufenthalte und Therapien folgt diesem Ereignis, ebenfalls nur ein trauriger Punkt in seinem Leben, zudem der Suizid schon lange gehört.

Wir sagen auch, dass wir das wollen, aber stimmt das auch?

Donald Antrim: An einem Freitag im April

In einer Mischung aus Essay und bericht beschäftigt sich der amerikanische Autor mit Suizid als Prozess. Als solchem sieht er das, was auch Freitod, Selbstmord oder Selbsttötung genannt wird und oft nur den eigentlichen Schlusspunkt meint. Doch ist es das oder vielmehr eine Krankheit, die die Betroffenen zu einer an sich selbst grausamen oder erlösenden, auch das je nach Blinkwinkel, Handlung bringt. Er stellt dar, wie es ist, mit diesem Gefühl zu leben, sich ein Ende zu wünschen oder darauf meinen hinwirken zu müssen. Doch durchzieht den Bericht auch Hoffnung.

Wenn man beispielsweise sagt, Suizidanten seien von Natur aus impulsive Menschen, unterschlägt man die Stunden, Monate und Jahre der Angst und des körperlichen Niedergangs, der Furcht und scheinbaren Resignation, mit denen wir in den Tod gehen. Oder vielleicht halten wir den Katatoniker für antriebslos und verstehen nicht die Qual, das Gefühl, dass der Körper irgendwie vibriert, die Paralyse. Der Mann auf der Brücke hockt vielleicht stundenlang am Geländer, starrt nach unten und hat zugleich Angst davor, hinzusehenn. Die Frau in den Wellen plantscht nicht ins Meer hinaus, sondern geht eher langsam, bis sie untertaucht.

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Klar wägt Antrim ab. Es ist ein ruhiger Text, immer wieder sich selbst prüfend. Wenn ein steiniger Weg ins Unausweichliche führt, kann man auch abbiegen und den Teufelskreis durchbrechen? Der Autor hat das versucht, wollte sich helfen lassen. Dieser Weg ist noch mehr von klippen und spalten durchzogen, Umwegen und Rückschlägen. Er berichtet von seinem Weg, ohne außer Acht zu lassen, dass dieser ihm geholfen hat und für andere etwas anderes gelten mag.

Die Paralyse des Suizids ist keine Apathie oder Stille. Wir fühlen uns eingekapselt, irgendwie eingeengt. Unsere Körper könnten zerbrechen, oder etwas außerhalb von uns wird zerbrechen. Was wird zerbrechen?

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Donald Antrim bricht das Schweigen über ein Tabuthema, welches viel öfter zur Sprache kommen sollte, um Zugang zu den Betroffenen zu finden, vielleicht einen Weg, sie aus diesem Teufelskreis herauszunehmen und in Sicherheit zu halten. In einer Mischung aus biografischen Rückblicken, Verarbeitung und nüchternen Bericht ist der Text keine leichte Kost.

Förmlich spürt man die bleierne Last, die dem Autoren die Luft zum Atmen genommen hat. Man muss dann beim Lesen innehalten, blättert zurück, liest einzelne Abschnitte nochmals und fragt sich unweigerlich, wie man selbst in dieser Situation gehandelt hätte. Wäre man stark genug für eine Therapie? Was passiert bei einem Rückschlag? Würde man sich helfen lassen (wollen)? Wann wäre der Punkt überschritten, an dem es kein Zurück mehr gäbe? Glücklich, wer sich damit noch nie beschäftigen musste. Für die an Suizid leidenden (bleiben wir bei der Betrachtung als Krankheit statt Schlusspunkt) ein tägliches Abwägen. Wann gewinnt was die Oberhand?

Ich bin der Überzeugung, dass Suizid eine Entwicklungsgeschichte ist, ein Krankheitsprozess, keine Handlung oder Entscheidung, kein Entschluss oder Wunsch. Ich verstehe Suizif nicht als Reaktion auf Schmerz oder als Botschaft an die Lebenden – zumindest nicht nur.

Donald Antrim: An einem Freitag im April

Als Teil der Verarbeitung und Enttabuisierung ein notwendiges und wichtiges Schriftstück, wirbt Antrim für diesen Blickwinkel. Vielleicht sollte man aber wirklich gefestigt sein, um diesen Text lesen zu können. Schließlich ist der so stark wie die Thematik selbst.

Autor:

Donald antrim wurde 1958 geboren und ist ein US-amerikanischer Autor. Nach einem Studium an der Brown University veröffentlichte er 1993 seinen ersten Roman, dem weitere folgten. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heyden Fellow for Fiction an der American Academy in Berlin. 2013 erhielt er den MacArthur Fellowship. Er lehrt Literatur an der Columbia University.

