Autobiografie

Limor Regev: Der Junge von Block 66

Inhalt:

1944 wird der 13-jĂ€hrige Moshe Kessler mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert. An der Rampe in Birkenau von seiner Familie getrennt, ist er von nun an auf sich allein gestellt. Er entgeht den Tod in den Gaskammern, ĂŒberlebt monatelange Zwangsarbeit und die TodesmĂ€rsche im eisigen Winter, bevor er im Konzentrationslager Buchenwald ankommt. Doch auch dort kann er nur dank der KĂŒhnheit und Entschlossenheit der Untergrundorganisation, der es es gelang, vor Eintreffen der US-Truppen mit gestohlenen Waffen die Wachmannschaft des Lagers zu ĂŒberwĂ€ltigen und gefangenzunehmen, im Kinderblock 66 den sicheren Tod zu entkommen.

Dr. Limor Regev hat den anschaulichen Bericht Moshe Kesslers festgehalten und so der Nachwelt ein Zeugnis ĂŒber den Triumph eines ungebrochenen Lebenswillens vermittelt. (Klappentext)

Rezension:

Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Fast 14 Jahre alt ist Moshe Kessler als er in Zeiten der Unmenschlichkeit und des Terrors zusammen mit anderen unter Aufsicht von Antonin Kalina kommt, der zusammen mit anderen KZ-HĂ€ftlingen mit den Mut zur Verzweiflung unzĂ€hligen Kindern und Jugendlichen das Leben rettete, ausgerechnet im Konzentrationslager Buchenwald, einer der letzten Stationen des Leidenwegs. Zuvor hatte der Junge bereits Todesmarsch und Auschwitz ĂŒberlebt.

Dies ist die Geschichte eines ungarischen Jungen, dessen Erinnerungen im hohen Alter aufflackern, bei der Bar Mizwa seines jĂŒngsten Enkels, der umgeben ist von seiner ihn lebenden Familie. Moshe Kesslers Bar Mizwa fand dagegen zu einem Zeitpunkt statt, als das Donnergrollen kaum noch zu ĂŒberhören war und lĂ€ngst einige Familienleben gefordert hatte. Nach Jahrzehnten erinnert und beschreibt Kessler die Geschichte seiner Kindheit und Jugend, die man ihn und unzĂ€hligen anderen raubte. Dieses StĂŒck biografischer Erinnerung liegt hier mit „Der Junge von Block 66“ ĂŒbersetzt vor.

Solche StĂŒcke Erinnerung bilden einen wichtigen Zweig innerhalb der BĂŒcher gegen das Vergessen, als Mahnmal vor allem, wenn sie ohne erhobenen Zeigefinger, sondern nur durch ihre Schilderungen wirken. Diese sind eindrĂŒcklich. In klarer, eindeutigiger Sprache schildert die Autorin die Erlebnisse des Kindes, welcher ihr diese Geschichte sehr viel spĂ€ter anvertrauen wird. Dabei wird deutlich, wie sehr Sekunden der Entscheidung ĂŒber Leben und Tod bestimmen konnten und dass es selbst in unmenschlichen Orten gerade so viel Menschlichkeit gegeben hat, die einigen wenigen geholfen hat, Schreckliches zu ĂŒberstehen.

In kompakten Kapiteln fĂŒgen sich die einzelnen Stationen des Leidensweges zu einem Band zusammen, welches bis ins Mark erschĂŒttert, ergĂ€nzt durch ein anschauliches Personenregister, ein Begriffsglossar, welches vor allem dann hilfreich ist, wenn man lesend nicht mit Begrifflich- und Gegebenheiten des jĂŒdischen Glaubens im Einzelnen vertraut ist, sowie einen Fototeil. So eignet sich die LektĂŒre fĂŒr Geschichtsinteressierte, aber auch fĂŒr Jugendliche, zumindest wenn man einige Fußnoten ĂŒberliest.

Diese wurden zum besseren VerstĂ€ndnis durch die Herausgeberin angefĂŒgt, wirken an manchen Stellen wertend und relativierend. Hannah Arendt wird da z. B. als „allgemein etwas ĂŒberschĂ€tzt“ bezeichnet. Solche und andere Meinungen kann man ja durchaus haben, doch gehören sie nicht in den biografischen Bericht eines anderen hinein. Ob der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ĂŒber 90-jĂ€hrige Moshe Kessler um diese Kommentare weiß, sie teilt, die von der Herausgeberin und Übersetzerin stammen, bleibt zwangsweise offen.

