Jugend

Suzanne Heywood: Wavewalker

Inhalt:
Mit gerade einmal sieben Jahren sticht Suzanne Heywood mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder auf dem Segelschiff Wavewalker in See, um die Welt zu umrunden. Doch was als aufregendes Abenteuer beginnt, wird bald zu einem Alptraum für das Kind: ein Leben in Stürmen, Angst, Einsamkeit. Suzanne sehnt sich danach, wieder zur Schule zu gehen und ein normales Leben zu führen, doch sie bleibt gefangen im Lebenstraum ihres Vaters. Erst nach zehn Jahren kehrt sie in ihre Heimat zurück – mit Aussicht auf einen Studienplatz in Oxford.

Eine wahre Geschichte über das Erwachsenwerden und den Mut, seinem eigenen Weg zu gehen. (Klappentext)

Rezension:
Um so kleiner das Boot, um so mehr ist man automatisch Teil der Besatzung. Was jedoch zunächst als Traum und gemeinsames Abenteuer begann, wurde für Suzanne Heywood schnell zur Hölle ihrer Kindheit und Jugend. Über das Heranwachsen, die Strapazen und Gefahren auf dem Schoner Wavewalker beim Versuch des Vaters, die dritte und letzte Reise von James Cook nachzuempfinden, erzählt die heute erfolgreiche Geschäftsfrau, die die Reise, je länger sie dauerte, von ihrer Familie mehr und mehr entfremdet hat.

Natürlich ist dies ein Reisebericht, der von den Herausforderungen an Bord eines Segelschiffes und vor allem in Anbetracht der Route erzählt, der es die Cooks ihrem Namensvetter gleichtun wollten. Hauptsächlich aber ist es eine beeindruckende und bedrückende Biografie der Autorin von sich selbst und das Psychogram einer auseinanderbrechenden Familie. Detailreich schildert sie das Leben auf den Meer und dem Aufatmen, wenn zwischen den Fahrten, sei es da selbst oder in den Häfen, so etwas wie Routine aufkommt.

Heywood schildert sehr detailliert, wie ihr im Laufe der Jahre die Unbeständigkeit der Eltern, was noch freundlich ausgedrückt ist, bewusst wurde, sowie die Beziehungskälte der Eltern, die sie in ihrer Jugend als das erkennen wird, was es ist. Nichts anderes als psychische Gewalt. Beginnend mit dem Ausnutzen kindlicher und jugendlicher Arbeitskraft bis hin zur beinahe totalen Verweigerung von Bildung. Die Taktung negativer Momente wird dabei mit zunehmender Seitenzahl immer dichter, während die ruhigen Momente weniger werden, sowie auch schneller verblassen.

Eine Kindheit auf den Boot, mag sich romantisch anhören, doch wächst man sehr isoliert auf, gesellschaftlicher Schutz ist beinahe nicht vorhanden, Möglichkeiten, Beziehungen und dauerhafte Kontakte zu knüpfen, gibt es kaum und wenn, sind sie sehr unbeständig. Hier legt die Autorin die Finger in die Wunde und hinterfragt all das, was für sie erst mit der Zeit sichtbar wurde. Wann war der wendepunkt, an dem den Eltern der eigene Traum wichtiger wurde als das Leben der Kinder, sogar so wichtig, um diese zu vernachlässigen und damit beinahe zwei Biografien zu zerstören, bevor in diesen entscheidende Weichen gestellt werden konnten? Wie gelang es Heywood, ihren Weg dennoch zu finden und vor allem den Schlüssel zur Bildung zu erlangen, den vor allem ihre Mutter ihr konsequent verweigerte?

Nicht auf alles findet die Autorin in diesem Buch, in denen auch die Reisebeschreibungen kaum Zeit zum Aufatmen wie auch ihre Familie und die Geschichte des Bootes sie nicht loslassen wird, eine Antwort. Es ist der Versuch einer Verarbeitung, die sicher noch nicht abgeschlossen ist und eine Erzählung, wie zwei Erwachsene, überfordert von ihrem Traum und doch darin gefangen, ihre Kinder fast zerbrachen.

Entlang der Reiseabschnitte erzählt die Autorin temporeich vom Ende ihrer Kindheit, welches spätestens mit einem schweren Sturm auf hoher See und einer gefährlichen Kopfverletzung gezeichnet war. So erdrückend wie kurzweilig ist das, was da erzählt wird. Praktisch empfindet man blanke Wut und Seekrankheit hier im steten Wechsel. Das Kippen des Machtgefälles kann man da nur herbeisehnen.

Wer einen lieben Reisebericht lesen möchte, ist hier an der falschen Stelle. Vielmehr ist es die Biografie eines Mädchens, später einer jungen Frau, die sich ihre Freiheit zwischen Koje und Segel mehr als mühsam erkämpfen musste. Gegen alle Widerstände, aber vor allem gegen die eigenen Eltern. Viele einzelne Szenen bleiben da wie Nadelstiche nach dem Lesen zurück.

Das durchgehalten zu haben verdient Hochachtung. Davon zu erzählen und sich seinen Erinnerungen zu stellen, noch viel mehr.

Suzanne Heywood, offizielle Seite: Hier klicken. I Unhappy Boat-Kids: Hier klicken.

Autorin:
Suzanne Heywood ist eine britische Geschäftsfrau und ehemalige Beamtin. Sie wurde 1969 in Southampton geboren und wuchs auf einem Segelschiff auf, studierte anschlißend in Oxford und Cambridge. Nach einer Beamtenposition im britischen Finanzministerium wechselte sie in die Privatwirtschaft. 2024 wurde sie zum Kommandeur des Order of the Britsich Empire ernannt.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Folge mir auch auf folgenden Plattformen:

Suzanne Heywood: Wavewalker Weiterlesen »

Michaela Göhr: Der Fantast 1

Inhalt:
Simon erscheint auf den ersten Blick wie ein durchschnittlicher junger Mann. Seine mentale Kraft ist jedoch phänomenal: Alles, was er sich vorstellt, wird real, gegenständlich, lebendig! Merkwürdige, aufreibende Ereignisse sind seit seiner frühesten Kindheit an der Tagesordnung, was die verzweifelten Eltern dazu bringt, sich Spezialisten anzuvertrauen. Ein Entschluss, der das Leben der kleinen Familie in große Gefahr bringt. Simon wehrt sich auf seine ganz eigene Art. Seine Vorstellung wächst mit ihm, bis er mit der geballten Macht seiner Fantasie zurückschlägt …

Mit diesem Buch beginnt die spannende Lebensgeschichte des Fantasten, einem der ungewöhnlichsten Helden unserer Zeit. (Klappentext)

Reihe:
Dies ist der Auftaktband, also Band 1, der Reihe „Der Fantast“, der mit der Kindheit des Protagonisten beginnt und ein ganzes Leben erzählt. Parallel zu der aus fünf Bänden bestehenden Reihe, gibt es eine Kinderbuch-Reihe, die die Kindheit und Jugend des Protagonisten aus Sicht seines Freundes erzählt und breiter ausfächert, die hier mit Band 1 beschrieben ist.

Rezension:
In einer Mischung aus Fantasy-Roman und Jugendbuch nimmt Schriftstellerin Michaela Göhr ihre Leserschaft auf eine Reise voller Abenteuer und Gedanken, die die Welt verändern werden. Entstehen tun diese im Kopf des Protagonisten, der sie zu Gegenständen und Objekten formt, die wirklich werden, ohne sichtbar zu sein. Schon früh jedoch werden darauf andere aufmerksam, die diese Fähigkeiten für ihre eigenen Zwecke nutzen wollen. Mit zunehmenden Alter aber lernt Simon diese Kräfte immer besser zu formen und zu beherrschen, um für das Gute zu kämpfen. Gegen alle Widerstände.

