Mutter

Mattia Insolia: Brennende Himmel

Inhalt:
Sommer 2000 – Teresa macht mit ihren Eltern Ferien in Camporotondo. Sie hat Träume, ist neugierig und gleichzeitig verunsichert von der Welt um sie herum. Während des Urlaubs in Sizilien lernt sie den schönen und verwegenen Riccardo kennen. Eine verhängnisvolle Begegnung.
Winter 2019 – Niccolo ist Teenager, er trinkt und kokst, gibt sich unnahbar und handelt rücksichtslos. Als sein Vater Riccardo ihn zu einem gemeinsamen Roadtrip überredet, wird Niccolo mit der Vergangenheit seiner Eltern konfrontiert.
Mattia Insolia erzählt von Jugendlichen, die alles daran setzen, nicht den vorgegebenen Lebenswegen zu folgen. Und er beschreibt, wie sich Eltern schuldig machen – durchaus mit Empathie, aber sie niemals aus ihrer Schuld entlassend. (Klappentext)

Rezension:
Wild und roh ist die Erzählung eines Roadtrips, der in die Vergangenheit führt, kantig und beinahe unangenehm, wie Sonne auf der Haut. In seinem Roman „Brennende Himmel“ bündelt der italienische Autor Mattia Insolia diese Strahlen zweier Erzählstränge und zeigt Protagonisten, die ihrem Erbe entfliehen wollen, aber erkennen müssen, dass das Unterfangen aussichtlos ist.

Der kompakt gehaltene Roman liest sich schwergängig. Wechselnd zwischen den Zeitebenen erzählt er parallel die Geschichte von Jugendlichen, die aufs Verhängnisvolle miteinander verbunden sein werden und keine Gelegenheit auslassen, einander wehzutun. Weil sie nichts anderes können. Die Handlung spielt zwei Sommer lang, zwanzig Jahre voneiander entfernt. In diesen erleben die Protagonisten alles. In Zeiten, die entlos scheinen und Weichen stellen.

Dabei geben sich die Figuren fast die gesamte Handlung über unnahbar, kalt. Keine der Figuren hat, vor allem im Zusammenspiel der Perspektiven, wenn sich die Zeitebenen miteinander verbinden, wirkliche Sympathien auf ihre Seite. Es ist, als wollte Mattia Insolia zeigen, dass sich gerade die unangenehmen Eigenschaften über Generationen weiter vererben. Zeichen, die man nicht los wird, und die, lernt man damit nicht umzugehen, alles Schlimme zum Vorschein bringen.

Der Fokus der Erzählung liegt auf drei Protagonisten. Teresa, von der psychischen und zu weilen körperlichen Gewalt ihrer Mutter bestimmt, die versucht aus dem engen Korsett ihres Elternhauses auszubrechen, jedoch nicht weiß, wie und damit so tollpatschig und einfältig wirkt, dass dies unerträglich ist zu lesen, deren Leid und Frust sie später auf ihren Sohn übertragen wird.

Riccardo, der die schlimmsten Eigenschaften männlichen Gehabes auf sich zu vereinen scheint und Niccolo, dessen Egal-Mentalität sich ebenso widerlich anfühlt, aber aus der Geschichte heraus zumindest erklärlich scheint. Andere Figuren kommen allerhöchstens mal im Nebensatz, in ganz wenigen Momenten als Projektionsfläche von Wut vor, die sich kanalisieren muss, bleiben dabei blass. Sie sind ja auch sonst für die Handlung unbedeutend.

Die Figuren handeln nachvollziehbar, jedoch keineswegs so, dass man mit ihnen mitfühlen könnte. Kälte, Unnahbarkeit sind noch die klarsten Eigenschaften, die man dieser dysfunktionalen Familie zuschreiben könnte, ansonsten ließt man den Roman ständig mit geballter Faust, die man sich gegen die Stirn schlagen möchte. Wenigstens der Perspektivwechsel bringt dabei Abwechslung, so dass sich die Wut und das Unverständnis wenigstens immer wieder verlagern können. Ein nicht zu unterschätzender Handlungstreiber für diese Erzählung. Ein Roman über eine Familie im Scherbenhaufen, den zusammensetzen niemanden mehr möglich ist.

Mattia Insolia hat es dennoch geschaft, ohne Lücken oder unerklärliche Wendungen zu erzählen. Tatsächlich handeln die Figuren im Sonne der Geschichte und ihrer Charaktere logisch, wenn auch die große Überraschung ausbleibt. Je nach Stimmung könnte man dabei das Ende als folgerichtig oder kitschig empfinden. Am stärksten wirken die Beschreibungen innerer Gefühlswelten, die sich durch den gesamten Text ziehen, auch die Schilderung des italienischen Ferienortes lassen sicherlich beim Lesen die eine oder andere Erinnerung aufkommen. Das wird alles fast filmisch beschrieben, jedoch reicht die Qualität nur für eine Vorabendserie mit ganz viel Drama.

Positive Momente gibt es in dieser Erzählung kaum. Wenn vorhanden, werden sie in der nächsten Zeile wieder negiert. Der Autor hat hier keinen Feel-Good-Roman geschrieben. Wer diesen sucht, ist mit „Brennende Himmel“ schlecht bedient. Ausweg- und Perspektivlosigkeit ziehen sich dagegen durch den gesamten Text. Darauf muss man sich einlassen können, um die Handlung, die sich in zwei Erzählsträngen gegenseitig ergänzt, zu ertragen.

Wer das nicht kann oder im falschen Moment tut, gerät mit dem Roman auf die falsche Spur.

Autor:
Mattia Insolia wurde 1995 in Catania geboren und ist ein italienischer Schriftseller. Er studierte Literatur und Verlagswesen in Rom und schreibt für verschiedene Magazine und Zeitschriften Literatur- und Filmkritiken. „Brennende Himmel“ ist sein zweiter Roman.

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Vera Politkowskaja: Meine Mutter hätte es Krieg genannt

Inhalt:
Am 7. Oktober 2006 wird die Journalistin Anna Politkowskaja vor ihrer Wohnung in Moskau ermordet. Es ist das tragische Ende einer jahrzehntelangen Verfolgung durch den russischen Staatsapparat. Auf einen Schlag wird Anna Politkowskaja zur weltweiten Symbolfigur für den Kampf um Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit. Bis heute gilt sie als eine der wichtigsten Kritikerinnen von Putins Russland. In diesem Buch erzählt ihre Tochter erstmals die ganze Geschichte ihrer Mutter: persönlich, bewegend und erschreckend aktuell. (Klappentext)

Rezension:

Meine Mutter war nie bequem. Weder für die russischen Behörden noch für den Durchschnittsbürger, der in einer Zeitung blättert und die Artikel liest.

Vera Politkowskaja: Meine Mutter hätte es Krieg genannt

Immer war sie Überbringerin schlechter Nachrichten, die Journalistin, die über die Wahrheit schrieb, über Soldaten, Banditen und gewöhnliche Menschen, die im Fleischwolf des Krieges gelandet waren. Sie sprach von Schmerz, Tod, zerfetzten Körpern und ahnte früh, dass sie dafür womöglich einen hohen Preis bezahlen müssen würde. Zwei Jahre nach einem Mordanschlag während eines Fluges nach Beslan wurde Anna Politkowskaja vor ihrer Wohnung schließlich ermordet. Genau an dem Geburtstag des Mannes, dessen schärfste Kritikerin sie war. Wladimir Putin.