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Christian Zaschke: Hell’s Kitchen – Storys aus Manhattan

Inhalt:

Christian Zaschke ist Korrespondent einer gewissen Süddeutschen Zeitung, für die er Artikel schreibt, wenn mal wieder sein ungemein schwarzes Bürotelefon klingelt. Es sei denn, sein Freund V., der Fremdenführer ist dran und befielt mal wieder einen Ausflug durch die Stadt, oder er ist bei Freunden zum Thanksgiving eingeladen, lässt sich von seinem Friseur mit den zitternden Händen die Frisur verunstalten oder reist mit einem anderen Freund durch Amerika, dessen einziges Ziel es ist, entweder entdeckt zu werden oder zehn Kilo zuzunehmen. Wenn er nicht über die große Politik schreibt oder in der fabelhaften Schrottbar Rudy’s zu finden ist, schreibt der Journalist wunderbare Miniaturen. Versammelt sind sie hier in diesem Buch. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Wenn sein auffallend schwarzes Bürotelefon klingelt, fordert entweder eine gewisse Süddeutsche Zeitung, bei der Christian Zaschke als Korrespondent in Brot und Lohn steht, wieder einmal einen Artikel an oder sein Freund V., der Fremdenführer, der alles über seine Stadt weiß, befielt ihn zu Ausflügen, die oft in der fabelhaften Schrottbar Rudy’s enden, von der aus verschiedenen Gründen nicht verraten werden darf, wo sie liegt. Deren Türsteher würde ihm sonst beide Beine brechen. Auch sonst lässt der Journalist in seiner Kolumne die Bewohner des New Yorker Stadtteils Hell’s Kitchen lebendig werden, was mitunter chaotisch wirkt, wie der Haarschnitt durch die zitternden Hände seines Friseurs, jedoch immer urkomisch. Grund genug, Zaschkes Zeitungskolumne nun in Buchform lesen zu können.

Im zuweilen überhitzten und ruhelosen Amerika einen Ankerpunkt zu finden mag besonders schwer sein, wenn man in einer umso schnelllebigen Stadt seine Zelte aufschlägt und Berufs wegen die große Politik beobachten, von ihr berichten muss. Christian Zaschke, so scheint es, hat ihn gefunden und schreibt von den großen Ereignissen ebenso wie von den Menschen und den Befindlichkeiten, um ihn herum. Mit dem Blick aufs Wesentliche wirkt dies den Bewohnern von Hell’s Kitchen zugetan, oft mit mehr als nur einer Prise Humor.

Kurz und prägnant sind die, ursprünglich in der Zeitung erschienen Beiträge gehalten, so dass diese sich entweder voneinander losgelöst oder am Stück lesen lassen. Immer steht dabei eine Person, ein Ereignis abseits der großen Geschehnisse im Mittelpunkt. Ganz normale unnormale Alltagsbeschreibungen eines Korrespondenten- und eben Metropolenlebens. Aufhänger und Pointen finden sich da fast immer, nachdenkliche Zwischentöne für jene, die suchen. Und suchen tun sie alle, die sie in Hell’s Kitchen leben, wenn sie dieses Unbestimmte nicht schon längst gefunden haben. So ist auch der Journalist längst in diesem Bann geraten, von dem er über ein Jahr lang regelmäßig berichtet.

Charakterbeschreibungen liegen Zaschke dabei ebenso wie das lebendig werden lassen von Orten, so dass man diese gerne selbst besuchen oder sich von V., in die Irre oder durch den Central Park führen oder sich erklären lassen möchte, wie Pizza- und U-Bahn-Fahrkartenpreise mit der irischen Mafia zusammenhängen. Ein großer Spaß ist das, diese prägnanten Momente zu lesen, die einander in ihren Geschwindigkeiten wechseln, schneller jedenfalls als die Bauarbeiten auf den Balkonen eines gewissen ehemaligen Schwesternheimes vorangehen, zum Leidwesen nicht nur des Hibiskus’ des Autoren.

Die Ausarbeitung der Personenbeschreibungen, die sich erst beim Lesen mehrerer Kolumnenbeiträge wie ein Puzzle zusammensetzen, ist außerordentlich, wie auch das Einfangen von Momenten in den Bann ziehen mag. Schreibe dies als jemand, der sich von Kurz- und Kürzestgeschichten sonst nicht so einfach einfangen lässt und als einer der wenigen, die New York als Reiseziel wenig bis gar nicht interessant finden. Christian Zaschke hat es mit dieser Sammlung jedoch geschafft, einen anderen Blickwinkel zu geben. Und ich suche mir jetzt auch eine Bar, von der ich dann aus verschiedenen Gründen nicht verraten werde können, wo sie liegt.

Autor:

Christian Zaschke wurde 1971 geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Seit 2001 schreibt er für die Süddeutsche Zeitung, zunächst in der Zentralredaktion in München, bevor er 2011 bis 2017 nach London wechselte und dort als politischer Korrespondent tätig war. Davor studierte er Anglistik, Germanistik und Geschichte in Kiel, Edinburg und Belfast, absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Seit 2017 ist er SZ-Korrespondent in New York.