Wenn gleich andere Informationen, die in den Fußnoten erscheinen, akribisch recherchiert und behutsam ergĂ€nzt worden sind, und es erst einmal ĂŒberhaupt bemerkenswert ist, einen solchen Bericht fĂŒr die Nachwelt erhalten zu dĂŒrfen, können einen solche Schnitzer eines eigentlich lesenswerten Berichts verhageln. Es bleibt hier also die Empfehlung, den Bericht zu lesen und die Fußnoten einer ÜberprĂŒfung zu unterziehen. Alles was Augenzeuge und Autorin jedoch zusammengetragen haben, ist es aber wert, gesehen zu werden.

Autorin:

Limor Regev wirkt an der Hebrew University of Jerusalem im Institut fĂŒr Internationale Beziehungen und hat zuvor ĂŒber die Auswirkungen des territorialen RĂŒckzugs in Israel geforscht. Ihre weiteren Forschungsarbeiten befassen sich mit territorialen Austritten, Konfliktlösung, internationaler Mediation und israelischer Bedrohungswahrnehmung.

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Homeira Qaderi: Dich zu verlieren oder mich

Inhalt:

Wie wird ein MĂ€dchen zur Frau in einer Gesellschaft, die ihm alle Möglichkeiten verwehrt? Wie wĂ€hlt eine Mutter zwischen ihrem Kind und ihrer Zukunft? Dich zu verlieren oder mich ist die bewegende Lebensgeschichte der afghanischen Autorin und Frauenrechtlerin Homeira Qaderi – und ihre stĂ€rkste Waffe im Kampf fĂŒr Gleichberechtigung in ihrer Heimat. (Klappentext)

Rezension:

Über Nacht Ă€nderte sich das Leben fĂŒr die Menschen, als nach dem Abzug der Sowjets die Taliban die Macht ĂŒbernahmen. Das Leben in Afghanistan war nie einfach, doch vor allem fĂŒr die Frauen wurde in der ohnehin patriarchalischen Gesellschaft die Luft zum Atmen immer dĂŒnner. Plötzlich waren sie wie Vögel eingesperrt, im eigenen Land. Zu dieser Zeit, „im Land der unsichtbaren Kugeln und des angekĂŒndigten Todes“ wĂ€chst Homeira auf, ihr GlĂŒck findet das MĂ€dchen, die Jugendliche im Lesen und Schreiben, doch Bildung ist den Frauen Afghanistans untersagt, wie auch sonst das Leben der Bevölkerungen von Tradition und Gesellschaft eingeschrĂ€nkt ist. Bereits im jungen Alter wehrt sich die kĂŒnftige Autorin dagegen, bringt gleichaltrigen MĂ€dchen heimlich das Schreiben bei, doch der grĂ¶ĂŸte Kampf steht ihr bevor, als sie als junge Mutter vor der Entscheidung steht, entweder sich selbst zu verlieren oder ihren Sohn.

Ein Land mit einer Kultur und gesellschaftlichen Sichtweisen, die uns kaum ferner liegen könnten, offenbart nur selten Perspektiven aus dessen Inneren. Erfahrungsberichte und Biografien wie diese sind rar gesĂ€t und so sich „Dich zu verlieren oder mich“ heraus und verlangt, gehört zu werden. Hunderttausende Frauen mögen unter der Terror- und WillkĂŒrherrschaft des Regimes der Taliban leiden, begĂŒnstigt durch eine fatale Interpretation von Religion und verkrusteten traditionellen Strukturen, die nur schwer aufgebrochen werden können. Als eine von wenigen ist das der Autorin gelungen, die stille Momente im Geheimen als auch den Mantel der Geschichte zum richtigen Zeitpunkt fĂŒr sich nutzen konnte.

Die VerĂ€nderung war fast augenblicklich spĂŒrbar. Auf den Straßen waren schlagartig keine Frauen mehr zu sehen. […] WĂ€hrend dieser ganzen Zeit fĂŒhlte ich mich wie ein Vogel im KĂ€fig, ich schlug mit den FlĂŒgeln gegen die StĂ€be und versuchte noch immer zu fliehen.

