Gesellschaft

Sabine Lehmbeck: Benefiz

Inhalt:
Acht Frauen, acht Lebenswege, die miteinander verknüpft sind.

Jede hat ihre Träume, ihre Herkunft, ihre Ängste, Abhängigkeiten und Glücksmomente. Und ihre eigenen Umstände. Was können wir selbst ändern, was nicht? Und was lässt sich zusammen am besten meistern?

Ein Plädoyer für die Kraft der Solidarität und das Ausleben von Leidenschaften.
(Klappentext)

Rezension:
Auf leisen Sohlen kommt „Benefiz“ daher, ein Roman in unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlicher Frauen, die alle miteinander verbunden sind und entfaltet mit wenigen Seiten eine unglaubliche Kraft. Dabei ist der Autorin ein vielseitiger Spiegel unserer Gesellschaft und der Themen gelungen, die dort verhandelt werden. In dieser Erzählung werden die Fäden zwischen ihnen gesponnen, die zeigen, dass unsere Stärken im Zusammenhalt und der Gemeinschaft liegen.

Aber vor allem ist der Roman zunächst einer über Frauen unterschiedlicher Generationen, Herkünften und Schichten, deren Leben im quirligen Hamburg und Umgebung zunächst uns Lesenden die Figuren offenbart. Jedes der kompakt gehaltenen Kapitel erzählt aus der Perspektive einer der Protagonistinnen, welche auf das Jahresende und einer von einigen derer mit organisierten Benefizveranstaltung zusteuert, zu Gunsten iranischer Frauen.

So schafft es die Autorin nicht nur eine Erzählung von gesellschaftlicher, Brisanz als auch von Debatten zu erzählen, wie sie glaubwürdig in jedweden Haushalt so ganz nebenbei täglich miteinander verhandelt werden. Ohne den Blick auf die Protagonistinnen zu verlieren, gelingt dies. Sabine Lehmbeck hat mit jedem Kapitel ein Puzzleteil mehr geschaffen, welches nach und nach ein ganzes Bild ergibt. Die Sichtweisen aufeinander ergänzen sich gut. Keine der Figuren ist perfekt, sie haben alle ihre Schwächen und Fehler und ergänzen sich dabei zusammen hervorragend.

Gegensätze werden praktisch im Nebensatz erzählt und erzeugen sowohl Spannungsfelder als auch Dynamiken. Durch die kompakt gehaltenen und doch überschaubaren Figurentableau gelingt es hier, beim Lesen den Überblick zu behalten. Man fühlt mit den Figuren, kann nachempfinden und versteht deren Handlungsweise. Etwas, was bei manch umfangreichen Roman viel weniger gelingt.

Wenn man etwas kritisieren wollte, ist es ausgerechnet das. Gerne würde man an mancher Stelle in der Erzählung noch länger verweilen, noch mehr erfahren über den weiteren Verlauf, der Vorgeschichte. Alles wird hier ohne Effekthascherei, Melancholie erzählt. Das wahre Leben eben, ohne Langeweile. Der Persketivwechsel bringt die Dynamik, wobei es der Autorin durchweg gelungen ist, den roten Faden in der Hand zu behalten und Handlungsstränge gekonnt zusammenzuführen. Auch kann man sich gut in die Umgebung der Figuren hineinfühlen, auch wenn für deren Beschreibungen ebenfalls kein Wort zu viel verloren wird.

Frauenrechte, Selbstbestimmung, Emanzipation, Veränderungen und Akzeptanz sind das Gerüst dieser Erzählung ohne Voyeurismus und ohne Wertung. Die Autorin, so scheint es, bringt zur Sprache, was ihr wichtig ist, ohne den Zeigefinger zu erheben und regt zum Nachdenken an. Das schafft der Roman durchaus, andererseits kann man ihn jedoch auch lesen, um gut unterhalten zu werden, ohne sich zu überladen. Das bekommt mit „Benefiz“, wer sich darauf einlässt.

An manchen Stellen zu kurz, da man gerne den einen oder anderen Blick mehr in das Leben der Protagonistinnen haben möchte, an vielen jedoch genau von der richtigen Länge ist diese Erzählung, in der die Männer nur eine kleine Nebenrolle spielen. Und tut sich dabei sehr gut. Das ist doch ganz schön.

Autorin:
Sabine Lehmbeck wurde 1969 geboren und ist eine deutsche Buchhändlerin und Autorin. In der Umgebung von Hamburg lebt sie und beschäftigt sich mit Frauenthemen und dem Wohlstandsgefälle in unserer Gesellschaft. Sie betreibt ein Antiquariat und hat 2022 ihren ersten Roman veröffentlicht. „Benefiz“ ist ihre zweite Erzählung.

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Mattia Insolia: Brennende Himmel

Inhalt:
Sommer 2000 – Teresa macht mit ihren Eltern Ferien in Camporotondo. Sie hat Träume, ist neugierig und gleichzeitig verunsichert von der Welt um sie herum. Während des Urlaubs in Sizilien lernt sie den schönen und verwegenen Riccardo kennen. Eine verhängnisvolle Begegnung.
Winter 2019 – Niccolo ist Teenager, er trinkt und kokst, gibt sich unnahbar und handelt rücksichtslos. Als sein Vater Riccardo ihn zu einem gemeinsamen Roadtrip überredet, wird Niccolo mit der Vergangenheit seiner Eltern konfrontiert.
Mattia Insolia erzählt von Jugendlichen, die alles daran setzen, nicht den vorgegebenen Lebenswegen zu folgen. Und er beschreibt, wie sich Eltern schuldig machen – durchaus mit Empathie, aber sie niemals aus ihrer Schuld entlassend. (Klappentext)

Rezension:
Wild und roh ist die Erzählung eines Roadtrips, der in die Vergangenheit führt, kantig und beinahe unangenehm, wie Sonne auf der Haut. In seinem Roman „Brennende Himmel“ bündelt der italienische Autor Mattia Insolia diese Strahlen zweier Erzählstränge und zeigt Protagonisten, die ihrem Erbe entfliehen wollen, aber erkennen müssen, dass das Unterfangen aussichtlos ist.

Der kompakt gehaltene Roman liest sich schwergängig. Wechselnd zwischen den Zeitebenen erzählt er parallel die Geschichte von Jugendlichen, die aufs Verhängnisvolle miteinander verbunden sein werden und keine Gelegenheit auslassen, einander wehzutun. Weil sie nichts anderes können. Die Handlung spielt zwei Sommer lang, zwanzig Jahre voneiander entfernt. In diesen erleben die Protagonisten alles. In Zeiten, die entlos scheinen und Weichen stellen.