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Stephen King: Später

Inhalt:

Der kleine Jamie Conklin wächst in Manhattan als Sohn einer Literaturagentin auf und wirkt wie ein ganz normaler Junge. Doch der Junge hat ein Geheimnis, er kann die Geister kürzlich Verstorbener sehen und mit ihnen sprechen. Die Toten selbst müssen seine Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Als der lukrativste Autor seiner Mutter Tia kurz vor Vollendung eines lang ersehnten Abschlussbandes stirbt, nutzen beide Jamies Gabe. Mit dem Befragen der Toten rufen sie jedoch ungewollte Dämonen hervor. (Inhaltsangabe lt. Verlag)

Rezension:

Gäbe es einen Preis für nichtssagende Klappentexte, der Heyne-Verlag hätte ihn diesmal bekommen und so muss hier die Inhaltsangabe der Umschlagseite herhalten, um einen Eindruck vom neuesten Werk aus der Feder Stephen Kings zu bekommen.

Wieder einmal konfrontiert der Großmeister der amerikanischen Horrrorliteratur ein Kind als Hauptprotagonisten mit dem Übernatürlichen. Wieder einmal beginnt ruhig, was mit fortschreitender Seitenzahl in immer tiefere Abgründe rutscht.

Aus der Ich-Perspektive des kleinen Hauptprotagonisten wird die Geschichte erzählt, die im Vergleich zu anderen Werken Stephen Kings regelrecht kompakt ausfällt. Das Grundgerüst ist, wie so oft, ein kindlicher Hauptprotagonist, der mit der Gabe des Übernatürlichen ausgestattet, eine Geschichte ins Rollen bringt und in immer höherem Erzähltempo diesen sämtliche Nerven abverlangen wird, die es zu behalten gilt.

Die Erzählung selbst liest sich flüssig und eignet sich für ungeübte King-Leser als Einstieg in die Welt der Horror-Literatur. Dazu notwendige Elemente sind nur sehr dossiert vorhanden. Gestandene Fans des Autors, die eine Geschichte im Stil von “Es” oder der Novelle “Die Leiche” erwarten, werden trotz gewisser Parallelen wahrscheinlich eher enttäuscht sein.

Eher Roman mit leichten Gruselelementen, benötigt King hier nicht lange, um gewisse Sympathieträger herauszuschälen und diese nicht nur mit Jamies Gabe zu konfrontieren. Tatsächlich bringt der Autor subtil Themen wie die Korruption innerhalb der amerikanischen Polizei, Alkoholismus. Drogen und Inzest unter, verlangt dabei seiner Leserschaft Einiges ab, zumal hier die Konzentration auf Weniger der Geschichte gut getan hätte.

Diese hätte ein paar hundert Seiten mehr vertragen können, gleichzeitig aber ist man dann doch froh, nur diese wenigen durchstehen zu müssen. Wahrscheinlich wäre hier ein Mittelweg angebracht gewesen. Hier wollte der Autor zu viel, auf zu geringer Seitenzahl. Themen werden nicht auserzählt, sind vielmehr Grundlagenelemente des Handlungsstrangs, der konsequent aus Jamies Perspektive fortgeführt wird. Das Ende wirkt gezwungen.

Ob das an der Übersetzung liegt, müssen Andere entscheiden. So aber wirkt die Erzählung halbgar. Lesbar? Ja. Aber nichts, was man nicht unbedingt muss.

Autor:

Stephen King wurde 1947 in Portland, Maine, geboren und ist ein US-amerikanischer Schriftsteller. Vor allem für seine Horror-Romane bekannt, gilt er als einer der kommerziell erfolgreichsten und meistgelesenen Gegenwartsautoren. Er studierte Englisch und arbeitete kurze Zeit als Lehrer, verkaufte bereits Kurzgeschichten und veröffentlichte 1973 seinen ersten Roman. Weitere folgten, die in mehreren Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt wurden. Stephen King wurde für sein Werk ausgezeichnet, u. a. mehrfach mit dem Bram Stoker Award.

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James Baldwin: Nach der Flut das Feuer

Nach der Flut das Feuer Book Cover
Nach der Flut das Feuer James Baldwin dtv Erschienen: 19.06.2020 (Neuauflage) Seiten: 128 ISBN: 978-3-423-14736-1 Übersetzerin: Miriam Mandelkow

Inhalt:

James Baldwin ist 10 Jahre alt, als er zum ersten Mal Opfer weißer Polizeigewalt wurde. 30 Jahre später, 1963, brach “Nach der Flut das Feuer” – “The Fire Next Time” – wie ein Inferno über die amerikanische Gesellschaft herein und wurde sofort zum Bestseller.

Baldwin rief dazu auf, dem rassistischen Albtraum, der die Weißen ebenso plage wie die Schwarzen, gemeinsam ein Ende zu machen. Ein Ruf, der heute wieder sein ganzes provokatives Potenzial entlädt. (Inhaltsangabe des Verlags)

Rezension:

Überall wird sie inzwischen wieder geführt, diese Debatte um die Gleichheit aller Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion oder Sexualität, nachdem vielerorts geglaubt wurde, dass rassistische Auswüchse der Vergangenheit angehören. Dem ist nicht so. Bilder, rund um den Globus, beweisen es. Gewalt gegen Minderheiten allerorts greift zuweilen um sich und wird immer aggressiver und brutaler offensichtlich.

