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Fatih Cevikkollu: Kartonwand

Inhalt:

Sie steht symbolisch für den Traum vom baldigen Glück in der Heimat: eine ganze Wand aus Kartons, in denen alles verstaut wird, was schön und wertvoll ist – für das spätere Leben in der Türkei. Was macht es mit Menschen, wenn sie irgendwann merken: der Traum zurückzukehren hat sich nicht erfüllt? Und das neue Zuhause möchte einen lieber heute als morgen loswerden, egal, wie lange man schon hier lebt und wie sehr man sich auch anstrengt?

Fatih Cevikkollu erzählt von den generationsübergreifenden Wunden, die die Arbeitsmigration gerissen hat, und gibt so einer bisher übersehenen Gruppe eine Stimme: die der sogenannten “Gastarbeiter” und ihrer Familien. (Klappentext)

Rezension:

In einer Mischung aus Familiengeschichte, Biografie, Bericht und Zustandsbeschreibung sucht der Theater- und Fernsehschauspieler Fatih Cevikkollu Antworten auf drängende Fragen, die sich für ihn spätestens seit dem Tod seiner Mutter, hintergründig jedoch schon viel eher gestellt hatten. Wo liegen Ursachen und auslösende Momente der Psychose, die sie ins Unglück stürzten und an denen die Familie augenscheinlich zerbrach und wie weit reichen die Geschehnisse, so sie es tun, in das Tun und Wirken seiner, d. h. der nachfolgenden Generation hinein?

Die Eltern gehören zur ersten Generation der sogenannten Arbeitsmigranten, die in den 1960er Jahren im Rahmen des Abwerbeabkommens mit der Türkei nach Deutschland kamen und so einen bedeuteten Anteil zum Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit beitrugen. Gedankt wurde es ihnen nicht. Der deutsche Staat nicht gewillt, herkommende Menschen zu integrieren, macht es ihnen bis heute nicht leicht, die Gesellschaft ebenso wenig, auch in der ursprünglichen Heimat war später kaum ein Anknüpfen möglich. Und so blieb diese Generation entwurzelt ohne neue Wurzeln schlagen zu können. Dies hatte, ebenso auf sie wie auf die Kinder ihren Einfluss.

Fatih Cevikkollu begibt sich auf die siche, spürt der eigenen Familiengeschichte nach und analysiert zunächst die geschichtlichen Grundlagen und Ausgangsvoraussetzungen, auf die der neue deutsche Staat nach Kriegsende fußte und welche Überlegungen seitens Politik und Gesellschaft den Anwerbeabkommen vorausgingen. Darauf aufbauend nimmt er die eigene Familiengeschichte in Bezug. Lassen sich so seine drängensten Fragen klären? Wie weit gelten sie?

Für die Familie, für die Mutter, die eigentlich psychologischer Hilfe bedurft hätte, aber nie Zugang dazu bekam. Zugleich sachlich und einfühlsam analysiert er in kompakter Form diese Punkte und setzt sie zueinander in Bezug. Anhand von persönlich Erlebten, ob von Familienmitgliedern erzählt oder aus der eigenen Erinnerung heraus, wird das Erzählte verdeutlicht und gibt so einen Einblick in eine Thematik, die bisher kaum registriert wurden ist. Dabei kennt man die Grundproblematik durchaus, in Bezug auf die nachfolgenden Generationen der Überlebenden des Holocausts und der Frage, warum habe ich überlebt? Abgesehen von der Fragestellung ist die Frage, in wie weit Traumata in nachfolgende Generationen hineinreichen, die gleiche.

Der Autor hat sich in “Kartonwand” ein wichtiges Stück der jüngeren Zeitgeschichte vorgenommen, deren Riss sich durch viele Familien in Deutschland und der Türkei zieht und ihre Spuren hinterlassen hat. Von der Ausgangssituation folgen wir seinen Ausführungen über die erste Generation der Migranten bis ins heute zu einem Zeitpunkt, in der deren Kinder längst erwachsen sind und als Folge ihren Platz in der Gesellschaft suchen müssen, was ihnen immernoch erschwert wird.

Wie viel können Menschen aushalten, denen übergreifend immer wieder verdeutlicht wird, dass kein Platz für sie vorgesehen ist. Cevikkollu möchte verstehen, jedoch auch die Aufmerksamkeit schaffen, am Beispiel seiner Familie, welche seelichen Wunden da geschaffen wurden und dass unsere Gesellschaft dies verstehen und danach handeln muss. Zwischen den Zeilen ist berechtigt zu lesen, hier kommt ein Land schlicht und einfach einer Fürsorgepflicht gegenüber denen nach, die alles Recht dazu hätten, dies einzufordern, auch rückwirkend, zumal wenn man sieht, dass es eben doch bei zahlreichen Beispielen funktioniert, wie man z. B. an den ukrainischen Flüchtlingen sieht. Da wurde viel richtig gemacht. Warum nicht so, von Anfang an.

Dies wird nur kurz angesprochen, dem Autoren liegt es fern, Menschen gegeneinander auszuspielen, aber er möchte verdeutlichen und zieht Vergleiche, um zu veranschaulichen. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass er nicht auf Allgemeingültigkeit besteht, sich vor allem auf das Schicksal seiner Mutter und Familie beschränkt und stetig versucht, diesen Fokus aufrechtzuerhalten, um sich so auch viele Gegebenheiten aus seiner Kindheit im Nachhinein zu erklären.

Die detailreiche familienbiografische Analyse, die sich nicht so trocken liest, wie das klingen mag, lässt einem fassungslos zurück, zudem wenn man weiß, wie ein Land und seine Gesellschaft den gleichen Fehler mehrfach begehtm, bis heute. Ausnahmen, siehe oben. “Kartonwand” regt zum Nachdenken an und schafft Grundlage, nicht nur anhand dieser Familiengeschichte etwas aufzuarbeiten, worüber bisher überwiegend geschwiegen wurde. Von beiden Seiten.

In sofern ist dies ein wichtiger, dennoch kurzweilig formulierter, Text, sowohl für Betroffene, vielleicht als Anlass ebenfalls die eigene Familiengeschichte zu verstehen, andererseits die Stimme zu erheben und für die Gesellschaft sollte es ein wichtiger Denkanstoß sein. Vielleicht lassen sich so auch Handlungs- und Denkweisen bestimmter Gruppen nachvollziehen, um künftig Ursachen, die sich so auswirken, gleich aus den Weg räumen. Wenn der Autor mit der Geschichte seiner Familie dazu einen Anstoß gegeben hat, hat er mit “Kartonwand” etwas erreicht.

Autor:

Fatih Cevikkollu wurde 1972 in Köln geboren und ist ein deutscher Theater-, Film- und Fernsehschauspieler und Kabarettist. Er arbeitete zunächst als Theaterschauspieler, bevor er an der Hochschule Ernst Busch in Berlin studierte und ans Düsseldorfer Schauspielhaus ging.

Später übernahm er eine Rolle in der Fernsehserie “Alles Atze”, spielte auch verschiedene Film- und Fernsehrollen. Seit Mitte der 1990er Jahre war er zudem Mitglied der Hip-Hop-Gruppe Shakkah. 2006 bekam er den Jurypreis Prix Pantheon und 2008 folgte die Veröffentlichung seines ersten Buches, dem weitere folgten. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet.

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Die Frankfurter Buchmesse 2023

Der Innenhof, die Aurora, der Frankfurter Messe. Blick auf die Hallen 3.0 und 3.1. (Quelle: Privatarchiv)

Im vergangenen Jahr stand die Buchmesse in Leipzig einige Wochen lang auf der Kippe und so hatte ich mich ziemlich schnell entschlossen, für beide Termine Urlaub zu nehmen, damit ich im schlechtesten Falle zumindest eine Buchmesse gehabt hätte. Sicher war ich mir nur, dass zumindest Frankfurt als Messe für den großen Lizenz- und Rechtehandel nicht gecancelt werden würde, Leipzig als Lesemesse für das Gefühl schon eher. Dass es anders kam und wieder zwei große Buchmessen stattfinden konnten, die eine mit einer vorausschauenden Verlegung in den April hinein, ist großartig. So habe ich beide Messen mitnehmen können. Die vergangene in Frankfurt war zudem für mich eine Premiere.