Jahre nach den Mord, der aus westlicher Sicht bis heute nicht als vollständig aufgeklärt gilt, ist die Journalistin, die wie keine andere für den Kampf umd Wahrheit und Meinungsfreiheit in ihrem Heimatland vergessen, doch ihr Schaffen wirkt nach im Leben ihrer Kinder, deren Abstammung erneut zum Lebensrisiko wird, als Russland einen neuen Krieg vom Zaun bricht. Kurz nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs, der in Russland nur „Spezialoperation“ genannt werden darf, sieht sich die Tochter der Journalistin gezwungen, mit ihrer Tochter außer Landes zu fliehen und beginnt zu erzählen. Vom Leben ihrer Mutter, journalistischer Größe und dem Verschwinden der Freiheit schreibt die Autorin und setzt damit Anna Politkowskaja ein Denkmal.

Die Menschen, über die in ihren Artikeln sprach, waren nicht bloß „Quellen“, flüchtige Kontakte, die ihr lediglich dazu dienten, die für ihre Arbeit notwendigen Aussagen zu sammeln. Sie nahm Anteil an ihrem Schmerz, ihrem Unglück.

Vera Politkowskaja: Meine Mutter hätte es Krieg genannt

Beginnen tut sie in der Gegenwart und spannt dabei den Bogen zur Geschichte ihrer Familie, die immer wieder aufgegriffen wird und verrät, wie Anna Politkowskaja zu den Menschen wurde, den wir kennen und lässt zudem hinter die Fassade blicken. An Kritik sparen tut sie dabei nicht, an ihrer Mutter, die die Gefahren, die eine Arbeit wie diese, in einem zunehmend autoritärer werdenden Staat mit sich bringt, durchaus richtig einschätzen konnte und dennoch bis zur physischen Erschöpfung sich Themen und Protagonisten ihrer Texte zu eigen machte, als auch an sie als Privatmensch, der nie ein einfacher gewesen ist.

Aber auch und natürlich das System, innerhalb dessen sie Journalismus in Reinform betrieb wird nicht ausgespart. Wie gestaltete sich journalistische Arbeit gegen den Strom, gegen politischen Druck, in einem Land, welches einer zunehmend gleichgeschalteten Medienlandschaft erlag? Auch dieser Frage geht Vera Politkowskaja nach, immer nach der Suche nach dem Antrieb ihrer Mutter und einer Erklärung für etwas, was nicht zu erklären ist.

Die Mehrzahl der Kollegen hatte […] eine ziemlich distanzierte, wenn nicht sogar offen kritische Haltung meiner Mutter und ihrer Arbeit gegenüber. Auch wenn sie sich nach ihrem Tod zu Lobeshymnen aufschwangen und ihre Verbundenheit beteuerten.

Vera Politkowskaja: Meine Mutter hätte es Krieg genannt

Auch wenn dies unpassend klingen mag, diese Lebensgeschichte, im Kontext des gesellschaftlichen und politischen Geschehens im Russland Politkowskajas liest sich ungemein spannend. Die Journalistin, der es immer darum ging, die Wahrheit zu beschreiben, den Menschen eine Stimme zu geben, und den Hintergründen nachzuspüren, bekommt hier klare Konturen. Eindrucksvoll werden hier die Differenzen zwischen der Privatperson und der Politkowskaja dargestellt, die die Welt kannte, aber auch, wie Journalismus unter den Druck von Extrembedingungen funktionierte. In klaren Sätzen zeigt sich der Versuch, der als gelungen zu bezeichnen ist, einem Leben nachzufühlen und zugleich, Parallelen zu sich selbst zu ziehen. Gleichwohl die Autorin einen ganz anderen Weg eingeschlagen hat.

Wie viel Druck verträgt ein Mensch? Welchen Preis verlangt die Wahrheit? Fragen, die zwischen den Zeilen gestellt werden. Andere dagegen bleiben komplett unbeantwortet. In Russland ist der Journalismus, wie ihn Anna Politkowskaja betrieben hat, die diese beantwortet hätte können, mit ihr gestorben. Mit ihren Texten und diesem Buch aber bleibt zumindest hier ihr Denkmal gewart.

Autorin:
Vera Politkowskaja wurde 1980 in Moskau geboren und ist die Tochter der weltbekannten Journalistin Anna Politkowskaja. Nach Aubruch des Ukraine-Krieges floh sie zusammen mit ihrer Tochter an einem sicheren Ort.

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Joachim B. Schmidt: Moosflüstern

Inhalt:
Im Juni 1949 brachte der Dampfer „Esja“ rund 200 Frauen aus Deutschland nach Island, wo sie sich als Dienstmädchen auf Bauernhöfen verdingten. Darunter auch Heinrich Liebers Mutter, von der er immer geglaubt hatte, sie sei nach seiner Geburt gestorben. 40 Jahre später ist Heinrich Bauingenieur, verheiratet, doch sein Leben gerät auf einmal ins Wanken. Der sonst so korrekte Mann fasst einen überstürzten Entschluss und reist nach Island, wo er sich auf die Suche nach seiner Herkunft macht. (Klappentext)

Rezension:
Ein Einsturz verändert alles. Doch auch so, ohne den Zusammenbruch der Lagerhalle, den Heinrich über seine Bauzeichnungen brütend, sich zunächst nicht erklären kann, gerät sein Leben aus den Fugen, als seine Adoptiveltern ihn vom erst kürzlichen Tod der schon länger verstorben geglaubten Mutter erzählen. Zwei Tropfen, die das Fass zum Überlaufen, das Gedankenkarussel in Bewegung setzen und in Joachim B. Schmidts Roman „Moosflüstern“ vom beschaulichen Zürich in die raue Landschaft Islands führen.

In seiner Erzählung folgen wir zwei Handlungssträngen auf unterschiedlichen Zeitebenen. In der Gegenwart folgen wir den von Selbstzweifeln und Unsicherheiten befangenen Hauptprotagonisten auf Spurensuche nach seiner Vergangenheit, sowie im Wechsel der jungen Anna, die sich kurz nach Kriegsende aus dem gebeutelten Europa auf dem Weg nach Island macht. Nach und nach führen beide Handlungen zueinander, wenn auch der Rahmen unterschiedlicher gefasst nicht sein könnte. Joachim B. Schmidt erzählt von Polartagen, die sich wie Wochen anfüllen und von Jahren, die verstreichen.

Dabei liest sich „Moosflüstern“ gleichermaßen melancholisch wie leichtgängig, was sowohl an den wenigen Hauptfiguren liegt, mit deren Ecken und Kanten man sich schnell identifizieren mag, als auch an kunstvollen Orts- und Landschaftsbeschreibungen, die einem ganz für das Geschehen einnehmen vermögen. Das vollkommene Ausbleiben eines kompletten Antagonisten tut sein Übriges. Nein, beide Hauptfiguren stehen sich selbst im Weg und finden doch immer wieder auf die Spur zurück. Ähnlichkeiten zueinander sind hier unverkennbar, wunderbar ausgestaltet durch den Autoren. Das macht es leicht, sich in die Protagonisten beider Handlungsstränge hineinzuversetzen.

