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Pia Volk: Deutschlands schrägste Orte

Inhalt:

Die Geographin und Journalistin Pia Volk hat sich zwischen Wattenmeer und Allgäu, zwischen dem Frankfurter Mainufer und dem Sorbenland umgesehen und ist dabei auf lauter schräger und seltsame Orte gestoßen: eine Eiche mit eigener Adresse; ein fortgespültes Atlantis in der Nordsee; ein Kronleuchter in der Kölner Kanalisation; die letzte noch erhaltene Grenzschleuse für sowjetzonale Agenten. (Klappentext)

Rezension:

Was in der Ferne gut klappt, müsste doch eigentlich auch in unmittelbarer Umgebung funktionieren? Tatsächlich gibt es auch in der Mitte Europas, die von Straßen durchzogen, von Schienensträngen zerschnitten und von ausufernden Städten bestimmt ist, noch allerhand zu entdecken. Und das in einer Zeit, in der Satelliten helfen, uns überall zu orientieren und praktisch jeder Winkel, so meint man, kartografiert ist. Doch auch in der Heimat lohnt ein genauer Blick.

So begab sich die Journalistin Pia Volk auf Reise quer durch Deutschland und erkundete allerhand Kuriositäten. Versammelt sind sie nun in einem Buch.

Keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt diese Mischung aus lexikonartiger Zusammenstellung und kurzweilig kompakter Reiseberichte, die unseren Blick schärfen, für das Ungewöhnliche. Man findet es überall, entdeckt es manchmal erst aus der Vogelperspektive oder mit einem Abstieg in den Untergrund.

Wer weiß etwa von dem Kernkraftwerk, welches keines sein durfte, jedoch zu einem Freizeitparkgelände umgebaut wurde? Das andere, den einzigen Vergnügungspark der DDR und sein Überbleibsel mag man vielleicht kennen. Warum hängt ein Kronleuchter mitten in der Kanalisation Kölns und wo können Autofahrer eigentlich beten, wenn sie sich selbst dank fehlender Geschwindigkeitsbegrenzung überholen?

Pia Volk erkundet die Orte, die dem ersten Blick verborgen bleiben, deren Geschichten auf dem zweiten um so interessanter sind. Viele künden von menschlichen Schaffensdrang. Manche Gegenden haben auch eine unheilvolle Vergangenheit. Was wurde aus den Ideen von Einst, wie geht man mit ihnen heute um und wie können sie unsere Wahrnehmung von Heimat verändern? Kurzweilig und sehr informativ sind die Beschreibungenin der Form von Reiseberichten, so dass man selbst Lust bekommt, die eine oder andere Kuriosität, so sie nicht in diesem Werk vorkommt, selbst zu erkunden oder zu ergänzen, wozu die Autorin ausdrücklich auffordert.

Einiges mag bekannt vorkommen, zumal in näherer Umgebung, anderes zeigt die sozio- und städtegeografische Vielfalt unserer Heimat und ist so gesammelt eine wunderbare Ergänzung im Lexika-Bereich, die zum Schmunzeln und Nachdenken einlädt.

Autorin:

Pia Volk ist eine deutsche Journalistin. Zuvor studierte sie Geografie und Ethnologie und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Zudem veröffentlicht sie regelmäß Beiträge bei Deutschlandfunk Nova und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Mit ihrer Familie lebt sie in Leipzig.

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Lena Gilhaus: Verschickungskinder

Inhalt:

Über 15 Millionen Mal wurden Kinder in der BRD und der DDR seit 1945 zur Kur geschickt. Für viele von ihnen waren diese Wochen prägend – und danach haben sie kaum darüber geredet. Wie haben sie diese Zeit erlebt? Wer hat sie dort betreut? Was haben sie davon mitgenommen? Und welche Tiefenwirkungen hatte das für die Gesellschaft der Nachkriegszeit? (Klappentext)

Rezension:

Ein Gefühl der Unsicherheit und Beklemmung beschleichen dem Vater von Lena Gilhaus, der sich zusammen mit seiner Schwester und Tochter aufmacht, um die Spuren weniger Wochen auszumachen, die sein Leben im Unterbewusstsein für immer verändert haben. Auf Sylt waren die Geschwister in ihrer Kindheit auf Kur, von den Eltern getrennt. Danach sollte nichts mehr so sein, wie zuvor. Über die Reise und Recherche veröffentlichte die Autorin kurz darauf einen Artikel und brachte damit eine Lawine ins Rollen. Lena Gilhaus stieß auf immer mehr Geschichten von Menschen, die sich bei ihr meldeten oder in Foren sich selbst auf Spurensuche begeben hatten und auf Mauern des Schweigens stießen. Das nun vorliegende Werk erzählt die Geschichte einiger von ihnen.

Unter den Deckmantel von Gesundheitsprävention und Erholungskuren wurden Schätzungen zufolge bis zu 15 Millionen Kinder wochenlang ihren Familien entnommen, in die Berge oder ans Meer geschickt, doch war der systemische Eingriff behördlicher Institutionen nichts anderes als die Kontrolle über Kinder aus milieugefährdeten Familien oder solcher, die man dafür hielt. Bis hinein in die 1980er Jahre sahen sich schon Kleinstkinder mit einem in der Gesellschaft verwurzelten System schwarzer Pädagogik konfrontiert, welches sich seit Weimarer Zeit etabliert hatte, sich jedweder Kontrolle entzog und sich nur langsam wandelte.

Wenige haben diese Wochen positiv in Erinnerung. Zu sehr bestimmten fernab der eltern physisische und psychische Gewalt den Alltag in oftmals maroden, unterfinanzierten Einrichtungen, in denen Personalmangel und veraltete Ansichten nicht nur zu Zwangsernährung oder Isolation führen konnten. Auch zu Missbrauchs- und Todesfällen kam es, über die Verbände und Behörden nur allzu oft einen Mantel des Schweigens legten.

Wie konnte sich ein solches System so viele Jahre in beiden deutschen Staaten halten? Woraus ist es entstanden? Welche Leitlinien folgten Heimleitungen, Behörden und Vereine, denen die Einrichtungen unterstanden? Warum begann der Prozess der Aufarbeitung erst so viel später und steht immernoch am Beginn? Diese und andere Fragen zu beantworten, Geschichten aufzuspüren und für Klarheit zu sorgen, begibt sich seit einigen Jahren die Journalistin Lena Gilhaus auf Spurensuche, nicht zuletzt, um auch für ihren Vater ein Stück Klarheit zu erwirken.

Entlang von Berichten Betroffener, im persönlichen Interview und noch viel zu seltener Akteneinsichten spürt sie der Geschichte der Kinderverschickung auf, die noch vor dem Ersten Weltkrieg beginnt, unter Kontrolle und anderen Vorzeichen im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreicht und dann, teils mit den gleichen Akteuren unter anderen Namen von Beginn der Nachkriegszeit an fortgeführt wird? Welchen Nutzen hatte dies für Behörden und eingebundenen Vereinen? Welche Folgen trugen Betroffene davon?