Angereist bin ich den Tag vor Messebeginn, was sich schon für Leipzig bewärt hat und hier ebenso gut funktionierte. Die Bahn war sogar pünktlich, was ja auch nicht immer selbstverständlich ist. So ging es entspannt zur Pension und ebenso gemütlich am nächsten Tage zum Messegelände, welches in den ersten zweieinhalb Tagen bereits für das Fachpublikum seine Tore geöffnet hatte. Erkenntnis zu Beginn, wer bisher nur die Leipziger Buchmesse gewohnt ist, ist mit dem Pendant in Frankfurt zunächst einmal heillos überfordert. Lange Gänge, sehr viele Hallen mit mehreren Etagen. So verteilten sich die deutschen Verlage beispielsweise auf die Hallen 3.0 und 3.1. Gut, dass ich einen Messeplan hatte und mir aufgeschrieben hatte, wo welche Veranstaltungen, die mich interessieren, stattfinden würden. Die Möglichkeit einer App gab es auch, welche ich sehr gut strukturiert finde, aber da ich meinem alten Smartphone, der Leistunsgfähigkeit des WLAN auf dem Messegelände nicht über den Weg traue, hatte ich mir vorab Notizen gemacht. Trotzdem habe ich natürlich anfangs immer wieder auf den Plan schauen müssen. Wo bin ich und wo muss ich hin?

Sich zu verirren hat man aber in den ersten Tagen noch gekonnt. An jenen für Fachbesucher ist einfach noch nicht so viel los und so konnte man gut zwischend en Gängen und Hallen wandeln, was am Besucher-Wochenende so einfach nicht mehr möglich war. Bahne dir einmal einen Weg an den Schlangen von Strobel und anderer Autoren vorbei, zumal wenn alle großen Publikumsverlage auf einer Ebene platziert wurden, was wohl intern auch ein wenig für Unmut gesorgt hat.

Noch war aber nicht Wochenende, so dass ich nach und nach ganz entspannt an den Ständen schauen und mit Verlagsmitarbeitenden sprechen konnten, sofern diese einmal greifbar waren, was bei denen naturgemäß auch nicht oft der Fall ist, zumal wenn die Terminkalender, dies ist einfach in Frankfurt so, eng getaktet ist. Trotzdem kamen im Laufe der Tage wunderbare Gespräche zustande, vor allem an den Ständen kleiner unabhängiger und mittelgroßer Verlage, während es bei den größeren manchmal beiderseits nur für die Übergabe der Visitenkarte reichen musste. Das ist aber in Ordnung so und auch eingeplant, wenn auch sich einige nicht ganz so zugänglich zeigten, aus verschiedenen Gründen heraus. Vielleicht muss man sich auch einfach in solch eine Messe eingrooven. So ging es mir anfangs zumindest.

Auch während der Fachbesucher-Tage fanden bereits Lesungen statt, deren Aufzeichnung jetzt sicher in den Mediatheklen diverser Fernseh- und Rundfunksender, auf Youtube und bei diversen Zeitungen zu finden sein dürften. Davon habe ich einige mitnehmen können, so hat Tobias Lehmkuhl etwa sein Sachbuch “Der doppelte Erich – Kästner und das Dritte Reich” vorstellen können oder Nilufar Karkhiran Khozani ihren Roman “Terafik”. Im Verlauf der Tage gab es noch mehr Lesungen und Gesprächsrunden, denen ich lauschen konnte, etwa Deborah Feldman mit ihrem Buch “Judenfetisch” oder “Meine Mutter hätte es Krieg genannt”. So heißt das Sachbuch von Tochter Vera über ihre Mutter Anna Politkowskaja.

Dazwischen Autoren und Autorinnen wie Ewald Frie, der vor kurzem den Deutschen Sachbuchpreis erhalten hatte oder Tonio Schachinger mit seinem Roman “Echtzeithalter”, welcher mit dem Deutschen Buchpreis 2023 ausgezeichnet wurde, aber auch Autoren wie Andrej Karkow, Joachim B. Schmidt oder Isabel Schayani waren zugegen, mit Themen und Werken, die in der einen oder anderen Form hier noch auftauchen werden. Überhaupt dominierten für mich einzelne Länderschwerpunkte, wie man sich halt Lesungen und Gesprächsrunden vorher heraussucht, wenn man nicht nur ohne Plan durch die Hallen schlendern möchte. Eine dieser war dem Gastland vorbehalten, welches sich mit der dichtesten Dichte an Dichtern rühmt. Slowenien. Zumindest kurz hatte ich Zeit, mir deren schön gestaltete Räumlichkeiten auch anzusehen.

Egal ob jetzt Frankfurt oder, wie sonst immer Leipzig, solche Buchmessen nutze ich gerne zur Ideensammlung. Dabei hilft sicherlich auch die eine oder andere Veranstaltung, sei es am Stand des Karl Rauch Verlags, der dieses Jahr sein hundertjähriges Bestehen feiert, bei Mirabilis oder auch bei den ganz großen, die zu Blogger-Empfängen geladen hatten, wie etwa S. Fischer, Kiepenheuer & Witsch zusammen mit Diogenes oder auch der Sachbuchverlag Dorling Kindersley. Der weiß nicht nur wunderschöne und informative Lexika herauszugeben, sondern auch giftblaue Cocktails zu servieren.

Ab Freitagnachmittag wurde es dann voll. Voller. Am Vollsten. Und das blieb dann auch so die restliche Zeit, als auch endlich das Lesepublikum in die Hallen gelassen wurde. An großen Publikumsverlagen war dann schlicht und einfach sehr schnell ein Vorbeikommen nicht mehr möglich, zumal wenn noch Signierstunden an den Ständen durchgeführt wurden. Da darf mann dann schon fragen, warum zumindest für die deutschsprachigen Verlage nicht noch eine zusätzliche Halle geplant wurde. Das hätte vielleicht schon ausgereicht. Für einige Autor:innen gab es ja zudem einen extra platzierten Signierbereich, für den man sich ein Zeitslot buchen konnte.

Kein Durchkommen mehr an den Besuchertagen. (Quelle: Privatarchiv)

Das setzt zwar einerseits voraus, dass die Verlage das auch kommunizieren, dass es einen solchen braucht, andererseits jene, die ein Zeitfenster ergattern konnten, mussten so auch nicht ewig und drei Tage Schlange stehen. Zu diesem Zeitpunkt selbst war natürlich kein Zeitslot mehr zu bekommen. Ein kleiner Junge hatte dennoch Glück und erwischte die Autorin seines Buchs, direkt nach der Signierstunde am Ausgang des Bereichs. Ich konnte mein Buch einer netten Dame übergeben, die ein Ticket zuvor ergattert hatte und so dies für mich signieren lassen konnte. So habe ich jetzt ein Autogramm von MinaLima. Und wenn die Messe dann so endet, mit der Erkenntnis, dass es immernoch, in all dem Trubel der so um einen herum passiert, gute Menschen gibt, ist das doch eine schöne Erkenntnis abseits dort durchaus ernst diskutierter Themen.

Für mich ziehe ich ein insgesamt doch positives Fazit von der Messe, nicht nur wegen der interessant zu verfolgenden Lesungen und Gespräche, trotz ein paar irritierender Gesprächswechsel. Die meisten waren großartig. Viele Menschen durfte ich kennenlernen, wieder treffen und mich austauschen, ebenso zahlreiche Ideen für kleine und größere Projekte sammeln, so dass ich nicht ausschließen möchte, künftig neben Leipzig regulär auch Frankfurt erneut zu besuchen. Wenn es die Unterkunftspreise zulassen. Dann aber vielleicht nur an den Fachbesuchertagen. Die Besuchertage kollidieren, meinem Gefühl nach, mit dem Konzept und der daraus folgenden Planung der Messe. Und das wird dann sehr schnell einfach nur noch viel zu viel.