Mit seiner Erzählung bringt Joachim B. Schmidt ein hierzulande kleines, jedoch fast vergessenes Kapitel Geschichte zum Vorschein und lässt sie einfühlsam lebendig werden. Die eine Protagonistin ist ihr ausgesetzt, der andere macht sich nach und nach ein Bild. In der rauen Landschaft setzt sich ein Puzzle zusammen, was Heinrich auch mit der eigenen Verantwortung für sein Tun konfrontieren wird. Hier eröffnen sich feine Unterschiede, Risse, die Seite für Seite feinsinnig herausgearbeitet werden.

Daraus ist ein in sich abgeschlossener Roman entstanden, der ohne großspurige Wendungen auskommt, jedoch auch keine Lücken aufweist und trotzdem streckenweise spannend zu lesen ist. Genau im richtigen Maße, ohne alles in Eiskristalle gehüllte Melancholie ersticken zu lassen, lässt der Autor Perspektiven und Beschreibungen wechseln. Zeile für Zeile durchzieht den Text eine fast filmische Sprache, die beide Handlungsstränge sehr plastisch wirken lassen. Ein wenig Kitsch wird sich hier und da dennoch erlaubt.

Weder zu heiter noch düster ist die Erzählung, deren Hintergründe man gerne nachspüren möchte. Das liegt nicht zuletzt an Joachim B. Schmidts der seine Gespräche mit Menschen hat einfließen lassen, die die hier am Anfang stehende Überfahrt nach Island tatsächlich gemacht haben. Der Sprung ins kalte Fjordwasser ist hier gelungen.

Wer andere Werke des Autoren kennt, wie etwa „Kalmann“ oder „Tell“ wird hier erneut überrascht werden, von seiner Vielseitigkeit des Erzählens. Wieder liest es sich anders als das aus seiner Feder bekannte, wobei, dies sei auch erwähnt, der Eindruck leider nicht ganz so nachhaltig wirkt. Das jedoch ist Meckern auf hohem Niveau, ergibt allerhöchstens Abzüge in der B-Note. Joachim B. Schmidts Figuren folgt man dann doch zu gerne.

Autor:
Joachim B. Schmidt ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller, der zunächst eine Ausbildung zum diplomierten Hochbauzeichner absolvierte. Mit einer Kurzgeschichte gewann er einen Schreibwettbewerb und veröffentlichte erstmals 2013 seinen ersten Roman. Als Journalist und Touristenquide arbeitet er in Reykjavik, Island, wohin er 2007 ausgewandert ist. Sein Roman „Kalmann“, dem weitere folgten, erschien 2020 bei Diogenes. Er ist ausgezeichnet mit dem Crime Cologne Award und dem Glauser Preis.

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Jessica Lind: Kleine Monster

Inhalt:
Pia und Jakob sitzen im Klassenzimmer der 2B, ihnen gegenüber die Lehrerin ihres Sohnes. Es habe einen Vorfall gegeben, mit einem Mädchen. Pia kann zunächst nicht glauben, was ihrem siebenjährigen Kind vorgeworfen wird. Denn Luca ist ein guter Junge, klug und sensibel. Sein Vater hat daran kein Zweifel. Aber Pia kennt die Abgründe, die auch in Kindern schlummern, das Misstrauen der anderen erinnert sie an ihre eigene Kindheit.

Also lässt sie ihren Sohn nicht mehr aus den Augen und sieht einen Menschen, der ihr von Tag zu Tag fremder wird. Bis Pia bei dem Versuch, ihre Familie zu schützen, schließlich mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert wird. Ein fesselndes psychologisches Drama über die Illusion einer heilen Kindheit. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:
Die Abgründe in unser engsten Umgebung scheinen tiefe Gräben zu sein. Zugeschüttet, vernarbt sind sie, doch gibt es Ereignisse, die sie wieder schmerzlich aufbrechen lassen. In Jessica Linds Erzählung „Kleine Monster“ treten die Dämonen vergangener Tage hervor und scheinen sich in der Gegenwart zu spiegeln.

Doch hält eine Eltern-Kind-Beziehung dies aus, wenn dem eigenen Nachwuchs scheinbar nicht mehr zu trauen ist und noch weniger, sich selbst?

Feine Risse bekommt das Idyll in dem kompakt gehaltenen Roman, als die Hauptfiguren zu einem Gespräch in der Schule ihres Sohnes geladen werden. Ein Vorfall hätte es gegeben, genaues wisse man nicht. Der kindliche Protagonist schweigt sich darüber aus, währenddessen Fragen sich im Kopfe der Hauptfigur zu bilden beginnen und die Geschichte ins Rollen bringen.

Vieles spielt sich im Inneren von Pia ab, die durch ihre Gedankenwelt Konturen bekommt und zur Handlungstreibenden der Erzählung wird. Nach und nach bekommen sie und die anderen Figuren somit ihre Konturen. Eine ganz eigene Dynamik entfacht sich durch das Hinzuziehen weiterer Protagonisten und Pias Reaktionen darauf, die schon bald die Dämonen der eigenen Vergangenheit zu Tage treten lassen.

Zunächst hat sie damit alle Sympathien auf ihrer Seite, entwickelt sich jedoch nach und nach zu einer Protagonisten, die in ihrem Reagieren immer distanzierter wirkt und so auch handelt. Die Liebe von Eltern zu einem Kind hat bedingungslos zu sein. Doch was, wenn dieses Ideal in Frage gestellt wird. Dieses Gedankenkonstrukt wird sowohl anhand einer Vergangenheits- und auch einer Gegenwartsebene erzählt. Besonders die Hauptfigur ist damit doppelt belastet, aber auch ihre Umgebung ist davon nicht unbedingt unberührt.

Man leidet mit den Kind, den Eltern innerhalb dieser kompakten Erzählung, die über einen Zeitraum von wenigen Wochen spielt und durch zusätzlich beschriebene Ortswechsel noch kontrastreicher wirkt. Auch die Handlungsorte werden so zum Spiegelbild der Figuren, die allesamt ihr Gepäck zu tragen haben. Pias Perspektive bleibt jedoch die hauptsächliche, doch verursacht gerade diese Beibehaltung im Mittelteil für ein Absenken des Spannungsbogens, der nicht konsequent bis zum Ende durchgehalten wird.

Überraschende Wendungen sucht man in diesem Roman vergebens. Trotz teilweise fast filmischer Beschreibungen, den Hauptberuf der Autorin merkt man durchaus die gesamte Zeit über, liest man ein durchdachtes Konstrukt, was nur hin und wieder für einen gewissen Aha-Effekt sorgt. Dennoch ist eine gewisse Sogwirkung dem Text nicht abzustreiten, auch wird man sich manche Abschnitte atemlos zu Gemüte führen.

Je nach Erfahrungswerte und Stellung innerhalb eigener Familienkonstellationen kann dabei die Positionierung zu den einzelnen Figuren durchaus unterschiedlich sein. Die Handlungsorte dabei sind sehr plastisch geschildert, nachvollziehbar dargestellt, auch wenn sich ein gewisser Mehltau wie ein Schleier über die Erzählung legt.