Die Journalistin berichtet im vorliegenden Sachbuch von Institutionen, die heute nichts mehr von ihrer dunklen Vergangenheit wissen möchten, verweigerten Zugang zu Archiven und die tiefenpsychologische Wirkung von Verarbeitungsprozessen, die so keinen Abschluss finden werden, stellt das System der Verschickung jedoch auch im Kontext der jeweiligen Zeit dar, in dem sie geschah. Lena Gilhaus erzählt von einfühlsamen Gesprächen und einer Spurensuche auf schwierigen Pfaden.

Was macht es mit den Menschen, teilweise ohne die Gründe dafür zu kennen, schon im Kleinkindalter von Eltern und Verwandten für Wochen getrennt zu werden, um dann einen vollkommenen Bruch zu erleben, der an Gewalt oder Empathielosigkeit kaum zu überbieten ist? Weshalb griffen nach Bekanntwerden einiger Missstände weder Behörden noch, viel wichtiger, zahlreiche Eltern nicht ein? Wie steht es um das System der Kinderkuren heute? Welchen Wandel hat es durchlaufen?

In kleinteiliger und mühevoller Recherche voller Hindernisse stellt Gilhaus ein dunkles, kaum bekanntes Kapitel deutscher Geschichte detailliert dar und verdeutlicht dies anhand des Parallstranges der Erlebnisse ihres Vaters, sowie immer wieder eingewoben, den Berichten anderer Betroffener aus West und Ost. Welche Unterschiede gab es, welche Gemeinsamkeiten? Wer waren die Akteure?

Die Autorin verleiht den ehemaligen Verschickungskindern ihre Stimme, bleibt trotz der Emotionalität der Thematik sehr sachlich, ohne dass die Darstellung zu trocken wäre. Dazu ist diese zu erschreckend, zu wichtig. Klar ist jedoch auch, dass dieses Sachbuch nur der Anfang einer gesellschaftlichen Diskussion, sofern heute noch aktive oder die Nachfolgeinstitutionen der Verschickung sich bedeckt und ihre Archive geschlossen halten. Eine Auseinandersetzung ist längst überfällig. Dies ist ihr sehr wichtiger Beginn.

Autorin:

Lena Gilhaus, geboren 1985, studierte Politikwissenschaften in Greifswald und Bonn. Sie lebt seit 2009 in Köln als freie Radio- und Fernsehautorin für Wellen der ARD, meist den WDR und Deutschlandradio. Ihre DLF-Radioreportage “Albtraum Kinderkur” wurde 2017 vom Grimme Institut unter die drei besten Reportagen für den Deutschen Radiopreis 2017 gewählt. 2022 gehörte ihr Folgebeitrag “Trauma Kinderverschickung – Das lange Schweigen der Politik” zu den Nominierten für den Alternativen Medienpreis 2022 in der Kategorie “Geschichte”.

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Filmblick: Wochenendrebellen

Mirco (Florian David Fitz) ist beruflich bedingt viel unterwegs, während seine Frau Fatime (Aylin Tezel) das fordernde Familienleben organisiert. Ihr zehnjähriger Sohn Jason (Cecilio Andresen) ist Autist und sein Alltag besteht aus täglichen Routinen und festen Regeln. Als der Familie Jasons Wechsel auf eine Förderschule nahegelegt wird, ist auch Mirco als Vater gefordert. Er schließt einen Pakt mit seinem Sohn: Jason verspricht, sich alle Mühe zu geben, sich in der Schule nicht mehr provozieren zu lassen, wenn Mirco ihm hilft, einen Lieblingsfußballverein zu finden. Allerdings will Jason sich erst für einen Verein entscheiden, wenn er alle 56 Mannschaften der ersten, zweiten und dritten Liga live in ihren jeweiligen Stadien gesehen hat. Dabei hat er sehr individuelle Kriterien – von Maskottchen, Nachhaltigkeit über Rituale der Spieler bis hin zu den Farben der Fußballschuhe. Auf ihren außergewöhnlichen Reisen durch Deutschland lassen Vater und Sohn die heimische Routine hinter sich und finden alles, was sie nie gesucht, aber definitiv gebraucht haben… (Leonine Studios)

Dies ist der neue Film von Richard Kropf und Marc Rothemund, die komprimiert die wahre Geschichte von Mirco und Jason von Juterczenka erzählen, die als Groundhopper durch die Republik, inzwischen schon viel weiter, von Station zu Station reisen und sich so gemeinsame Zeit miteinander und Verständnis für einander schaffen. In beiden Richtungen ist dies wichtig, für den Vater, der damit einen Zugang zu seinem Sohn findet, Verständnis gewinnt für Gegebenheiten, die der Autismus seines Sohnes mit sich bringt und für Jason zum einen tatsächlich das Ziel hat, seinen Lieblingsverein zu finden, aber eben auch in die andere Richtung ein Möglichkeit zu schaffen, zu verstehen, warum seine Umgebung so sehr anders tickt als er selbst, Strategien zu entwickeln, damit auch zurechtzukommen. Nur, funktioniert das? Zeit, wieder für einen Beitrag in der Kategorie -Filmblick-.

Wochenendrebellen – Trailer (Leonine Studios)

Vorangestellt zum einen, ich verfolge die Reisen und Unternehmungen der realen Wochenendrebellen schon längere Zeit, sehr lose zwar, aber die Buchvorlage, auf der der Film basiert, habe ich ebenso gelesen, wie ich auch die Podcast eher lose verfolge, um dies dann aus den Blick zu verlieren, nur um manchmal einige Wochen später, wieder ein Interview oder einen Beitrag in den sozialen Medien zu sehen, der mich dazu bringt, wieder auf den Blog vorbeizuschauen, gleichwohl ich mich nicht auch nur entfernt für Fußball interessiere, welcher natürlich im Leben der beiden eine Rolle spielt, aber ich selbst bin auch Autist.

Nicht in dieser Form, trotzdem so weit als Autist betroffen, dass ich bestimmte Handlungs- oder Denkweisen nachvollziehen kann oder eben selbst innehabe. Auch ich mag die Sicherheit von Routinen, bin sehr darauf bedacht, welche Essensbestandteile sich wie berühren und ob überhaupt, lebe meine Spezialinteressen, um nur einige Punkte zu nennen. In anderen weiche ich davon ab und hier sind wir bei einem sehr großen Plus des Filmes, der Jasons Geschichte erzählt, wenn auch komprimiert, in dieser Hinsicht aber authentisch bleibt, aber eben auch klarstellt, dass Autismus eben nicht für alle Betroffenen gleichermaßen festgemacht werden kann, sondern dies ein Spektrum ist, innerhalb dessen man verortet wird, um mal mit diesem Bild zu sprechen. Nicht alle Autisten sind hochbegabt, sprechen nicht oder können aus dem Gedächtnis ganze Städte aufzeichnen, inklusiver der korrekten Anzahl von Fenstern an Gebäuden. Es gibt bestimmte Merkmale, in welcher Ausprägung die vorhanden sind oder überwiegen, ist verschieden.