Doch, auch heute gibt es die jenigen, die sich dem entgegenstellen und auch die Texte von vor Jahrzehnten, die wieder aktuell werden und zur Diskussion stehen. Ganz vorne dabei, James Baldwins Essays und Romane, in denen sich der in New York geborene Schriftsteller für die Gleichheit aller einsetzte und damit zu einem Sprachrohr der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wurde.

Seine erste Veröffentlichung “The Fire Next Time”, der weitere folgten, besaß innerhalb Amerikas schon damals genug Sprengkraft, um die Massen aufhorchen zu lassen. heute ist dies wieder der Fall.

Was ist eigentlich Rassismus, wo beginnt solcher und welche Auswirkungen hat dies eigentlich, auf die jenigen, die unter ihn leiden, aber auch auf jene, die ihn entfesseln und tragen? Baldwin legt Zeile um Zeile eine komplexe Problematik frei, die man kaum erfassen kann, der auch keine Rezension eines solchen Textes nur annähernd gerecht wird.

Ich glaube, dass die Menschen besser sein können als angenommen, und ich glaube, dass Menschen besser sein können, als sie sind.

James Baldwin: Nach der Flut das Feuer.

In Baldwins Text wird der Wille, etwas zum Positiven zu bewegen, deutlich. Zeile für Zeile deutet er auf das Negative, macht jedoch auch klar, an das Positive, den Willen des Menschen zur Veränderung zu glauben. In klaren Worten drückt er aus, was damals war, was heute unter anderen Vorzeichen immer noch ist und welche Wurzeln der Rassismus der Weißen in Amerika hat.

Seine eigenen Erinnerung an erlebte Ungerechtigkeit hat er ebenso eingearbeitet, wie die Großen der jüngeren amerikanischen Geschichte, die Baldwin erlebte. Welche Rolle spielt Religion, welche Hautfarbe und warum ist das so? Wie können wir dies überwinden? Baldwin stellt Fragen, die immer neue aufwerfen.

Den Lesenden muss klar werden, dass es einfache Antworten nicht geben kann, nicht geben wird, sondern an diesen Stellschrauben immer wieder gedreht und die Debatte lebendig gehalten werden muss.

Doch solange wir im Westen der Hautfarbe eine solche Bedeutung beimessen, machen wir es der Masse unmöglich, sich nach irgendwelchen anderen Kriterien zusammenzuschließen. Hauptfarbe ist keine menschliche oder persönliche Realität; sie ist eine politische Realität.

James Baldwin: Nach der Flut das Feuer.

Der Autor appelliert daran, nachzudenken, hinzuschauen, sich der eigenen Vorurteile bewusst zu werden und zu hinterfragen. Wie schaffen wir es, eine andere Gesellschaft zu werden, in der Determinanten wie Hautfarbe und Religion keine Rolle spielen, wenn auch aus letzterer vor allem Baldwin seine Kraft zieht, etwas ungewohnt für europäische Lesende. Was kann ein jeder tun?

Fragen, die bis heute brandaktuell bleiben. James Baldwin reiht seine Gedanken wie Perlen einer Kette aneinander und zwingt die Leser sich der rauen Wirklichkeit zu stellen. Zugleich verdeutlicht er, dass Hass nicht die Lösung sein kann, egal von welcher Seite man diese Debatte führt, sondern Liebe und Verständnis für einander.

Baldwin ist voller Wut, jedoch auch voller Zuversicht, beschreibt Geschichtsverläufe und legte frei, was lange verborgen blieb, nach seinem Tod zu lange in Vergessenheit geriet und heute wieder hervorgeholt wird.

Was Weiße über Schwarze nicht wissen, offenbart also genau und unerbittlich ihr Unwissen über sich selbst.

James Baldwin: Nach der Flut das Feuer.

Fast jede Seite ist gekennzeichnet vom Willen zur Veränderung, nicht nur für die Benachteiligten, Ausgegrenzten, sondern für alle Menschen, vor allem in Amerika, natürlich mit den Blick über den Tellerrand weltweit. Baldwin beschreibt die Schwierigkeiten einer Gesellschaft, von der wir lange geglaubt haben, sie überwunden zu haben.

Jüngste Vorfälle von rassistischer Gewalt diesseits und jenseits des großen Teiches zeigen das Gegenteil. Und so gilt weiterhin ein Zitat Baldwins, nicht Bestandteil dieses Textes, welcher sich lohnt zu lesen:

Wie ich euch nenne, sagt nichts über euch aus oder nur ganz selten; wie ich euch nenne, sagt aber alles über mich.

James Baldwin, 1963, Rede vor Schülern einer amerikanische High School.

Es ist ein beeindruckender Text. Selten war das Gefühl so groß, einem Werk in der Rezension nicht gerecht werden zu können, obwohl ich mir so viele wichtige Stellen markiert habe. Oder, gerade deswegen?