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Lena Gilhaus: Verschickungskinder

Inhalt:

Über 15 Millionen Mal wurden Kinder in der BRD und der DDR seit 1945 zur Kur geschickt. Für viele von ihnen waren diese Wochen prägend – und danach haben sie kaum darüber geredet. Wie haben sie diese Zeit erlebt? Wer hat sie dort betreut? Was haben sie davon mitgenommen? Und welche Tiefenwirkungen hatte das für die Gesellschaft der Nachkriegszeit? (Klappentext)

Rezension:

Ein Gefühl der Unsicherheit und Beklemmung beschleichen dem Vater von Lena Gilhaus, der sich zusammen mit seiner Schwester und Tochter aufmacht, um die Spuren weniger Wochen auszumachen, die sein Leben im Unterbewusstsein für immer verändert haben. Auf Sylt waren die Geschwister in ihrer Kindheit auf Kur, von den Eltern getrennt. Danach sollte nichts mehr so sein, wie zuvor. Über die Reise und Recherche veröffentlichte die Autorin kurz darauf einen Artikel und brachte damit eine Lawine ins Rollen. Lena Gilhaus stieß auf immer mehr Geschichten von Menschen, die sich bei ihr meldeten oder in Foren sich selbst auf Spurensuche begeben hatten und auf Mauern des Schweigens stießen. Das nun vorliegende Werk erzählt die Geschichte einiger von ihnen.

Unter den Deckmantel von Gesundheitsprävention und Erholungskuren wurden Schätzungen zufolge bis zu 15 Millionen Kinder wochenlang ihren Familien entnommen, in die Berge oder ans Meer geschickt, doch war der systemische Eingriff behördlicher Institutionen nichts anderes als die Kontrolle über Kinder aus milieugefährdeten Familien oder solcher, die man dafür hielt. Bis hinein in die 1980er Jahre sahen sich schon Kleinstkinder mit einem in der Gesellschaft verwurzelten System schwarzer Pädagogik konfrontiert, welches sich seit Weimarer Zeit etabliert hatte, sich jedweder Kontrolle entzog und sich nur langsam wandelte.

Wenige haben diese Wochen positiv in Erinnerung. Zu sehr bestimmten fernab der eltern physisische und psychische Gewalt den Alltag in oftmals maroden, unterfinanzierten Einrichtungen, in denen Personalmangel und veraltete Ansichten nicht nur zu Zwangsernährung oder Isolation führen konnten. Auch zu Missbrauchs- und Todesfällen kam es, über die Verbände und Behörden nur allzu oft einen Mantel des Schweigens legten.

Wie konnte sich ein solches System so viele Jahre in beiden deutschen Staaten halten? Woraus ist es entstanden? Welche Leitlinien folgten Heimleitungen, Behörden und Vereine, denen die Einrichtungen unterstanden? Warum begann der Prozess der Aufarbeitung erst so viel später und steht immernoch am Beginn? Diese und andere Fragen zu beantworten, Geschichten aufzuspüren und für Klarheit zu sorgen, begibt sich seit einigen Jahren die Journalistin Lena Gilhaus auf Spurensuche, nicht zuletzt, um auch für ihren Vater ein Stück Klarheit zu erwirken.

Entlang von Berichten Betroffener, im persönlichen Interview und noch viel zu seltener Akteneinsichten spürt sie der Geschichte der Kinderverschickung auf, die noch vor dem Ersten Weltkrieg beginnt, unter Kontrolle und anderen Vorzeichen im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreicht und dann, teils mit den gleichen Akteuren unter anderen Namen von Beginn der Nachkriegszeit an fortgeführt wird? Welchen Nutzen hatte dies für Behörden und eingebundenen Vereinen? Welche Folgen trugen Betroffene davon?

Die Journalistin berichtet im vorliegenden Sachbuch von Institutionen, die heute nichts mehr von ihrer dunklen Vergangenheit wissen möchten, verweigerten Zugang zu Archiven und die tiefenpsychologische Wirkung von Verarbeitungsprozessen, die so keinen Abschluss finden werden, stellt das System der Verschickung jedoch auch im Kontext der jeweiligen Zeit dar, in dem sie geschah. Lena Gilhaus erzählt von einfühlsamen Gesprächen und einer Spurensuche auf schwierigen Pfaden.

Was macht es mit den Menschen, teilweise ohne die Gründe dafür zu kennen, schon im Kleinkindalter von Eltern und Verwandten für Wochen getrennt zu werden, um dann einen vollkommenen Bruch zu erleben, der an Gewalt oder Empathielosigkeit kaum zu überbieten ist? Weshalb griffen nach Bekanntwerden einiger Missstände weder Behörden noch, viel wichtiger, zahlreiche Eltern nicht ein? Wie steht es um das System der Kinderkuren heute? Welchen Wandel hat es durchlaufen?

In kleinteiliger und mühevoller Recherche voller Hindernisse stellt Gilhaus ein dunkles, kaum bekanntes Kapitel deutscher Geschichte detailliert dar und verdeutlicht dies anhand des Parallstranges der Erlebnisse ihres Vaters, sowie immer wieder eingewoben, den Berichten anderer Betroffener aus West und Ost. Welche Unterschiede gab es, welche Gemeinsamkeiten? Wer waren die Akteure?

Die Autorin verleiht den ehemaligen Verschickungskindern ihre Stimme, bleibt trotz der Emotionalität der Thematik sehr sachlich, ohne dass die Darstellung zu trocken wäre. Dazu ist diese zu erschreckend, zu wichtig. Klar ist jedoch auch, dass dieses Sachbuch nur der Anfang einer gesellschaftlichen Diskussion, sofern heute noch aktive oder die Nachfolgeinstitutionen der Verschickung sich bedeckt und ihre Archive geschlossen halten. Eine Auseinandersetzung ist längst überfällig. Dies ist ihr sehr wichtiger Beginn.

Autorin:

Lena Gilhaus, geboren 1985, studierte Politikwissenschaften in Greifswald und Bonn. Sie lebt seit 2009 in Köln als freie Radio- und Fernsehautorin für Wellen der ARD, meist den WDR und Deutschlandradio. Ihre DLF-Radioreportage “Albtraum Kinderkur” wurde 2017 vom Grimme Institut unter die drei besten Reportagen für den Deutschen Radiopreis 2017 gewählt. 2022 gehörte ihr Folgebeitrag “Trauma Kinderverschickung – Das lange Schweigen der Politik” zu den Nominierten für den Alternativen Medienpreis 2022 in der Kategorie “Geschichte”.

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Leipziger Buchmesse 2023: Leipzig liest wieder

Vor den pandemiebedingten Ausfällen hat mich der Messe-Blues immer im Nachgang erwischt. Dieses Mal komme ich regelrecht euphorisch zurück, nachdem ich viele sehr besondere und erfrischende Eindrücke gesammelt, viele Gesichter zum ersten Mal nach drei Jahre bedingtem Ausfall, zudem im etwas kürzeren Ausfall, viele Mitglieder eines bestimmten Literaturforums (buechertreff.de) wieder treffen und zahlreiche Blog- und auch sonstigen Ideen sammeln konnte.  So ging es vielen.

Die rot verkleidete Treppe mit dem obligatorischen Buchmesse-Logo dürfte ein beliebtes Fotomotiv diesmal gewesen sein. (Foto: Privat-Archiv)

Einmal vorausgeschickt, die Verantwortlichen zählten 274.000 Besucher, was nur 12.000 Menschen weniger gewesen sind als im Jahr vor der Pandemie, dies bei nur etwas weniger Ausstellern und Lesungen, die sich nicht nur auf dem Gelände der Leipziger Messe, sondern auch wieder in der Innenstadt und auf der neu hinzugekommenen Klimabuchmesse verteilten, die im Studentenviertel Connewitz stattfand. Die Leipziger und alle anderen natürlich auch haben sich ihre Messe zurückerobert. Das konnte man schon am Donnerstag sehen.