Wochenendrebellen
Regie: Marc Rothemund
Drehbuch: Richard Kropf
Darsteller (u. a.): Cecilio Andresen, Florian David Fitz, Aylin Tezel
Kinostart D: 28.09.2023
Wiedemann & Berg Filmproduktion, Leonie Studios

Mit diesem Rahmen ausgestattet, zeigt der Film sehr gut, was Autismus für Autisten, aber eben auch für die Umgebung bedeuten kann, was nicht zuletzt dank einer großartigen Besetzung gelingt und, wenn man so das eine oder andere Interview von Jason und Mirco von Juterczenka verfolgt, im Grundsätzlichen bei allen Figuren gelungen ist, so hervorzuheben Joachim Krol, der als Opa dem Jungen vom Verständnis her am nächsten steht, aber auch die Eltern, die in ihrer Verzweiflung, in ihrem Stress mit der Ausgangssituation zueinander und auch gegenüber Jason selbst, einen Weg finden müssen, damit umzugehen. wunderbar spielen hier Aylin Tezel und Florian David Fitz, neben einen ganz jungen Darsteller, der die restliche Besetzung an die Wand zu spielen vermag.

Cecilio Andresen, wie alt wird der Junge während der ersten Castings gewesen sein, neun oder zehn Jahre alt vielleicht, ist bisher die beste Besetzung eines Nicht-Autisten für die Rolle eines Autisten, die ich bisher auf der Leinwand gesehen habe. Die Emotionen, die Zerissenheit, aber auch das Absolute, den Kämpferwillen in Gestik, Mimik so umzusetzen, hat einem um und lässt nicht unberührt. Aus Interviews ist zu erfahren, dass er ganz viele Fragen dem realen Jason von Juterczenka gestellt, im viel erklärt wurde. Das hat sich unbedingt gelohnt. Es ist die beste schauspielerische Leistung in diesem Film, über dessen gesamte Länge. Und so , auch natürlich weil man primär kein Film über eine “Krankheit” machen wollte, sondern primär über eine Geschichte, ist für mich die Besetzung eines Nicht-Autisten hier in Ordnung.

Siehe auch, warum ist Jasons Darsteller nicht autistisch? Beitrag der Wochenendrebellen (wochenendrebell.de)

Unterstützt werden die Spielszenen durch einen gekonnten Schnitt und der visualisierung für Autisten ausschlaggebender Stressfaktoren wie Geräusche, die in Szene gesetzt werden. Das macht es auch für Nicht-Autisten leicht, die Faktoren nachzuvollziehen, die Jason als Autist, ich möchte nicht sagen, einengen, aber doch das Leben ungleich schwerer machen. So abgerundet braucht es diesen Film, der sehr viel zum Verständnis für Autisten in die richtige Richtung bewegen kann, wenn auch man sich die Frage stellen darf, ob ein angeschrieener Kinder-Torwart und ein Vereinsmaskottchen demnächst zusammen eine Therapie-Gruppe besuchen (einfach den Film anschauen, dann wird dieser Satz verständlich).

Am Ende ist klar, der Weg der beiden geht weiter und auch für die realen Vorbilder ist die Reise noch lange nicht zu Ende. Immer noch besuchen beide Stadien, unternehmen Reisen, engagieren sich z. B. für den Klimaschutz oder der Neven-Subotic-Stiftung, was zwar nicht Bestandteil des Films ist, aber hier ausdrücklich erwähnt werden soll. Auch das nächste Buch-Projekt ist bereits in Arbeit. Es lohnt sich also, Mirco und Jason von Juterczenka nicht aus den Augen zu verlieren. Vielleicht gelingt es durch den Film auch dafür zu interessieren, nicht nur für das Verständnis für Autisten.

Relativ wenig an Filmen habe ich in diesem Jahr gesehen, doch nicht nur für diese Zeitspanne ist für mich “Wochenendrebellen” einer der besten Filme und einer unbedingten Empfehlung wert. Unbedingt ansehen.

Jason ist zwölf, er hasst Menschenmassen, liebt Routinen und interessiert sich für Chaostheorie. Seinen Alltag strukturieren feste Regeln, die nicht gebrochen werden dürfen. Darüber wacht er gnadenlos genau. Jason ist Autist. Seit seinem sechsten Lebensjahr reist der hochintelligente Junge mit Vater Mirco um die Welt, um seinen Lieblingsfußballclub zu finden. Die Fußballtouren entwickeln sich für die beiden zum Lebensprojekt, denn wie es ist, Fan zu sein, begreift man nur im Stadion. Dort gelten ausnahmsweise eigene Regeln. »Wir Wochenendrebellen« erzählt ehrlich und mit viel Humor von einem ganz besonderen Team auf der Suche nach einem Gefühl. (Verlagsangabe)

Anmerkungen dazu:
Zum Zeitpunkt des Erscheinens des Films ist das Buch relativ schwer im Buchhandel zu bekommen, zumindest bei den großen Ketten hatte ich kein Glück. Der Verlag wird da sicherlich aber dran arbeiten.

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Ulrich Woelk: Mittsommertage

Inhalt:

Ruth Lember, Professorin in Berlin, soll in den Deutschen Ethikrat berufen werden. Sie scheint am Gipfel ihrer bisherigen Laufbahn. Aber ein Zwischenfall bei ihrer morgendlichen Joggingrunde erweist sich als Auftakt einer ganzen Reihe irritierender Ereignisse. Innerhalb von einer Woche in der sommerlich heißen Stadt gerät Ruths Leben völlig aus dem Takt. Ulrich Woelk erzählt in “Mittsommertage” die spannende Geschichte einer Frau, die sich neu erfinden muss. (Klappentext)

Rezension:

Am Anfang steht ein Hundebiss als eher störende Unannehmlichkeit, doch bringt in Ulrich Woelks neuen Roman “Mittsommertage” ein solcher, das Leben seiner Protagonistin durcheinander. Fragen, die jahrzehntelang verschüttet waren, tauchen nun wieder auf. Gewissheiten sind plötzlich nicht mehr unumstößlich. In dieser Grundstimmung gerät Ruth zunehmend von Tag zu Tag, auch Sicherheiten fallen plötzlich in sich zusammen.

Nachdem Woelks zweite Erzählung “Für ein Leben” in Teilen unrund wirkte, da teilweise zu ausufernd erzählt, knüpft der nun vorliegende Roman wieder an Gegebenheiten an, die mir seinem vorvorletzten Werk in positiver Erinnerung bereithalten.

Zunächst ist da die Beschränkung auf sehr wenige Figuren und ein überschaubarer Handlungsrahmen, der genau zu der ruhigen Art des Erzählens passt, wie der Autor dies schon mit seinem Debüt gezeigt hat. Darauf aufbauend tut die konsequente Ausgestaltung der Protagonistin, durch deren Augen diese Geschichte erzählt wird, sowohl im gegenwärtigen Handlungsrahmen als auch in den Rückblenden, ihr Übriges.