Das Ende wirkt dabei nicht ganz rund. Halboffen ist hier der richtige Weg gewesen. Nicht alle offenen Fragen werden geklärt. Einiges findet im Kopf der Lesenden statt, doch irgendwie scheint das richtige Maß nicht getroffen worden zu sein. Zudem stößt man während des Lesens auch auf sprachliche Gegebenheiten, die eventuell regional verschieden gehandhabt werden. Kleinere Stolperfallen also, die aber nicht allzu sehr ins Gewicht fallen.

Die Schwächen einmal außer Acht gelassen, ergibt sich jedoch eine durchaus interessante Lektüre.

Autorin:
Jessica Lind wurde 1988 in St. Pölten geboren und ist eine österreichische Drehbuchautorin und Schriftstellerin. Zunächst studierte sie an der Filmakademie Wien Drehbuch und Dramaturgie, bevor sie mit einem Literaturstipendium zu Schreiben begann. 2010 erhielt sie einen Förderpreis der Stadt St. Pölten, sowie 2012 das BMUKK Startstipendium für Literatur. Nach einer Teilnahme in einer Schreibwerkstatt erschienen einige ihrer Texte in Anthologien und Literaturzeitschriften. 2021 erschien ihr Autorinnendebüt. Zudem ist sie Autorin des Films „Rubikon“.

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Hubertus von Prittwitz: Skarabäus

Inhalt:

Die Wahrheit ist die beste Lüge. Das lernt der achtjährige Friedrich von seinem Vater. Im Gerichtssaal sieht er seine Schwester das letzte Mal. Sein Vater, ein Spion des BND, trennt ihn für immer von seiner Mutter und seiner Unschuld. Im goldenen Käfig in Neuried bei München züchtigen der Missbrauch durch seine Stiefmutter und der Kontrollwahn des Vaters den Abtrünnigen. Nach mehreren gescheiterten Versucen gelingt die Flucht über Indien, Kairo und den Sudan in das Strafgefangenenlager des Menschenfressers.

Hubertus von Prittwitz rasanter Roman erzählt die Geschichte eines Überlebenden. Die Dichte des Milieus zieht den Leser tief hinein in das historische Erbe der Familienschuld. Im Spiel mit der Macht der Fiktion entspannt sich das Drama eines uralten Adelsgeschlechts. (Klappentext)

Rezension:

Am Ende steht ein Käfer als Symbol für den fortwährenden Versuch, seiner Familie zu entkommen. Diesen lebenslangen Versuch hat Hubertus von Prittwitz erzählerisch in seinem gleichnamigen Autorendebüt „Skarabäus“ verarbeitet. Eng an der eigenen Biografie und doch ganz weit weg.

Fast einem modernen Märchen gleich, springt der Roman zwischen Agententhriller, Politroman und Coming of Age Story entlang den Abgründen der Familie des zunächst achtjährigen Protagonisten. Bei kompakter Seitenzahl geradezu ausschweifend erzählt, begegnen wir Friedrich, der in seiner Kindheit bereits vom eigenen Vater entwurzelt wird, zugleich aber lückenlos kontrolliert. Dazu gesellt sich auch noch der seelische und physische Missbrauch durch die Stiefmutter. Mit der Zeit entwickelt der Junge, den wir bis ins frühe Erwachsenenalter begleiten, Überlebensstrategien, die sämtlichen Willen erfordert, die eine gebrochene Seele aufbringen kann.

Viel zu viele Faktoren für einen Roman, der sich zudem nicht gerade leichtgängig lesen lässt. Das Springen zwischen den Genres ist eine Sache, es gelingt einem jedoch auch nicht, sich dauerhaft an wenigsten einer der Figuren festzuhalten. Alleine die Anspielungen auf verschieden historische Ereignisse sind spannend eingebunden, in eine Erzählung, die keinen anderen roten Faden kennt als die innere Zerissenheit des Hauptcharakters. Zu Beginn weiß man da nicht, was man eigentlich liest. Es scheint, erst mit dem Voranschreiten der Kapitel, die zugegeben zuweilen filmisch wirken, hat der Autor seinen Stil gefunden. Dem entsprechend rund wirkt auch das Ende.

Der Hauptprotagonist ist zugleich Erzähler und Handlungstreiber, in einer Geschichte, die wie ein Schachspiel wirkt. Dabei entgeht dem zunächst sehr jungen Friedrich viel. Nach und nach wandelt sich jedoch die Figur und wird selbst zum aktiven Taktgeber. Dieser Platztausch ist dann doch spannend beschrieben, wobei erzählerische Längen dennoch nicht ganz ausgeblendet werden können.

Hubertus von Prittwitz hat ein Auge für Schauplätze, die er vor dem inneren Auge der Lesenden sehr plastisch wirken lässt. Doch es fehlt der springende Funke, der leider an einigen Stellen dem Gefühl weichen muss, irgendetwas Entscheidendes überlesen zu haben. Vielleicht braucht man einen bestimmten Zugang, diesen speziellen Mix der Genre ganz in sich aufzunehmen? Hier wäre zu schauen, wie ein Werk des Autoren sich liest, wenn es eine Konzentration auf ein bestimmtes Genre oder einen einzelnen Aspekt gäbe.

Eventuell hätte aber auch die Erzählung ganz anders gewirkt, wenn man sich vorher mit der Biografie des Autoren und seiner Familie beschäftigt hätte. Dies sei allen empfohlen, die „Sakarabäus“ lesen möchten. Manches wird da fassbarer.

Nur schade, dass das der Rezensent (ich) vorher nicht gemacht hat.

Autor:

Hubertus von Prittwitz wurde 1969 in München geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Er studierte Politikwissenschaften in München und Berlin, arbeitete als Eventmanager und als Texter, Redakteur und Übersetzer. Er ist für die Deutsche Welle tätig. „Skarabäus“ ist sein Debüt.

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Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

Inhalt:

Johanna ist keine gute Tochter. Um sich zu retten, hat sie die Familie verlassen. Jetzt, dreißig Jahre später, ist sie wieder zu Hause. Sie sucht Nähe, sie will den Kontakt zur Mutter erzwingen, doch die verweigert sich kühl jeder Annäherung. Heimgesucht von den Erinnerungen an die Kindheit zieht Johanna sich in eine einsame Hütte am Fjord zurück, wo es an ihr ist, die Verhältnisse zu ordnen und sich aus den familiären Zwängen zu befreien.

Vigdis Hjorth erzählt drastisch von unseren zerrütteten Beziehungen, von Sehnsucht und Enttäuschung und davon, wie man der Vergangenheit begegnet, ohne sich selbst aufzugeben. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Familiäre Gräben sind tief und breit, kaum zu überbücken. Johanna selbst steht vor einem solchen, als sie in das Land, die Stadt, zurückkehrt, in der sie aufwuchs. Längst ist aus der jungen Frau, die ihrer Heimat einst aufwuchs, eine erfolgreiche Künstlerin geworden. Der Auftakt dazu jedoch war scheinbar der größte Stein, der den Bruch mit den unnahbaren Eltern vor Jahrzehnten mehr als offensichtlich machte. Doch, lassen sich Wunden heilen? Der Mutter, der fremd gewordenen Schwester, die eigenen? Johanna möchte dies versuchen, möchte verstehen und tritt dabei eine innere Lawine los, die sie bald nicht mehr aufzuhalten vermag.