Der Auftaktband, die seinen Fokus auf Kindheit und Jugend, bis hinein ins junge Erwachsenenalter des Protagonisten legt, ist eine Genre-Mischung par excellence und verbindet darüber hinaus auch noch zwei Reihen über Altersgrenzen hinweg. Mit „Der Fantast“ wird die Lebensgeschichte von Simon begonnen zu erzählen, der mit seiner ungewöhnlichen Begabung Begehrlichkeiten weckt, jedoch diese in etwas Positives umwandeln möchte, die davon abzweigende Reihe „Fantastische Abenteuer“ ist dagegen unter den Kinder- und frühen Jugendbüchern angesiedelt. Sie erzählt die Abenteuer der Kindheit und Jugend, aus Sicht des besten Freundes des Protagonisten, der trotz seiner Einschränkungen, Timo ist blind, im übertragenen Sinne zum Auge Simons, und auch dessen Gewissen, wird.

Doch mit „Der Fantast“ führt die Autorin in das Leben beider Protagonisten ein, die sich ob ihrer Einschränkungen und Begabungen gegenseitig ergänzen. Schon mit den ersten Konturen der Geschichte werden Ecken und Kanten der protagonisten sichtbar, die bei aller beschriebener Perfektion, die Simons Fähigkeiten hervorzubringen scheinen, Risse und Herausforderungen erscheinen lassen. Oberflächlich scheint der Protagonist das Mary Sue Klischee in Reinform zu bedienen, doch gerade im Zusammen- und Gegenspiel zu anderen Figuren zeigt sich das Unperfekte, auch in den Charakterzügen Simons. Gerade wenn dieser zweifelt und an seine Grenzen gelangt, die, ja, in anderen Sphären liegen als die ihn umgebender Menschen, zeigt sich eine gewisse Bandbreite, woraus kurze Momente des Innehaltens entstehen. Hier hat Michaela Göhr nicht nur ruhige Augenblicke, sondern besonders starke Szenen geschaffen.

Die Antagonisten sind klar definiert, zum Teil jedoch vielschichtiger und wandlungsfähiger als der Hauptprotagonist selbst, wobei dieser durch die Autorin in den Folgebänden sicherlich noch weiter entwickelt wird. Trotzdem kann man sich in beide Seiten gut hineinversetzen, gerade auch in deren Zusammenspiel. Daraus entstehende Szenen bleiben eher im Gedächtnis, trotzdem die Geschichte kaum Atempause zulässt, was manchmal des Guten zu viel wirkt, als vorkommende Dialoge. Die Stärke des Romans liegt vor allem in der Beschreibung von Aktionen der Figuren.

Perspektivisch wird die Geschichte vor allem aus der Sicht Simons erzählt, während andere Sichtweisen nur durch Dialoge und Wortwechsel zum Tragen kommen. Das Erzähltempo schafft spannungsreiche Momente, die aneinandergereiht wie auf eine Perlenkette durch die Erzählung führen, was zwar ein flüssiges Lesen schafft, andererseits auf Dauer jedoch ermüdet. Kurz den Roman pausieren lassen, um dann weiterzulesen, sollte jedoch hier helfen. An der einen oder anderen Stelle hätten hier ruhigere Momente dem Text gut getan, aber auch hier muss man eventuell den Band im Kontext der Reihe oder, wenn man die Kinderbuchreihe dazu nimmt, von Michaela Göhr geschaffenen Welt betrachten.

Positiv hervorzuheben ist, dass keine größeren Lücken oder unlogischen Wendungen im Sinne der Geschichte zu finden sind, was einem nicht stocken lässt, im Gegensatz zu ein paar Schreibfehlern, die aber gut und gerne in darauf folgenden Auflagen korrigiert werden könnten. Ansonsten fallen diese nicht weiter ins Gewicht.

Michaela Göhr beflügelt jedoch die Fantasie. Wenn Gedanken wirklich werden könnten, was würde man selbst damit anfangen? Beginnend beim Schokoeis, welches dann tatsächlich sich so anfühlt und auch so schmeckt wie echtes, ansonsten aber unsichtbar ist, bis hin zu Gegenständen oder Fluggeräten. Würdet ihr euch in einen Hubschrauber setzen, den ihr zwar fühlen, berühren, dessen Türen ihr öffnen, ihn aber ansonsten nicht sehen könntet? Und wenn er euren eigenen Kopf entspringen würde?

Mit ein paar Abzügen in der B-Note, jedoch Potenzial nach oben, zieht dieser Roman mit diesen Gedankengängen in die Geschichte hinein, zudem man sich das alles vorstellen kann. Noch spannender wird es dann sicher im weiteren Verlauf, wenn noch mehr Facetten, vor allem von Simon, sichtbar werden.

Da „Der Fantast“ sich weder an normale menschliche noch an Genre-Grenzen hält, ist diese Urban-Fantasy-Erzählung sowohl im Jugendbuchbereich lesbar, mit leichter Gewichtung zum zweiten. Elemente wie Freundschaft, Zusammenhalt, Mut und Über-sich-Hinauswachsen und ja, auch das Erkennen von Möglichkeiten und das Treffen von Entscheidungen werden hier thematisiert. Sehr viel schon für einen Auftakt, bei dem man gespannt sein darf, was Michaela Göhr in den Folgebänden daraus bereits gemacht hat.

In diesem Sinne gibt es hier gerne eine Leseempfehlung.

Autorin:
Michaela Göhr ist eine deutsche Schriftstellerin und wurde 1972 im Sauerland geboren. Zunächst studierte sie Sonderpädagogik und arbeitet seit vielen Jahren an einer Förderschule Sehen. Mit dem Schreiben von Geschichten begann sie bereits in ihrer Kindheit. Ihren ersten Roman verfasste sie 2014. Seitdem schreibt sie Urban Fantasy für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Folge mir auf folgenden Plattformen:

Michaela Göhr: Der Fantast 1 Weiterlesen »

Nicolai Schwarzer: Nie wieder ist Jetzt!

Inhalt:
Nicolai Schwarzer, Initiator der Demonstration NIE WIEDER IST JETZT!, will politisch Interessierte, vor allem junge Menschen, motivieren, sich auch und gerade in der Schule mit den Themen Demokratie, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass auseinanderzusetzen. hetze und Parolen werden in diesem Buch leicht verständlich Argumente entgegengesetzt. 327 #Hashtags vermittelnin klarer, nüchterner Sprache Botschaften für ein respektvolles Miteinander. (Klappentext)

Rezension:
Nach den Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 kam es bereits wenige Stunden danach zu Versammlungen und Kundgebungen. Unter anderen in Berlin die Menschen, doch nicht etwa um der Opfer zu gedenken, sondern um den Tätern Applaus zu spenden, in den Gesichtern Hass und Entschlossenheit, die man zuvor nur aus Fernsehbilder heraus gekannt hatte. Die Gegenbewegung, die Solidarität mit Israel bekunden sollte, gab es auch, doch mit weniger Teilnehmenden, vor allem weniger jungen Menschen?

Nicolai Schwarzer, Autor und Unternehmer, ließ dies keine Ruhe und so organisierte er mit anderen zusammen und vielfacher prominenter Unterstützung eine wenige Wochen später stattfindende Demonstration, die 10.000 Menschen bei widrigsten Wetter vor dem Brandenburger Tor versammelte. Für Demokratie, Zusammenhalt, gegen Fremdenhass und Antisemitismus. Startpunkt für ein hoch interessantes und wichtiges Projekt.

Dieses setzt in den Klassenzimmern an, jedoch abseits verstaubter Konzepte und arbeitet direkt mit einem eigens gestalteten Unterrichtskonzept und Hologrammtechnologie, die Prominente ins Klassenzimmer bringen und so dafür begeistern soll, miteinander ins Gespräch zu kommen. Flankiert wird das ganze von einem Sachbuch, welches fernab theoretischer Ausführungen kurz und prägnent die wichtigsten Standpunkte und Begrifflichkeiten klärt, ohne von oben herab zu agieren, aber immer heraus- und zur Diskussion aufzufordern.