Wir begleiten die Protagonistin nur durch den Zeitraum von einer Woche, die sehr kompakt erzählt wird. Jeder Tag entspricht einem Kapitel, in dem als Folge des Bisses bzw. der Verarbeitung dessen sich neue Gräben auftun, die die innerlichen Grundfesten der Frau erschüttern, die zum überwiegenden Teil versucht, nach außen Stärke zu zeigen. Das gelingt der Protagonistin immer weniger. Risse werden sichtbar.

Woelk bringt hier zwischen den Zeilen viel zur Sprache. Wie lange etwa muss und auch darf die Vergangenheit nachhallen und wie sollten wir damit umgehen? Fragen der Philosophie und der Ethik, nach der Physik, die thematisch in “Der Sommer meiner Mutter” eingearbeitet war, nun der zweite Themenblock, den Woelk studierte und nun einem seiner Figuren als Leidenschaft mit auf den Weg gegeben hat. Das wirkt alles in allem stimmig.

Wie reagieren wir, wenn Sicherheiten in unserer nächsten Umgebung wegfallen, wenn die Vergangenheit uns einholt? Wie auch in Bezug auf die Reaktionen von außen? Wofür und wann lohnt es sich zu kämpfen? Fragen, die heute drängender denn je sind und so ist “Mittsommertage” nicht nur ein Erfahrungs- oder durchaus Großstadtroman, auch der wandel der Umweltbewegung von damals zu heute stellt der Autor gekonnt komprimiert dar.

Letzteres wird dargestellt durch das Gegenüber einer Figur, die als eine zweite vor allem durch Rückblenden zund kurzen Einschüben Konturen bekommt, während die wenigen anderen verleichsweise blass bleiben. Mehr braucht man tatsächlich auch nicht. Der Roman funktioniert auch so. Der Gegensatz zwischen den Zeitsprüngen kommt damit jedoch viel stärker zur Geltung, wobei die Perspektive stets die gleiche bleibt.

Es ergeben sich dabei keine unwirklichen Sprünge oder Brüche, vielmehr könnte alles tatsächlich so passieren. Gerade dies ist das, nicht immer Spannende, aber Tragende dieses Romans, in dem es Ulrich Woelk auch wieder vermehrt gelungen ist, sehr filmisch zu erzählen. Man kann sich in die einzelnen Szenen sehr gut hinein versetzen, auch wenn man sich in die ruhige Art des Erzählens vielleicht erst einfinden muss.

Einige Längen gibt es zwar, doch fallen die nicht groß ins Gewicht, da sie sich auf wenige Seiten beschränken, was jedoch durch eine gekonnte Auflösung am Ende der Handlung mehr als ausgeglichen wird. Mit “Mittsommertage” kommt Ulrich Woelk wieder sehr nah an dem heran, was für mich “Der Sommer meiner Mutter” ausgemacht hat. Und das ist einfach wunderbar.

Autor:

Ulrich Woelk wurde 1960 in Bonn geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Von 1980-1987 an, studierte er physik und Philosophie an der Universität Tübingen. Er arbeitete bis 1995 an der Technischen Universität Berlin, sowie in Göttingen als Astrophysiker. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1990. 1991 promovierte er über Weiße Zwerge in engen Doppelsternsystemen. Seit 1995 lebt Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Er schreibt Theaterstücke, Romane und Hörspiele. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.

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Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

Inhalt:

Johanna ist keine gute Tochter. Um sich zu retten, hat sie die Familie verlassen. Jetzt, dreißig Jahre später, ist sie wieder zu Hause. Sie sucht Nähe, sie will den Kontakt zur Mutter erzwingen, doch die verweigert sich kühl jeder Annäherung. Heimgesucht von den Erinnerungen an die Kindheit zieht Johanna sich in eine einsame Hütte am Fjord zurück, wo es an ihr ist, die Verhältnisse zu ordnen und sich aus den familiären Zwängen zu befreien.

Vigdis Hjorth erzählt drastisch von unseren zerrütteten Beziehungen, von Sehnsucht und Enttäuschung und davon, wie man der Vergangenheit begegnet, ohne sich selbst aufzugeben. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Familiäre Gräben sind tief und breit, kaum zu überbücken. Johanna selbst steht vor einem solchen, als sie in das Land, die Stadt, zurückkehrt, in der sie aufwuchs. Längst ist aus der jungen Frau, die ihrer Heimat einst aufwuchs, eine erfolgreiche Künstlerin geworden. Der Auftakt dazu jedoch war scheinbar der größte Stein, der den Bruch mit den unnahbaren Eltern vor Jahrzehnten mehr als offensichtlich machte. Doch, lassen sich Wunden heilen? Der Mutter, der fremd gewordenen Schwester, die eigenen? Johanna möchte dies versuchen, möchte verstehen und tritt dabei eine innere Lawine los, die sie bald nicht mehr aufzuhalten vermag.

Der neue Roman “Die Wahrheiten meiner Mutter”, der norwegischen Autorin Vigdis Hjorth, beschreibt den Versuch einer Annäherung, von der man bereits zu Beginn ahnt, wie sie ausgehen wird. Der beschrieben Weg ist das Ziel, welches in mit der Seitenzahl zunehmenden Erzähltempo erreicht wird. Zugleich schauen wir ins Innere der Protagonistin, deren Psychogram nach und nach Konturen bekommt, die die Figur zunächst verständig und sympathisch wirken lässt, jedoch auch das Gegenteil von der Inhaltsangabe suggerierenden Wirkung erzielen kann. Nicht nur Wahrheiten verschieben sich langsam, später immer schneller.

Im inneren Monolog sucht die Protagonistin nach Antworten, erkennt die Unüberwindbarkeit der familiären Zerrüttung nicht und greift, um zu verstehen, zu immer drastischeren Maßnahmen. Da wird observiert, verfolgt, sich in eine ausweglose Situation hinein manövriert, die Schuldfrage nur einseitig beleuchtet. Die Protagonistin wird, das ist gleich zu Beginn klar, den Wandel nicht schaffen, nicht erkennen auch, wann man aufhören sollte zu suchen.

Sehr gewöhnungsbedürftig ist dies zu lesen, zu weilen wirken einzelne Kapitel wie eisige Wasserstrahlen. Unangenehm, fast abstoßend. Kurze, kompakt geschriebene Kapitel entfalten dennoch einen Sog, den man sich nicht entziehen mag, zudem wenn das Erzähltempo selbst anzieht. Darin zu versinken ist dennoch nur in der richtigen Stimmung zu empfehlen.

Die Handlung wird konsequent auf einen Zeitraum von wenigen Wochen beschränkt, auch das kleingehaltene Figurenensemble tragen zur Dramatik bei, wenn auch bis auf die Hauptprotagonistin selbst alle anderen vergleichsweise blass gezeichnet werden.Trotzdem bilden sich schnell Gegenpole, die man zumindest lesend nachvollziehen, wenn auch nicht unbedingt gutheißen, kann, was jedoch nichts daran ändert, dass sich das anfangs geschaffene Bild der Hauptprotagonistin schnell ändert. Womit wir beim Interpretieren wären, was man ja bei Kunstwerken gerne mal macht, oberflächlicher Kulminationspunkt des beschriebenen Familienzwists. 