Autor:

James Arthur Baldwin wurde 1924 in Harlem, New York City geboren und war ein US-amerikanischer Schriftsteller. Nach seinem Schulabschluss machte sich Baldwin als Essayist und Rezesent einen Namen und setzte sich mit seinen Texten für Gleichberechtigung, unabhängig von Hautfarbe, Sexualität und Religion ein. 1953 veröffentlichte er in Paris seinen ersten Roman. Immer wieder engagierte sich Baldwin zudem in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, schrieb zahlreiche Gedichte und Theaterstücke. Baldwin starb 1987 in Südfrankreich.

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Eduardo Halfon: Duell

Duell Book Cover
Duell Eduardo Halfon Roman Verlag: Hanser Hardcover Seiten: 110 ISBN: 978-3-446-26372-7

Inhalt:
Eine Familie mit einem rätselhaften geheimnis und ein Erzähler, der anfängt, seiner eigenen Erinnerung nicht mehr zu trauen. Eduardo Halfons Roman erzählt die Geschichte eines verschwundenen Onkels, einer ungleichen Familie und eines nicht zur Ruhe kommenden Landes. (Klappentext)

Rezension:
Hin und wieder freue ich mich, wenn ich zwischen den auf den Tischen der Buchhandlungen präsentierten Bestseller das eine oder andere besondere Buch finde,. Besonders, wenn es sich beim Lesen herausstellt, dass dieses Werk nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die es eigentlich verdient hätte. Ein solches ist sicherlich Eduardo Halfons Novelle mit dem unscheinbaren Titel “Duell”.

Der Ich-Erzähler ist zunächst ein kleiner Junge, der seine Kindheit in Guatemala verlebt, umgeben von zahlreichen Tanten und Onkeln, seinen Eltern und seinen jüngeren Geschwistern. Doch, er als Ältester von Dreien bekommt schnell mit, dass diese so lebendige und quirlige Familie ein düsteres Geheimnis umgibt. Ein einziges Foto als Beweis für die gewesene Existenz eines Kindes, welches nicht die Chance hatte, aufzuwachsen und zu leben. Nur, warum?

Niemand von der Verwandtschaft spricht viel über die Vergangenheit und was einst mit dem Bruder des Vaters von Eduardo passierte und so glaubt der Junge eine lange Zeit, dass dieser im den Familienhaus nah gelegenen See ertrunken wäre. Mehrere Jahre später macht sich der nun erwachsene Eduardo auf Spurensuche. Nur, kann sich niemand an die Geschichte vom kleinen ertrunkenen Jungen erinnern. Was also ist dann passiert?

Eine Frage die selbst mehr Fragen aufwirft als antworten bereithält zieht sich wie eine Schlange durch dieses Kleinod der Literatur. Kurz und präzise schreibt der Autor in Ansätzen autobiografisch über die Zustände innerhalb einer Familie, in der alles mehrere Wahrheiten hat. Kunstvoll verwoben werden Themen wie der Holocaust, das Pendeln zwischen zwei Ländern und die Suche nach Zugehörigkeit, sehr feinsinnig der Schreibstil.

Es ist kein heiterer Roman, aber einer mit klaren roten Faden und einer faszinierenden Handlung, die unterschwellig spannend wirkt, so das man das Eduardo umgebende Geheimnis erfahren möchte. Selbst der Titel kommt auf mehreren Ebenen und zwischen mehreren Protagonisten zum Tragen.

Was hält uns als Familie zusammen? Sind es wirklich nur die gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnisse oder auch die kleinen Geheimnisse, die Wahrheiten hinter geschönten oder nicht zu erzählenden Anekdoten, die uns umgeben? Eduardo Halfon versteht dies meisterhaft auf wenigen Seiten zu kombinieren.

Keine Zeile zu wenig, kein Wort zu viel. Für mich eine großartige Novelle, die noch nachhallt, von der ich leider nicht mehr verraten kann ohne zu viel zu verraten. Schließlich lohnt es sich, dieses Geheimnis zu ergründen.

Autor:
Eduardo Halfon wurde 1971 in Guatemala geboren und ist ein lateinamerikanischer Schriftsteller. Der heute in den USA lebende Autor wuchs dort ab 1982 auf und arbeitet als Professor für Literatur u.a. an der University of Iowa. Seinen ersten Roman veröffentlichte Halfon im Jahr 2003.

Erstmalig in deutscher Übersetzung erschien ein Roman 2014 von ihm. Mit “Der Boxer” erlangte er eine größere Bekanntheit. Halfons Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Prix du Meilleur livre etranger 2018.

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Aimee Carter: Animox 1 – Das Heulen der Wölfe

Das Heulen der Wölfe Book Cover
Das Heulen der Wölfe Animox – Band 1 Kinderbuch/Jugendbuch Oetinger Hardcover Seiten: 376 ISBN: 978-3-7891-4623-7

Inhalt:
Simon ist ein ganz normaler Junge – mit einem großen Geheimnis: er kann mit Tieren sprechen. Doch als ein Adler ihn vor den wilden Bestien des Tierreichs warnt und seine Mutter von einer Horde ratten entführt wird, verändert sich Simons Leben schlagartig.