Angereist bin ich einen Tag vorher. Gut vorbereitet, der Zug war pünktlich, meine ersten Online-Termine, ich hatte diesmal viel Blogger-Zeug geplant, fielen aus, so dass ich die Zeit nutzen und mich mit den ersten ebenfalls an diesem Tag eingetroffenen Buechertrefflern, nun ja, treffen konnte. Es war wirklich schön, auch wenn das für mich natürlich an den Grundfesten meiner Planungen gerüttelt hatte. Aber man soll ja seine Chancen durchaus nutzen. 

In jedem Fall war es das Richtige, um sich gemeinsam auf die kommenden Tage einzustimmen, von denen wir uns natürlich vorab gefragt haben, wie werden sie sein? Werden wirklich viele Menschen kommen? Werden wir durch leere Halle schlendern oder wird doch etwas Betrieb die Messe beleben? 

Ja, der tat es. Gleich am ersten Messetag kam ich, der sich wieder ziemlich nah dran einquartiert hatte, nicht in die erste Tram, aber in die zweite, um ins Pressezentrum zu gehen und dort die Garderobe abzulegen, einen Kaffee zu trinken. So beginnt für mich immer die Leipziger Messe. Das Pressezentrum füllte sich schnell, eine mir bekannte Literaturagentin habe ich auch getroffen und ich kam mit einem ZDF-Menschen ins Gespräch. Das ist das, was für mich Messe ausmacht, dass man eben auch von anderen Seiten Einblicke bekommt.

Draußen hat sich derweil der Vorplatz gefüllt, die Glashalle ebenso und dann endlich wurden auch schon die Messehallen geöffnet, die sich schnell belebten. Was war neu? Gänge von der Glashalle zu den eigentlichen Messehallen waren klarer aufgeteilt, die Hallen ebenso durch ein neues Konzept, welches man erst einmal verinnerlichen musste, genau so, wie zu realisieren, dass dies nun wieder eine reguläre Messe ist. Nur, wie macht man die? 

Volle Hallen nach drei Jahren Pause. (Foto: Privat-Archiv)

Die ersten drei Stunden haben sich etwas merkwürdig angefühlt. Wie wir abends festgestellt haben, ging es uns allen so. Eine Weile hat es also doch gebraucht, um wieder auf Betriebstemperatur zu kommen. Das ging aber dann wieder und für mich hieß das einen ersten Messerundgang zu verschiedenen Verlagsständen. Diese hatte ich mir vorher nptiert, aber natürlich noch zahlreiche andere mehr im Laufe der Tage entdeckt. Dafür ist eben Messe gut. Es gibt Verlage, von denen erfährt man eben nur so.

Die Gespräche an den Ständen empfand ich alle als freundlich, interessiert, was sich über die Tage fortsetzen sollte. Die Trennung zwischen althergebrachten Feuilleton und Blogs/Social Media/Booktube gibt es so wie vor ein paar Jahren noch in diesem Sinne nicht mehr, zumal manch kleiner Verlag nur durch die Aufmerksamkeit letzterer in den vergangenen Jahren überleben konnte. Das empfinde ich als angenehmen Wandel, mal so aus Bloggersicht heraus geschrieben. Am Ende können ja beide Seiten im Prinzip nur dabei gewinnen.

Mein Autoren-Interview mit Frank Vorpahl (“Aufbruch im Licht der Sterne“) fand als einer meiner ersten Termine gleich am Donnerstag statt. Ein sehr sympathischer und uinteressierter Mensch, der bei der Beantwortung meiner Fragen andere gleich vorweg genommen hat. Das hat es mir in der Interview-Situation durchaus leicht gemacht, aber ich fürchte mich schon vor der Aufbereitung. Ihr und andere sollen ja nicht nur Blocktext zu lesen bekommen. 

Weiter ging es dann zu einer Lesung mit Uwe Neumahr, der mir sein Buch “Nürnberg 46 – Das Schloss der Schriftsteller” im Anschluss signierte, sowie zu einer Bloggerveransdtaltung mit Sebastian Hotz (El Hotzo), der über sein Buch “Mindset“, viel mehr darum herum gesprochen hat. Ein sehr witziger Mensch ist das schon, nur weiß ich eigentlich immer noch nicht so richtig, worum es in diesem Roman eigentlich geht. Nun ja, man kann nicht alles haben.

Der Tag endete auf dem Messegelände mit einer Programm-Vorstellung bei Rowohlt, aus der ich sicher das eine oder andere euch künftig vorstellen werde. Nur ein Rezensionsexemplar habe ich mir gleich mitgenommen. Peter Urbans “On Air“, ich bin in jedem Fall gespannt. Im Anschluss habe ich noch ein paar Fotos allgemein in den Hallen geschossen, wie am frühen Morgen auch, z. B. von der Messetreppe, die dieses Jahr ein beliebtes Motiv gewesen sein dürfte. Ohne konnte man es ja zumindest am ersten Tag kaum glauben, dass wirklich wieder Messe ist. Den Abend habe ich dann zusammen mit Freunden im Pinguin (hießige Eisdiele, wo man aber auch wunderbar warm essen kann) und im Irish-Pub ausklingen lassen. Mein Kopf wusste davon jedenfalls im Anschluss zu erzählen. 

Am Freitag ging es weiter mit der Vorstellung des Gastlandes Slowenien der nächsten Frankfurter Messe, wofür ich mich bisher sehr ungünstig einquartiert habe, wie ein Frankfurt-Kennner am Vorabend klar gemacht hatte. Das muss ich in jedem Fall nochmal überdenken. Slowenien wird es auf der Frankfurter Buchmesse 2024 sein, wozu einige Reden gehalten wurden. In ähnlich vollen Hallen.

Da war im Prinzip schon klar, dass sich die Leipziger Veranstalter ziemlich verschätzt hatten. Man ist ja ursprünglich von einer Anzahl von Besuchern ausgegangen, die 60 Prozent der Besucherzahl von 2019 entsprochen hätte. Aus den Gesprächen mit Verlagsmitarbeitern, durch die Bank weg, von groß bis klein, ergab sich ein derart positiver Vibe, auch der Buchverkauf an den Ständen verlief offenbar sehr gut in diesen Tagen.

Danach traf ich eine Literaturagentin, die mich zu verschiedenen kleineren Verlagsständen führte. Dort hielt man sich eben darum mit Rezensionsexemplaren sehr zurück. Natürlich, man wollte ja verkaufen, wenn es schon mal so gut läuft. Das ist verständlich gewesen. Im Nachhinein bin ich auch froh darüber. Es wurden mit Rezensionsexemplaren und dazu gekauften Büchern am Ende übrigens 21 Bücher, die nun bei mir aufgestapelt liegen und dazu diverse Vorschauen und Messedevotionalien. Gelobt sei der zweite kleine Handkoffer.

Darum ging es mir nicht hauptsächlich, wobei es natürlich die Blog-Planung vorwegnimmt, eher um solche Sachen wie um eine Signatur von Sasha Filipenko. Dessen Verlag Diogenes war nicht selbst mit einem eigenen Stand vertreten (Ob die sich jetzt ärgern?), sondern nur im Rahmen des Schweizer Gemeinschaftsstandes.

Er selbst war aber da und hat natürlich die Bücher signiert und sich ehrlich über all die Interessierten gefreut, die sich um ihn herum getummelt haben. Danach ein Treffen mit dem Mitteldeutschen Verlag, die sich ebenso wie andere über viel Andrang an ihrem Stand freuen konnte, zuletzt dann eine Lesung über “Grenzschicksale – Als das grüne Band noch grau war”. Auch das war durchaus interessant.

Nach nur wenigen Stunden Schlaf, der Abend vorher im Pinguin, später Pub, endete, nun ja, spät, ging es am nächsten Tag nach einem ausgiebigen Bloggerfrühstück mit dem S. Fischer Verlag (Das klingt so, als würde ich die ganze Zeit nur essen und trinken, aber dem ist nicht so. Wirklich nicht.) mit integrierter Programmvorstellung und einer Spontanidee für Frankfurt ging es zum C. H. Beck Verlag, wo ich ebenfalls zum ersten Mal das Gesicht hinter der E-Mail-Adresse sehen durfte.