Im Gesamtpaket ist dies verständlich und in sich schlüssig. Grrößere Stolpersteine gibt es nicht, alleine die Art des Umgangs der Figuren miteinander ist für jemanden, der zwar in einer chaotischen und auch durchaus mal streitenden Familie lebt, nicht immer nachvollziehbar. Überraschende Wendungen sind dünn gesät, dann jedoch sehr gezielt wirken, wie auch die Rückblenden sehr wirkungsvoll gesetzt sind. Die Form kompakter Kapitel bringt zudem die Beschrnkung auf wenige Details mit sich, gerade so, dass ein inneres Bild entsteht. Auch und gerade vom Straßenzug einer skandinavischen Stadt oder der in der dortigen Natur befindlichen Waldhütte. Vigdis Hjorth zeigt hier die Stärke innere Zerissenheit, ebenso einnehmende Szenenbilder zu zeichnen.

“Die Wahrheiten meiner Mutter” ist ein sehr interessanter Roman über dysfunktionale Familienverhältnisse, zu großen Teilen schwere Kost, da es die Autorin nicht in allen Facetten uns Lesende leicht macht, die Hauptprotagonistin zu mögen. Immer wieder gibt es da Momente zum Überlegen, ob man da jetzt wirklich noch weiterlesen möchte. Ein interessantes Rezept, was jedoch in jedem Fall in Erinnerung bleiben wird. Ob im Guten oder Schlechten liegt daran, wie man sich zur Hauptfigur positioniert.

Ohne skandinavischen Mehltau, die Prise Melancholie ist hier erträglich, hat Vigdis Hjorth einen sehr ambivalenten Roman geschaffen, bei dem, alle Faktoren zusammen genommen, das Fazit schwerfällt. Rein sprachlich und handwerklich ein guter Text, damit auch mal Lob an die Übersetzerin Gabriele Haefs. Von der Handlung der Protagonistin her, so manches Mal zum Haare raufen.

Autorin:

Vigdis Hjorth wurde 1959 in Oslo geboren und ist eine norwegische Schriftstellerin. Sie studierte Ideengeschichte, Politikwissenschaften und Literatur und veröffentlichte zunächst ein Kinderbuch, lebte in Kopenhagen, Bergen, Schweiz und Frankreich. Es folgten weitere Romane, die mehrfach ausgezeichnet, übersetzt und verfilmt wurden. Sie war für den National Book Award sowie den Literaturpreis des Nordischen Ratzes nominiert.

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Tim Staffel: Südstern

Inhalt:

Vanessa ist Pharmakologin. Sie liefert Substanzen, die für Erfolg und Glück sorgen. Ihre Kunden sind Sportler, Krankenpflegerinnen und Politiker. Deniz ist Streifenpolizist. Er fährt Doppelschicht und pfelgt seinen parkinsonkranken Vater. Jeden Tag suchen Vanessa und Deniz verlorene Menschen auf, doch dann treffen sie sich. Ein zarter Großstadtroman, der danach fragt: Wie halten wir dem Druck stand? Wie wollen wir leben, und wie können wir lieben? (Klappentext)

Rezension:

Großstädtisches Leben mit all den Problemen und Herausforderungen zu erzählen, ist dem Autor Tim Staffel mit seinem neuen Roman “Südstern” gelungen, der heruntergebrochen auf wenige Figuren, den Finger in die Wunde legt. Dreh- und Angelpunkt sind die Leben der beiden im Klappentext erwähnten Hauptfiguren, die jeweils auf ihre Weise mit den immer imens werdenden Druck des gesellschaftlichen gefüges zu kämpfen haben, welches das System im Allgemeinen und das Leben im hauptstädtischen Moloch zu bieten haben.

Deniz, etwa wird zerrissen zwischen zwei Systemmängeln, sowohl der Notwendigkeit der Pflege seines Vaters, der er nicht gerecht werden kann, sowie den Personalmangel im Dienst, der ihn oft genug an Unterstützung bei heiklen Einsätzen fehlen lässt. Vanessa dagegen sorgt sich um ihren durch frühere Bundeswehr-Einsätze traumatisierten Bruder und ist inmitten einer Beziehung, in der sich ihr Partner, ein Abgeordneter und sie selbst immer mehr voneinander entfernen.

Diese Gemengenlage ist Ausgangspunkt der sehr kompakt gehaltenen Erzählung, deren zwei Stränge sich unweigerlich kreuzen werden. Auch die Großstadt ist ein Dorf. Feinfühlig zeichnet der Autor hier seine Figuren, die sich zunächst langsam umkreisen, um später nicht mehr ohne einander zu können.

Kurze prägnante Sätze kennzeichnen den Stil, abwechselnd mit detaillierter szenischer Gestaltung, die beinahe etwas filmisches hat. Bilder entstehen vor dem inneren Auge. Gerade, wer vielleicht selbst aufgerieben, lebt, erkennt wie viel Tim Staffel hier mit vergleichsweise wenigen Worten erzählt. Da wird Systemkritik verknüpft mit privatem Dilemma, eine explosive Mischung, die nur darauf wartet, sich zu entladen.

Erzählt wird ein überschaubarer Zeitraum so, dass man sich in die einzelnen Szenen, zudem in die beiden Protagonisten hineinversetzen kann. Ihre Handlungen sind nachvollziehbar, weder schwarz, noch weiß. Ihre Wege müssen grau sein, um zu bestehen. Der Autor versteht, dies gekonnt umzusetzen.

Dabei wechselt der Autor zwischen beiden Perspektiven hin und her, wobei Übergänge zum Teil fließend sind. Das führt zwangsläufig dazu, hin und wieder einmal innezuhalten, zwischen zarten Momenten voller Gefühle, Verzweiflung, Melancholie und der einen oder anderen Spitze Humor. Tim Staffel hat es vermieden, dass seine Erzählung trotz aller Ernsthaftigkeit allzu erdrückend wirkt.

Das macht es möglich, sich in die Figuren hineinzuversetzen. In irgendeiner Art und Weise kennt jeder anteilig den Druck, den nicht nur das Leben in den Großstädten heute bereithält.

Ohne größere Lücken und Sprüngen entfaltet sich hier ein Berlin-Panorama, welches ungeschönt die Lesenden in sich einsaugt, mit wenigen Worten so viel aufs Tableau bringt.

Man kann sich das alles gut vorstellen, sowohl die Figuren, als auch Szenarien und einzelne Schauplätze. Nur das Ende wird dem nicht gerecht. Während Tim Staffel für den Handlungsverlauf das richtige Maß zwischen Detailliert- und Kompaktheit gefunden hat, was der Erzählung einfach gut tut, scheint das Ende zu einfach.

Als hätte der Autor hier einen Verlagstermin unbedingt einhalten müssen und es einfach nicht mehr geschafft, die notwendige Detailarbeit seinen letzten Szenen angedeien zu lassen. Hier wäre dann doch ein wenig mehr Ausformulierung wünschenswert gewesen. Das ist jedoch Meckern auf hohem Niveau. Es geht hier schlicht und einfach um Abzug in der B-Note. Ansonsten hat man mit “Südstern” eine eindringliche Erzählung, die sich zu lesen lohnt.