Dabei werden auch hier Themen wie Engagement, Demokratie, Fremdenfeindlichkeiten und Antisemitismus aufgegriffen, aber ebenso, was europäischer Zusammenhalt bedeutet, ebenso, wenn man diesen verlässt, wie Medien und „soziale“ Medien agieren und wie populistische und vor allem rechtsradikale Parteien agieren. Nicolai Schwarzer verliert sich dabei nicht in Details, formuliert prägnant und auf den Punkt, zeigt vor allem, wie wichtig ein langfristiges Engagement und Interesse für die Demokratie ist und was uns Zusammenhalt und das Suchen von Gemeinsamkeiten bringt, anstatt dem Trennenden zu folgen.

Ein wichtiges Sachbuch, ergänzt ebenso wie das eigentliche Projekt, um die Stimmen Prominenter, von denen man nur hoffen kann, dass sie diesem auch langfristig verbunden bleiben. Zumindest bei einem sollte man da vielleicht berechtigt Zweifel anmelden, da sein Agieren nicht gerade dazu neigt, hier die Unterstützung zukommen zu lassen, die es benötigt. Anderen ist da schon eher zu glauben.

Wichtiger ist ohnehin, dass der Verein und dessen Projekt die Aufmerksamkeit geschenkt wird, die es verdient und Diskussionen angestoßen werden sowie über mancherlei Geschehnisse zum Nachdenken angeregt wird. Dazu kann auch dieses das Projekt flankierende Buch dienen, welches vor allem als Bildungsressource dienen und genug Anregungen für einem selbst geben sollte.

Projekt: Nie wieder ist Jetzt!

Autor:
Nicolai Schwarzer ist Unternehmer und Gründer der Schwarzer Unternehmensgruppe. Er war Organisator der Solidaritätsveranstaltung gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Berlin am 10. Dezember 2023. Er engagiert sich federführend im Bildungsprojekt „Nie wieder ist jetzt“, für neue didaktische Konzepte an Schulen.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Nicolai Schwarzer: Nie wieder ist Jetzt! Weiterlesen »

Hubertus von Prittwitz: Skarabäus

Inhalt:

Die Wahrheit ist die beste Lüge. Das lernt der achtjährige Friedrich von seinem Vater. Im Gerichtssaal sieht er seine Schwester das letzte Mal. Sein Vater, ein Spion des BND, trennt ihn für immer von seiner Mutter und seiner Unschuld. Im goldenen Käfig in Neuried bei München züchtigen der Missbrauch durch seine Stiefmutter und der Kontrollwahn des Vaters den Abtrünnigen. Nach mehreren gescheiterten Versucen gelingt die Flucht über Indien, Kairo und den Sudan in das Strafgefangenenlager des Menschenfressers.

Hubertus von Prittwitz rasanter Roman erzählt die Geschichte eines Überlebenden. Die Dichte des Milieus zieht den Leser tief hinein in das historische Erbe der Familienschuld. Im Spiel mit der Macht der Fiktion entspannt sich das Drama eines uralten Adelsgeschlechts. (Klappentext)

Rezension:

Am Ende steht ein Käfer als Symbol für den fortwährenden Versuch, seiner Familie zu entkommen. Diesen lebenslangen Versuch hat Hubertus von Prittwitz erzählerisch in seinem gleichnamigen Autorendebüt „Skarabäus“ verarbeitet. Eng an der eigenen Biografie und doch ganz weit weg.

Fast einem modernen Märchen gleich, springt der Roman zwischen Agententhriller, Politroman und Coming of Age Story entlang den Abgründen der Familie des zunächst achtjährigen Protagonisten. Bei kompakter Seitenzahl geradezu ausschweifend erzählt, begegnen wir Friedrich, der in seiner Kindheit bereits vom eigenen Vater entwurzelt wird, zugleich aber lückenlos kontrolliert. Dazu gesellt sich auch noch der seelische und physische Missbrauch durch die Stiefmutter. Mit der Zeit entwickelt der Junge, den wir bis ins frühe Erwachsenenalter begleiten, Überlebensstrategien, die sämtlichen Willen erfordert, die eine gebrochene Seele aufbringen kann.

Viel zu viele Faktoren für einen Roman, der sich zudem nicht gerade leichtgängig lesen lässt. Das Springen zwischen den Genres ist eine Sache, es gelingt einem jedoch auch nicht, sich dauerhaft an wenigsten einer der Figuren festzuhalten. Alleine die Anspielungen auf verschieden historische Ereignisse sind spannend eingebunden, in eine Erzählung, die keinen anderen roten Faden kennt als die innere Zerissenheit des Hauptcharakters. Zu Beginn weiß man da nicht, was man eigentlich liest. Es scheint, erst mit dem Voranschreiten der Kapitel, die zugegeben zuweilen filmisch wirken, hat der Autor seinen Stil gefunden. Dem entsprechend rund wirkt auch das Ende.

Der Hauptprotagonist ist zugleich Erzähler und Handlungstreiber, in einer Geschichte, die wie ein Schachspiel wirkt. Dabei entgeht dem zunächst sehr jungen Friedrich viel. Nach und nach wandelt sich jedoch die Figur und wird selbst zum aktiven Taktgeber. Dieser Platztausch ist dann doch spannend beschrieben, wobei erzählerische Längen dennoch nicht ganz ausgeblendet werden können.

Hubertus von Prittwitz hat ein Auge für Schauplätze, die er vor dem inneren Auge der Lesenden sehr plastisch wirken lässt. Doch es fehlt der springende Funke, der leider an einigen Stellen dem Gefühl weichen muss, irgendetwas Entscheidendes überlesen zu haben. Vielleicht braucht man einen bestimmten Zugang, diesen speziellen Mix der Genre ganz in sich aufzunehmen? Hier wäre zu schauen, wie ein Werk des Autoren sich liest, wenn es eine Konzentration auf ein bestimmtes Genre oder einen einzelnen Aspekt gäbe.

Eventuell hätte aber auch die Erzählung ganz anders gewirkt, wenn man sich vorher mit der Biografie des Autoren und seiner Familie beschäftigt hätte. Dies sei allen empfohlen, die „Sakarabäus“ lesen möchten. Manches wird da fassbarer.

Nur schade, dass das der Rezensent (ich) vorher nicht gemacht hat.

Autor:

Hubertus von Prittwitz wurde 1969 in München geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Er studierte Politikwissenschaften in München und Berlin, arbeitete als Eventmanager und als Texter, Redakteur und Übersetzer. Er ist für die Deutsche Welle tätig. „Skarabäus“ ist sein Debüt.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Hubertus von Prittwitz: Skarabäus Weiterlesen »

Elsa Morante: La Storia

Inhalt:

La Storia ist die große Geschichte von Diktaturen, Weltkriegen und Menschheitsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber vor allem die Geschichte der verwitweten Lehrerin Ida und ihren zwei sehr unterschiedlichen Söhnen, vom Leben im faschistischen Rom, Trotz, Not und Hunger, rivalisierenden Partisanen. Manchmal in Gesellschaft, manchmal allein. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Die ewige Stadt im Ständigen Wandel, heruntergebrochen auf nur ein paar Geschichten, zu einer großen Erzählung miteinander verwoben, dies ist Elsa Morantes „La Storia“, welches bereits 1974 erschien und mit dieser Ausgabe in einer beeindruckenden Neuübersetzung vorliegt.

In dieser bewegen wir uns durch die Armenviertel Roms, aus derer die behutsam ausgestaltete Protagonistin Ida nie ausbrechen wird können, und den Weg ihrer beider Söhne, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Trotzdem oder gerade deswegen gelingt der Kampf eine lange Zeit, auch wenn alle Figuren immer wieder an gewisse Glasdecken gesellschaftlicher Schichten stoßen und nicht zu durchdringen vermögen. Ein Aufstieg ist kaum gegeben. Ida, Nino und Useppe und all die anderen, denen wir im Laufe der Erzählung begegnen, schlagen sich durch das Leben, welches sie immer wieder umstoßen wird, kaum dass sie Kräfte fassen, in einer Zeit, welche es wahrlich nicht gut mit den Menschen meint.