Dabei geben sich die Figuren fast die gesamte Handlung über unnahbar, kalt. Keine der Figuren hat, vor allem im Zusammenspiel der Perspektiven, wenn sich die Zeitebenen miteinander verbinden, wirkliche Sympathien auf ihre Seite. Es ist, als wollte Mattia Insolia zeigen, dass sich gerade die unangenehmen Eigenschaften über Generationen weiter vererben. Zeichen, die man nicht los wird, und die, lernt man damit nicht umzugehen, alles Schlimme zum Vorschein bringen.

Der Fokus der Erzählung liegt auf drei Protagonisten. Teresa, von der psychischen und zu weilen körperlichen Gewalt ihrer Mutter bestimmt, die versucht aus dem engen Korsett ihres Elternhauses auszubrechen, jedoch nicht weiß, wie und damit so tollpatschig und einfältig wirkt, dass dies unerträglich ist zu lesen, deren Leid und Frust sie später auf ihren Sohn übertragen wird.

Riccardo, der die schlimmsten Eigenschaften männlichen Gehabes auf sich zu vereinen scheint und Niccolo, dessen Egal-Mentalität sich ebenso widerlich anfühlt, aber aus der Geschichte heraus zumindest erklärlich scheint. Andere Figuren kommen allerhöchstens mal im Nebensatz, in ganz wenigen Momenten als Projektionsfläche von Wut vor, die sich kanalisieren muss, bleiben dabei blass. Sie sind ja auch sonst für die Handlung unbedeutend.

Die Figuren handeln nachvollziehbar, jedoch keineswegs so, dass man mit ihnen mitfühlen könnte. Kälte, Unnahbarkeit sind noch die klarsten Eigenschaften, die man dieser dysfunktionalen Familie zuschreiben könnte, ansonsten ließt man den Roman ständig mit geballter Faust, die man sich gegen die Stirn schlagen möchte. Wenigstens der Perspektivwechsel bringt dabei Abwechslung, so dass sich die Wut und das Unverständnis wenigstens immer wieder verlagern können. Ein nicht zu unterschätzender Handlungstreiber für diese Erzählung. Ein Roman über eine Familie im Scherbenhaufen, den zusammensetzen niemanden mehr möglich ist.

Mattia Insolia hat es dennoch geschaft, ohne Lücken oder unerklärliche Wendungen zu erzählen. Tatsächlich handeln die Figuren im Sonne der Geschichte und ihrer Charaktere logisch, wenn auch die große Überraschung ausbleibt. Je nach Stimmung könnte man dabei das Ende als folgerichtig oder kitschig empfinden. Am stärksten wirken die Beschreibungen innerer Gefühlswelten, die sich durch den gesamten Text ziehen, auch die Schilderung des italienischen Ferienortes lassen sicherlich beim Lesen die eine oder andere Erinnerung aufkommen. Das wird alles fast filmisch beschrieben, jedoch reicht die Qualität nur für eine Vorabendserie mit ganz viel Drama.

Positive Momente gibt es in dieser Erzählung kaum. Wenn vorhanden, werden sie in der nächsten Zeile wieder negiert. Der Autor hat hier keinen Feel-Good-Roman geschrieben. Wer diesen sucht, ist mit „Brennende Himmel“ schlecht bedient. Ausweg- und Perspektivlosigkeit ziehen sich dagegen durch den gesamten Text. Darauf muss man sich einlassen können, um die Handlung, die sich in zwei Erzählsträngen gegenseitig ergänzt, zu ertragen.

Wer das nicht kann oder im falschen Moment tut, gerät mit dem Roman auf die falsche Spur.

Autor:
Mattia Insolia wurde 1995 in Catania geboren und ist ein italienischer Schriftseller. Er studierte Literatur und Verlagswesen in Rom und schreibt für verschiedene Magazine und Zeitschriften Literatur- und Filmkritiken. „Brennende Himmel“ ist sein zweiter Roman.

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Matias Riikonen: Matara

Inhalt:
Ein Buch, das uns Lesende in die Kindheit zurückführt und nachempfinden lässt, wie groß und unendlich wichtig alles war. Denn Matara ist ein Staat – geboren aus kindlicher Imagination. Es ist die Geschichte von Jungen, die im finnischen Wald einen Staat mit Grenzen, Gesetzen und einer Armee entstehen lassen. Sie patrouillieren, tragen Schwerter, führen Krieg und haben Gesetze. Das Wichtigste besagt: Es ist verboten, von dem zu sprechen, was außerhalb von Matara passiert. (Klappentext)

Rezension:
Wenn man den „Krieg der Knöpfe“ mit „Herr der Fliegen“ vermengt und eine Prise „Peter Pan“ hinzufügt, erhält man im Finnischen „Matara“. Dies ist ein Land, geboren aus der kindlichen Phantasie einer Herrscharr von Jungen, die in den nordischen Wäldern ihre Sommerferien verbringen. Beaufsichtigt von den Erwachsenen werden sie nur in der eigentlichen Einrichtung, doch bleibt diese außen vor, sobald die Kinder und Jugendlichen ihre Fahrräder abstellen und das Tor hinter sich schließen. Der Autor Matias Riikonen erzählt in seinem Übersetzungsdebüt von Kämpfen und Ränkespielen, Ritualen in Matara, in dem Phantasie und Wirklichkeit miteinander verschwimmen.

Diese Erzählung schwebt geradezu förmlich zwischen Jugendroman und Erwachsenenliteratur. In ausschweifenden Naturbeschreibungen eingebettet, begleiten wir die Protagonisten im Alter zwischen neun und fünfzehn Jahren, die in ihrer Gedankenwelt einen Staat nach altem römischen Vorbild haben entstehen lassen, dessen Geschehnisse für wenige Wochen alles überlagert. Langsam werden wir in diese Szenarie eingeführt, in der wir jeden Windhauch spüren werden, jeden Ast unter unseren Füßen. Das Erzähltempo steigert sich dabei allmählich von Kapitel zu Kapitel. Atemlos steuert man in „Matara“ auf ein großes Finale zu, welches alles verändern wird.