Homeira Qaderi: Dich zu verlieren oder mich

Homeira Qaderi hangelt sich von ihren Kindheitserinnerungen an bis zur titelgebenden Frage, auf der letztendlich alles hinauslĂ€uft. Anschaulich beschreibt sie die VerĂ€nderungen, denen das Land fortwĂ€hrend ausgesetzt war und was dies vor allem fĂŒr die Frauen bedeutete. Einzelne SĂ€tze geben dieser doch sehr kompakt gehaltenen Biografie LiteraritĂ€t, wĂ€hrend andere sehr sachlich auf den Boden der Tatsachen zurĂŒckfĂŒhren, welcher gespickt ist von KĂ€lte, Trost- und Hoffnungslosigkeit. Wie die Geschichte jedoch ausgeht, lĂ€sst sich erahnen, alleine schon dadurch, dass wir diesen Text in den HĂ€nden halten. Manchmal setzt sich eben doch der Funken GlĂŒck durch, sei er auch noch so klein.

[…] all meine TrĂ€ume und Ziele verdorrten wie nicht gegossene Blumen.

Homeira Qaderi: Dich zu verlieren oder mich

Die Geschichte der Autorin ist Beispiel dafĂŒr, dass man die Hoffnung nicht aufgeben darf, dass es sich lohnt, dafĂŒr zu kĂ€mpfen. Qaderi zeigt jedoch auch die Gefahren eines gesellschaftlichen Systems, welches das LebensglĂŒck seiner Menschen dermaßen mit den FĂŒĂŸen tritt. So ist der Text zugleich vor allem Stimme fĂŒr jene Frauen, die die ihre nicht mehr erheben können, die an Afghanistan zerbrochen sind. Man kann ja auch kaum anders, wenn man vor der Wahl zwischen der Liebe zu seinem Kind und dem Wunsch nach Freiheit steht, dabei weiß, die dunkle Seite jeder Entscheidung könnte zum Schlimmsten fĂŒhren. Wie wĂŒrde man sich sich selbst entscheiden, ohne zu wissen, ob dies nicht in eine noch grĂ¶ĂŸere Katastrophe fĂŒhrt.

Ein Text ĂŒber lebenslanges KĂ€mpfen fĂŒr sich selbst, fĂŒr die Frauen Afghanistans und fĂŒr das eigene Kind. Kaum möglich, davon loszukommen.

Autorin:

Homeira Qaderi wurde 1980 geboren und ist eine afghanische Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Professorin fĂŒr Literatur. Nach der MachtĂŒbernahme der Taliban 1989 organisierte sie heimlich Grundalphabetisierungskurse fĂŒr MĂ€dchen aus der Nachbarschaft, unterrichtete selbst und veröffentlichte als Jugendliche eine Kurzgeschichte, die von den Taliban scharf kritisiert wurde. Im Jahr 2001 ging sie in den Iran und setzte ihre unterbrochene Ausbildung fort, studierte persische Literatur, worin sie schließlich 2014 in New Dehli promovierte.

Im Jahr 2011 wurde sie Beraterin der afghanischen Regierung. WĂ€hrend des Falls von Kabul 2021 gehörte sie m it ihrem Sohn zu den Letzten, die das Land an Bord eines amerikanischen Flugzeugs verlassen konnten. Seit dem lebt und arbeitet sie in den USA als Autorin und Professorin und setzt sich weiterhin fĂŒr Frauenrechte ein. Sie hat mehrere BĂŒcher veröffentlicht und wurde verschiedenfach ausgezeichnet.

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Christine Westermann: Die Familien der anderen

Inhalt:

Christine Westermann taucht ein in die wechselvolle Geschichte ihrer Familie – anhand der BĂŒcher, die ihr Leben geprĂ€gt haben.

Elegant, ehrlich und warmherzig erzĂ€hlt sie von BĂŒchern, die die Familien der anderen beschreiben. Von LektĂŒren, die helfen, die eigene Geschichte besser zu verstehen.
(Klappentext)

Rezension:

Der Traum eines jeden bibliophilen Menschen. Christine Westermann trĂ€umt ihn schon als Kind. Eine Bibliothek mit Leiter soll es sein, um auch mal die oben stehenden BĂŒcher zu erreichen. Dort oben, im Regal ihrer Eltern, stand z. B. „Der Zauberberg“ von Thomas Mann, dieser Roman, der alleine schon durch seinen Umfang zu beindrucken weiß. Die Journalistin, die selbst jahrelang im Fernsehen und Rundfunk schon unzĂ€hlige BĂŒcher empfohlen und einige geschrieben hat, nimmt ihn sich nun vor, wĂ€hrend sie ihr neues Werk schreibt, in dem sie sich entlang der Werke hangelt, die sie fĂŒr ihr Leben prĂ€gten.