Im Anschluss zu kleineren Verlagen und schließlich ins ARD-Forum zu einem Gespräch von Sebastian Fitzek. Für sein neues Buch “Elternabend” hatte ich am Sonntag versucht, die Signierstunde zu besuchen, bei dem dortigen Andrang aber keine Chance gehabt.

Sebastian Fitzek im Interview im ARD-Forum (Foto: Privat-Archiv)

Danach habe ich meinen Messetag beendet, um auf dem Gespräch zwischen Giovanni di Lorenzo und Angela Merkel beizuwohnen. Dafür hatte ich eines von zwei letzten Tickets damals noch im Online-Verkauf bekommen. Die Veranstaltung selbst muss innerhalb von zwei Tagen ausverkauft gewesen sein. Vor dem Schauspielhaus, wo das stattfand, stand dann auch schon eine lange Schlange Wartender, ebenso wie Leute mit Pappschild, die noch ein Ticket kaufen wollten. Wie auf einem Konzert war das. Ging natürlich nicht.

Nach kurzer Sicherheitskontrolle und dem Einlass in den Saal ging es los. Man kann von Merkels Politik und Entscheidungen halten, was man will, aber sie kann ironisch, witzig sein und di Lorenzo ist jetzt aber auch kein Journalist, der bei Ausweichversuchen locker lässt.

Angela Merkel beim Signieren. (Foto: Privat-Archiv)

In sofern habe ich eine interessante, wenn auch natürlich nicht alles beantwortende Diskussion erlebt. Die könnt ihr übrigens auf der Seite der Zeit und sicher auch in den ÖR-Mediatheken nachverfolgen, wenn ihr mögt. Signiert hat sie ihr Buch “Was also ist mein Land?“, in dem drei exemplarische Reden von ihr versammelt sind, danach auch.

Der letzte Messetag begann wieder mit Rundgängen. So viel Schritte laufe ich sonst nicht, der Veranstaltung “Druckfrisch” mit Denis Scheck und im Anschluss mit einem vereinbarten Treffen mit dtv. Auch hier gab es einen Einblick ins künftige Programm. So viel sei schon mal verraten, es werden wieder ganz tolle Bücher erscheinen. Nach einem letzten Rundgang, habe ich meine erste reguläre Messe nach drei Jahren dann ausklingen lassen. Mit schweren Gepäck. Mitgekommen sind:

– unzählige Bücher

– diverse Vorschauen

– interessante Gespräche und Kontakte

– die Erkenntnis, wie viel eigentlich in einem Koffer passt (und was danach nicht)

Es hat mich gefreut, vor allem euch wieder einmal zu sehen und gemeinsam Messeluft aufzunehmen, dazu diverse Aperol (nicht nur, glaube ich). Ein paar tolle Tage waren es. Natürlich gab es auch im Nachgang wieder die Artikel von wegen der Relevanz zweier Messen oder aber die, die das Nebeneinander von Cosplay und Buchmesse kritisierten, aber auch das gehört ja irgendwie zum Messe-Feeling mit dazu. Ich freue mich aufs nächste Jahr.

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J. M. G. Le Clezio: Bretonisches Lied

Inhalt:

Der französische Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clezio erinnert sich in zwei autobiografischen Erzählungen an seine Kinder- und Jugendzeit. An die urlaube mit der Familie in der Bretagne der 1950er-Jahre und an seine frühe Kindheit im besetzten Süden Frankreichs. (Klappentext)

Rezension:

Der französische Schriftsteller nähert sich den Orten seiner Kindheit, vermeidet dabei in Erinnerungen zu stöbern. Ihnen misstraut er, vermischen sie sich doch allzu oft mit Erzählten und dadurch als wahr Empfundenen, ohne wahrhaftig zu sein.

So stellt er zwei Episoden seines Lebens einander gegenüber, die nicht nur geografisch entgegengesetzt zu einander liegen. Le Clezios “Bretonisches Lied” ist dann auch keine Kindheitsbiografie. Den Lesenden liegt mit diesem Werk eine Art romanhafte Geschichtsstunde vor, deren Sog man sich kaum zu entziehen weiß.

In umgekehrter Reihenfolge beschreibt der Autor zunächst sehr sachlich den Wandel einer Region, ohne nostalgisch daherzukommen. Der Blick für das Vergangene ist geschärft durch das, was die Jahre über hinzukam oder verschwandt. Bilder ungezähmter Natur, archarisch wirkender Landwirtschaft und einer Gegend werden heraufbeschworen, die den Anschluss an die Moderne erst noch finden wird, mit all den Vor- und Nachteilen. Der beschriebene Landstrich spielte erst in Le Clezios späteren Kinderjahren eine Rolle. Die heraufbeschworenen Bilder sind absoluter, haben festere Konturen als die nachgestellten des Krieges.

Damit gemeint ist die zweite Erzählung, die biografisch gesehen, der zunächst ausgeführten vorangestellt hätte sein müssen. Diese Umkehr bricht das gewohnte Schema, wie auch der Ort nicht gegensätzlicher sein könnte. Vom Norden folgt der Lesende dem Erzählenden, der vermeidet, sich zu erinnern, an etwas, was er nur unbewusst erlebt haben kann.

Die Betonung liegt auf die Stimmung der Erwachsenen, die sich auf die Empfindungen der Kinder wiederspiegelt. Diese kennen nichts anderes als den Zustand des Jetzt, wissen nicht, wie es anders hätte sein können, ein Leben ohne Krieg. Gefühle lässt Le Clezio hier nicht an sich heran, wirkt auch nicht kalt, nur nüchtern. Die Auswirkungen des Krieges zeigten sich erst später. Der Gegensatz der zwei Erzählungen, die von einander getrennt sind, aber doch nicht losgelöst betrachtet werden können, wirkt hier um so stärker.

Wörtliche Rede findet sich in beiden Texten kaum. Die gleichen eher einer Zustandsbeschreibung, einem betrachtenden Monolog. Der Autor betrachtet sein früheres Ich oder eher das um das frühere Ich herum Geschehene. Aus Kindersicht passiert nicht viel, die Wucht der Ereignisse wird dem Erzählenden erst später bewusst.

Das Nüchterne wirkt poetisch, stark in der Übersetzung. Wie viel präsenter muss erst der Originaltext drängen? Die Kompaktheit tut ihr übriges. Kein Wort ist zu viel, zu wenig. Es ist ja auch nur ein überschaubarer Zeitraum, der beschrieben wird. Für das Kind, was später den Nobelpreis erlangen wird, gibt es an diesem Punkt nur das Hier und Jetzt.

Der Erzählende ist Dreh- und Angelpunkt der eigenen Geschichte. Andere Figuren spielen kaum eine Rolle, sind zu vernachlässigen und doch immer präsent. Immer wieder gibt es Sprünge zwischen den Hier und Jetzt. Der Wechsel stört nicht. Lesend steht man neben den Protagonisten, ist dieser selbst. Landschaften, Häuser, beschriebene Orte sind beinahe greifbar. Es ist so, als wäre man dort, zu dieser Zeit.

In diesen Texten können sich viele verlieren. Die Sprache ist karg, wie zuweilen die Region und die beschriebenen Jahre. Das muss man jedoch mögen. Wer gerne gewöhnliche Erinnerungen, Biografien liest, für den ist das nichts. Auf die Form muss man sich einlassen, sie auf sich wirken lassen.

Ein französischer Film ohne Handlung, jedoch mit Aussage und ganz viel Inhalt. Nur eben zwischen Buchdeckeln. Das funktioniert hier wunderbar. Die Melancholie wird kleingehalten. Aus anderen Regionen hat man über diese Zeit schon viel lesen können. Nach meinem Empfinden ist unser Nachbarland hier unterrepräsentiert. Es ist zu hoffen, dass es künftig noch mehr solche Erzählungen geben wird. Le Clezio hat hier ein interessantes Puzzleteil gesetzt.