Vor allem die Sicht zweier Brüder, die anders als die anderen Figuren unbenannt bleiben, ist es, durch die wir die Geschehnisse verfolgen. Ihnen folgen wir durch das Gestrüpp und machen uns von ihrer Umgebung ein Bild. Anfangs ist nicht klar, was genau Phantasie ist und wo die Wirklichkeit beginnt. Doch die zwei Hauptprotagonisten nehmen schnell Formen an. Auch ihre Sicht auf die Dinge wird schnell nachvollziehbar. Zeile für Zeile wird das Gefüge klarer, auch die Feindbilder der Jungen, andere „Stämme“. Ob aus der gleichen Einrichtung stammend, bleibt im Unklaren. Nicht alles wird hier erläutert. So scheint es sich mit „Matara“ um ein reines Jungen-Camp zu handeln. Mädchen existieren in dieser Welt nur im übertragenen Sinne.

Feindbilder indes sind schnell klar, sowie auch die Charaktere, denen sich die Jungen zu eigen machen. Dieses komplexe Gebilde trägt die Geschichte, in der stets eine unterschwellige Spannung mitschwingt. Diese Gegensätze entfachen eine gute Dynamik, derer man gerne folgt. Auch gibt es keine Lücken oder Wendungen, die Unklarheiten offen lassen. Die Brutalität eines „Herr der Fliegen“ wird dadurch abgemildert, dass die Kinder auch beim brutalen Spiel mit den Holzschwertern am Ende noch zwischen Vorstellung und Realität unterscheiden können. Wer besiegt ist, nimmt sich aus dem selbigen. Wie, ist faszinierend nachzuspüren.

Der Autor weiß an den richtigen Stellen Akzente zu setzen, ausführliche Beschreibungen wechseln mit Zeilen ab, in denen man lesend sich seinen eigenen Gedanken überlassen wird. Auch das zunächst unmerklich, dann immer schneller steigenede Erzähltempo tut dazu sein Übriges. Förmlich wird man in diese Welt eingesogen, kann sich das allesamt vorstellen. Auch jeden Mückenstich.

Wer die Mitte sucht zwischen „Herr der Fliegen“ und „Krieg der Köpfe“ wird sie in „Matara“ finden, nach meinem Empfinden insgesamt aber flüssiger lesbar. Die darin beschriebene Welt zeigt all das, was mit Verwachsen der kindlichen Phantasie verloren geht. Große Abenteuer, aber auch die Brutalität des Erwachsenwerdens. Versammelt auf so wenigen Seiten, ist Matias Riikonen hiermit ein Meisterstück gelungen.

Autor:
Matias Riikonen wurde 1989 geboren und ist ein finnischer Schriftsteller. Er hat in Helsinki Literatur studiert und wurde für sein Debütroman 2012 mit den Helsingin-Sanomat-Literaturpreis ausgezeichnet. „Matara“ ist sein erster Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde.

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Francesca Melandri: Kalte Füße

Inhalt:
Was bedeutet Krieg? Und was, wenn man auf der falschen Seite kämpft? Francesca Melandri erzählt die Geschichte ihres eigenen Vaters – und bringt die Stille einer ganzen Generation zum Sprechen. Eine zutiefst persönliche Spurensuche der Autorin von Alle, außer mir: ein unerlässliches Buch zum Verständnis unserer Gegenwart. (Klappentext)

Rezension:
Als Russland den Krieg gegen die Ukraine beginnt, tauchen plötzlich Ortsnamen in den Nachrichten auf, die Francesca Melandri aus den Geschichten kennt. Geschichten ihres Vaters, dessen Feldzug gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg eigentlich ebenfalls ein Krieg gegen die Ukraine war. Was hat der Mann erlebt, der seine Alpini führte, mit ihnen im Winter 1942/43 fliehen musste und Zeit seines Lebens nichts Schlimmeres sich vorstellen konnte, als Erfrierungen? Wie stand er zu einem System, welches Europa den Faschismus gebracht hat? Was machen wir heute daraus, wenn die Namen von Diktatoren und Ländern wechseln, und das Land der schwarzen Erde wieder einmal zum Schlachtfeld wird?

Die Autorin begibt sich auf Spurensuche entlang zweier Zeitlinien. Die Gegenwart möchte sie verstehen, aber noch mehr das Bild ihres Vaters vervollständigen, der einst an den gleichen Orten kämpfen musste, wie sie heute in aller Munde sind. Die Ebenen verschwimmen, fast literarisch mutet dieser Zwischenstand an. Melandri versucht sich an dem anzunähern, was kaum zu begreifen ist. Fragen werden aufgeworfen, die sie ihren Vater Zeit ihres Lebens nicht stellen konnte. Auch zeigt sie, dass wir nicht für alles, zumal nicht die Kriege von Despoten verantwortlich sind, aber dennoch dafür, was wir daraus machen und wie wir darauf reagieren.

Das schreibt sie allem ins Stammbuch, die lieber heute als morgen den aktuellen Krieg beenden möchten, auf Kosten eines Landes, der Menschlichkeit und dass das, was gerade passiert, uns allen was angeht. Gerade weil die meisten von uns das Glück haben, keinen Krieg am eigenen Leib erfahren zu haben und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen zu können. Kompakt sind die Abschnitte gehalten, in der Vergangenes und Gegenwart miteinander verschmelzen. Die Autorin will verstehen, doch je mehr sich ein vollständiges Bild auf der einen Seite ergibt, desto unfassbarer scheint die andere, unbegreiflich die Reaktion derer, die sensationsheischend auf Social Media den Überlebenskampf am Rande Europas verfolgen und doch nicht helfen, unterstützen wollen.

Francesca Melandri verfolgt die Stimmen der Vergangenheit ebenso wie der Gegenwart und versucht das Gleichnis. Mit gewählten Worten gelingt es ihr auch. Stichworte, die die Richtschnur bilden als Teilüberschriften innerhalb der Kapitel. Damit hat sie ein Buch zwischen Roman und Sachbuch geschaffen, welches Zeitdokument und Aufarbeitung zugleich ist. Eines, was im Gedächtnis bleibt, schwer im Magen liegend, eindrücklich. An manchen Stellen versöhnlich, anderen ratlos und zweifelnd. Diese Mischung kompakt formuliert, wird einem so schnell nicht loslassen.

Autorin:
Francesca Melandri wurde 1964 in Rom geboren und ist eine italienische Schriftstellerin. Zunächst begann sie als Drehbuchautorin für das Fernsehen zu arbeiten, ihren ersten Roman veröffentlichte sie 2010. Ein Jahr darauf folgte die deutsche Übersetzung. 2021 lebte sie in kurzzeitig in Berlin und 2023 hielt sie dort die Eröffnungsrede des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Sie ist Gründungsmitglied des PEN Berlin. An der ETH Zürich hält sie eine Gastprofessur für Italienische Literatur inne. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet.