Dabei werden sehr umfangreich unterschiedlichste Themen aufgemacht, die in verschiedensten Handlungssträngen nicht immer mit aller Konsequenz bis zum Ende hin verfolgt werden. So ist La Storia zugleich ein Roman über eine Familie, Gesellschafts- und Systemkritik, eine Bestandsaufnahme, in der jede der Figuren, von denen einige wunderschön ausgestaltet sind, eine eigene Erzählung vedient hätte. Mit der gewählten Form hier jedoch hat sich die Autorin nur bedingt einen Gefallen getan.

Einzelne Ausarbeitungen von Figuren dürfen als gelungen bezeichnet werden, allen voran die der Hauptfigüre, die man ins Herz schließen mag. Bei Vernachlässigung anderer Handlungsstränge gäbe es hier alleine genug zu erzählen, ob nun der Konflikt zwischen den Generationen beleuchtet oder vererbte unverarbeitete Traumata, deren Auswirkungen sich erst sehr viel später zeigen werden. Aber La Storia ist eben auch Partisanengeschichte oder eben die Verhandlung einer gesellschaftlichen Systemfrage. Schwer zu bündeln und damit über manche Strecken ganz und gar nicht einfach zu lesen.

Erzählt wird dieses italienische Epos per Perspektivwechsel, dem man durchaus folgen kann. Selbst der tierische Begleiter Useppes, einer Figur, die man einfach nur liebhaben muss, bekommt da eine Stimme und der kleine Junge damit eine Form, was aber nicht darüber hinweg hilft, dass alleine durch die Länge es beim Lesen dazu kommt, dass man einzelnen Figuren gerne nachspürt, sich bei anderen Passagen über kurz oder lang erwischen tut, sie nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit verfolgen zu wollen. Da kommen sich Handlungsstränge in die Quere. Auch muss man sich des im Vergleich zu heutigen Zeit etwas gemächlicheren Erzähltempos bewusst sein, was dann ebenfalls zu ein paar Längen beiträgt.

Elsa Morante widmet sich kleinteilig der Kriegs- und Nachkriegszeit in den staubigen Gassen Roms und zeigt dabei Licht- und Schattenseiten. Jede Figur hat ihre Ecken und Kanten, auch deren Standpunkte werden immer wieder neu verhandelt, trotzdem schleicht sich immer wieder das Gefühl ein, hier von hätten es gerne ein paar Seiten weniger, hier unbedingt mehr sein können, da es Morante ja durchaus gelungen ist, für Detailschärfe zu sorgen.

Vielleicht ist das aber auch nur ein Empfinden in heutiger Zeit. Zum Erscheinen war La Storia in Italien ein großer Publikumserfolg, der vielerseits diskutiert wurde. Eines ist jedoch gelungen, eine Art Lebensgefühl zu transportieren, auch nicht immer nur auf eine Seite hin fokussiert.

An manchen Stellen übertrieben wirkende Reduzierungen, an anderen eine ewisse Üppigkeit, und ja, auch hin und wieder ruppiger Sprache, hinterlassen einen wechselhaften Eindruck, was streckenweise enervierend sein kann, vor allem auf einem bestimmten Monolog gegen Ende bezogen, ansonsten folgen hier Aktion und Reaktion der Figuren einer gewissen Logik. Die Beschreibungen der Schauplätze ist der Autorin gelungen. Man kann sich die Gassen des Armenviertels, das Flussufer, die Enge von Räumen gut vorstellen.

Der Konzentration fordernde Roman lässt sich in keinem Fall nebenher lesen und ist zumindest im Haupthandlungsstrang durchaus lesenswert. Wer dann noch die anderen mit etwa dem gleichen Interesse begegnet, entdeckt eine Geschichte über viele Geschichten.

Auch das ist ja irgendwie Rom.

Autorin:

Elsa Morante wurde 1912 in Rom geboren und war eine italienische Schriftstellerin. Nach der Schule begann sie ein Literaturstudium, welches sie aus Geldmangel vorzeitig beenden musste. Dennoch veröffentlichte sie Gedichte und Erzählungen, zunächst in Zeitschriften, gab nebenher Unterricht in Italienisch und Latein.

In ihrem Roman La Storia verarbeitete sie Erlebnisse aus ihrer eigenen Biografie, musste vorher zu Zeiten des Krieges aus Italien 1943 fliehen, kehrte aber 1944 bereits wieder nach Rom zurück. 1948 wurde ihr erster Roman veröffentlicht, dem weitere folgten. La Storia, 1974, welches in den 1980er Jahren verfimt wurde. 2023 entstand eine TV-Serie. Morante erhielt u. a. den Prix Medicis, 1984. Ein Jahr später starb die Autorin.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Elsa Morante: La Storia Weiterlesen »

Florian L. Arnold: Das flüchtige Licht

Inhalt:

Für den Monsignore, einen großen Filmemacher, ist das ganze Leben ein Schauspiel. Doch für den routinierten Regisseur ändert sich alles, als er das Straßenkind Enzo vor die Kamera holt. „Das flüchtige Licht“ erzählt die Geschichte von vier Menschen, deren leben durch das Kino und die Leidenschaft eines exzentrischen Geschichtensammlers bestimmt wird. (Klappentext)

Rezension:

Es ist eine Illusion, die nach dem Willen eines einzelnen Mannes entsteht, doch sobald die Linse ihren Auftrag erfüllt hat, verschwindet diese von Kameras eingefangene Welt. Der trockene Staub legt sich in den überhitzten Gassen, wenn die Schauspielenden und ihr Filmemacher verschwinden und den schönen Schein in Kisten verpacken. Fortan geht ein jeder wieder seine Wege. Bis zum nächsten Mal. Für Enzo, der einst eher zufällig in die Aufnahmen des Monsignore hineinplatzt, ist diese sehr flüchtige Welt real oder zumindest viel zugetaner als die Wirklichkeit, die es schon in seiner Kindheit nicht gut mit ihm meint.

Ausgeschlossen ist er dort gewesen, immer am Rande einer Gruppe von Jungen, die ihm den Zugang zu der kleinen und verschworenen Gemeinschaft verwehren, bis diese sich auflöst, als sie alle nach und nach aus ihrem Heimatdort ausbrechen. Doch auch danach lässt sie der rothaarige Schatten ihrer Kindheit nicht los. Die Welt der Illusionen hat Enzo da schon verschlungen.

Florian L. Arnolds Roman „Das flüchtige Licht“ ist eine Hommage an eben diese, der Hochzeiten des italienischen Kinos und dem Mann, der sie erheblich mitgeprägt hat. Fellini ist das Vorbild des Monsignore, der Figur, der Enzo Halt zu geben vermag, so lange dieser bereit ist, seine Geschichten zu erzählen, für die er dann ein Leben in der Welt der Cinecitta bekommt, die ihm jedoch immer wieder durch die Hände rinnt.

Langsam und behutsam nähern wir uns den Protagonisten an, deren Verhältnisse zueinander sich im Verlauf der Erzählung umkehren werden und doch nicht aus ihrer Haut heraus können. Dieses Spannungsverhältnis bestimmt den Roman, der selbst wie einer dieser italienischen Streifen wirkt. Man kann sie förmlich vor sich sehen, die Gassen, die Suche von Enzo nach sich selbst, der sich in die Abhängigkeit eines einzelnen Mannes begibt, der doch selbst von ihm, einmal in den Bann gezogen, nicht von ihm los kommt.

Die ruhig gehaltene Erzählung wirkt durch ihre Figuren, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird. Die verschworene Gemeinschaft, die sich einst schwor, immer zusammen zu bleiben, Kontakt zu halten, um sich dann letztendlich doch zu verlieren auf der einen Seite. Enzo auf der anderen, der da nie hinein finden wird und auch in der Welt des Monsignore die Rolle des Außenseiters übernehmen muss, um auf irgendeine Art und Weise doch dazu zugehören. Ist der Film im Kasten endet oft auch das, bis zum nächsten Mal.

Figuren entstehen zu lassen, die nicht mit-, aber eben auch nicht ohne einander können, schafft Arnold mit prägnanten Sätzen, auf den Punkt ausformuliert, ohne dass ein Wort zu viel wäre. Nur manchmal scheint diese beschriebene flüchtige Welt beim Lesen durch die Finger zu rinnen, wie es eben dem Medium eigen ist, welches Hauptgegenstand der Erzählung ist. Viel näher würde man gerne an den einzelnen Protagonisten dran sein. Es hätte nicht geschadet, hier und dort etwas länger zu verweilen.