Endlich erfährt er die Wahrheit über seine Gabe: Er ist ein Animox – ein Mensch, der sich in ein Tier verwandeln kann! Wird auch er zum Wolf animagieren wie sein Onkel? Schon steckt Simon mitten in der erbitterten Schlacht der fünf Tierkönigreiche und erkennt bald seine wahre Bestimmung: Er muss die geheime Welt der Animox vor der Vernichtung retten… (Klappentext)

Zuordnung:
Dies ist der erste Band der Reihe “Animox”.

Rezension:
Die Fähigkeit, mit Tieren zu sprechen, ist für Simon Thorn, einen zwölfjährigen Jungen, Alltag und zugelich Handicap, gilt er dadurch zugleich als Sonderling in seiner Umgebung. Der Junge, der kaum Freunde hat und nahezu täglich in Konfrontation mit seinen Klassenkameraden gerät, möchte mit den Wechsel in die neue Schule nicht auffallen, was gar nicht so leicht ist, gerät er gleich zu Beginn in eine Auseinandersetzung. Zu allem Überfluss scheint auch noch die Tierwelt verrückt zu spielen.

Schnell kommt Simon einem Geheimnis auf die Spur. Er ist ein Animox, ein Gestaltwandler. Doch, in welches Tier er sich verwandeln kann, ist zunächst unklar und auch unwichtig, muss sich der Junge einer drängenden Frage stellen. Wer hat ihn, und warum, von seiner Mutter und seinem Onkel getrennt? Nur die Vertreter der Tierreiche können ihn jetzt noch helfen. Doch, wem soll Simon vertrauen?

Ein spannender Reihenauftakt und eines der ersten Bücher, der gerade in Mode zu scheinenden Reihen, die das Thema Gestaltwandlung zur Geltung bringen. Wieder einmal in Amerika spielend, wo die Mythen der Urbevölkerung genug Stoff für interessante Ansätze bieten, wird hier der Inhalt in den Großstadtdchungel übertragen und eine Auseinanderfigur zum Hauptptagonisten erwählt, mit dem sich junge Leser gut identifizieren können.

Dabei geht es gleich zum Auftakt rasanter zu als etwa in der Variante “Woodwalkers” der deutschen Autorin Katja Brandis, was für erheblichen Schwung im Handlungsverlauf sorgt, der bis zum Ende des ersten Bandes auch durchgehalten wird. Nichts destotrotz hat “Das Heulen der Wölfe” seine ruhigen Momente, wenn sie auch rar gesät sind.

Die Protagonisten sind feinfühlig ausgearbeitet und gerade zu Beginn nicht dem üblichen Gut-Böse-Schema leicht zuzuordnen, welches man heutzutage allzuoft in Kinderbüchern findet. Aimee Carter traut ihren Lesern offenbar zu, sich auch zwischen Graustufen zurecht zu finden, was sich sehr angenehm liest.

Ein weiterer Pluspunkt, mit den “Animox”-Büchern findet sich eine weitere Reihe in den Regalen, die auch das Interesse von Jungen weckt, eine für Verlage traditionell schwerer zu erreichende Zielgruppe, wenngleich es auch für Mädchen hier vielschichtige Protagonisten gibt, mit denen man sich identifizieren kann.

Kurzweilige und fassbare Kapitel mit zahlreichen Cliffhangern und überraschenden Wendungen tragen zum Lesegenuss bei. Der Spannungsbogen und klare Handlungsverlauf wird bis zum Ende zielgerichtet verwoben. Protagonisten mit vielschichtigen Charkterzügen und Absichten tragen das Ihrige dazu bei.

Es ist Urban Fantasy für Kinder oder junge Jugendliche, die spannender kaum ausgearbeitet sein könnte, so dass auch ältere Leser ihren Spaß an dieser Reihe haben können. Vorausgesetzt, Aimee Carter hält die spannende Erzählstruktur und klare Sprache bis zum Ende durch. Für den Auftakt gilt dies in jedem Fall.

Eine klare Leseempfehlung gibt es hierbei und auch gleich einmal kuriose Fakten zur Entstehung und Publizierung dieser Reihe. Die Autorin ist im englischen Sprachraum zu Hause und diese, ihre ersten Bücher, wurden in Amerika durchaus gut vom Publikum aufgenommen, waren erfolgreich.

Der amerikanische Verlag glaubte jedoch nicht an den weiteren Erfolg der Reihe und so warten die amerikanischen und englischen Kinder und Jugendlichen nach Band 3 händeringend auf die Fortsetzung der Reihe.

Deutsche Leser haben da mehr Glück, ein Verdienst des Verlages Oetinger, der sein Publikum nicht auf den Trockenen sitzen ließ und alle geschriebenen Bände auch publizierte. Meist ist es eher umgekehrt, doch hier können die deutschsprachigen Leser mit Simon Thorn den vollständigen Weg durch die Welten der Tierreiche beschreiten, wozu man nach diesem Band unbedingt Lust hat, diese Reihe weiter zu verfolgen.

Es lohnt sich.