In diesem Sinne ist es keine klassische Biografie, die uns Lesenden mit „Die Familien der anderen“ vorgelegt wird, auch eine Art Ratgeber sucht man hier vergebens, obwohl die Werke von Christine Westermann in diese Rubrik einsortiert werden. Vielleicht sind es eher zu Papier gebrachte Überlegungen, ein wenig von allem.

So wie in der Öffentlichkeit sie nur BĂŒcher empfehlen möchte, die ihr selbst zusagen, schreibt und erzĂ€hlt sie, nachdenklich, melancholisch zuweilen, mit einer Prise Humor, denen die das lesen werden, zugewandt. Ausschweifend wie Thomas Mann, gar hochtrabend, wie der, der sein Vorwort Vorsatz nannte, möchte sie nicht sein. Kann sie auch nicht.

Das Lesen dieses Werks fordert, ist anstrengend, die Erinnerungen an erste Auftritte im Literarischen Quartett, an Lesereisen, an deren Ende meist ein Kölsch auf dem Tisch steht oder zermĂŒrbende Diskussionen in Sitzungen der Jury zum Deutschen Buchpreis, immer wieder auch das RĂŒckbesinnen auf die eigene familiĂ€re Vergangenheit, zudem, warum sie heute noch mehr an Familienkonstellationen, BrĂŒchen und Wandlungen interessiert ist als an allem anderen.

Das Hochtrabende geht ihr ab, kompakt hangelt sich entlang der BĂŒcher, die sie prĂ€gten. Eine sehr interessante LektĂŒreliste steht am Ende des Buches. Und „Der Zauberberg“ von Thomas Mann? Hat sie ihn beenden können, bewĂ€ltigt diesen Berg? Muss man das ĂŒberhaupt? Ist abbrechen auch eine Option, wenn man sehr lange schon anderen BĂŒcher empfiehlt? Wenn nicht empfehlen, vielleicht selbst schreiben? Wie macht man das, wird Christine Westermann auf einem Klassentreffen gefragt.

Mir hat diese Art der biografischen LektĂŒre sehr gefallen. Der Wechsel zwischen Anekdoten der Vergangenheit und Gegenwart, dem Vergleichen mit gelesener LektĂŒre und wahrscheinlich nicht nur Abgabedatum des Manuskriptes im Nacken, sondern eben auch schwergewichtige LektĂŒre auf den Nachttisch. Das wirkt sehr locker, sehr nahbar. Was kann ich reinen Gewissens empfehlen, doch bitte nur das, was ich selbst gern gelesen habe. Verrisse versucht Christine Westermann Zeit ihres Lebens zu vermeiden.

Ein paar Anekdoten verraten viel, die BĂŒcherliste der Autorin noch viel mehr, ĂŒber sie selbst, die fĂŒr ihre Auswahl der LektĂŒre oft genug gescholten wurde, nicht nur von Quartett-Kollegen. Doch, was nĂŒtzt die beste LektĂŒre, wenn sie die Lesenden nicht erreicht. Das gelingt Christine Westermann mit „Die BĂŒcher der anderen“ viel besser.

Autorin:

Christine Westermann wurde 1948 in Erfurt geboren und ist eine deutsche Moderatorin, Journalistin und Autorin. Nach der Übersiedlung von Erfurt nach Mannheim, machte sie nach der Schule ein Volontariat beim Mannheimer Morgen und besuchte die Deutsche Journalistenschule in MĂŒnchen. Von da an arbeitete sie als freie Journalistin fĂŒr verschiedene Radio- und Fernsehsender, produzierte Filme und Reportagen.