Orte, die zu einander gegensätzlich sind, sind es auch, die diesen Roman ausfüllen. Der Kinosaal etwa, in dem man sich der Illusion für ein paar Stunden hingeben kann, im Kontrast zu den Gassen, die nach dem Dreh wieder einsam und verlassen sind. Auch das verschafft der Erzählung starke Momente.

Dieses Zusammenspiel verschafft mitsamt der Perspektivwechsel innerhalb der Kapitel einen Lesefluss, innerhalb dessen man die eine oder andere Figur für einen Moment verliert, um im nächsten einen einzelnen Satz zu lesen, der präzise formuliert die Geschichte vorantreibt. Wenn die Protagonisten dann zurückblicken, holt sie die Wirklichkeit mit ihrer ganzen Wucht schnell wieder ein, insbesondere Enzo, dessen Leben gleichsam der Filme, derer Bestandteil er ist, plötzlich leer scheint, als die letzte Szene gedreht, die letzte Geschichte erzählt ist.

Der Roman, der selbst wie ein Film wirkt, schafft es trotz seiner ruhigen Art und Weise, einem in den Bann zu ziehen. Auf jeder Seite ist das Herzblut des Autoren zu spüren, der an der Erzählung jahrelang gearbeitet hat, verpackt in wunderschöner Sprache, die ihr Ziel erreicht. Einzelne Momente hätte ich mir noch etwas mehr ausformuliert gewünscht, auch, dass einige der Charaktere einem nicht so schnell durch die Finger rinnen. Auch eine Bitte hätte ich, könnte sich jemand um die filmische Umsetzung kümmern?

Es wäre genial.

Autor:

Florian L. Arnold wurde 1977 in Ulm geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Illustrator. Er studierte in Augsburg Kunstwissenschaftler und war danach freiberuflich als Grafiker und Schriftsteller tätig und gab u. a. das Kunst- und Kulturmagazin ES heraus. Arnold ist Initiator und Programmleiter des Literaturfestivals Literaturwoche Donau in Ulm/Neu-Ulm und stellt dort seit 2013 die Arbeit unabhängiger Verlage vor. Auchin Neu-Ulm initiierte er das Begegnungsformat Literatur unter Bäumen, zudem kuratiert und moderiert er zahlreiche Veranstaltungen der Aegis-Buchhandlung in Ulm. Er veröffentlichte mehrere Romane, Erzählungen und ein satirisches Wörterbuch.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Florian L. Arnold: Das flüchtige Licht Weiterlesen »

Jeremias Gotthelf: Der Bauernspiegel

Inhalt:

Mit dem Bauernspiegel wurde aus dem Pfarrer Albert Bitzius der Schriftsteller Jeremias Gotthelf. In seinem ersten Roman erzählt er das Leben eines „Verdingbuben“, dessen Weg aus der Knechtschaft ihn bis ins Paris der Julirevolution führt. Die schonungslose und zugleich humorvolle Direktheit, mit der Gotthelf der eigenen Welt – den Bauernfamilien, aber auch den Schulmeistern und Politikern – den Spiegel vorhält, sorgte schon zu Zeiten der Erstveröffentlichung für Aufruhr und hat bis heute nichts an Brisanz und Aktualität verloren. (Klappentext)

Rezension:

In einer Mischung aus Bauernroman und damals sehr aktueller gesellschaftlicher Analyse rollt „Der Bauernspiegel“, der im Jahr 1837 veröffentlicht wurde, eine Thematik auf, die in veränderter Form noch bis hinein in die 1960er Jahre in Teilen der Schweiz Bestand hatte und auch in anderen Ländern unter verschiedenen Namen das Schicksal unzähliger, zumeist Waisenkinder bestimmte. In Deutschland z. B. unter den Begriff Schwabenkinder, im Schweiz als Verdingen bekannt, wurden diese an Pflegefamilien vermittelt, zumeist in der Landwirtschaft als billige, nahezu rechtsfreie Arbeitskräfte eingesetzt und oft genug physisch und psychisch brutal misshandelt.

Doch noch zu Hochzeiten dieses sklavenartigen Systems gab es Stimmen, die sich für die Rechte dieser Kinder und Jugendlichen einsetzten. Einer der ersten Schweizer gehört den Pfarrer Albert Bitzius, dessen erster Roman diese Thematik aufgreift und schon zur Zeit der Erstveröffentlichung für Diskussionen sorgte.

Unter Pseudonym verfasst, durchleben wir die Geschichte des gleichnamigen Protagonisten, der gleichsam das alte Ego des Autoren ist und das Aufwachsen eines Verdingkindes verfolgt, bis zu seiner Emanzipation von diesem auf Willkür und Gewalt beruhenden Systems. Erzählt wird es aus der Perspektive des Kindes, welches eine Welt um sich herum zu zerbrechen sieht und förmlich von einer Katastrophe in die nächste rutscht und erst mit dem Älterwerden Schritt für Schritt seine Erfahrungen nutzen kann, um sich zur Wehr zu setzen. Bis dahin durchlebt der Protagonist, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, ein Martyrium, durchbrochen von zu wenigen Momenten des Durchatmens. Von Glück kann dabei lange Zeit nicht die Rede sein.

Der Handlungsverlauf verfolgt ein halbes Menschenleben und veranschaulicht überdeutlich ein System, welches uns in reichen Ländern heute die Haare zu Berge stehen lässt, doch in der Vergangenheit Europas bittere Realität gewesen ist, dessen Gesellschaftskritik doch nichts von seiner Aktualität verloren hat. Kinderarbeit gibt es, in veränderter Form, noch immer in Teilen der Welt. Die Realitäten dürften davon auch in der Moderne nicht allzu weit davon entfernt sein.

Jeremias Gotthelf, um den Autoren mal beim Pseudonym zu nennen, erzählt ausschweifend im altschweizerischen Dialekt, in dem vor allem die Dialoge verfasst sind, welches langsames und konzentriertes Lesen erforderlich macht, vor allem, wenn man sonst nur das Hochdeutsche gewohnt ist. Hinten angestellt gibt es ein Glossar mit Begriffen, was die Lektüre deutlich erleichtert, sowie eine Übersicht über im Roman erwähnte alte Maß- oder Währungseinheiten.

So geglättet gelingt die Lektüre, in der ein aus heutiger Sicht großformatig historisches Panorama eröffnet wird, mit tief gezeichneten Figuren, wobei das Hauptaugenmerk auf den Protagonisten liegt, dessen Entwicklung wir verfolgen. Es gelingt Gotthelf hier eine Verbindung zu schaffen, die über den gesamten Erzählstrang trotz Längen anhält. Längen, die zwangsläufig entstehen, da das Erzähltempo im Gegensatz zur Moderne gemächlich anmutet. Dennoch gelingt das Portrait dieser damals untersten Gesellschaftsschicht und der Schweizer ländlichen Gegenden gut, ebenso wie der Kontrast, hier gestaltet als „Ausbruch“ ins revolutionäre Paris.

Trotzdem möchte man den Hauptprotagonisten schütteln, was mit dem Wissen und Selbstverständnis der heutigen Zeit jedoch leicht gesagt wird, sich zu wehren, was aus unserer Sicht viel zu spät im Handlungsverlauf passiert, was noch verstärkt wird durch die gegensätzlich gestalteten Charaktere, die in der Überzahl erscheinen und sich an Grausamkeiten und Gemeinheiten förmlich überbieten. Unwillkürlich fragt man sich dabei, wie ein solches System so lange Zeit Bestand haben konnte.

In sich schlüssig ist diese Erzählung, die ohne große Sprünge auskommt, auch ohne allzu lange Wendungen, aber mit erhobenen Zeigefinger, der zur damaligen Zeit wohl notwendig gewesen ist. Der Autor konnte aus Beobachten seiner Umgebung Ideen in seine Geschichte einfließen lassen, die dieser in jeder Zeile zu Gute kommen und dabei von Mut- und Trostlosigkeit bis hin zu winzigen Hoffnungsschimmern nicht nur den Protagonisten vor sich hertreiben.