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Ivar Leon Menger: Finster

Inhalt:
Katzenbrunn, 1986. Der dreizehnjährige Nikolaus wird vermisst. Nicht zum ersten Mal ist ein Jugendlicher aus dem Dorf im Odenwald verschwunden. Der jüngste Vorfall ruft Hans J. Stahl auf den Plan. Der Kommissar a. D. hat mit dem Mann, den alle nur den „Greifer“ nennen, noch eine Rechnung offen. Und die will er endlich begleichen. Doch dann verschwindet das nächste Kind … (Klappentext)

Rezension:
Kurz nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl fürchtet man sich vor herabfallenden Regen, der alles verunreinigen könnte. Doch in dem kleinen aussterbenden Dorf Katzenbrunn, welches von einer psychiatrischen Klinik an seinem Rand dominiert wird, gibt es noch einen anderen Grund, der viele Familien zerstört und vertrieben hat. In den letzten Jahren sind immer wieder Kinder aus dem Ort spurlos verschwunden. Und die Polizei bisher, tappt im Dunkeln.

In „Finster“, dem hier vorliegenden Thriller, spielt der Autor Ivar Leon Menger mit den Urängsten von Eltern und erzeugt in seiner temporeichen Erzählung mehr als nur gruselige Schauer, die einem kalt über den Rücken laufen werden. Kurzweilig wird ein Zeitraum von wenigen Wochen dargestellt, in dem sich die Geschehnisse, die sich seit langem aufgestaut zu haben scheinen, überstürzen und auf ein großes Finale zusteuern werden.

Flankiert von einem Ermittlerduo, welches erst zusammenfinden muss, entsteht in welchselnder Perspektive das Panorama eines Dorfes, in dem ein jeder scheinbar dunkle Geheimnisse zu verbergen scheint. Vor dem Hintergrund der späten 1980er Jahre in der westdeutschen Provinz, in welche der Schrifsteller seine Handlung einbettet, lernen wir Lesenden die Charaktere kennen, von denen keiner ein wirklicher Sympathieträger werden wird. Aus der Sicht der Figuren, einmal hier wechselt die Erzählperspektive nur, werden die einzelnen sehr kompakt gehaltenen Kapitel erzählt. Langsam nur ergeben die einzelnen Puzzlestücke ein Gesamtbild.

Dieses hat es in sich, wobei wir gerade nur so viel von den Charakteren erfahren, wie für die Erzählung notwendig ist. Handlungstreibend sind vor allem drei Figuren, wobei einerseits in „Finster“ beinahe ein klassischer Ermittler-Strang zu finden ist. ein anderer der dadurch gezwungen wird, zu reagieren. Ansonsten bleiben die Protagonisten bis auf einen relativ blass. Man muss jedoch auch nicht mehr erfahren, kann sich der entstehenden Dynamik auch so kaum entziehen. Ivar Leon Menger weiß dabei mit den Gegensätzen zu spielen, setzt Spuren und Fährten, die einem einen Moment stutzen und kalt überraschen werden.

Die Perspektivwechsel erzeugen eine Dynamik mit Sogwirkung, ohne jedoch Lücken und unerklärliche Wendungen entstehen zu lassen. Der Autor hat hier die ganze Zeit den Überblick über die Fäden in der Handlung behalten, selbst wenn Zeitsprünge, Rückerinnerungen eine Rolle spielen und zum Tragen kommen. Das erzeugt in seiner Gesamtheit einige Spannungsmomente, die aufsummiert eine sich lohnende Geschichte ergeben.

Ivar Leon Menger schafft es mit seinen konzentrierten Beschreibungen Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Die Trostlosigkeit und Ödnis eines Ortes kommt ebenso zur Geltung wie auch einzelne Orte fast filmisch erfahr sind. In diesem Thriller wird dabei auf allzu heftigen Schilderungen von Szenen verzichtet. Die Bilder, die dennoch im Kopf entstehen, sind vollkommen ausreichend.

Wer einen nicht allzu gewaltlastigen, aber dennoch spannungsreichen Thriller lesen möchte, ist mit „Finster“ gut bedient. Natürlich lässt sich mit einer gewissen Erfahrung in diesem Genre das Ende der Erzählung schnell erraten, , dennoch möchte man hier bis zum Ende dranbleiben. Es ist einfach eine Geschichte ohne Längen, die hier vor einem liegt. Und ohne melancholischen Mehltau, wie man ihn durchaus häufiger in dieser Art Bücher vorfindet.

In jedem Fall macht „Finster“ Lust auf mehr, in weitere Geschichten von Ivar Leon Menger einzutauchen. Spannend wird es sein, was der Autor noch alles so zu erzählen weiß. Freunde von Thrillern, die eine eine klassische Ermittler-Komponente mögen, kommen hier vollkommen auf ihre Kosten. Auch allen anderen sei diese Erzählung zu empfehlen.

Autor:
Ivar Leon Menger wurde 1973 in Darmstadt geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, Filmregisseur, Designer, Werbetexter und Verleger. Zunächst studierte er Grafikdesign und Gestaltung und betätigte sich als Diplom-Designer. In einer Werbeagentur arbeitete er als Texter und begann das Drehbuch für einen Kurzfilm zu entwickeln.

Nach der Produktion dessen, arbeitete er als Videothekar und drehte seinen weiten Kurzfilm, dem weitere Drehbücher für nachfolgende Projekte folgten. Diese erschienen später als Hörspiele. Nach Übernahme der elterlichen Werrbeagentur gründete er einen Hörbuch-Verlag, produzierte daneben jedoch auch E-Books und Print-Ausgaben. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 2022 bei dtv, dem weitere folgten.

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Tobias Roth: Welt der Renaissance 3 – Rom

Inhalt:
Rom – die Stadt der Widersprüche, der marmornen Ruinen und des kometenhaften Wiederaufstiegs zur Welthauptstadt. Tobias Roth entdeckt, übersetzt und kommentiert die literarischen Schätze der Zeit und entführt fachkundig und fesselnd in eine Welt voll hoher Kunst und verrückter Kleriker, antikenbegeisterter Dichter und rauer Wirklichkeit.