SpĂ€ter moderierte sie im ZDF „Die Drehscheibe“, spĂ€ter bis 2002 die „Aktuelle Stunde“. Von 1996-2016 moderierte sie die Sendung „Zimmer frei!“ und wurde zusammen mit Götz Alsmann dafĂŒr mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Von 2015-2019 war sie eine der Teilnehmerinnen des Literarischen Quartetts, daneben prĂ€sentiert sie per Podcast und Radiosendung BĂŒcher. Ihr erstes Buch erschien 1999, weitere folgten. Christine Westermann lebt in Köln

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Walter Chmielewski: Mein Leben als Sohn des Teufels von Gusen

Inhalt:

Walter Chmielewskis Vater ist Kommandant des KZ Gusen, einer Außenstelle des KZ Mauthausen, eingestuft als Vernichtungslager. Der Horror ist dem Jungen allgegenwĂ€rtig. In den letzten Kriegstagen gerĂ€t der jugendliche Walter selbst an die Front, wird gefangengenommen… Der Autor erzĂ€hlt in seiner Autobiografie vom grausamen Vater ebenso wie von der mitfĂŒhlenden Mutter, dem Großvater, einen WiderstĂ€ndler, den KriegsgrĂ€uel und der folgenden Zeit des Friedens und Aufbaus bis heute. Die Schuld seines Vaters sollte ihn allerdings ein Leben lang verfolgen. (Klappentext)

Rezension:

Niemand kann etwas fĂŒr die Vergangenheit einzelner Familienmitglieder, doch ist gut daran getan, dass manches nicht in Vergessenheit gerĂ€t. So ist es wichtig, dass Zeitzeugen Ereignisse dokumentieren, um sie so fĂŒr die Nachwelt zu erhalten. Doch wie bewertet man so etwas, zumal literarisch, da jene, die dies niedergeschrieben haben, nicht unbefangen waren und die heute Lesenden ebenso automatisch eine Position beziehen? Ja, vielleicht beziehen mĂŒssen.

Walter Chmielewski ist solch ein Zeitzeuge, der seine Geschichte und die seines Vaters fĂŒr die Nachwelt festgehalten hat. FĂŒr einige Dokumentationen und Zeitungen stand er fĂŒr Interviews zur VerfĂŒgung, seine Erinnerungen an Kindheit und Jugend sind festgehalten, in diesem Buch. Und jene, an seinen Vater. Dieser machte im NS-Apparat Karriere, stieg schnell auf und wurde schließlich Leiter des Konzentrationslagers Gusen. Brutal, unberechenbar und unerbittlich. Welche Differenz zu der Vaterfigur, die der Junge nicht recht einordnen konnte, mit dem die Mutter, die sich mit den Jahren in der Beziehung immer unwohler fĂŒhlte, bald brach.

Der Autor erinnert sich an noch mehr, erzĂ€hlt von seiner Kindheit und Jugend, seinem Leben als Erwachsener, bis hinein ins hohe Alter. Und davon, wie die Vergangenheit ihn trotz Erfolg, Gesundheit und persönlichen GlĂŒcks ihn immer wieder einholt.

Dies ist der interessantere Teil dieses sehr kompakten Werks, welcher an einigen Stellen sehr holprig wirkt. fast scheint es, als mĂŒssen die liebevoller Mutter, die das Unheil der Katastrophe bereits mit der Machtergreifung der Nazis kommen sieht, sowie die Großvaterfigur als Rechtfertigung fĂŒr das unverstĂ€ndliche Handeln des Vaters herhalten. Und natĂŒrlich war auch das Kind Walter Chmielewski selbst nicht ĂŒberzeugt vom NS-Regime. Geht das? Wo doch so viele Kinder und Jugendliche diese Ideologie nahezu ungefragt ĂŒbernahmen, nicht dass sie eine Wahl gehabt hĂ€tten. Zumal, wenn man wie der Autor selbst ein Jahr unter der Knute der NAPOLA-Schule gestanden hat.

Das scheint alles sehr dĂŒnn und hĂ€tte hier einer ausfĂŒhrlicheren ErlĂ€uterung bedĂŒrft. TatsĂ€chlich wirkt der Text wie eine versuchte Aufarbeitung der Familiengeschichte, bei der man dann lieber doch in ruhigere Fahrwasser sich bewegen möchte. Möglichst schnell. Hier hĂ€tte ein gutes Lektorat oder eine entsprechende Beratung Wunder gewirkt, so fĂ€llt eine an sich wertvoll festgehaltene Erinnerung literarisch ins Waser.