Der neue Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“, der norwegischen Autorin Vigdis Hjorth, beschreibt den Versuch einer Annäherung, von der man bereits zu Beginn ahnt, wie sie ausgehen wird. Der beschrieben Weg ist das Ziel, welches in mit der Seitenzahl zunehmenden Erzähltempo erreicht wird. Zugleich schauen wir ins Innere der Protagonistin, deren Psychogram nach und nach Konturen bekommt, die die Figur zunächst verständig und sympathisch wirken lässt, jedoch auch das Gegenteil von der Inhaltsangabe suggerierenden Wirkung erzielen kann. Nicht nur Wahrheiten verschieben sich langsam, später immer schneller.

Im inneren Monolog sucht die Protagonistin nach Antworten, erkennt die Unüberwindbarkeit der familiären Zerrüttung nicht und greift, um zu verstehen, zu immer drastischeren Maßnahmen. Da wird observiert, verfolgt, sich in eine ausweglose Situation hinein manövriert, die Schuldfrage nur einseitig beleuchtet. Die Protagonistin wird, das ist gleich zu Beginn klar, den Wandel nicht schaffen, nicht erkennen auch, wann man aufhören sollte zu suchen.

Sehr gewöhnungsbedürftig ist dies zu lesen, zu weilen wirken einzelne Kapitel wie eisige Wasserstrahlen. Unangenehm, fast abstoßend. Kurze, kompakt geschriebene Kapitel entfalten dennoch einen Sog, den man sich nicht entziehen mag, zudem wenn das Erzähltempo selbst anzieht. Darin zu versinken ist dennoch nur in der richtigen Stimmung zu empfehlen.

Die Handlung wird konsequent auf einen Zeitraum von wenigen Wochen beschränkt, auch das kleingehaltene Figurenensemble tragen zur Dramatik bei, wenn auch bis auf die Hauptprotagonistin selbst alle anderen vergleichsweise blass gezeichnet werden.Trotzdem bilden sich schnell Gegenpole, die man zumindest lesend nachvollziehen, wenn auch nicht unbedingt gutheißen, kann, was jedoch nichts daran ändert, dass sich das anfangs geschaffene Bild der Hauptprotagonistin schnell ändert. Womit wir beim Interpretieren wären, was man ja bei Kunstwerken gerne mal macht, oberflächlicher Kulminationspunkt des beschriebenen Familienzwists. 

Im Gesamtpaket ist dies verständlich und in sich schlüssig. Grrößere Stolpersteine gibt es nicht, alleine die Art des Umgangs der Figuren miteinander ist für jemanden, der zwar in einer chaotischen und auch durchaus mal streitenden Familie lebt, nicht immer nachvollziehbar. Überraschende Wendungen sind dünn gesät, dann jedoch sehr gezielt wirken, wie auch die Rückblenden sehr wirkungsvoll gesetzt sind. Die Form kompakter Kapitel bringt zudem die Beschrnkung auf wenige Details mit sich, gerade so, dass ein inneres Bild entsteht. Auch und gerade vom Straßenzug einer skandinavischen Stadt oder der in der dortigen Natur befindlichen Waldhütte. Vigdis Hjorth zeigt hier die Stärke innere Zerissenheit, ebenso einnehmende Szenenbilder zu zeichnen.

„Die Wahrheiten meiner Mutter“ ist ein sehr interessanter Roman über dysfunktionale Familienverhältnisse, zu großen Teilen schwere Kost, da es die Autorin nicht in allen Facetten uns Lesende leicht macht, die Hauptprotagonistin zu mögen. Immer wieder gibt es da Momente zum Überlegen, ob man da jetzt wirklich noch weiterlesen möchte. Ein interessantes Rezept, was jedoch in jedem Fall in Erinnerung bleiben wird. Ob im Guten oder Schlechten liegt daran, wie man sich zur Hauptfigur positioniert.

Ohne skandinavischen Mehltau, die Prise Melancholie ist hier erträglich, hat Vigdis Hjorth einen sehr ambivalenten Roman geschaffen, bei dem, alle Faktoren zusammen genommen, das Fazit schwerfällt. Rein sprachlich und handwerklich ein guter Text, damit auch mal Lob an die Übersetzerin Gabriele Haefs. Von der Handlung der Protagonistin her, so manches Mal zum Haare raufen.

Autorin:

Vigdis Hjorth wurde 1959 in Oslo geboren und ist eine norwegische Schriftstellerin. Sie studierte Ideengeschichte, Politikwissenschaften und Literatur und veröffentlichte zunächst ein Kinderbuch, lebte in Kopenhagen, Bergen, Schweiz und Frankreich. Es folgten weitere Romane, die mehrfach ausgezeichnet, übersetzt und verfilmt wurden. Sie war für den National Book Award sowie den Literaturpreis des Nordischen Ratzes nominiert.

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Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Inhalt:

Großartig und nervtötend, liebevoll und erdrückend, aufopfernd, aber auch übergriffig – Michel Bergmann liebt seine Mutter Charlotte und hält sie manchmal nicht aus. Und erzählt in diesem Buch, in dem er nichts und niemanden schont, die Geschichte einer eigenwilligen, starken Frau: ihre Vertreibung aus Deutschland, der Verlust fast der gesamten Familie, das Glück, ihren künftigen Ehemann wiederzufinden, und dennoch ein Schicksal, bei dem sie allzu oft ganz auf sich allein gestellt ist.

Ein bewegendes Buch über eine faszinierende Frau und Mutter. (Klappentext)

Rezension:

„Woody Allen hat gesagt: Das schlechte Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Recht hat er.“

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

„Dafür nun habe ich überlebt.“, so oder ähnlich klingen die Vorwürfe, die sich Michel Bergmann Zeit seines Lebens anhören muss, aus dem Munde derjenigen, die ihm am nächsten stehen sollte. Das tut sie auch, doch das Leben spielte der Mutter, wie allzu vieler ihrer Generation übel mit. Geschehnisse, die lange danach noch Wirkung zeigen, in den Familien übergreifend. Der Autor schaut, Jahre nach dem Tod, zurück, sucht die Wegmarker und Wendepunkte und damit, seine Mutter mehr zu verstehen als er es zu ihren Lebzeiten konnte. Entstanden ist eine Mischung aus Romanbiografie, Familienepos, Ode und Psychogram, hart zu der Frau, die er zu seiner Hauptprotagonistin macht, aber auch sich selbst nicht schonend.

Der Filmemacher weiß sich unterschiedlicher Genre zu bedienen und setzt deren Elemente gekonnt um. Der Handlungsverlauf gleicht im Spannungsverlauf eben dem eines guten Films, während dessen er sich an den biografischen und neuralgischen Punkten des Lebens seiner Mutter entlang hangelt. Zuweilen ist das fast wie ein Krimi zu lesen, aber eben in Romanform erzählt Michel Bergmann liebevoll aus dem Leben seiner Mutter. Ihre und seine Perspektive sind die bestimmenden Elemente, die Abwechslung in diese kurzweilige Erzählung bringen. Die Kapitel sind benannt nach den einzelnen Stationen dieser bewegten Biografie, bei der man immer wieder innehalten muss. Um zu schmunzeln, laut loszulachen, auf das einem das Lachen im nächsten Moment im Halse stecken bleibt.