Mit Berichten aus den Ruinen von Francesco Petrarca und Poggio Bracciolini, der Entlarvung großer Kirchenschwindelei von Lorenzo Valla, Sonetten von Michelangelo über die Kröpfe lombardischer Katzen, Augenzeugenberichten von der Plünderung Romans 1527 sowie subversiv frommen Gedichten Vittoria Colonnas, einem gigantischen Mittagessen im Vatikan, dem Testament des päpstlichen Elefanten Hanno und vielem mehr. (Klappentext)

Reihe:
Dies ist der dritte Band der „Welt der Renaissance“. Vorherige Bände beschäftigten sich mit Florenz und Neapel und können wie dieser unabhängig voneinander gelesen werden.

Rezension:
Die Renaissance war eine Zeit der Gegensätze. Kunst und Kultur erlebten eine Blütezeit, auch das architektonische Bild der Städte veränderte sich. Kuppeln waren nun überall zu sehen. Während die einen, allen voran humanistische Gelehrte die Texte und Literatur der Antike wiederentdeckten, brannten die einen antiken Marmor zu Kalk für ihre Bauwerke. Die Kirche selbst war verwickelt, in Ränkespielen und Prunksucht, an deren Ende sie gespalten wurde.

Machtspiele bestimmten das Bild, während die neue Technik des Buchdrucks half, Wissen zu verbreiten, jedoch sie selbst zum Opfer wurde. Plötzlich gab es nun eine erste Liste festgeschriebener verbotener Schriften. Der Autor Tobias Roth hat sich aufgemacht, die Spuren der Geistesgrößen jener Zeit nachzuspüren, durch die ewige Stadt zu wandeln, in der schon damals nichts beständiger war als die stete Änderung. Herausgekommen ist eine Sammlung kurioser Blickwinkel hinter den Mauern der Kurie und dem Alltag zwischen Aufschwung und Unsicherheit, Pilgerströmen und Verkehrskatastrophen.

Es wirkt zu viel auf den ersten Blick, diese kuriose Sammlung, die zunächst genau so chaotisch aussieht, wie es die Stadt am Tiber schon damals gewesen ist. Ein Durcheinander, in den man sich zurechtfinden muss, wie zwischen den engen Gassen der Stadt.

Hier hilft der Autor, ordnet ein, folgt den Schreibenden, unter ihnen die erste Frau, die sich in der vormaligen Männerdomäne zu behaupten weiß und zeigt die zahlreichen Facetten eines faszinierenden Zeitalters, in dem schon damals wenige alles haben und viele andere nichts. Der Übergang zwischen Texten, Kommentar und Einordnung ist da zu weilen fließend. Stichworte am Rand erleichtern die Orientierung, Fußnoten liefern notwendige Erklärungen nicht nur zu Hannos Testament, welches zum Spotttext auf die Kurie geschrieben wurde.

Man staunt hier, schmunzelt da, erschrickt über die Gegensätze, die dennoch später Grundlage für so viele Veränderungen sein werden. Das ist nicht immer einfach zu lesen oder leicht zugänglich. Tobias Roths Text lädt ein zur Recherche.

Wer waren die Menschen, die er manchmal flüchtig, oft ausführlicher beschreibt, wie sahen sie aus die Gebäude, die Statuen und was folgte daraus. Ein gut recherchiertes Sachbuch, welches herausfordert und dazu einlädt, den eigenen Blickwinkel zu erweitern liegt mit dem dritten Teil der „Welt der Renaissance“ vor, deren Vorgänger bereits nach Florenz und Neapel führten. Ein weiteres Puzzlestück, in dem nicht nur Michelangelo sein berühmtes Deckengemälde schafft, sondern selbiges vor bremsenden Geistern gerettet wurde.

Der Autor gibt in seinem Sachbuch, welches zahlreiche Abbildungen originaler Texte als Faksimiles enthält, eine Übersicht über Kunst und Kultur einer Stadt, die sich selbst sucht und in denen die Suchenden unterschiedlichste Antworten darauf finden. Eine Zeitreise, die erstaunliches zu Tage befördert. Nicht nur die Speisepläne der Geistlichkeit.

Mediatheken-Tipp: Arte „Die Meister von Rom – Michelangelo, Raffael und Leonardo Da Vinci

Wikipedia: Die Renaissance / Elefant Hanno

Autor:
Tobias Roth wurde 1985 in München geboren und ist ein deutscher Lyriker, Übersetzer und Essayist. Er studierte Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte in Freiburg, sowie Europäische Literaturen in Berlin. Nach seinem Studium war er von 2007 bis 2015 als Kulturjournalist tätig und betreute eine Seite zur zeitgenössischen Lyrik, war Herausgeber der Berliner Renaissancemitteilungen, 2011 bis 2017.

Er ist Mitglied der Mainzer Gesellschaft zur Förderung von Design, Kunst und Kommunikation e.V. und hat mehrere wissenschaftliche Schriften zu literaturhistorischen Themen veröffentlicht. Zudem ist er als Lyriker, Übersetzer und Essayist tätig. Er ist Mitgründer des Verlags Das Kulturelle Gedächtnis. Tobias Roth wurde für seine Werke mehrfach ausgezeichnet.

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Amir Hassan Cheheltan: Die Rose von Nischapur

Inhalt:
Als sich David 2015 endlich seinen langjährigen Traum erfüllt und den Iran bereist, ahnt er noch nicht, dass sein Leben bei der Rückkehr nach England ein anderes sein wird. In Teheran trifft er den Schriftsteller Nader und dessen Freundin Nastaran. Schnell entwickelt sich durch ihre leidenschaftlichen Gespräche eine innige Freundschaft, die schon bald gefährlich zu kippen droht. „Die Rose von Nischapur“ ist ein bewegender Roman über Begehren, Misstrauen und die Sehnsucht nach einer Freiheit, die unerreichbar scheint. (Klappentext)

Rezension:
Zwischen den Welten entführt uns der vorliegende Roman „Die Rose von Nischapur“ des iranischen Schriftstellers Amir Hassan Cheheltan in die quirlige Hauptstadt des Landes, die sich fest in den Händen der herrschenden Mullahs befindet. Dazwischen jedoch, Leben. Die Menschen suchen und finden ihre Nischen.

Im Ausland jedoch kennt diese kaum jemand. David jedoch liebt das Werk des alten persischen Dichters und Philosophen Omar Khayyam. Nachdem er den Autoren Nader kennengelernt hat, beginnt er sich nicht nur einen Traum zu erfüllen. Seine Reise wird zur Herausforderung seiner neuen Bekannten werden und nicht zuletzt auch für sich selbst.