Im Wissen um die historische Realität ist die Erzählung, auf die man sich jedoch einlassen muss, ein wichtiges Dokument der Schweizer Gesellschaftsgeschichte, ohne jemanden unberührt zu lassen. Aus damaliger Sicht ist dies Gesellschaftskritik, politischer Aufruf und aktueller Roman, heute ein Historienroman, in dem man das Anliegen von Albert Bitzius stringent vorgeführt bekommt. Wer sich darauf einlässt, kann dies mit Gewinn lesen. Man sollte jedoch ein Faible oder zumindest die Übung haben, Dialekt verschriftlicht zu sehen. Dies nicht gewohnt, ist die Lektüre zuweilen sehr anstrengend. Zumindest heute.

Autor:

Jeremias Gotthelf ist das Pseudonym des Schweizer Schriftstellers und Pfarrers Albert Bitzius. Dieser wurde 1797 in Murten geboren und starb 1854 in Lützelflüh. Nach Besuch der Literarschule in Bern studierte er Theologie und war 1819 Gründungsmitglied des Schweizerischen Zofingervereins. Nach einem Vikariat setzte er sein Studium fort und wurde nach einigen Stationen Vikar in Herzogenbuchsee.

Als Pfarrgehilfe begann er 1829 in Bern und wechselte anschließend in die Pfarrei Lützelflüh, wo er zum Pfarrer gewählt wurde. Neben der Schulpflicht setzte er sich für Verdingkinder aus armen Familien ein und gegen Alkoholismus. Nach Gründung einer Familie wurde Bitzius 1835 Schulkommissär und gründete im selbigen eine Armenerziehungsanstalt, ab 1828 betätigte er sich zudem journalistisch. Sein erster Roman erschien 1837, weitere Schriften und Erzählungen folgten bis zu seinem Tod 1854.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Jeremias Gotthelf: Der Bauernspiegel Weiterlesen »

Eloy Moreno: Unsichtbar

Inhalt:

Wer hat sich nicht schon einmal gewünscht, unsichtbar zu sein? Wer hat sich nicht schon einmal gewünscht, es nicht mehr zu sein?

Das Problem ist, dass ich diese Kraft nie richtig im Griff hatte: Ausgerechnet dann, wenn ich schrecklich gern unsichtbar sein wollte, haben mich manchmal jede Menge Leute gesehen. Wenn ich dagegen von allen gesehen werden wollte, war meinem Körper nach Verschwinden zumute.

Emotional, berührend, anders … Der spanische Bestsellerautor Eloy Moreno erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte eines Jungen, die jedem von uns auch hätte passieren können. (Klappentext)

Rezension:

Nicht nur ein Jugendbuch liegt mit „Unsichtbar“ vor, der Text des spanischen Schriftstellers Eloy Moreno, tatsächlich ist es eine Geschichte, wie sie uns allen passieren könnte, in der einen oder anderen Form, unabhängig von Alter oder Ausgangspunkt. Der Autor erzählt vom Endpunkt an und schaut in mehreren Perspektiven zurück auf die Anfänge eines durchschnittlichen Jungen, der zunächst nicht ahnt, schon bald Zielscheibe des Klassenmobbers zu sein.

Angriffsfläche bietet der namenlose Erzähler nur wenig, ein einfaches Wort reicht, um eine Spirale der Gewalt in Gang zu setzen, die sich zunächst in kaum bemerkenswerten Nadelstichen äußert, bis es irgendwann in die große Katastrophe mündet, an deren Endpunkt der Protagonist und seine Umgebung zurückschauen.

„Warum lässt du es dir wegnehmen?“, […] fragten mich manche meiner Mitschüler.
Warum helft ihr mir nicht?, dachte ich.

Eloy Moreno: Unsichtbar

Diese Perspektivwechsel, schon die Umkehrung des Erzählstranges machen die Lektüre zu etwas besonders Eindrücklichen und schaffen eine Atmosphäre, derer man sich nicht entziehen kann, sorgen jedoch auch dafür, dass man sich für einen kurzen Moment zunächst einfinden muss, um die einzelnen Figuren klar auseinanderhalten zu können. Dabei hilft, die Hauptfigur wird im Gegensatz zu den anderen Protagonisten nie namentlich benannt, selbst als alle ihn, sein Leid sehen, oder dessen Finalität, bleibt er in gewisser Weise unsichtbar, während er selbst um so klarer sieht.

Eloy Moreno schafft es durch eine die Taktung kompakter Kapitel eine Dynamik und ein schnelles Erzähltempo zu erreichen, welches unterstreicht, wie schnell man sich in eine Position hineingezogen sieht, aus derer man ohne Hilfe nicht mehr herausfinden vermag.

„Was für eine Geschichte erzählst du mir heute?“, fragt ihn seine Schwester, während sie sich an seine Brust kuschelt. „Die von einem Jungen, den niemand lieb hatte“, antwortet er mit flackernden Augen. Er denkt, wenn das Licht aus ist, wird sie seine Tränen nicht bemerken. „Niemand hatte ihn lieb?“ „Nein, Luna, niemand hatte ihn lieb …“

Eloy Moreno: Unsichtbar

Die Ungeheuerlichkeit wird dadurch verstärkt, dass auch die Dilemma der Umgebung beleuchtet wird, die nicht sehen möchte aber genug begreift, um selbst einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, dabei das Opfer den Mobbenden jedoch zum Fraß vorzuwerfen. Aber auch dieser Perspektive schafft es der Autor eine Form zu geben, wie es zuletzt nur Raquel J. Palacio in den Zusatzbüchern zu „Wunder“ gelungen ist, einen ebenfalls in diese Kerbe hineinschlagenden Roman.

Der erzählte Zeitraum ist unbestimmt, jedoch kann es sich um kaum mehr als ein paar Monate handeln. So viel wird zumindest deutlich. Die auf den Punkt gehaltene Tonalität gibt den Figuren Konturen und viele Grautöne, die aufzeigen, dass eben nicht nur der Mobbende allein sich schuldig macht und das Opfer selbst nie schuldig ist.

Der Spiegel ist der einzige Zeuge der Ereignisse; der Einzige, der nicht lügt, der sich nicht verstellt, der ihm die Wirklichkeit zeigt, auch wenn sie weh tut […]

Eloy Moreno: Unsichtbar

Das macht es so leicht, sich in den Protagonisten und seine Umgebung hineinzuversetzen, egal ob wir selbst einmal Opfer, in welcher Form auch immer, waren oder beteiligt gewesen sind, als Mobbende oder Mitlaufende, die eine Eskalation nicht verhindert haben. Das, unterstreicht Moreno, ohne erhobenen Zeigefinger, ist mindestens genau so schlimm und macht etwas mit der Gefühlswelt eines Lesenden, wenn man der Sogwirkung dieser Erzählung erlegen ist.

Die Umkehrung der Erzählung und die Perspektivwechsel, vor allem die der Hauptfigur, die sich in eine Traumwelt flüchten muss, um irgendwie zu überleben, ist zwar in ihrer Art und Weise selten, gerade im Jugendbuchbereich, doch in sich schlüssig. Logikfehler und fehl wirkende Brüche gibt es da nicht. Zu viel kennt man an solchen Geschichten, die man nicht müde werden darf zu erzählen.

„Aber ich tauge doch zu nichts“, flüstert er ihr zu, „ich bin doch nur im Weg, alle lachen über mich, ich verstehe nicht, wozu ich überhaupt auf der Welt bin …“

Eloy Moreno: Unsichtbar

Jeder Prozentpunkt, schon gemobbter Kinder und Jugendlicher, die zum Äußersten greifen, da sie unsichtbar ob ihrer Situation bleiben, ist einfach zu hoch. Wir, so die Botschaft von Moreno, sehen viel zu häufig weg, wo ein Hinsehen und Handeln erforderlich wäre, selbst wenn wir eindeutige Zeichen bemerken. Dieser Rahmen wird in Form von Tipps nach Ende der Geschichte nochmals aufgegriffen. Eine Pflichtlektüre für alle sollte „Unsichtbar“ sein.