Autorin:
Aimee Carter wurde 1986 geboren und ist eine amerikanische Jugendbuch- und Young-Adult-Schriftstellerin. Sie studierte an der Universität Michigan und schrieb mehrere Reihen für Kinder und Jugendliche. Sie wurde 2017 mit der Kalbacher Klapperschlange ausgezeeichnet, einen undotierten Literaturpreis, der durch eine Kinderjury vergeben wird.

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Catherine Bruton: Der Nine Eleven Junge

Der Nine Eleven Junge Book Cover
Der Nine Eleven Junge Autorin: Catherine Bruton Jugendbuch Bastei Lübbe/Baumhaus Hardcover (vergriffen) Seiten: 385 ISBN: 978-3-8339-0032-7
Verlinkt ist das E-Book.

Inhalt:

Ben war erst zwei jahre alt, als sein Vater bei den Anschlägen auf das World Trade Center ums leben kam und hat kaum Erinnerungen an ihn. Seitdem Ereignis hat er eine Sonderstellung, ist der Nine-Eleven-Junge. Zusammen mit seinem Cousin Jed verbringt er den Sommer bei seinen Großeltern und mit den Nachbarsmädchen Priti möchten sie Helden sein.

Held ist, wer Ehrenmorde verhindern kann und Terroristen schon von Weitem erkennt. Doch, wie so oft, kommt alles anders als man denkt. Ein Roman über die Folgen des 11. September für unser Denken in der Gesellschaft, über Trauer und Verlust, Vergessen, Familie und Freundschaft, Vorurteilen und falschen Verdächtigen, der zeigt, wie Nine-Eleven bis heute nachwirkt. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Zunächst ist es immer hilfreich, wenn sich ein Roman irgendwie in ein Genre einordnen lässt, doch diesen Gefallen tut uns Catherine Bruton mit ihrem Debüt nicht wirklich. Zwar wird „Der Nine Eleven Junge“ als Jugendbuch vertrieben, in der deutschen Übersetzung von Dietmar Schmitt als ein Imprint von Bastei Lübbe, doch kann man dieses Werk auch viel weiter fassen.

Vom Alter der Protagonisten her ist es eher an der Schwelle zum Jugendbuch einzuordnen, ansonsten All-Age-Literatur, mit ihrer Thematik ohnehin speziell.

Erzählt wird die Geschichte des zwölfjährigen Ben, der mit seinem ein Jahr älteren Cousin Jed und den Nachbarsmädchen Priti einen unvergesslichen Sommer verbringt. Alle drei haben einen besonderen Hintergrund, allen voran der scharf gezeichnete Hauptprotagonist, dessen Vater als einer der wenigen britischen Staatsbürger bei den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 ums Leben kam.

Ben hat seitdem eine Art Sonderstellung, aber auch Jed und Priti haben jeweils ihre eigene Geschichte und freunden sich, so ungleich sie auch sind, miteinander an. Die Autorin erzählt dabei von Suche und Wahrheitsfindung, Verarbeitung und falschen Verdächtigungen, Schuld und in wie fern dieses schreckliche Ereignis auch heute noch wirkt.

Die Sprache der Protagonisten, nicht des Romans, ist zuweilen plump und bleibt oberflächlich, dennoch hat Catherine Bruton wandlungsfähige Protagonisten geschaffen und sich parallel entwickelnde Handlungsstränge, wobei der Fokus ganz klar auf die drei angehenden Teenies angelegt ist. Leider kommt dabei der erhobene Zeigefinger nicht allzu kurz, jedoch ist dieses Element der, aus der Ich-Perspektive geschriebenen, Geschichte vielleicht auch typisch für ein Jugendbuch, welches die Autorin wohl geschaffen haben wollte.

Die Handlung an sich ist schlüssig, hat aber einige Schwachstellen. Diese sind schon in den Charaktereigenschaften der Protagonisten angelegt, die gerade am Beginn der Geschichte einen gewissen Nervfaktor besitzen.

Davon abgesehen jedoch, liest sich der Roman flüssig und schnell, hat als kleinen Clou sogar am Ende einen Manga-Comic eingebaut, verbindet damit ohnehin schon verschiedene Genre der Literatur. Der Comic selbst spielt mit seiner Entstehung eine entscheidende Rolle im Buch, ist das Produkt der Verarbeitung der Geschehnisse um den Hauptprotagonisten. Mehr soll und kann nicht verraten werden.

Es lohnt sich jedoch, beide Teile als Einheit zu betrachten.

Die Geschichte mit Schwächen handelt von Freundschaft und Vertrauen, Verstehen wollen und Verarbeitung, jedoch auch von falschen Verdächtigungen und was sie auslösen. Catherine Bruton zeigt, wie dieses Ereignis teilweise immer noch das Denken der Gesellschaft prägt und welche Nachwirkungen daraus entstanden sind.

Nochmal, der Roman wird als Jugendbuch gehandelt, ist jedoch viel mehr. Als solche sollte er behandelt werden.

Autorin:

Catherine Bruton studierte in Oxford und unterichtete später selbst als Lehrerin. Für Online Portale und angesehene Zeitungen und Magazine, wie The Times oder the Guardian arbeitete sie als Journalistin. Mit ihrer Familie lebt sie in London. Dies ist ihr erstes Jugendbuch.