Die von mir erwĂ€hnten „ruhigen Fahrwasser“ hĂ€tte sich der Autor jedoch vollkommen sparen können. Sie machen die zweite HĂ€lfte des Werks aus. Hier beschĂ€ftigt sich Walter Chmielewski nicht mehr mit der Geschichte seines Vaters, seiner eigenen oder die seiner Familie, was zum Titel und durch den Klappentext suggerierten Inhalt passen wĂŒrde. TatsĂ€chlich ist zu empfehlen, das Buch danach zur Seite zu legen und den Rest ungelesen zu lassen.

Anfangs scheint es, als hÀtte der Schreibende versucht anhand von Parallelen in unserer heutigen Gesellschaft zu erlÀutern, warum er heute unsere Demokratie und Freiheiten gefÀhrdet sieht. Schnell ist dabei jedoch daraus eine Abrechnung geworden. Mit Land, Wirtschaft, Gesellschaft, der heutigen Zeit. Alles ist Mist. Alles lÀuft schief.

Dass es eben nicht so ist und neben vielen Dingen, die natĂŒrlich Diskussionen und Änderungen bedĂŒrfen, auch ganz viel existiert, was gut lĂ€uft, was funktioniert und was sich eben in den Jahren seit Kriegsende gewandelt hat, sieht er nicht. Will er nicht sehen. Davon abgesehen wĂ€re das Stoff fĂŒr ein eigenes separates Werk und gehört so nicht in eine Autobiografie oder den Versuch ein zeithistorisches GedĂ€chtnis fĂŒr die Nachwelt zu erschaffen.

ZurĂŒck zur Eingangsfrage. Wie bewertet man so etwas? Wie bewerte ich so etwas? Das Leben des Autors möchte ich nicht einordnen. Ich hoffe, er konnte mit dem Niederschreiben den grausamen Teil seiner Familiengeschichte irgendwie verarbeiten, möchte ihn auch gerne seine Unbeeindrucktheit (Gibt es dafĂŒr ein Wort?) gegenĂŒber einer Ideologie abnehmen, sowie dass dies der Vater in seiner Familie, mit diesem Hintergrund so hingenommen hat.

Ein großer Schreiber ist an Chmielewski nicht verloren gegangen. Es fehlen Details, ÜbergĂ€nge. Zu kompakt ist der Text. Dieses Abrutschen ins Polemische im zweiten Teil, praktisch zwei Werke ungetrennt zu schreiben, ist zudem kein glĂŒcklicher Zug. Zu viele Punkte sind dort auch rein faktisch unausgegoren. Das ist noch sehr weit entfernt, vom literarischen Schund eines gewissen ehemaligen Berliner Politikers, aber schon zu viel des Schlechten.

Einfach schade.

Autor:

Walter Chmielweski wurde 1929 geboren und war Sohn des spÀteren KZ-Kommandanten Karl Chmielewski. Nach dem Krieg arbeitete er in verschiedenen Unternehmen und wurde mehrfach als Zeitzeuge interviewt. Der Kontakt zum Vater brach noch wÀhrend des Krieges ab. Dies sind seine Erinnerungen.

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Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse

Autor: Christian Baron

Titel: Ein Mann seiner Klasse

Seiten: 284

Biografie/Rezensionsexemplar

Hardcover

Erschienen am: 31.01.2020

ISBN: 978-3-546-10000-7

Verlag: claassen

Inhalt:

Christian Baron erzĂ€hlt die Geschichte seiner Kindheit, seines prĂŒgelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfĂŒhlt, als kleiner Junge mĂ€nnliche Gewalt zu erfahren.

Was es heißt, als Jugendlicher zum KlassenflĂŒchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden. Ein Buch ĂŒber das Leben und Sterben, das nacheifern und Abnabeln, das Verdammen und Verzeihen. (Klappentext)

Rezension:

Deprimierender geht es kaum, möchte man meinen, so man den Buchdeckel aufgeschlagen und die ersten Zeilen gelesen hat. Schon ist man versunken, in die Kindheitsbiografie des Einen, der sich StĂŒck fĂŒr StĂŒck aus Elend und Verzweiflung, vor allem aber aus prekĂ€ren FamilienverhĂ€ltnissen und Armut herausgekĂ€mpft hat.

Christian Baron erzĂ€hlt kompromiert vom Aufwachsen im Armutsviertel von Kaiserslautern, vom gewalttĂ€tigen Vater und einer ĂŒberforderten Mutter.