Autor:

Tim Staffel wurde 1965 in Kassel geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Hörspielregisseur. Er studierte zunächst Theaterwissenschaft in Gießen und veröffentlichte seinen ersten Roman im Jahr 1998. Von 2017-2019 war er Dozent für Szenische Künste an der Universität Hildesheim, zuvor veröffentlichte er weitere Romane und schreib an mehreren Theaterstücken und Hörspielen. 1996 bekam er das Alfred-Döblin-Stipendium. Sein Roman “Südstern” steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023.

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Beliban zu Stolberg: Zweistromland

Inhalt:

Die Rechtsberaterin Dilan ist Tochter kurdischer Aleviten, die Verfolgung und Gewalt ausgesetzt waren. Doch darüber schweigen sie. Erst als ihre Mutter stirbt und sie selbst ein Kind erwartet, arbeitet Dilan gegen das unerträgliche Schweigen an: Sie reist nach Diyarbakir im Osten der Türkei. Die alte Stadt am tigris ist die heimliche Metropole der Kurden. Hier haben ihre Eltern einst gelebt, geliebt und gekämpft.

Ein poetischer und brennend aktueller Roman über politischen Mut, qualvolles Vergessen und die gefährliche Reise einer jungen Frau. (Klappentext)

Rezension:

Ein Roman zwischen Vergangenheit und Gegenwart, eine Protagonistin auf der Suche, ein Konflikt, der nicht nur das Leben der Eltern teilt und eine Sprache als Schlüssel. Dies ist “Zweistromland”, von Beliban zu Stolberg, die sich in ihrem Debüt einer Thematik von gewaltiger Sprengkraft annimmt und beinahe poetisch erzählt.

Das Ende ist der anfang. Als die Mutter stirbt, begegnet die junge Dilan einer Frau, die einen Steinen ins Rollen bringt, der sie bis in die ehemalige Heimat ihrer Eltern führen wird. Sie selbst lebt da schon in Istanbul, verwurzelt in zwei Sprachen, doch seit ihrer Kindheit weiß die Protagonistin, dass Kurdisch der schlüssel zum früheren Leben der Mutter und des Vaters gehören. Sätze, die für das Kind verschlossen und geheimnisvoll klingen. Zu Hause wird nur Türkisch und Deutsch gesprochen. Später, als Erwachsene, als sie kurz davor steht, selbst Mutter zu werden, sucht sie einen Zugang, möchte begreifen. Eine Reise beginnt, die Risse vollends sichtbar werden lässt.

Nur oberflächlich beinahe ein Roadtrip entpuppt sich der vorliegende Roman als kompaktes Familienepos, hoch politisch, voller Schmerz über das Verlorene. Unruhe hineingeschrieben in jede Zeile wird zu einem Drängen, welches Tempo in die Erzählung mit einbringt. Der Wechsel zwischen den Zeitebenen gibt der Protagonistin und der sie umgebenden Menschen Konturen. Beliban zu Stolberg versteht es, so viel wie möglich zwischen den Zeilen zu packen und auf jeder einzelnen Ebene, bewusst oder unbewusst, funktioniert das auch. Nichts wirkt dabei gestellt, fehl am Platz. Mehr als einmal kann man den Schmerz, der unzählige Familienbiografien durchziehen muss, fühlen, wo das Unaussprechliche zur drückenden Last wird, für die die nachvollgenden Generationen eine Erklärung suchen. Das Trauma der Eltern lebt in ihren Kindern weiter.

Die Geschichte wird in zwei Zeitebenen erzählt, von annähernd gleicher Tonalität immer im Wechsel. Vom Weg der Erwachsenen lesen wir, wie auch vom Kind, dass noch nicht genau umfassen kann, auf was es da stößt. Der Grundsatz, die Vergangenheit ruhen zu lassen, um das hergestellte fragile Gleichgewicht nicht zu gefährden, gerät mit der Entscheidung, in den Bus zu steigen und sich auf den Weg zu begeben, ins Abseits. Ob das gut ist, bleibt offen, so vieles in diesem Roman. Beliban zu Stolberg wertet nicht, lässt die Lesenden ein eigenes Bild vor ihren inneren Augen entstehen.

Es ist ein Roman über große Politik und ihren Auswirkungen auf die Menschen, in der die Protagonistin genügt, um selbigen vollständig auszufüllen. Die Nebenfiguren sind, rar gesät, nur impulsgebend, während Dilans Suche mit zunehmender Seitenzahl sich immer drängender gestaltet. Nicht wissend, worauf diese hinauslaufen wird. Slo stockt einem der Atem, von einzelnen Szenen muss man sich beinahe losreisen. Die Autorin, die sonst Drehbücher schreibt, hat einen Film auf Papier ausformuliert.

Wenn man die Protagonistin als Kind, sowie als Erwachsene getrennt voneinander betrachtet, kann man von mehreren Perspektiven sprechen und das reicht vollkommen aus. Immer ist da eine unterschwellige Spannung zu spüren, wie sie das Stöbern in der Vergangenheit mit sich bringt. Unbeschwerte Momente wechseln mit melancholischen, im nächsten Moment ruhelosen Handlungen. Sehr atmosphärisch wirkt das besonders, wenn Kipppunkte erzählt werden, die zu Stolbergs Figur ins Wanken bringen.

Wie liest sich der Roman wohl, wenn man einen ähnlichen Hintergrund hat? Wie die Protagonistin, wie die Autorin?

Auch so versteht sie es, in die Geschichte hineinzuziehen, auch Bilder entstehen zu lassen und schafft damit, denen eine Stimme zu verleihen, die von einer Konfliktsituation getroffen sind, direkt oder indirekt, die vom Rest der Welt vergessen, verschwiegen, unter den Teppich gekehrt wird. Man findet viel zu wenig davon.

Man braucht nicht unbedingt all zu sehr detaillierte Kenntnisse der politischen Geschichte der Türkei und des Kurdenkonflikts, Grundlagen reichen und vielleicht der eine oder ander Blick auf Kartenmaterial, welches Orte und Verteilung von Volksgruppen, Sprachen und religiösen Minderheiten zeigt. Zumindest eine geografische Karte hätte ich abgedruckt noch als I-Tüpfelchen empfunden. Vielleicht ja für eine nächste Auflage.

So oder so versinkt man in dieses gewichtige Debüt. Glaubt kaum, dass es eines ist. Spannend, was da vielleicht noch von Beliban zu Stolberg kommen wird.

Autorin:

Beliban zu Stolberg wurde 1993 in Hamburg geboren als Kind einer deutschen Mutter und eines kurdischen Vaters. Von 2015 an studierte sie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Drehbuch und wirkte an zahlreichen Kurzfilmen und Webserien mit. 2016/17 war sie Mitglied im Jungen Berliner Rat des Maxim Gorki Theaters, 2018 wurde sie mit einem Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung gefördert, nahm daraufhin an einer Autorenwerkstatt teil. Mehrere Aufenthalte in Finnland folgten, sowie 2023 eine Teilnahme an der Netflix Writing Academy. “Zweitstromland” ist ihr erster Roman.