Erzählt wird die Geschichte der Mutter über die gesamte Lebensspanne, konzentriert auf die neuralgischen Punkte. Der Autor könnte noch viel mehr erzählen, doch beherrscht er des Berufs wegen die Kunst des Reduzierens. Auf die Leinwand kann man schließlich auch nicht alles bringen, was man gerne möchte. Überflüssige Zeilen gibt es hier auch zwischen den Buchdeckeln nicht. Dabei lässt Michel Bergmann die unterschiedlichsten Handlungsorte vor dem inneren Auge entstehen. Wir folgen der Protagonistin, deren Ansichten sich über die Jahre verhärten werden, in der Rückschau wird das Schicksal sie verbittern lassen, durch Deutschland in seiner schlimmsten, später auch in seiner besten Zeit, in die Schweiz und nach Frankreich. Wenige Worte genügen hier manchmal, um ganze Welten lebendig erscheinen zu lassen.

Hauptfiguren bilden der Erzähler selbst und seine Protagonistin, die wie zwei gegensätzliche Pole einander abstoßen, aber doch nicht ohne einander können. Diese Konstellation kommt aber auch bei den Nebencharakteren zum Tragen, doch während der Sohn mit dem Abstand der Generation das Konfliktpotenzial sieht und zu bewältigen weiß, kann sich die Mutter nicht davon befreien.

„Und die Ingredienzen dieses neuen Lebens durch Überleben haben nicht nur psychische Schäden verursacht. Sie haben Krankheiten und Todesursachen provoziert und letztlich auch die Gene verändert, die an uns weitergegeben wurden. Bis heute werden die Auswirkungen dieser schweren, lebensbedrohlichen Jahre der Schoah unterschätzt. Wir alle wären andere. Und unserer Kinder ebenfalls. Davon bin ich zutiefst überzeugt.“

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Brüche in der Erzählung ergeben sich durch die Protagonisten selbst, nicht zuletzt durch den Erzählenden, der zwischen den Zeiten springt, um damit andere Punkte dieser Geschichte unterfüttern. Im Lesefluss selbst ist das keinesfalls störend. Es ergibt sich sogar eine gewisse Dynamik und ein Erzähltempo, welches es verhindert, dass man vollends in nicht enden wollende Melancholie hinabstürzt, aus der man nicht wieder hinausfinden würde. Dem Lesenden wachsen die Figuren mit all ihren Ecken und Kanten ans Herz. Vielleicht sollten wir alle uns die Geschichte unserer Eltern anschauen, mag man hinterher meinen, um sie zu begreifen, um sich selbst besser zu verstehen.

Der Autor weiß die Wirkung von Sätzen und sprachlichen Bildern zu nutzen, setzt sie gekonnt und nicht über die Maßen ein, setzt damit seiner Mutter, die er zur Hauptprotagonistin macht, ein Denkmal, nicht ohne dieses selbst zu hinterfragen. Immer wieder steht die Frage im Raum, was wäre wenn, um im gleichem Atemzuge beantwortet zu werden, mit: „So. Und nicht anders.“ Diesem Stil kann man sich nicht entziehen, möchte man auch nach wenigen Seiten schon nicht, trotz einer Figur, die in Teilen unnahbar, manchmal fast unangenehm bleiben wird.

„Ich lehne mich zurück, atme tief durch. Was für eine Geschichte! Meine Mutter ist aber auch schrecklich. Ich muss lachen. Ich liebe sie.“

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Es ist ein Buch über ein Blick hinter die Fassade eines Menschen und auch die Suche des Autoren nach sich selbst. Am Ende scheint Michel Bergmann auf viele seiner Fragen Antworten gefunden zu haben. Diesen Weg zu verfolgen, durch sprichwörtlich viel zu viele und zu tiefe Täler, immer wieder aber auch Berge des Glücks, okay, das klingt jetzt kitschig, war interessant und lesenswert. Gelernt hat man am Ende auch etwas dabei und sei es nur eine ganze Reihe jüdischer Ausdrücke und Begrifflichkeiten, die Bergmann am Ende des Romans, der eigentlich eine Biografie, eine Suche und auch sonst darstellt, erläutert. Ein Text der so viel schafft, den Autoren sicherlich und nicht zuletzt, die Lesenden selbst herausfordert, den kann man nur empfehlen.

Autor:

Michel Bergmann wurde 1945 in Basel geboren und ist ein schweizerisch-deutscher Filmproduzent, Regisseur und Schriftsteller. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung bei der Frankfurter Rundschau und war anschließend als freier Journalist tätig.

Später wechselte er in die Filmbranche und arbeitet seither als Drehbuchschreiber, Regisseur und Produzent. Sein erster Roman wurde im Jahr 2010 veröffentlicht, weitere folgten, 2021 seine erster Kriminalroman. Er erhielt u. a. den Deutschen Industriefilmpreis und den New York Film Award.

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Barbara Constantine: Kleiner Tom, was nun?

Inhalt:

Tom ist elf Jahre alt. Mit seiner viel zu jungen Mutter Joss wohnt er in einem alten Wohnwagen, und weil Joss abends gerne ausgeht, sich verliebt und mit Freunden wegfährt, ist Tom oft allein. Sein Essen klaut er in den Gemüsegärten der Nachbarschaft. Hier rupft er eine Karotte aus der Erde, dort eine Kartoffel. Aber er ist sehr vorsichtig.

Sorgfältig beseitigt er seine Spuren, steckt die Pflanzen zurück in die Erde und buddelt die Löcher wieder zu. Eines Abends, als er einen neuen Garten betritt, um etwas zu essen zu suchen, stolpert er beinahe über die dreiundneunzigjährige Madeleine, die zwischen ihren Kohlköpfen liegt und weint. Tom nimmt sich ihrer an, denn ehrlich gesagt: Zusammen ist man weniger allein … (Klappentext)

Rezension:

Wie schön sind doch Erzählungen, in denen nichts aber eigentlich ganz viel passiert. Als solche entpuppt sich der Roman der französischen Autorin Barbara Constanine, den man nichtsahnend aufschlägt, um sofort in eine liebevolle Geschichte hinein zu geraten.

Lesend folgt man den Fußspuren des kleinen Hauptprotagonisten, der eine viel zu große Last auf seinen schmalen Schultern tragen muss. Tom streift durch die Gärten der Nachbarschaft, um die für seine Mutter und sich ohnehin unregelmäßigen und kargen Mahlzeiten zu ergänzen. Ohne es zu wissen, sind seine Erkundungsgänge schon längst entdeckt. Nicht dies, auch nicht gefundene Möhren oder die Katze der Nachbarn lassen ihn eines Abends aufschrecken. Eine ältere Frau liegt hilflos in ihrem Garten. Tom hilft ihr auf und setzt damit unwissentlich Veränderungen in Gang.