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Joseph Cassara: Das Haus der unfassbar Schönen

Das Haus der unfassbar Schönen Book Cover
Das Haus der unfassbar Schönen Joseph Cassara Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 11.04.2019 Seiten: 444 ISBN: 978-3-462-05169-8 Übersetzer: Stephan Kleiner

Inhalt:

New York, 1980: Die Stadt platzt fast vor Glamour und Energie und keine Subkultur könnte diesen Zeitraum besser verkörpern als die aufkommende LGBTQ-Ballroom-Szene. Neu in diese schillernde Welt kommt angel, eine gerade mal siebzehnjährige Dragqueen, schwer traumatisiert von ihrer eigenen Vergangenheit und auf der Suche nach einer Familie für Menschen ohne Familie.

Sie begegnet Hector, der davon träumt, Profitänzer zu werden. Die Beiden verlieben sich und gründen das Haus Xtravagaanza, in dem sie ausschließlich Latino-Queens aufnehmen, um in sogenannten Bällen gegen die anderen Häuser anzutreten. Zur Familie der Xtravaganzas gehören bald noch Venus, Juanito und Daniel; zusammen kämpfen die Xtravaganzas um Anerkennung und Respekt vor ihren Lebensentwürfen – und nicht zuletzt ums blanke Überleben, denn ein grausames Virus macht die Runde. (Klappentext)

Rezension:

Ein Roman, wie ein Schrei. So in etwa kann man die Geschichte aus der Feder Joseph Cassaras beschreiben, die uns Kiepenheuer & Witsch hier in der deutschen Übersetzung vorlegt. In seinem Debüt erzählt der aus New Jersey stammende Schriftsteller vom Wandel der Gesellschaft, einem flirrenden Jahrzehnt, Rausch und Extremen und Extremsituationen, denen sich die Protagonisten ausgesetzt sehen.

In handlichen Kapiteln begleiten wir die Figuren, die alle ihre Lebensgeschichte als schweres Paket mit sich herumtragen, durch das schillernde New York, jedoch in seine Schattenseiten hinein. Angel ist die Hauptprotagonistin, die ob ihrer Geschlechtsidentität aus den vorgegebenen engen Grenzen der Gesellschaft zunächst ausbricht, später anderen dabei hilft. In Zeiten von Diversity ein hochaktuelles Thema, welches noch vor wenigen Jahren weniger offen gehandhabt wurde, heute immer noch auf Barrieren stößt.

Vertiefend steht am Anfang der Einführung zunächst die Lebensgeschichte, eingebunden in die Romanhandlung, der Figuren, die zusammen einen Weg suchen, ihre eigene Identität zu finden, zu wahren und zu verteidigen. Das ist anfangs etwas anstrengend zu lesen. Man muss sich in Schreib- und Erzählstil, immer aus wechselnder Protagonisten-Sicht übrigens, einfinden.

Die eingeflochtenen hispanischen Redewendungen und Ausdrücke, der Slang des Buches macht das selbige nicht gerade zu einer einfachen Lektüre, zumal Joseph Cassara seine Protagonisten quält und sie von der einen in die andere Extremsituation wirft. Es geht ums Leben, die Liebe, den Tod, Gesellschaft und Ausgrenzung, Selbstfindung, Drogen und Sexualität. Auch das damals aufkommende HIV-Virus ist ein immer wiederkehrendes Thema.

Ziemlich viel für eine Geschichte. Es klappt, wenn es auch an einigen Stellen hakt. Übergänge zwischen einzelnen Handlungen hätte ich mir an mancher Stelle etwas sanfter gewünscht, rein vom Lesefluss her, Brüche dramatischer und in bestimmten Zeitebenen, zum Beispiel Rückblicke, wäre ich gerne ein wenig länger verharrt.

Wer sich ein wenig mit neuerer Zeitgeschichte, Subkulturen und LGBTQ auskennt, wird sich vielleicht leichter einfinden, andere werden neue Facetten entdecken und ein Jahrzehnt im Schnelldurchlauf durchleben, aus Sicht einer damals sehr weit ausgrenzten Gruppe von Menschen.

Josep Cassara hat mit diesem Roman gezeigt, dass er das Zeug dazu hat, in einer Reihe mit großen amerikanischen Schriftstellern, etwa Jonathan Safran Foer, genannt zu werden, die ein fortschrittliches und nachdenkliches, kritisches Amerika repräsentieren und den Finger auf die Wunden legen. Dafür hat sich dieses Werk, wenn auch mit kleineren Abstrichen, gelohnt. Und da kann man auch mal das extrem ablenkende Cover übersehen, welches ich jetzt jedoch als verlegerische Entscheidung werte.

Autor:

Joseph Cassara ist in New Jersey geboren und aufgewachsen. Er studierte zunächst an der Columbia University und schloss einen Schreibworkshop ab, bevor er selbst seinen ersten Roman “Das Haus der unfassbar Schönen” veröffentlichte. Für diesen erhielt er bereits mehrere Preise. Parallel unterrichtet er selbst Kreatives Schreiben.

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