Beinahe poetisch wirkt der Roman, dessen Geschehen einige wenige Wochen umfasst und zahlreiche Konflikte aufmacht. So ist dies eine Erzählung über die Wirkung von Beziehungen, zugleich jedoch innerer Zerissenheit und Einsamkeit. Jede der handelnden Figuren sieht sich in dem festgefahrenen Land plötzlich seinen Ängsten oder Sehnsüchten ausgesetzt, die Geschehnisse in Gang setzen werden, die zunächst langsam, dann immer schneller ins Rollen geraten.

Auf das zunächst langsame Erzähltempo muss man sich einlassen, wird dafür jedoch mit einer schönen sprachlichen Ausgestaltung und interessanten philosophischen Betrachtungen belohnt. Letztere ziehen sich die gesamte Handlung hindurch und lassen sich gut auf den Alltag im Gottesstaat übertragen, die Zwänge und Herausforderungen, die damit verbunden sind.

Cheheletan beschränkt sich auf wenige Figuren, wobei Nader allen voran sein alter Ego sein dürfte. Natürlich mit Abwandlungen, jedoch merkt man dem Protagonisten die gleiche Vorliebe zur persischen Dichtkunst und Philosophie an, wie sie auch dem Autoren innewohnen wird, als auch die Kenntnisse der inneren Gefühlswelt während des Krieges.

Auch hier könnten wenigstens in Spuren gewisse Parallelen liegen. Auch die anderen Hauptprotagonisten haben so ihre Ecken und Kanten, wobei die als „Rose von Nischapur“ betitelte, die interessanteste sein dürfte, um sie dreht sich schließlich alles. Nebenfiguren gibt es kaum. Eine wenigstens bildet einen Kontrast zu David, was sie jedoch nicht gerade sympathisch macht. Mit ihrer westlichen Logik ist sie jedoch Handlungstreiber oder zumindest ein nicht zu ignorierender Impulsgeber für die Erzählung, die das Tempo anziehen lässt.

Die Perspektiven wechseln stets zwischen den drei Hauptfiguren, auch innerhalb der kompakten Kapitel. Ihre Reaktionen aufeinander machen den Roman interessant, wenn auch dadurch entstandene Wendungen, so man sie als solche bezeichnen darf, eher langsam entstehen. Wenige Rückblenden als Erinnerung der Protagonisten durchbrechen die Erzählstruktur nicht zu stark, als dass das störend wirken würde. Doch ergibt sich in dieser Kombination eine Art „Romeo und Julia“ auf Persisch.

Melancholie ohne Mehltau und ein paar Alltagsszenen, wie Familienzusammenkünfte sind stark in der Beschreibung. Man kann sich die Herzlichkeit der Menschen einerseits praktisch bildlich vorstellen, andererseits aber auch die Zwänge, unter denen die Protagonisten leben.

In diesem Roman stimmt das Verhältnis poetischer Sprache und interessanter Momente, die sich aus dem Miteinander der Figuren ergeben. Wer ruhige Erzählungen mag, die kompakt sind und sich dennoch Zeit nehmen, ein gewisses Tempo zu erlangen, ist mit „Die Rose von Nischapur“ gut bedient, man muss jedoch diesen Stil mögen und den Zugang dazu finden. Der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan hat es hiermit zumindest bei mir geschafft.

Autor:
Amir Hassan Cheheltan wurde 1956 in Teheran geboren und ist ein iranischer Ingenieur und Schriftsteller. Zunächst studierte er Elektrotechnik, schriftstellerisch ist er seit den 1970er Jahren tätig. Sein erster Erzählband erschien 1976. Ein paar Jahre später gelang ihn der Durchbruch. Während des ersten Gofkriegs war er Soldat und stand zwischenzeitlich, 1998, auf einer Liste verfemter Schriftsteller.

Mit einem Stependium lebte er für einige Jahre in Italien, verfasste später Drehbücher. 2007 wurde sein Roman „Iranische Morgenröte“ im Iran für den Buchpreis nominiert, derer er sich wegen Zensur und Publikationsverbote verwehrte. Seine Romane dürfen im Iran nicht erscheinen, dennoch lebt der Schriftsteller in Teheran.

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Erich Mühsam: Unpolitische Erinnerungen

Inhalt:
Erich Mühsam schrieb seine „Unpolitischen Erinnerungen“ zwischen 1927 und 1929 als Auftragsarbeiten für eine Zeitung. Erst 1949 erschienen diese als Buch unter dem Titel „Namen und Menschen“. Er führt die Leser durch die Kneipen, Kaffeehäuser und Kabaretts, ­beschreibt die geheimen Gesellschaften, Freundeskreise, Stammtische und Wohngemeinschaften verschiedener Städte und stellt die Künstler der Boheme vor. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:
Posthum erschienen die „Unpolitischen Erinnerungen“ von Erich Mühsam, nachdem er 1934 im Konzentrationslager Oranienburg ermordet und nach Kriegsende die DDR gegründet worden war. Der Schriftsteller und Antimilitarist schrieb sie für eine Zeitung. Unpolitische Kolumnen eines politischen Menschen, der vom reichhaltigen und turbulenten Kulturleben der späten 1920er Jahre erzählt. Neu aufgelegt tauchen wir darin ein, erleben Frank Wedekind, Heinrich Mann und viele andere aus der Sicht eines Getriebenen.

Das vorliegende Werk ist sowohl Reportagesammlung als auch biografisches Versatzstück und zeichnet sich eben dadurch aus, dass jemand, der beständig aneckte, seine Thematik, womit er das tat, außen vorlassen musste und gerade durch diese damit entstandene Lücke erzählte. Temporeich erzählt der Autor vom wandelhaft unbeständigen Kulturbetrieb, in dem Stadtviertel zum Schmelztigel von Journalisten, Autoren und Malern wurden und ein jeder sein Auskommen suchte. Ereignisse reihen sich da aufeinander wie Perlen auf eine Kette, doch muss man aus dem Heute heraus innehalten. Was haben diese oder jene Personen zu den Zeitpunkt gemacht? Wer war das? Der Text, der sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch leicht gelesen haben muss, wirkt schwerfällig.

Und doch lohnt es sich, ihn zu lesen und nebenbei zu recherchieren. Dazu lädt Mühsam aus heutiger Sicht ein. Interessante Schauplätze für nicht minder spannende Biografien entdeckt man da und spürt doch zwischen den Zeilen, dass der Autor ihn die ganze Zeit über ahnt, den großen Knall, der da kommen wird.