Auch ohne eigene ähnlich geartete Geschichte entfaltet der Text bei Lesenden seine Wirkung, doch ist die Ebene nochmals eine andere, hat man selbst ähnliches erlebt, wie der Protagonist, der für andere bis zur Eskalation unsichtbar bleibt.

Die Wucht der Erzählung ist dann um so stärker. Bis zu einem gewissen Punkt war auch der Schreiber dieser Rezension (und ich schreibe von mir in der dritten Person, da es mir hier so leichter fällt) dieser Junge, der ähnlich drangsaliert wurde, dessen Weg jedoch eine andere Abzweigung genommen hat. Der zeitliche Abstand zur eigenen Situation hat jedoch auch dazu beigetragen, dass die Lektüre nicht gänzlich aus der Bahn werfend wirkt.

Es verging noch ein Tag, an dem sie mir nichts taten, und noch einer … aber ab dem dritten ging alles wieder los. Beim Reinkommen ins Klassenzimmer bekam ich ein Bein gestellt und fiel hin, zum Gelächter oder Schweigen der anderen – beides tat gleich weh.

Eloy Moreno: Unsichtbar

Aber auch sonst kann man sich das alles bildlich vorstellen. Viele Worte benötigt der Autor nicht, um dies zu schaffen. Moreno weiß, wo Beschreibungen der Geschichte zu Gute kommen, wo Auslassungen ein Kopfkino und nachdenkliche Momente schaffen. Man möchte die Umgebung des Protagonisten anschreien, aufrütteln.

Der Roman wird sowohl in Spanien als auch sonst als Jugendbuch gelabelt, ist es jedoch wert, unabhängig davon, alleine der Thematik wegen, von allen gelesen zu werden. Moreno hat mit „Unsichtbar“ nicht nur eine Erzählung geschaffen, die zur Pflichtlektüre in Klassenzimmern werden sollte, sondern eine All-Time-Geschichte, die unter die Haut geht. Und dort bleibt.

Das ist so, weil jeder solch eine Situation kennt, eben da zu allen Zeiten jeder irgendwo wunde Punkte hat oder Angriffsflächen bietet, die zur Zielscheibe werden können. Moreno macht ebenso deutlich, dass, wo keine sind, eben welche herbei erfunden werden und auch dadurch Mobbing-Situationen hervorgerufen werden können.

Da wird ihr klar, dass man nichts Besonderes tun muss, um ein Monster zu sein, dass es manchmal schon reicht, überhaupt nichts zu tun.

Eloy Moreno: Unsichtbar

Eine große Stärke, dieses Textes, der nicht alleine Lese-Highlight ist, sondern ein Aufruf, zu handeln. Der Protagonist ist ungefähr 13 oder vielleicht 14 Jahre alt, eine Lektüreempfehlung kann man, so denke ich bereits schon ab 12 Jahren oder noch eher geben. Dazu ist die Thematik einfach viel zu wichtig und immer noch zu selten im Fokus der Öffentlichkeit.

Eloy Moreno hat mit „Unsichtbar“ ein Jugendbuch geschaffen, welches über diese Genregrenze hinaus funktioniert, auch über Landesgrenze. Mobbing ist ja leider universell. Diese Erzählung mit etwas anderem als der Höchstwertung zu versehen, grenzt an Blasphemie. Es wäre zudem wünschenswert, wenn noch weitere Werke dieses Autoren ins Deutsche übersetzt werden würden. Gleichwohl ist es natürlich schwer, dies noch zu toppen.

Autor:

Eloy Moreno wurde 1976 geboren und arbeitete zunächst als Informatiker, bevor er begann Bücher zu schreiben. Sein erstes Werk erschien im Selbstverlag, danach veröffentlichte er weitere Bücher, die in Spanien allesamt zum Bestseller avancierten. Er wurde mehrfach ausgezeichnet. „Unsichtbar“ ist sein erster ins Deutsche übersetzte Roman.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Eloy Moreno: Unsichtbar Weiterlesen »

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Inhalt:

Mit der ersten großen Liebe ist für uns oft ein Duft verbunden. Für Feurat Alani sind der Duft und der Geschmack von köstlichem Aprikoseneis, das er als Kind in Bagdad gekostet hat, für immer mit dem Irak verbunden. In 1000 Tweets berichtet er von dieser ersten Reise in das Herkunftsland seiner Familie und von den späteren Reisen als erwachsener Journalist, vom Krieg und dem Wandel, den dieser im Traumland seiner Kindheit bewirkt hat. Wir begleiten den Autor bei der Entdeckung eines orientalischen Landes voller unbekannter Düfte, aber auch bei seiner Trauer um das, was später unwiederbringlich verloren ging. Die berührenden und scharfsichtigen Beobachtungen des Kindes und des jungen Erwachsenen hat Léonard Cohen mit seinen Zeichnungen eindrücklich illustriert. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

In Mansour halten wir an einer Eisdiele. Ich koste von dem besten Eis, dass ich je gegessen habe. Aprikose. Der Duft von Bagdad.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Gerade als der Iran-Irak-Krieg vorbei ist, lernt Feurat im Alter von neun Jahren die Heimat seines Vaters kennen. Das Land wirkt anders als in den Medienberichten, modern und offen. Die einfachen Leute fahren VW Passat. Melonen werden am Fluss eingegraben, um sie abends gekühlt essen zu können. Doch das Gesicht Saddam Husseins bestimmt den Irak. Seinen Namen sollen sie nicht laut aussprechen. Als seine kleine Schwester es dennoch tut, kennt Feurat fortan nun auch den Duft der Diktatur.

Im Irak herrscht Lebenslust, zumindest damals, trotz bereits vorhandener Einschränkungen. Vor dem Embargo leben die Menschen gut, doch das Glück der Menschen, schon damals Spielball der Gegensätze, wird im Laufe der Jahre zerrinnen. Bis nichts mehr davon übrig ist. Über die Jahre wirft der Autor, zunächst mit den Augen des Kindes, später als junger Journalist, immer wieder einen Blick auf dieses Land, welches wir kaum fassen können. Doch wie der Irak, so stet Feurat Alani selbst stets unter Spannung zwischen den Welten. Als Iraker und Franzose. Seine Beobachtungen hat er nun zusammengestellt. In Form einer Tweet-Sammlung. Ergänzt durch minimalistische Zeichnungen entstand so das Portrait seine Autobiografie, ein Blick auf die jüngere Geschichte eines Landes, eine Graphic Novel und ein Zustandsbericht, der einem den Atem stocken lässt.

Als Ziad und ich uns an diesem Tag trennen, gehe ich mit einem Gefühl der Scham. Mir wird alles geschenkt. Und ihnen alles genommen.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

In dieser Kombination ist das Werk „Der Geschmack von Aprikoseneis“ ungewöhnlich einprägsam. Kurz und prägnant sind die Sätze, den Möglichkeiten der Social Media Plattform Twitter nachempfunden. Momentaufnahmen, die sich stapeln und fließend ineinander übergehen. Sie zeigen den Wandel eines Landes, zugleich die Veränderung des Blickwinkels. Der des Kindes weicht dem jungen Erwachsenen, der dokumentieren, festhalten und der Welt von der irakischen Wirklichkeit berichtigen möchte.

Das Gefühl, nie am richtigen Ort zu sein. Unrechtmäßigkeit. Schuld. Ich möchte meine Erlebnisse im Irak vergessen, aber sie lassen mir keine Ruhe.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Zeichnungen, die beinahe wie Scherenschnitte wirken und dennoch die Strahlkraft von Fotos besitzen, unterstreichen den Text, ohne überhand zu nehmen. Sie prägen sich ein. Lesend nimmt man die beobachtende Position ein und verliert sich in diesem Strudel der Emotionen. Das funktioniert in dieser Kombination ebenso, wie dies der Tatsache geschuldet ist, dass Seitenzahlen völlig fehlen, was den unmerklichen und doch schnellen Wandel verdeutlicht, bis zum Zusammenbruch einer Gesellschaft.