Diese Geschichte ist unter den Deckmantel einer reinen Erzählung zum Wohlfühlen mehr als es Klappentext oder Verlagsinhaltsangabe hergeben, hat es die Autorin doch geschafft auf wenigen Seiten so viel anderes umzubringen. Die Entwicklung einer Mutter-Sohn-Beziehung in vertauschten Rollen, hier ist eindeutig der Kleine der Große, ebenso wie eine anrührende Coming-of-Age-Geschichte sind hier zu finden, ein Roman über Freundschaft und Familie, Veränderungen.

Der Roman spielt in einem nicht näher benannten Zeitfenster, doch dürfte der Handlungsstrang nicht mehr als über ein paar Wochen hinausgehen. Das reicht der Autorin dennoch, um vor allem ihren Hauptprotagonisten Konturen zu geben. Andere Figuren werden im Laufe der Handlung nur soweit ausgearbeitet, wie es zur Erzählung beiträgt, doch hat man gegen Ende das wohltuende Gefühl, nichts zu vermissen. Hier ist weniger mehr, stattdessen Konzentration aufs Wesentliche. Antagonisten braucht Constantine nicht, um zu zeigen, was der Titel des Werks impliziert, welches Susanne van Volxem liebevoll ins Deutsche übersetzt hat.

„Kleiner Tom, was nun?“, wird innerhalb der Kapitel per Perspektivwechsel zwischen den Figuren erzählt. Misslungene Sprünge oder störende Wechsel fehlen, auch das Erzähltempo bleibt nahezu die gesamte Geschichte über unverändert. Vielleicht kann man, außer die Gefahr in Kauf zu nehmen, ins Kitschige zu geraten, was die Autorin umgangen hat, bei dieser Art von Erzählung auch nicht viel falsch machen. Man bleibt dabei, nicht weil es so sehr spannend wäre, was man da vor sich hat, es ist einfach wie etwas, was man konsumiert, um sich hinterher besser zu fühlen. Ohne dafür negative Seiten in Kauf nehmen zu müssen.

Sprachlich ist das alles kein großer Wurf, ein Roman für Zwischendurch ohne besonderen Anspruch. Es genügt, dass man sich in den Hauptprotagonisten hineinversetzen, die Tomaten, die er mopst, förmlich greifen kann, den Hunger spürt, aber auch das Wechselspiel zwischen den Figuren beobachtet. Mehr möchte man dann auch nicht. Vielleicht ein wenig von der Tom Tomatensoße? Das würde schon reichen.

Es ist eine einfache Geschichte für Zwischendurch, um den Kopf frei zu bekommen, aber auch sich berühren zu lassen. Die Welt durch Kinderaugen ist nicht immer einfach, aber manchmal dadurch ein wenig besser.

Autorin:

Barbara Constantine wurde 1955 geboren und ist eine französische Drehbuchautorin, Töpferin und Schriftstellerin.

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Yara Nakahanda Monteiro: Schwerkraft der Tränen

Inhalt:

Was löst es aus, in einen Kampf hineingeboren zu werden, der nicht der eigene ist – und der doch alles beeinflusst?

Vitorias Leben besteht aus Erinnerungen. Aus Bildern, Gerüchen, dem Geschmack von saurer Milch. Da sind die Säulen eines Traumas, das sie nicht überwinden kann. Vitoria flieht während des Kriegs für die Unabhängigkeit Angoas mit ihren Großeltern nach Portugal, lernt ihre Mutter nie wirklich kennen. Jahre später bricht Vitoria aus, entdeckt die Einzigartigkeit, aber auch Zerrissenheit dieses, ihres Landes, von sich selbst. Ihrer Familie auf die Spur trifft sie in Huambo auf die Geister einer fremden Vergangenheit und muss lernen, dass es Risse gibt, die vielleicht zu tief sind, um noch geflickt zu werden. (Klappentext)

Rezension:

Der Krieg ist überall gleich, macht uns Menschen zu Monstern und bringt in Einigen von uns das beste zum Vorschein, in anderen alles schlechte. Manche der daraus entstandenen Wunden heilen nie. Sinngemäß könnte dies der Untertitel des vorliegenden Romans „Schwerkraft der Tränen“ sein, mit dem sich die portugiesische Autorin Yara Nakahanda Monteiro der Geschichte ihres Geburtslandes Angola und nicht zuletzt ihrer Familie fiktionalisiert annähert.

Im Zentrum der Erzählung steht die junge Vitoria, deren Großeltern kurz nach ihrer Geburt mitsamt der Enkelin nach Portugal fliehen, vor den Grausamkeiten des Unabhängigkeitskrieges in ihrer Heimat und den sich anbahnenden Bürgerkrieg. Nun, Jahre später, möchte die nun Erwachsene mehr über ihr Geburtsland erfahren, nicht zuletzt, über Beweggründe ihrer Mutter, die Tochter zu Gunsten eines ungewissen und brutalen Kampfes zu verlassen. Vitoria öffnet sich ein wirres gesellschaftliches Gefüge und entdeckt Wunden, die nie vollständig verheilt sind.

Beinahe in der Form einer begleitenden Reportage erzählt, eröffnet die Autorin ihrer Leserschaft den Blick auf eine Welt, der zumindest im westlichen Gefüge viel zu selten Beachtung und erst in letzter Zeit verdienende Aufmerksamkeit bekommt. Welche Folgen hatten Loslösungsbestrebungen von den Kolonialmächten in Afrika, darauf folgende Kriege und Bürgerkriege nicht nur für einzelne Regionen, sondern auch für die betroffenen Menschen, die von den Ereignissen überrollt und oft auf Generationen hinaus gezeichnet wurden? Aus Sicht der Protagonistin werden diese Risse nach und nach deutlich, wenn sich Vitoria im Verlauf der Geschichte ein immer schärferes Bild ihrer eigenen familiären Vergangenheit bietet.

Dabei bleiben andere Figuren reichlich blass. Monteiro gibt nur wenigen Charakteren Ecken und Kanten, was jedoch dem Erzählstil zu Gute kommt. Die Autorin konzentriert sich auf die innere Gefühlswelt Vitorias und nähert sich dabei ein Stück weit ihrer eigenen Geschichte an. Auch sie hat ähnlich der Hauptfigur als Kleinkind das Land verlassen. Besonders beindruckend wirkt der Text immer dann, wenn die junge Frau sich auf kleine Details, die sie beobachtet, fokussiert. Einzelne Passagen stechen hervor.

Doch, die Autorin verliert sich nicht in Belanglosigkeiten. Das Erzähltempo steigt mit zunehmender Seitenzahl. Kleinere Rückblicke und Konfrontationen erweitern den Blickpunkt der Lesenden, strahlen jedoch immer wieder auf die Protagonistin zurück. Die weiß immer genau so viel, wie auch die jenigen, die dieses Buch in den Händen halten. Übergänge sind sehr harmonisch gezeichnet.

Man fühlt die innere Zerrissenheit der Protagonistin, die die Geschichte ihrer Familie, deren Landes nachspürt, zugleich mittendrin ist und doch außen vor steht. Das chaotische Treiben, Willkür, Korruption, Armut und doch Lebensfreude der Menschen dort, schafft Monteiro sehr plastisch wirken zu lassen. Die Autorin leistet damit einen wertvollen Beitrag der Vergangenheitsbewältigung der mit ihr verbundenen Länder. Erzählt wird dabei die Tragik einer ganzen Epoche in einem Zeitabschnitt aus wenigen Wochen. Vorkenntnisse indes braucht man als Lesender nicht. Monteiros Erzählung steht für so viele Familienschicksale Afrikas im Zeichen der Wende von der Kolonialherrschaft zur Unabhängigkeit, mit all den bekannten Folgen, die dort noch heute zu spüren sind.