Wenig hoffnungsvolles, dafĂŒr viel Trostlosigkeit ĂŒber weite Strecken, aus der Sicht des Kindes und eines Erwachsenen, der es geschafft hat, den allem zu entkommen, irgendwie jedoch auch fĂŒr immer damit verbunden bleibt.

Der Autor erzÀhlt aus der Beobachtungswarte des Kindes heraus, welches die Perspektivlosigkeit seiner Eltern gepachtet zu haben scheint, dessen AnkÀmpfen dagegen sÀmtliche Erwachsene kritisch sehen. Viel ist es nicht, was den Jungen aufrecht hÀlt, und doch gibt es sie, die Strohhalme, nach denen er greift.

EinfĂŒhlsam und detailliert beschreibt er die zahllosen KĂ€mpfe gegen die Vorurteile von JugendĂ€mtern, Familienmitgliedern, Klassenkameraden und Lehrern, aber auch die kurzen Momente des GlĂŒcks. Davon gibt es wenige. Sie sind rar gesĂ€t.

Zeile fĂŒr Zeile arbeitet der Autor das Elend und die Verzweiflung heraus. Wer etwas Optimistisches lesen möchte, ist hiermit auf weite Strecken falsch bedient. Doch, nach und nach, zeigt sich das GlĂŒck, tritt die Pro-Seite gegenĂŒber den Contras mehr hervor.

Der Weg des Protagonisten, des Autoren selbst scheint auf einem frĂŒhen Foto von ihm mit seinen Geschwistern vorgezeichnet. Eine kritische Sozialstudie ĂŒber eine Kindheit in einer abgehĂ€ngten Stadt, in der Trostlosigkeit der Verlorenen in den 1990er Jahren, zwischen Krankheit und Tod, verfehlter oder nicht vorhandener Liebe und Alkoholismus.

Der Leser wird dazu verdonnert, mit zu leiden, sich jedoch mit den Protagonisten, der der Autor ist, und umgekehrt, freuen, bleibt schließlich nachdenklich zurĂŒck.

Wie ist es, in einem reichen Land wie Deutschland in Armut aufzuwachsen? Chancenlos zu sein, wo sich viele Chancen bieten? Aus vorbestimmten VerhÀltnissen auszubrechen, dabei sich immer mehr von seiner Familie zu entfernen?

Christian Baron ist diesen Weg gegangen und erzĂ€hlt davon, wie es ist, aufzusteigen und doch immer ein Mann seiner Klasse zu bleiben. Diese kritische Sozialstudie in Romanform lĂ€sst seine Leser so schnell nicht los. Alleine dafĂŒr lohnt sie sich.

Autor:

Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik. Anschließend arbeitete er als Redaktuer bei der Zeitung Neues Deutschland, wo er im Feuilleton fĂŒr’s Theater verantwortlich war.

Aktuell schreibt er fĂŒr die Wochenzeitung Der Freitag. 2019 veröffentlichte er ein autobiographisches Essay ĂŒber die Gewalt seines Vaters gegen die Mutter, woraus ein Buch erwuchs, welches im Jahr 2020 veröffentlicht wurde. Ein Mann seiner Klasse.

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Bodo Kirchhoff: DĂ€mmer und Aufruhr

DĂ€mmer und Aufruhr Book Cover
DĂ€mmer und Aufruhr Bodo Kirchhoff Frankfurter Verlagsanstalt Erschienen am: 29.06.2018 Seiten: 462 ISBN: 978-3-627-00253-4

Inhalt:

Ein Autor bewohnt das Zimmer, in einem kleinen Hotel am Meer, in dem einst seine Eltern vor Jahrzehnten glĂŒckliche Tage verbrachten, die letzten vor ihrer Trennung. Er erinnert sich zurĂŒck, an die Jahre seiner Kindheit, seinem Aufwachsen bei ungleichen Elternteilen und im Internat, wo ein Drama seinen Lauf nimmt.

Bodo Kirchhoff nĂ€hert sich dem, mit den Mitteln des Romans und schildert zugleich die Geschichte des beginnenden Schreibenden. Wie fĂŒr etwas Worte finden, fĂŒr das es keine Wörter gibt? Bodo Kirchhoffs schmerzlicher Weg zur Literatur, sein großer autobiografischer Roman. (eigene Inhaltsangabe).