Autor:

Jean-Marie Gustave Le Clezio wurde 1940 in Nizza geboren und ist ein französisch-mauritischer Schriftsteller. Er hat beide Staatsbürgerschaften und studierte nach der Schule zunächst in Bristol und London, während er gleichzeitig Französisch unterrichtete. In Nizza begann er ein Studium der Philosophie und Literatur, beendete dies 1964 und arbeitete im Rahmen seines Militärdienstes als Entwicklungshelfer. 1963 veröffentlichte er eine erste Erzählung, der weitere folgten. Im Jahr 2008 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

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Rudolph Herzog: Heil Hitler, das Schwein ist tot!

Inhalt:

Natürlich wurde auch im Dritten Reich gelacht – aber anders als heute. Vom diffamierenden Witz der Nazis über die eher harmlosen Flüsterwitze bis zum bitteren Spott der Verfolgten: Rudolph Herzog beleuchtet alle Bereiche des Lebens unter Hitler. dadurch kommt er ungewöhnlich nah an das, was die Menschen wirklich dachten, was sie ärgerte, was sie zum Lachen brachte; auch an das, was sie wussten und was sie geflissentlich ausblendeten.

Die Reaktion der Staatsgewalt wiederum, die die Witze sehr genau registrierte und sich dadurch herausgefordert fühlte, zeigte, was die Machthaber fürchteten. Die Analyse des Humors im Nationalsozialismus gibt einen tiefen Einblick in die wahren Befindlichkeiten der sogenannten Volksgemeinschaft. (Inhaltsangabe lt. Verlag)

Rezension:

Heil Hitler, das Schwein ist tot!, so lautet die Pointe eines politischen Witzes, der hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand erzählt wurde, als sich das Kriegsglück der Deutschen gewendet hatte und es abzusehen war, dass die Katastrophe unweigerlich gen Abrgund führen würde. Doch, bereits als die Nazis die Macht erlangten, kursierte der Spott über die neuen politischen Figuren, anfangs noch gestützt, etwa durch die veritable Kabarettszene, die noch aus den Zeiten der Weimarer Republik stammte, deren Vorstellungen und System. Da war die Zeit schon nicht mehr fern, in der das Lachen tödlich werden konnte.

War es das jedoch immer? Nein, sagt der Autor Rudolph Herzog und analysiert die Entwicklung des Humors im Dritten Reich, begonnen bei den politischen Witzen, die unter der Bevölkerung kursierten, bis hin zu Kleinkunstszene, die schon bald mit den Rücken zur Wand stand, nicht zu sprechen von Schauspielenden, an denen nicht selten Exempel statuiert wurden.

Zu Todesurteilen kam es erst in den letzten Kriegsjahren vermehrt. Beim einfachen Volk zumindest, drückten die Organe des NS-Apparats bis dahin oft mehrere Augen zu und ließ ihnen dieses Ventil. Doch zeigt sich hier auch, dass selbst Wohlwollende oft genug so viel wussten, um zu wissen, dass sie nicht mehr wissen wollten. Auch die Opfer der NS-Ideologie entwickelten ihren ganz eigenen Humor, um die Situation, Diskriminierung und Ausgrenzung mit all ihren tödlichen Folgen, derer sie ausgesetzt, irgendwie noch ertragen zu können. Der Autor skizziert anhand einiger ausgewählter Witze, wie genau sich der politische Humor zu allen Seiten hin entwickelte und wie das Willkür-System des NS-Regimes darauf reagierte.

Dabei entstanden ist keine Witze-Sammlung im engeren Sinne, sondern eine Analyse der Entwicklung eines Aspekts dieser Gesellschaft. Wie sah der Spott über einzelne Führungspersonen der obersten Machtriege aus, wie entwickelte sich Humor in Anbetracht alltäglicher Missstände und nicht zuletzt des Grauens, welches über allem schwebte.

Wie veränderte sich der humoristische Blick der Allierten, an wen wurden Exempel statuiert und warum erhielten für den gleichen Witz Erzählende “nur” Verwarnungen, andere die Todesstrafe? Was entgegneten die Machthaber dem Satire-Programm innerhalb der deutschen Rundfunksendungen der BBC? Wie wurde Humor, oder was man davon hielt, seitens des NS-Regimes eingesetzt, um eine menschenverachtende Ideologie durchzudrücken? Gab es Humor und Witz auch im KZ? Nicht zuletzt, darf man heute über Hitler lachen?

Charlie Chaplin hat, nachdem das ganze Ausmaß der Schrecken von Auschwitz bekannt geworden war, später in einem Interview gesagt, hätte er davon gewusst, hätte er seinen Film “Der große Diktator” nie gedreht. Heute gibt es eine Fülle von Werken, die sich der Thematik humoristisch annähern. Aus der Zeit einstweilen, bleiben nur die Witze, die hinter mehr oder weniger vorgehaltenen Händen erzählt wurden. Ihre Entwicklung stellt der Autor dar, fragt, wie entstand der politische Humor überhaupt? Worauf lag der Fokus während der einzelnen Phasen des NS-Regimes und welche Gruppen reagierten mit welcher Art von Witz? Wie wurde auf den politischen Witz reagiert?

An manchen Stellen wirkt die Analyse mitunter sehr trocken. Im Kontext mit den Beschreibungen des Alltags ergibt sich jedoch ein gut fassbares Gesamtbild, welches sich lohnt, zu durchdenken. Rudolph Herzog stellt gekonnt Ursache und Wirkung zueinander dar, zeigt, dass die Mächtigen die politischen Witze und die Reaktionen darauf genau registrierten, eigener Humor entweder für Grausames missbraucht wurde oder komplett sein Ziel verfehlte. Wer mal ab von den üblichen Sammlungen auch den politischen Witz im Dritten Reich, in einen Kontext gestellt sehen möchte, macht mit diesem Werk nichts falsch.

Autor:

Rudolph Herzog wurde 1973 geboren und is ein deutscher Autor und Reggisseur. Bekannt wurde er international durch die Serie “The Heist”, die 2004 ausgestrahlt wurde, zudem drehte er mehrere Dokumentarfilme für verschiedene Fernsehsender. Er ist Verfasser mehrerer Werke, wie dem Erzählband “Truggestalten”, welcher 2017 erschien.

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Ariel Magnus: Das zweite Leben des Adolf Eichmann

Inhalt:
Ein Roman aus der Perspektive Adolf Eichmanns über seine Zeit in Argentinien.

Mit beißendem Spot nimmt uns Ariel Magnus mit ins Innere des unbelehrbaren Nazis, dessen antisemitischer Irrglauben auch im argentinischen Versteck ungebrochen war und der dort bar jeder reue und völlig unbehelligt von einer Rückkehr nach Deutschland träumen konnte – bis zu seiner Verhaftung 1960.
(Klappentext)

Rezension:

Buenos Aires, 11. Mai. Ein Mann, seit fünfzehn Jahren auf der Flucht. Dann geht alles sehr schnell. Die Überwältigung und Entführung Adolf Eichmanns durch Agenten des israelischen Geheimdiensts Mossad im Jahr 1960 sorgte weltweit für Aufsehen.

Einem der größten Schreibtischtäter und Organisatoren des Holocausts sollte der Prozess gemacht und einem gerechten Urteil zugeführt werden. Seit 1950 versteckte sich der Bürograt des Todes, der einst die Deportationszüge in die Konzentrationslager organisierte und bei der berüchtigten Wannsee-Konferenz Protokoll führte, in Argentinien, unter falschen Namen, von den Geheimdiensten mehrerer Staaten schon länger beobachtet.

In Tel Aviv vor Gericht gestellt, plädiert der Mann, der sich als bloßer Befehlsempfänger sieht, auf „Nicht schuldig!“. Eichmann zeigt keine Reue und wird wegen seiner Taten zum Tode verurteilt. So viel zu den tatsächlichen Geschehnissen, doch wie kam es zu der Entdeckung des Mannes, der sich so lange einer gerechten Strafe entziehen konnte?

Wie lebte, was dachte der Mann, der Millionen von Menschen auf dem Gewissen hatte? Der Journalist und Schriftsteller Ariel Magnus hat einen Blick hinter der Fassade versucht. Dabei ist ein Roman entstanden, den man sich kaum entziehen kann.