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Sam Hume: Wundervolle Welt. Wasser

Inhalt:

Ein wunderschönes Bilderbuch mit über 100 faszinierenden Lebewesen im Wasser: vom prächtigen haarstern über den zarten Rotfeuerfisch bis zum drachenartigen Grottenolm. Unglaubliche Fakten und kleine Geschichten sorgen für Staunen. Fantastische Nahaufnahmen und stimmungsvolle illustrationen zeigen die bewohner von Flüssen, Seen und Meeren so eindrucksvoll wie nie zuvor. (Klappentext)

Rezension:

Wir Menschen glauben, unseren Planeten genau zu kennen, doch gibt es noch allerhand zu entdecken. So bringt noch heute fast jeder Tauchgang in die Unwirklichkeit der Tiefsee neue Erkenntnisse und Entdeckungen zu Tage. Auch ein Blick unter die Wasseroberfläche von Seen und Flüssen kann sich lohnen. Hier leben faszinierende und zuweilen sonderbare Lebewesen, vom winzigen Meeresplankton bis zum riesigen Pottwal, vom urzeitlich anumtenden Schlammspringer bis hin zum elektrisierenden Zitteraal.

Grund genug, einen Blick, nun ja, auf den Grund zu werfen. Mit diesem Werk der Reihe “Wundervolle Welt”, aus dem Verlag Kindersley gelingt genau das. Wunderschön illustriert und mit ausgesuchten Fotos ergänzt führt uns Sam Hume in so vielfältige wie erstaunliche Lebensräume ein, versammelt kuriose Fakten und vermittelt mit kleinen kompakt gehaltenen Texten wunderbar Wissen.

Und so sehen die Seiten aus. Farbfoto und Grafik unterstreichen kompakt gehaltene Inhalte. (Quelle: Dorling Kindersley)

Was der Verlag mit seinen bildreichen Lexika für Erwachsene schafft, gelingt mit dieser Reihe auch für eine jüngere Zielgruppe, wobei auch ältere Lesende dazu eingeladen werden, in dieses Werk zu versinken. Man kann es hintereinander weglesen, ebenso wie als Nachschlagewerk nutzen und so sich einer Thematik widmen, die immer drängender wird, je mehr auch diese Lebensräume der dort vorgestellten Tiere und Pflanzen durch uns Menschen bedroht werden.

Das Lexikon ist ein Coffee Table Buch für Kinder, die mit leuchtenden Augen entdecken wollen, nicht zuletzt dank der wunderbaren Gestaltung in seiner Gesamtheit. Abseits des schnelllebigen Internets oder atemraubender Dokumentationen gleicht dieses Werk einer vielteiligen BBC-Dokumentation. Nicht von ungefähr, der Autor hat an dem großartigen Werk “BBC – Unsere Erde” mitgewirkt.

Mit schönen Büchern Kinder und Erwachsene gleichermaßen zu begeistern, ist eine Kunst, die hier zur Perfektion getrieben wird, zudem nicht nur bekanntes Wissen vermittelt, sondern bewusst Akzente gesetzt werden. Hat man etwa vom Buntbarsch schon einmal gehört, schwimmt auch der Mondfisch durch die Seiten.

Im, am und um Wasser herum, leben faszinierende Lebewesen. Der Stirnlappenbasilisk kann übers Wasser laufen. (Quelle: Dorling Kindersley)

Die Beiträge sind in größerer Schrift gehalten und damit auch für jüngere, sowie geübte Erstlesende geeignet, die sich ernst für die Welt des Wassers begeistern können, zudem enthält jedes Kapitel jeweils ein größeres Foto und mindestens eine Illustration. Besondere Fakten werden durch einen angenehm gehaltenen Schriftartenwechsel hervorgehoben.

Zum gemeinsamen Abtauchen oder eigenständigen Erkunden laden Sam Hume, die mitwirkenden Illustratoren und Fotografen ein und setzen damit die Reihe auf qualitativ hohen Niveau fort. Einziger Kritikpunkt, das Buch ist irgendwann ausgelesen. Aber dann gibt’s ja noch die anderen Werke dieser Reihe. Zum Glück.

Autor:

Sam Hume ist ein Naturfilömer. Er studierte zunächst in Schottland Zoologie und betreute das aquarium der Universität St. Andrews. Heute lebt er in England. Dies ist sein erstes Kinderbuch.

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Florence McLean: Serienmörder – Der Mensch hinter dem Monster

Inhalt:

Wie wird ein Mensch zum Serienmörder? Und kann man diese Entwicklung stoppen? Die Psychologin Florence McLean berichtet von dem jahrelangen Briefwechsel, den sie mit einer Reihe berüchtigter Serienmörder geführt hat – unter anderem mit Jeffrey Dahmer, der die Köpfe seiner Opfer als Souvenir in der Kühltruhe aufbewahrte, und dem “Prostituiertenmörder Arthur john Shawcross.

Mithilfe von Methoden des berühmten FBI-Profilers John E. Douglas analysiert McLean Denken, Fühlen und Handeln der 34 Täter, die zusammen Hunderte Menschenleben auf dem Gewissen haben. Und sie untersucht die Möglichkeit, potenzielle Täter zu identifizieren, bevor sie den ersten Mord begehen, indem man konventionelle Profiling-Techniken neu denkt und anwendet. (Klappentext)

Rezension:

Ursprünglich war sie nur auf der Suche nach einem Thema für ihre Diplomarbeit, am Ende jedoch stand sie in Kontakt mit einigen der schlimmsten Serienverbrecher weltweit. Aus einem Land heraus, in dem der gesellschaftlichen Struktur geschuldet, vergleichsweise wenige Mordserien geschehen, schrieb die angehende dänische Psychologin Florence McLean jene an, die unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hatten.

Ihr Ziel, herauszufinden, ob es anhand verschiedener Kriterien möglich ist, diejenigen herauszufinden, die das schreckliche Potenzial haben, zum Serienmörder zu werden, noch bevor sie ihre ersten Verbrechen begehen und somit diese Personen vor sich selbst und nicht zuletzt die Gesellschaft zu schützen. Doch wie weit darf, muss man gehen, ohne das unmenschliche Abgründe einen vereinnehmen können?

In einer Mischung aus der Zusammenfassung psychologischer Studienarbeit und der Faszination, die das abgrundtief Böse auf uns einübt, so lange wir selbst nicht davon direkt betroffen sind, liest sich dieses Werk als vorsichtige Annäherung an eine Thematik, die je mehr man sich mit ihr beschäftigt, immer breiter gefächert und detaillierter gesehen werden muss, um wirksame Schlüsse daraus zu ziehen. Dabei beschreibt die Autorin ihren Werdegang in die Psychologie hinein und den Nutzen der Kommunikation mit den Schlüsselpersonen, um sie einmal als solche zu bezeichnen, ebenso was dies mit einem macht.