Rezension:
Es ist ein Roman, der leisen Töne, den uns der Schriftsteller Bodo Kirchhoff mit „DĂ€mmer und Aufruhr“ vorlegt, und dennoch erfĂ€hrt man hier viel ĂŒber die AnfĂ€nge der Schreibarbeit des TrĂ€gers des Deutschen Buchpreises, der sich am einstigen Ferienort seiner Eltern, kurz vor ihrer Trennung, zurĂŒckerinnert, an diese und andere Ereignisse seiner Kindheit, seiner Jugend und schließlich an den jungen Erwachsenen, der er einst gewesen ist.

Aus der ich-Perspektive beschreibt er eine glĂŒckliche Kindheit zwischen schwankenden Eltern, einmal ikonenhaft angebetet, im nĂ€chsten Moment verwirrende Ältere, die, als der Sohn nicht mehr in der Schule hinterher kommt und im unsteten Pendeln seiner Eltern keinen Haltepunkt findet, ihn ins Internat stecken.

Auch dort fÀllt es den genauen Beobachter, TrÀumer und Sonderling zu gleichen Teilen schwer und leicht, Anschluss zu finden. Ein Kantor nimmt sich seiner an und nimmt sich körperlich das, was nicht ihm gehört.

Der Junge weiß, dass dies falsch ist, wird es spĂ€ter nicht Missbrauch nennen, anders den Schmerz beschreiben, mit der Waffe des Wortes. Der Schriftsteller, der er noch nicht ist, jongliert schon als Kind mit Worten. Nun sind diese Erinnerungen zu Papier gebracht.

Bodo Kirchhoffs autobiografischer Roman hat mich beeindruckt, ob seiner ruhigen ErzĂ€hlweise, die das Unerhörte um so lauter erscheinen lĂ€sst und eine schöne Sprache außerdem, die hier wirklich dei Handlung trĂ€gt und den Leser nicht wegnicken lĂ€sst.

Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, penibel und unterhaltsam die Familienszenen beschrieben, die der Aufwachsenede beobachtet. Außenstehend und doch immer dabei. Geliebt von seinen Eltern und doch Meilen weit von ihm entfernt.

Der Perspektivwechsel zum Ă€lteren Ich, welcher die letzten Jahre der Mutter schreibt, selbst Schriftstellerin, vormals Schauspielerin, diese NĂ€he und Bewunderung, die der Autor sich natĂŒrlich aus der Kindheit bewahrt hat, ist ebenso gelungen und glaubwĂŒrdig. Der Bogen ĂŒberspannt durch das Beobachten, Verinnerlichen und spĂ€teren Schreiben.

Dem Unerhörten, was nicht sein darf, ein Gesicht zu geben, ist ebenso ein Verdienst des Autoren, den man nicht gering schÀtzen darf.

Bewundernswert, wie Kirchhoff es schafft, den Missbrauch durch den Internatskantor zu beschreiben, ohne es Missbrauch zu nennen, doch mit genau der gleichen Wucht, die den damaligen Jungen in eine AbhÀngigkeit versetzt hat, die nicht zu entschuldigen ist und die den spÀteren Mann keine geistliche Musik mehr ohne Beigeschmack hören lassen kann.

Entlang von Fotos aus dieser Zeit hangelt sich der Autor von Erlebten zu Erlebten und beschreibt das so, als wĂŒrde man am Tisch Kirchhoffs sitzen, und durch das Fotoalbum blĂ€ttern.

Ein Roman, der einem kalt den RĂŒcken herunterlĂ€uft, aber nicht kalt lassen wird.

Autor:
Bodo Kirchhoff wurde 1948 in Hamburg geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, der Romane und DrehbĂŒcher veröffentlicht. Er studierte 1972 bis 1979 PĂ€dagogik an der UniversitĂ€t Frankfurt und veröffentlichte erstmals bei Suhrkamp.

Vorher arbeitete er u.a. als EisverkĂ€ufer in den USA, zeichnete und war spĂ€ter 1994/95 Dozent, ebenfalls in Frankfurt/Main. er gibt Kurse fĂŒr Kreatives Schreiben und enthĂŒllte 2010 in einem Artikel des Spiegel, den an ihn begangenen Missbrauch eines Kantors der Evangelischen Internatsschule, auf die er19659-1968 ging.

FĂŒr seine Novelle „Widerfahrnis“ bekam er 2016 den Deutschen Buchpreis. Er lebt in Frankfurt/Main, zeitweise auch am Gardasee in Italien.

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