Es ist eine Qual, in die Geschichte einzufinden, da gleich von Beginn an aus der Perspektive Eichmanns erzählt wird. Die Sicht eines Mannes, der verdrängt, wird eingenommen, nichts schlechtes an seinen Taten und Entscheidungen sehen will und sich dennoch ständig vor Familie und anderen Untergetauchten, nicht zuletzt vor sich selbst rechtfertigt. Dabei wirken die Sätze so spröde und starr, wie man sie nur einem Bürokraten angedeihen lassen kann, nicht leicht zu lesen.

Ariel Magnus hat es geschafft, dass immer eine gewisse Distanz zum Hauptprotagonisten gehalten wird, zugleich jedoch unwillentlich fasziniert ist von dieser Figur. Dabei bleibt der Autor sehr dicht an verbürgten Geschehnissen, Ergebnis intensiver Rechercheleistung. Ein paar Dialoge mögen der schriftstellerischen Phantasie entsprungen sein, der Rest lässt sich anhand von Protokollen etwa, Beobachtungen oder Tonbandaufnahmen aus dieser Zeit verifizieren.

“Erstens muss ich Ihnen sagen, mich reut gar nichts”, sagte er, auch wenn er vorgehabt hatte, das am Ende zu sagen. “Es wäre sehr leicht für mich, mich reuig zu zeigen, so zu tun, als wäre aus einem Saulus ein Paulus geworden.”

Ariel Magnus: Das zweite Leben des Adolf Eichmann

Auch wenn man die Geschichte und ihren Ausgang kennt, hat man einen ungeheuer dicht erzählten und spannenden Roman vorliegen, in dem der Protagonist verklärt auf seine Taten blickt, versucht, seine neue Rolle zu finden, in ständiger Angst, doch noch entdeckt zu werden. Die ständige Anspannung ist zwischen den Zeilen zu spüren, wird mit fortschreitender Handlung größer. Der Schriftsteller indes ist fortwährend bei einem eher ruhigen Erzählstil geblieben und hat es dabei auch noch geschafft, einen Teil seiner eigenen Familiengeschichte mit einzuweben.

Bleibt die Frage, darf man das? Einem der größten und schrecklichsten Schreibtischtäter des Holocausts in gewisser Weise wieder lebendig werden lassen? Ariel Magnus schafft es, Eichmann zu entlarven, als das was er war. Mittelmäßiger Trottel, Rachsüchtiger mit Komplexen. Ein Kackhaufen, dem es lange genug gelungen war, seinen Geruch zu verschleiern. So beschreibt ihn der Autor. Vielleicht ist es das, was aus der Erzählung mitgenommen werden kann? Irgendwann fällt jeder Geruch auf.

Die wahre Geschichte:

Wikipedia I Biografie I Operation Adolf Eichmann

Autor:

Ariel Magnus wurde 1975 in Buenos Aires geboren und ist ein argentinischer Schriftsteller und Übersetzer. Er besuchte die deutsche Schule und studierte von 1999 an Romanistik und Philosophie in Heidelberg und Berlin. An der Humboldt-Universität arbeitete er zudem am Lehrstuhl für Spanische Literatur. Für verschiedene argentinische zeitungen und Zeitschriften schreibt er regelmäßig Beiträge und veröffentlichte 2007 einen Roman, für den er mit dem Literaturpreis La otra Oriella ausgezeichnet wurde. Seine Werke wurden in zahlreichen Sprachen übersetzt. Bekannt wurde er einer breiteren Öffentlichkeit mit seinem 2006 veröffentlichten Buch , in welchem er seiner deutsch-jüdischen Großmutter ein Denkmal setzte, welches 2012 ins Deutsche übersetzt wurde und unter dem Titel “Zwei lange Unterhosen der Marke Hering” erschien.

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Timo Peters: Couchsailing

Inhalt:

Timo Peters hat kein Boot, so gut wie keine Segelerfahrung und kaum Geld – aber den Traum, auf einem Segelboot den Atlantik zu überqueren: Mit leichtem Gepäck macht er sich auf die Suche nach einem Kapitän, bei dem er anheuern kann. In mehreren Etappen und auf verschiedenen Schiffen geht es über den Ozean – unterwegs erwarten ihn überraschende Herausforderungen, Grenzerfahrungen und wunderliche Begegnungen. Eine unvergessliche Reise, ein unglaubliches Abenteuer! (Klappentext)

Rezension:

Spätestens seit Stephan Orth dürfte vielen der Begriff Couchsourfing geläufig sein, doch funktioniert diese Form des Reisens auch auf hoher See? Ein Platz in einer Koje gegen eine helfende Hand an Bord? Mit nur wenig Segelerfahrung, wenn man diese überhaupt so bezeichnen mag, macht sich Timo Peters auf die Suche, dies herauszufinden. Am Ende steht ein neues Leben, ein großes Abenteuer und ein Bericht über die eigentümliche Welt der Segler.

Kennzeichnend für Reiseberichte sind vor allem ausführliche Schilderungen von Begegnungen und die Beschreibung von Landschaften. Letztere beschränken sich hier zwangsläufig fast nur auf die Hafenanlagen für Segelschiffe und die Boote selbst, stellen diese doch für Wochen die ganze Welt dar. Ansonsten ist man der Natur ausgeliefert, der Willkür von Wind, Wasser und Wetter. Anfangs noch fasziniert davon, schenkt dem der Autor nach einer gewissen Zeit kaum mehr Aufmerksamkeit als er muss.

Gerade nur so viel wird zur Kenntnis genommen, wie es für den Trip über den Atlantik von Nöten ist, um so mehr fokussiert sich Peters auf die Schilderungen der Menschen um ihn herum. Schließlich stelklen diese für Wochen seine einzigen Kontakte dar. Im Notfall ist man aufeinander angewiesen. Aus dem Weg gehen kann man sich nach dem Ablegen ohnehin nicht.

Kurzweilig schreibt Timo Peters von seiner Reise, die ihm unbekannte Sichtweisen auf eine teilweise sehr eigentümliche Welt zeigt. Was macht das mit Einem, wenn man der Natur ausgeliefert ist und Menschen, denen man nie zu vor begegnet ist? Welche Schicksale kreuzen sich in den Anlagen der Marinas? Was treibt die Glücksritter, Abenteuerlustigen, Sportsegler und Sinnsuchende an, für Wochen den schwankenden Boden unter den Füßen zu suchen?

Der Autor erzählt von den kleinen Momenten des Glücks, mehr Augenblicken des Zweifels und auch jenen, in denen man nur noch funktionieren und in Bruchteilen von Sekunden die richtigen Entscheidungen treffen muss. Zu Beginn vielleicht noch etwas blauäugig, an manchen Stellen färbt zudem die rosarote Brille im Nachhinein, findet Peters dann doch immer wieder den Ausgleich, so dass auch Konflikte und Gefahren zur Sprache kommen, auf die er reagieren musste.

Für all jene, die jetzt überlegen, eine solche Reise anzutreten, es ist kein Ratgeber, aber der Autor zeigt, was ein solcher Trip mit einem macht. Wenn man daraus etwas für sich ziehen kann, ist es gut. Für alle anderen bleibt die Erkenntnis, das große Abenteuer auch heute noch möglich sind.

Autor:

Timo Peters lebt und arbeitet als freiberuflicher Journalist für diverse Zeitungen und Magazine in Norwegen. Nebenbei betreibt er den Abenteuerblog »bruderleichtfuss.com« und das Onlinemagazin “Fjordwelten“.

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Hannes Stein: Der Weltreporter

Inhalt:

Ein nachgebautes München im Dschungel, ein Gespräch mit einem Yeti auf dem Mount Everest und ein Eingang zur Ewigkeit, an dem buddha, Christus und Mohammed Karten spielen. (Klapppentext)

Rezension:

Kurzgeschichten haben bei mir einen schweren Stand. Das liegt an den Gegebenheiten des Genres, welches kaum genug Raum lässt, damit Szenarien sich entfalten, Protagonisten sich vielschichtig entwickeln können. Zudem fehlt bei Sammlungen oft genug der rote Faden, der alle Erzählungen zusammenhält. So geraten einzelne, auch gelungene Geschichten in Vergessenheiten. “Short Stories” sind daher zumeist Schall, Rauch und weiter nichts.