Stete Wiederholungen und Rückgriffe auf Vergangenes machen es nicht leicht, im Lesefluss zu bleiben, auch den Überblick zu bewahren. Hier wird heute vor allem angesprochen, wer sich in der Kulturszene auskennt, innerhalb dessen diese Texte, die hier so schön versammelt sind, bereits auskennt. Für andere bleibt der Text nurmehr als Stichwortgeber eines ruhelosen Menschen, der stets, so scheint es, glücklos gewesen ist, dessen Biografie nur so von Rückschlägen gezeichnet ist und für sich genommen spannender wirkt als es die „Unpolitischen Erinnerungen“ vermögen, zu erzählen. Eben, weil aus heutiger Sicht der politische Teil fehlt, was nicht die Schuld des Autoren selbst ist, jedoch viel zu wenig ausführlich durch den diese Ausgabe begleitenden Text eingeordnet wird.

Und das erzeugt hier ein unrundes Werk, aus heutiger Sicht, eines Menschen mit Ecken und Kanten.

Ergänzung:
Nachtragen möchte ich hier die einordnenden Worte von Henning Venske, seines Zeichens Schriftsteller und Kabarettist. Er hat zu diesem Werk Vor- und Nachwort verfasst, die ich in meiner Rezension zunächst nicht habe berücksichtigt. Ein Text muss erst einmal so für sich alleine stehen und wirken. Nun ist der Einordnende Kenner des Metiers, in dem sich Erich Mühsam bewegte, wenn auch so einige Jahrzehnte später. Ich habe daher mir seine Worte und auch meine Rezension mir noch einmal zu Gemüte geführt. Unter der Berücksichtigung bin ich gerne bereit, hier etwas Eis abzukratzen. Mit etwas Abstand würde ich vor allem dies bezüglich nicht ganz so harte Worte wählen. Vielleicht gibt es neben der Lese-Stimmung, in der man für ein Buch sein muss, auch eine Rezensions-Schreib-Stimmung? Oder es liegt einfach daran, wenn andere Bücher zuvor einem positiver erwischt haben? Wie dem auch sei, ich ergänze gerne nach nochmaligen Überlegen, die Sterneanzahl auf 3 1/2 (nicht ganz vier) Sterne, lasse aber die ursprüngliche Rezension stehen. In der Rückschau sicherlich auch nochmal interessant, sollten beide, Henning Venske und Erich Mühsam mir noch einmal begegnen.

Autor:
Erich Mühsam wurde 1978 in Berlin geboren und war ein deutscher Schriftsteller, Publizist und Antimilitarist. Als politischer Aktivist war er 1919 maßgeblich an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür er zu Festungshaft verurteilt wurde, aus der er vorzeitig entlassen wurde. In der Weimarer Rebublik setzte er sich für die Freilassung politischer Gefangener ein. In der Nacht des Reichstagsbrandes wurde er von den Nationalsozialisten verhaftet und am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet.

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Karl Kraus: Die Sprache – Der Eros der Logik

Inhalt:
Für Kraus ist die Sprache nicht bloß Kommunikationsmittel für beliebige Zwecke, sondern vielmehr ein wahrhaftiger Ausdruck des Denkens, der sich in Form und Inhalt vereinigt. Daher kämpft er in seier Kritik insbesondere gegen die „Verlotterung“ der Sprache an, worunter er die Korruption, die Unwahrhaftigkeit im Denken und die Verfallserscheinungen in Kultur und Gesellschaft insgesamt versteht. (Klappentext)

Rezension:
Die kleinste Unstimmigkeit, die scheinbar eine höchst lokal und zeitlich begrenzte Bedeutung hat, offenbart die großen Übel der Epoche und der Welt. Davon war der österreichische Kultur- und Sprachkritiker, der Publizist Karl Kraus überzeugt, der die Sprache für einen der wichtigsten Indikatoren für die Missstände auf der Welt hielt. Im nachlässigen Umgang mit ihr sah er den nachlässigen Umgang seiner Zeitgenossen mit allen Fragestellungen und Herausforderungen. Regelmäßig schrieb er gegen den Missbrauch der Sprache in seiner von ihm selbst gegründeten Zeitung „Die Fakel“ an. Einige der Aufsätze und Essays, die später auch in Buchform erscheinen sollten, sind hier nun neu auferlegt und versammelt.

Akribisch verfolgte Sprachanalythik mit derer er die sprachliche Inhumanität von Presse und Journalistik aufdecken wollte, gewürzt mit einer gewaltigen Portion Spott und Skepsis, auch gegenüber den eigenen Betrachtungen zeichnen seine Texte aus und geben uns heute einen Überblick über den damaligen Sprachgebrauch und eine besondere Sicht auf so manchen auch schon zu Kraus‘ lebzeiten hochgelobten Schriftsteller. Für ihn war die Presse Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges und für die Kriegsbegeisterung, Schreibtischtäter als Kriegshetzer, denen er die Finger in die Wunden legt.

Dabei spielt er mit Gegensätzen, Formulierungen, argumentiert so lange, bis man lesend innehalten muss, Passagen erneut lesen. Leichte Kost sind Kraus‘ Texte nicht, waren sie nie. Um so ausführlicher sie sind, um so länger hat man daran zu kauen, beginnt selbst mit Sprache zu spielen. Für ihn galt der Wert der Worte. Das wirkt missionarisch. Der erhobene Zeigefinger des Autoren schwingt überall mit. Aus den Texten allein erschließt sich dessen kritischer Blick auf die Welt. Nie kommt da der Eindruck auf, einen einfachen Menschen vor sich zu haben. Dennoch blitzt hier und da eine Prise Humor durch. Man merkt die Freude am Spiel mit der Sprache, eines Karl Kraus, der sich damit nicht wenige Feinde gemacht haben dürfte, der sich nie einordnen ließ.

Wenn wir etwas von dieser Unbeugsamkeit und dem Sprachwitz mitnehmen können, auch eine gehörige Portion Gesellschaftskritik, die sich durchaus ins Heute übertragen lässt, ist schon viel gewonnen.