Die eine oder andere Konfrontation mehr, in manchen Abschnitten eine noch stärkere Fokussierung hätten der sonst sehr eingängigen Geschichte gut getan, welche dennoch empfehlenswert ist. Vom Erzähl- und Schreibstil, den nachverfolgten und klaren Handlungssträngen und den Spannungsmomenten her, ist dies eine der ersten Geschichten aus der Feder einer portoguiesischen Autorinnen, die mir wirklich gefällt. Ergänzend dazu sei gesagt, angolanische und portugiesische Begriffe werden in einem ergänzenden Glossar erklärt.

Warum man aber die Triggerwarnung, wenn man schon eine schreibt, jedoch in Winzschrift in den hinteren Seiten des Romans versteckt, bleibt wohl Geheimnis des Verlags. Die werden die meisten wohl erst entdecken, nachdem sie das Buch gelesen haben. Dann ist es jedoch zu spät.

Autorin:

Yara Nakahanda Monteiro wurde 1979 in Huambo, Angola, geboren und wuchs in Portugal auf, wo sie schon früh mit dem Schreiben begann. Sie schrieb Drehbücher, Kurzgeschichten und für Podcasts, bevor sie mit „Schwerkraft der Tränen“ ihr erstes Buch veröffentlichte, welches in mehreren Sprachen übersetzt wurde.Nach Stationen rund um die Welt lebt sie heute wieder in Portugal.

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Alex Schulman: Die Überlebenden

Inhalt:

Vor zwei Jahrzehnten ging hier ein Riss durch die Welt. Jetzt kehren die Brüder Benjamin, Pierre und Nils zum ort ihrer Kindheit – ein Holzhaus am See – zurück, um die Asche ihrer mutter zu verstreuen. Eine Reise durch die raue, unberührte Natur wie auch durch die Zeit. Was ist damals wirklich passiert?

Über die verheerende Liebe einer Mutter und über drei Brüder, die einander das Leben retten: Alex Schulmans Roman „Die Überlebenden“ dringt zu unseren Hoffnungen und Ängsten vor, zu unserem innigsten Wunsch nach Vergebung. Zu dem, was uns zu Menschen macht. (Klappentext)

Buchtrailer, dtv, Alex Schulman „Die Überlebenden“.

Rezension:

Flirrend rinnen die Sonnenstrahlen durch die Finger. Am Platz der Kindheit scheint die Zeit all die Jahre still gestanden zu haben. Die Plastikstühle stehen noch am gleichen Platz. Bäume, Sträucher, die kleine Hütte und das Bootshaus haben sich kaum verändert.

Lange, nachdem die Brüder ihre eigenen Wege eingeschlagen haben, finden sie dort wieder zusammen, wo sie als Jungen ihre Sommer verbracht haben. Ironischerweise ist es der Tod der Mutter, die die Geschwister miteinander konfrontiert. Lange davor hatte es den Bruch gegeben, der Nils, Benjamin und Pierre entzweite und an dem die Familie zerbrach. Risse hatten sich schon eher gezeigt. Der Erwachsene, Benjamin, stellt sich die Frage: Was ist passiert?

Er mustert seine Brüder, wahrscheinlich liebt er sie.

Alex Schulmann: Die Überlebenden

Still und leise beginnt der Erzähler in seine Kindheit einzutauchen. Er, der schon immer beobachtende, sieht seine Familie hier vor sich, an dem Ferienhaus am See, an der die heile Welt immer schon zum Greifen nah war, doch die umgebenden Eltern immer abwesend waren. Liebevolle Momente blitzen auf, doch entfliehen sie Benjamins Erinnerungen und werden von all den schlechten überdeckt.

Alex Schulman legt mit „Die Überlebenden“ ein erschütterndes Debüt vor. Die Hauptprtagonisten sind seinen Geschwistern und ihm nach empfunden, einzelne Ereignisse tatsächlich wie beschrieben passiert. Unwillkürlich fragt man sich beim Lesen, wo Wahrheit und Fiktion zu trennen sind, hofft, dass es mehr Momente des Glücks als beschrieben gegeben haben mag, um im nächsten Abschnitt förmlich zu spüren, wie den hilflosen Jungen die Luft im übertragenen Sinne abgedrückt wird.

Alle ziehen sie an ihm vorbei, all die Jungen, die er gewesen ist.

Alex Schulman: Die Überlebenden

Nach außen hin wahrt die Familie, deren Mitglieder so wunderbar ausgestaltet sind, den Schein, zusammen und doch für die jeweils anderen abwesend. Nicht ist schwarz, nichts ist weiß. Grautöne beherrschen im übertragenen Sinne das Bild, die Handlung. Wut und Bestürzung auf die jeweils handelnden Personen wechseln sich Kapitel für Kapitel ab. Mit Hilfe der Sprache ist zusätzlich ein Sog entstanden, den man sich kaum entziehen kann.

Er und seine Brüder waren in einem Oberklassehaushalt aufgewachsen, und doch unterhalb des Existenzminimums.

Alex Schulman: Die Überlebenden

Die Großtaten moderner skandinavischer Literatur sind hier vereint. Zeitsprünge und das wechselseitige Zuspielen der Bälle durch die Protagonisten geben hier eine Dynamik,
die wirkt. An manchen Stellen liest man beinahe einen Kriminal-, dann wieder einen Familienroman. Der erzähler selbst gibt die Geschehnisse wieder. Er wertet nicht. Er fragt nach und kommt auf keine Antworten. Wer hat die schon?

„Eines weiß ich über Wälder“, sagte Papa. „Und zwar, dass jeder seinen eigenen Wald in sich trägt, den er in- und auswendig kennt und der ihm Geborgenheit gibt. Und einen eigenen Wald zu haben, ist das Schönste, was es gibt. Wenn du oft genug durch diesen Wald läufst, kennst du bald jeden Stein, jeden schwierigen Weg, jede umgeknickte Birke darin. Und dann ist es dein Wald, dann gehört er dir.“ Benjamin blickte in das lichte Dunkel. Es fühlte sich nicht an, als wäre es seines.

Alex Schulman: Die Überlebenden

Es ist eine Geschichte über Vertrauen und über Fehler, über Brüche und Heilung, über Entscheidungen und schließlich über Leben und Tod, was wir daraus machen und für uns mitnehmen, und der Erkenntnis, das manche Risse zu tief sind, um sie zu kitten, es jedoch nie zu spät ist, es wenigstens zu versuchen.

Autor:

Alex Schulamn wurde 1976 in Hemmesdygne, Schweden, geboren und ist ein skandinavischer Schriftsteller, Journalist und Blogger. Er schreibt für diverse TV-Shows und startete im Jahr 2006 einen Blog, zudem für diverse Zeitungen und Magazine Beiträge, zuletzt moderierte er eine TV-sendung und startete 2012 einen eigenen Podcast.

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