Und dann gibt es Hannes Stein. Der in New York lebende Korrespondent einer großen deutschen Zeitung legt nach “Nach uns die Pinguine”, eine zweite Sammlung kurioser und zu Teilen sich ins Absurde steigernde Sammlung von Kurzgeschichten vor, die die Leserschaft laut auflachen, dann wieder nachdenklich werden lässt.

Anders als beim “Vorgängerband” gelingt hier dem Autoren es besser, einen roten Faden zu halten, die Verknüpfung zwischen den einzelnen Geschichten konstanter wirken zu lassen, andererseits stechen einzelne Ideen wirklich hervor. Ein Indianerstamm, der in weiter Zukunft den bis dahin immer noch schlechtesten US-Präsidenten als ihrem Messias verehrt, wir alle wissen, wer da gemeint ist, ein Schweizer Pendant in Afghanistan oder ein sozialistisches Utopia mitten in Sibirien. Das ist doch genial.

Natürlich bleiben auch hier einzelne Geschichten farblos, was zuweilen an der Schreibweise liegen mag. Punktuell wird hier augenzwinkender Humor mit krachender Gesellschaftskritik vermischt, ein moderner Münchhausen als Protagonist, aktuelle Ereignisse ohnehin auf’s Korn genommen. Im übertragenenen Sinne trifft sogar einen der Arbeitgeber des Autoren. Wozu gehört wohl die Zeitung “Welt”?! Kurzweilig liest sich das. fast muss man sich zwingen, das eine oder andere Mal inne zu halten, alleine schon, um die Geschichten genüsslich mit den realen Vorlagen abgleichen zu können.

Die Hauptprotagonisten, deren Geschichte die erzählten “Short Stories” verbinden, bleiben jedoch, abgesehen von zumindest einem Teil, verhältnismäßig blass. Alleine die beiden sind einen eigenen Roman wert. Schon der Name “Bodo von Unruh” ist großartig, der aktuelle Hintergrund, der beim Schreiben in seiner ganzen Wirken noch gar nicht so klar ersichtlich war, wie heute, tut sein Übriges. Einige der erzählten Kurzgeschichten wünscht man sich tatsächlich mehr Raum, sich zu entfalten, während andere schnell aus dem Gedächtnis fallen werden. Der Schreibstil wirkt zuweilen fahrig. Dennoch oder gerade, weil es Hannes Stein hier noch besser gelungen ist als bei seiner vorherigen Kurzgeschichtensammlung ein kurioses Gesamtpaket zu schnüren und eine Steigerung zu sehen ist, ist das Lesen nicht falsch. Nachdem Gesetz der Serie und Steigerungsfähigkeiten, müsste das nächste Buch dann im Vier-Sterne-Bereich anzusiedeln sein.

Autor:

Hannes Stein wurde 1965 in München geboren und ist ein Journalist und Schriftsteller. Aufgewachsen in Salzburg, begann er 1984 in Hamburg Amerikanistik, Anglistik und Philosophie zu studieren und lebte 1989 ein Jahr als Deutschlehrer in Schottland. Später arbeitete er für die FAZ, den Spiegel und der Zürcher Weltwoche, sowie den Merkur. Von 1997 an, lebte er in Jerusalem und schrieb dort seine erstes Buch, war dann als Literaturkorrespontdent und Redakteur für verschiedene zeitungen tätig.Seit 2012 lebt er in den USA. kurzzeitig ließ er sich als Republikaner registrieren, wechselte dann ins Lager der Demokraten. “Nach uns die Pinguine”, ist sein neuntes Buch.

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James Gould-Bourn: Pandatage

Pandatage Book Cover
Pandatage James Gould-Bourn Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 02.05.2020 Seiten: 382 ISBN: 978-3-462-05364-7 Übersetzer: Stephan Kleiner

Inhalt:

Danny Maloony hat es schwer. Ein Glückspilz war er noch nie, aber seitdem seine Frau vor etwas mehr als einem Jahr bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, läuft gar nichts mehr glatt.

Sein Sohn Will hat aufgehört zu sprechen, Danny verliert den Job, und als ihm auch noch sein Vermieter mit Rausschmiss droht, kauft er von seinem letzten Geld ein Pandakostüm, um als Tanzbär Geld zu verdienen. Doch tanzen kann er leider auch nicht… (Klappentext)

Rezension:

Dass auch eine grobe Schreibarbeit zu einer wundervollen und berührenden Geschichte führen kann, beweist James Gould-Bourn, der mit seinem Debütroman “Pandatage” eine einfühlsame Erzählung zu Papier gebracht hat. Hauptprotagonist ist der alleinerziehende Danny Maloony, der mit Haushalt, traumatisierten Sohn und seiner eigenen Trauer zu kämpfen hat, nachdem seine Frau bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.

Seit dem scheint ihm nichts mehr zu gelingen. Von einem auf den anderen Tag steht der Bauarbeiter beinahe vor dem Nichts. Auf der anderen Seite sein Sohn Will, der ebenso trauert, nicht mehr spricht, in der Schule zum Punchingball der Klassenschläger geworden ist, sich emotional immer mehr von Danny entfernt. Danny sieht in einem Pandakostüm schließlich die Chance auf bessere Tage. Doch, auch das erweist sich als einfacher als gedacht.

Nicht gerade fein ausgearbeitet ist diese Erzählung einer Vater-Sohn-Geschichte, tatsächlich ist der Schreibstil eher platt, die Protagonisten bis auf die beiden Hauptcharaktere sehr einseitig konstruiert und auch der Humor dürfte nicht jedermanns Sache sein. Dennoch hat James Gould-Bourn eine Geschichte geschrieben, die zu berühren mag. In ihrer Gesamtheit ist sie stimmig.

Das war Pandamonium!

James Gould-Bourn: Pandatage, Roman von Kiepenheuer & Witsch.

Das Klischee, dass sonst immer, wenn von Alleinerziehenden die Rede ist, von einer Mutter-Kind-Beziehung gesprochen wird, wird aufgebrochen, stehen doch Männer in dieser Situation vor den gleichen Problemen, auch der Umgang mit Trauer ist hier sehr schön dargestellt, zudem welche Bedeutung Menschen haben, die einfühlsam für einem auch in schlechten Zeiten da sind.

Der Humor des Autors ist speziell, wer sich jedoch darauf einlässt, entdeckt einen nachdenklich schwermütigen Roman, der immer genau dann aufgebrochen wird, wenn den Lesern die Last der Protagonisten förmlich zu erdrücken droht.

Ich wünschte, ich wäre gestorben, mit Mum zusammen, weil ich lieber tot wäre, als allein mit dir zu sein.

James Gould-Bourn: Pandatage. Roman von Kiepenheuer & Witsch.

Das wäre wiederum feinfühlig.

Die Stärke dieser Schreibarbeit liegt hier eindeutig im Beginn und Mittelteil. Der Schluss ist fast zu schnell erzählt. Hier hätte etwas mehr Ausgestaltung der Geschichte gut getan und nur mit den Blick, dass es praktisch egal sein kann, wie man sein Geld verdient, kann man die Auflösung gelten lassen. In der Realität halte ich das für schwierig.

Der Wortwitz und die Protagonisten, die man von der ersten Seite an liebgewinnt, machen “Pandatage” zu einem lesenswerten Roman über Trauer, familie, Freundschaft, Glauben und Zuversicht, der in seiner Gesamtheit ein stimmiges Bild abgibt und funktioniert, da James Gould-Bourn diesen Stil von Beginn bis zum Ende durchhält.

Kurzweilige, flüssig zu lesende Kapitel aus wechselnder Perspektive, zeigen was möglich und dass es durchaus richtig ist, an “Pandatage” zu glauben. Eine lesenswerte Erzählung in Pandakostüm.

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