Autor:
Karl Kraus wurde 1874 geboren und studierte zunächst Jura, wechselte aber wenig später zu Philosophie und Germanistik. Er war ein österreichischer Schriftsteller, Publizist, Satiriker, förderte junge Autoren und war Sprach-, Kultur und Medienkritiker zugleich. Zu seinen wichtigsten Werken gehört sein Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ (1918), sowie seine Zeitschrift „Die Fackel“, welche 1899 gegründet wurde und bis 1936 erschien. Er starb 1936 in Wien.

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Johannes Thome: Sokrates – Philosoph der Selbsterkenntnis

Inhalt:
Die Bedeutung des griechischen Philosophen Sokrates (469-399 v. Chr.) kann nicht überschätzt werden. Ohne ihn gäbe es keine europäische Philosophie, wie wir sie heute kennen. Dabei hat Sokrates selbst nichts Schriftliches hinterlassen; seine Ansichten wurden stattdessen durch seine Zeitgenossen Platon und Xenophon vermittelt. Sokrates‘ „Philosophie des Nichtwissens“ ist ein nie abgeschlossener Prozess des Bemühens um Wahrheit im Dialog. Man kann in Sokrates einen „disruptiven Influencer“ sehen, der keine unhinterfragten Meinungen gelten lässt und jede Überzeugung kritischer Prüfung unterzieht.

Im Zentrum seines Denkens steht der Mensch. Sein Anliegen ist die Erziehung zum Selberdenken, sein Ziel die Selbsterkenntnis. Für das Establishment wurde er zur Bedrohung und zum Tode verurteilt. Gerade in Zeiten, in denen das Selbstdenken zunehmend aus der Mode kommt, ist Sokrates von ungeahnter Aktualität. (Klappentext)

Rezension:
Wer war eigentlich Sokrates? Bürger der antiken griechischen Polis Athen, der mit seinem ständigen Hinterfragen den Regierenden zu gefährlich wurde, so dass sie ihn schließlich zum Tode verurteilten. Philosoph, der im Gespräch mit anderen diese zur Selbsterkenntnis bringen wollte, dessen Gedankenkonstrukt sich im steten Fluss befand, der nichts festhielt, dessen Lehre von seinen Schüler von der Straße in die Schulen und Institutionen geholt wurde, obwohl Sokrates selbst nichts davon hielt? Zumindest den Überlieferungen nach.

Der Philosoph und Sozialpsychologe Johannes Thome hat sich für die Reihe „Philosophie für unterwegs“ mit den Mann beschäftigt, der heute als einer der Grundsteinleger für die europäische Philosophie gilt, und zeigt, welche Art von Denker Sokrates heute wäre und was uns die Beschäftigung mit seinen Lehren heute gibt. Entstanden ist dabei ein weiteres kleines informatives heft, welches wie auch andere innerhalb der Reihe eine Einführung in Leben und Werk hier dieser Persönlichkeit gibt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Zunächst beschäftigt sich der Autor ausführlich mit der Biografie, jedoch nicht ausufernd, so dass wir nicht in die Gefahr der Überinterprätation geraten. Thome zeigt, wie das Leben Sokrates‘ aussah, welche Persönlichkeiten ihn umgaben und wie zu Lebzeiten mit den Menschen und damit auch seiner Methoden umgegangen wurden ist. Wer waren seine Freunde und Unterstützer? Was brachte ihn zu Fall und weshalb führte die Befolgung seiner Lehre für ihn zum Tode, gleichwohl man ihn wohl mehrere Chancen bot, dem Urteil zu entrinnen. Dies ist ausreichend, um sich ein Bild der damaligen Lebenssituation des Philosophen bewusst zu werden, um dann mit dieser Grundlage in die eigentliche Gedankenwelt Sokrates‘ einzusteigen.

Ab hier verschwimmen die Grenzen. Sein Schüler Platon baute einst in seinen Sokrateschen Dialogen, einer Gesprächstechnik, die dazu dient, das Verständnis des Gesprächpartners zu vertiefen und zu hinterfragen, Sokrates selbst als Person ein, so dass sich heute nur mehr schwer sagen lässt, wie viel davon wohl wirklich auf ihn zuzuschreiben ist. Doch kristallisieren sich mehrere Säulen seiner Methodik heraus, die der Autor hier kurz und prägnant erläutert.

Zunächst wäre da die auf Fragen basierende Gesprächstechnik, der sogenannten Elenktik, die einen Denkprozess in Gang setzen soll, als auch die Mäeutig, das Hervorbringen von Ideen und Erkenntnissen aus dem Inneren. Gewürzt mit einer gewaltigen Portion von Ironie. Der Überzeugung, zwar von vornherein keine genauen Antworten zu kennen, aber mit dem unbedingten Nachfragen und Forschen das Richtige zu tun. Am Beispiel des Prozess‘ gegen Sokrates und seiner Verurteilung, dessen Umgang damit, zeigt Thome die Auswirkungen der Philosophie am Beispiel ihres Lehrenden, als der er sich selbst nicht unbedingt gesehen haben muss.

Dies führt im Anschluss in die Übertragung auf das Heute. Schnell wird da der Bogen gespannt, zur Institutionalisierung der Philosophie, welche er wohl ebenso verabscheuen würde, wie auch die „marktschreierische Omnipräsenz eines alles- und besserwisserischen Richard David Precht“ (Zitat!) und welche Stellung er dazu einnehmen würde. Dies ist zwar ein Gedankenspiel des Autoren, welches sich aber sehr gut einfügt und den Abschluss der hier gestalteten kurzweiligen Einführung bildet.

Mehr braucht es auch dafür nicht.

Autor:
Johannes Thome wurde 1967 in Saarbrücken geboren und ist ein deutscher Psychiater und Sozialpsychologe. Er studierte Medizin, Philosophie und Sozialpsychologie und absolvierte eine Ausbildung in der Psychiatrie in Würzburg, arbeitete anschließend als Postdoktorand in Yale. Vor seiner Tätigkeit als Facharzt forschte er auf dem Gebiet der molekularen Psychiatrie und Psychopharmakologie und war unter anderen in Mannheim und Heidelberg tätig.

Von 2004 bis 2011 hatte er einen Lehrstuhl für Psychiatrie in Wales inne, seit 2011 ist er an der Universität Rostock, sowie in der dortigen Klinik und Poliklinik tätig. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel in verschiedenen Fachzeitschriften, und beschäftigt sich mit psychiatrischen Störungen, sowie interdisziplären Aspekten, z. B. Philosophie. Er ist Mitglied verschiedener Fachverbände und engagiert sich in der Organisation unterschiedlicher psychiatrischer und pharmakologischer Forschungskongresse.

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