Immer ist Feurat Alani Beobachter und Akteur zugleich, nebenan der Schauplätze und mittendrin. Einzelne Nadelstiche summieren sich, werden zu hörbaren Explosionen, einer Platzwunde, einer versuchten Entführung. Einschläge werden fassbar, kommen immer näher, bis es auch die Familie des Autoren zerreißt. Diktaturen kennen keine Gnade. Chaos erst Recht nicht. Dreizeiler in Absätzen prägen das Bild. Nur Ausschnitte hält der Betrachtende fest und doch das wichtige. Platz für Nebensächlichkeiten bleibt da nicht. Zunehmend müssen auch die Menschen sich damit beschäftigen, zu überleben. Bald ist das die einzige Tätigkeit.

Ein trauriger Anblick. Einer der Insassen liegt auf dem Boden. Die Rettungskräfte sind da. Der Sommer beginnt mit einem Toten. Das gefällt mir nicht.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Aufgrund der ungewöhnlichen Erzählstruktur, ergänzt durch eine Chronologie der Ereignisse ist diese Biografie einer Person, eines Landes, einprägsam und verdeutlicht zugleich, wie schnell etwas Intaktes, auch wenn die Oberfläche bereits von Beginn an Risse aufweist, in die Brüche gehen kann. Wer ein Gefühl dafür erlangen möchte, wird dieses Werk mit Gewinn lesen können. Mit mehr Spannung als ein Roman das könnte. Jeder Tweet ist eine Tür. Die mehrteilige Serie „Fremde Heimat Irak„, die bei Arte zu finden und im gleichen grafischen Stil gehalten ist, sei ebenfalls ans Herz gelegt.

Autor:

Feurat Alani wurde als Sohn irakischer Eltern in Paris geboren. In Bagdad hat er als Korrespondent für die Sender I-Tele und Le Point gearbeitet. Er war auch regelmäßiger Mitarbeiter von Le Monde diplomatique und Geo, bevor er seine eigene Produktionsfirma gründete. Sein Dokumentarfilm Irak: les enfants sacrifi és de Fallujah (2011) wurde auf mehreren Festivals prämiert.

Illustrator:
Léonard Cohen ist Absolvent der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs de Paris. Im Jahr 2010 wurde sein Abschlussfilm Plato auf vielen Festivals gezeigt und gewann mehrere Preise, darunter jenen für den besten Studenten-Kurzfilm und den Preis der Junior-Jury auf dem renommierten Internationalen Trickfilmfestival von Annecy. Cohen arbeitet freiberuflich und entwickelt vor allem Animationsprojekte.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis Weiterlesen »

Alexander Häusser: Karnstedt verschwindet

Inhalt:

Wer in der Schule zu sehr aus der Masse heraussticht, wird schnell zum Außenseiter. Doch für Simon und Karnstedt, die beide gar keine andere Wahl haben, als aufzufallen, bedeutet die Ausgrenzung der Beginn ihrer besonderen Freundschaft. Über zwanzig Jahre später steht Simon vor dem Haus seines Jugendfreundes.

Nach der Schulzeit brach jeglicher Kontakt ab, bis Simon die Nachricht von Karnstedts Verschwinden erreichte. Nun soll sich ausgerechnet Simon um dessen Nachlass kümmern. Als er das Haus betritt, findet er ein heilloses Chaos vor. Und überall dazwischen: Erinnerungen. Von ihm, dem klein gewachsenen Simon, und dem kahlen Karnstedt, der mit seinem Anderssein den Klassenkameraden Tummer und dessen Clique provozierte. Beide teilten damals ein Geheimnis, das der Grund für die rätselhaften Ereignisse zu sein scheint. (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung, gleichsam wie ein Schrei und doch ganz leise. Das ist „Karnstedt verschwindet“ des Schriftstellers Alexander Häusser, dessen Roman sich keinem Genre ausschließlich zuordnen mag. In einer Verbindung einer Coming-of-Age-Geschichte mit einem Kriminalroman und Psychorama erleben wir die Geschichte einer Jungenfreundschaft aus der Sicht dessen, der zurückblicken muss.

Neugierig und ängstlich zu gleich, was er entdecken mag und über diese Verbindung und damit auch über sich selbst herausfinden wird. Der eher kompakt gehaltene Text kommt auf leisen Sohlen daher, wie der Protagonist selbst für sich anhand seiner Umgebung die Vergangenheit aufdröselt, die ihn vielleicht im übertragenen Sinne in den Abgrund führen wird. Genau weiß er das zunächst nicht, auch wir bleiben zu Beginn lesend unwissend.

Drei Handlungsstränge braucht es, die zwischen den Zeitebenen und der Genre wechseln. Nachvollziehbar ist das vor allem anfangs nicht immer, doch nach und nach wird zusammengeführt und es ergibt sich ein klares Bild der überschaubaren Hauptfiguren, die der Autor hier aufeinandertreffen lässt. Welche Figur hat auf wen größeren Einfluss? Wer ist wessen Spielball? Wie die Reaktion? So wird eine Gemenglage aufgebaut, die unweigerlich zum Ausbruch führen muss.

Die Geschichte spielt im Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Rückblenden sind die stärksten Elemente der Erzählung, in denen der Ich-Erzähler immer mehr eigene Konturen gewinnt, sein Konterpart im Wechsel zwischen Faszination und Abstoßen ein sehr differenziertes Bild abgibt. Auch der Antagonist bekommt seine Ecken und Kanten. Ruhige Sätze lullen ein, um mit einem lauten Knall zu überfallen. Einige dieser Momente wirken arg gewollt platziert, doch möchte man unbedingt weiterlesen, erfahren. Ein gewisser Sog ist über Strecken nicht abzusprechen.

Der Erzähler nimmt diese Perspektive dauerhaft ein und setzt in seine Erinnerungslücken einzelne Puzzleteile gleichsam den Überbleibseln seines verschwundenen Gegenübers ein, um sein eigenes Bild zu vervollständigen. Immer wieder gibt es zwischen den Zeilen verschiedene Ebene als verbindende Elemente zwischen den Handlungssträngen. Entstehende Längen durchbrechen dann zuweilen den Lesefluss, dem an einigen Stellen mancher Sprung nicht hilft. Mit dem nächsten Satz hat der Autor jedoch wieder packen können.

Eine unterschwellige Spannung ist die ganze Zeit über zu spüren, wenn auch die Wendungen nicht immer überraschen können. Gerade zum Ende hin, funktioniert dies jedoch gut, was daran liegen mag, dass man sich spätestens ab Mitte des Romans in den Erzählstil eingefunden hat. Der in der Vergangenheit liegende Handlungsstrang wird dabei zu Ende am stärksten in Erinnerung bleiben. Punktuell hätte der Geschichte etwas mehr Detailliertheit gut getan, zudem Häusser passagenweise durchaus filmisch zu beschreiben weiß.

Die Perspektive und Position des Erzählenden wird, außerhalb der Zeitebene, von Beginn an sich nicht ändern. Das Gefühlschaos des Protagonisten tut es dagegen stetig. Simon wächst einem ans Herz, ist nachvollziehbar. Karnstedt als zweite Hauptfigur bleibt wie vom Nebelschleier umhüllt. Glaubt man ihm fassen zu können, endgleitet er einem schon wieder.

Egal, welches Buch man lesen möchte, den nicht ganz einfachen Coming-of-Age-Roman, das Psychogram oder den Kriminalroman, mit „Karnstedt verschwindet“, wird man all das bekommen. Ist nur die Frage, was davon am besten funktioniert. Für mich hat sich das entschieden.

Autor:

Alexander Häusser wurde 1960 in Reutlingen geboren und studierte zunächst Germanistik, Philosophie und Geschichte. Für sein Werk, welches mehrere Romane umfasst, erhielt er Auszeichnungen, wie den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg. Häusser wirkt zudem im Rundfunk mit. Sein Roman „Zeppelin!“ wurde für das Kino verfilmt.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Alexander Häusser: Karnstedt verschwindet Weiterlesen »