Die Beschäftigung und Kommunikation mit Serienmördern ist das eine, das Erstellen von Profilen und der Suche nach auslösenden Momenten, Gemeinsamkeiten und bedeutsamen Unterschieden ist das andere, kommt in dieser kompakten Form jedoch zu kurz, ebenso wie die darstellung der Briefwechsel selbst, wobei die Autorin auch klarstellt, dass alleine die Auseinandersetzung mit einer Person wie Arthur John Shawcross einen eigenen Bericht wert wäre.

Teilweise holprig formuliert, was an der Übersetzung liegen könnte, die ich nicht zu beurteilen vermag, beschreibt die Autorin sehr verdichtet ihre Schlussfolgerungen, was sich in Teilen zwar interessant liest, jedoch mehr Ausführungen bedarft hätte, zudem die Entscheidung, konzentriert man sich eher auf “Personengeschichte” oder geht vollendet in die psychologische Analyse. Florence McLean entscheidet sich nicht für einen der beiden Wege, so dass hier Chancen vertan werden und dieses kleine sachbuch allenfalls als Teaser sowohl in die eine als auch in die andere Richtung verwendet werden kann.

Interessant ist hier vor allem die Herausarbeitung der Unterschiede etwa zwischen dem Serienmordgeschehen in den USA und im flächenmäßig kleinsten aller skandinavischen Staaten und die Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse auf die reguläre Arbeit in ganz anderen psychologischen Bereichen. Wie das funktioniert ist spannend zu lesen, doch auch hier fehlen wieder Ausführungen, die anstatt Verknappung besser platziert gewesen wären.

So kann dieses Werk allenfalls Ergänzung sein oder Beginn der Beschäftigung mit dieser Thematik, zudem wäre auch eine Übertragung ihres entwickelten Modells auf andere Länder mit unterschiedlichen Kriminalstatistiken interessant gewesen. So aber bleibt nur ein Gräuseln an der Oberfläche. Die Faszination und das Interesse nimmt man Florence McLean ab, auch die fachliche Komponente. Immerhin. Reicht das jedoch, für ein Werk, was sich wirklich auch so liest wie nur ein Nebenprodukt einer fachlichen Arbeit? Entscheidet selbst.

Autorin:

Florence McLean ist eine dänische Psychologin und Autorin. Sie ist Fachärztin für klinische Psychologie, Psychotherapie und Kinderneuropsychologie und führt seit 2007 eine eigene Praxis. zuvor studierte sie Psychologie und Verhaltenswissenschaften in Aarhus und arbeitete bis 2021 u. a. in der psychologisch-pädagogischen Beratung. Sie ist Mitglied der Dänischen Gesellschaft für Psychologie.

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John Ironmonger: Der Eisbär und die Hoffnung auf morgen

Inhalt:

In dem gemütlichen Pub eines winzigen Fischerdorfes in Cornwall kommt es am Mittsommerabend zu einer folgenreichen Klimawette zwischen einem Studenten und einem Politiker. Werden bald auch die dreihundertsieben Bewohner des beschaulichen Dorfes zu spüren bekommen, wovor die Welt noch die Augen verschließt?

John Ironmonger erzählt von der dringensten Aufgabe unserer Zeit und von zwei schicksalhaft verbundenen Leben. Können aus Gegnern Verbündete werden, wenn es um unser aller Zukunft geht?
(Klappentext)

Rezension:

Fast scheint es, als ob das Genre des Klimaromans nun entgültig in die Buchhandlungen Einzug gehalten hat, ist doch die Frage, wie wir dem Wandel des Klimas begegnen, eine der drängensten unserer Zeit. Das arktische Eis schmilzt unaufhaltsam.

Die Fragen lauten nur noch, wie schnell, wie hoch wird das freigesetzte Wasser steigen und mit welchen Auswirkungen in Gang gesetzter Kettenreaktionen werden wir und künftige Generationen noch konfrontiert werden? Dies ist der gedankliche Überbau der hier vorliegenden Mischung aus Dystopie, Gesellschafts- und Politroman. Er beginnt mit einer Wette. Jene, die sie beschließen begleiten wir über ihre gesamte Lebensspanne. Wer wird am Ende Recht behalten und ist solch ein Sieg nicht gleichsam eine Niederlage?

Von Beginn an ist klar, wie die Erzählung schließen wird. Das Ende ist nicht überraschend. Spannend ist hier der Weg zum Ziel. Lesend wird man jedoch zunächst eingelullt, die Hauptprotagonisten werden vorgestellt, samt einiger sie umgebender Nebenfiguren. Die Atmosphäre des kleinen Dorfes, der als Touristenort sein Auskommen hat, ist förmlich zu greifen. Die Figuren schließt man schnell ins Herz, positioniert sich entsprechend.

Langsam kommt dann die geschichte ins Rollen, deren Handlungsfäden wir über die Jahrzehnte folgen. Zeitsprünge und Perspektivwechsel geben das Tempo vor, schließlich soll eine gesamte Lebensspanne erzählt werden. Für diese Form ist der Roman relativ kompakt, wenn auch der Autor an teilweise sehr schwülstigen Formulierungen nicht spart und mehrfach die Grenze zum Kitsch um mehr als eine Fußlänge bis ins Unglaubwürdige überschreitet. Da dies jedoch erst ab Mitte der Erzählung geschieht, kann man durchaus augenrollend darüber hinweg sehen.

So turbulent wie das Leben verläuft, so ändern sich auch die Handlungsorte der Protagonisten. Hier hat John Ironmonger ein glückliches Händchen bewiesen, diese so zu beschreiben, dass man sie sich förmlich vorstellen kann. Eben ist man noch im dörflichen Pub, dann in der Umgebung einer kargen Forschungsstation, der Unwirklichkeit unbarmherzigen Eises ausgeliefert. Mit solchen Elementen gelingt es dem Autor eine Stimmung aufzubauen, die in Sicherheit wiegend, promt die nächste Überraschung bereithält, um dann in einem anderen Moment in trügerische Stille hineinzuwechseln.

Bis auf die beiden Protagonisten, die im Verlauf der Handlung ihre Ecken und Kanten bekommen, bleiben beinahe alle, hier wiederum auch nur bis auf eine, Nebenfiguren konturlos. Ironmonger konzentriert sich zumindest hier aufs Wesentliche und tut seiner Geschichte damit einen großen Gefallen, zudem dadurch Gegensätze bereits genug ausgestaltet werden. Klar wird an einigen Stellen sehr stark überzeichnet, doch gelingen auch Verbindungen. Steckt nicht in vielen von uns der Idealismus eines Tom Horsmith, aber auch das Zögern, die Inkonsequenz eines Monty Causley?

Die Zeitsprünge sind es, die die Geschichte so besonders machen, ohne größere Lücken entstehen zu lassen. Eher sind es Handlungsmomente, die unglücklich gesetzt sind, und die Erzählung manchmal ins Stocken geraten lassen. Zu Gute halten muss man dem Autoren, dass dieser sich mit der Thematik des Klimawandels ausgiebig beschäftigt hat.

Fazit, welches man ziehen könnte, es bringt nichts den Menschen von Folgen zu erzählen, die vielleicht irgendwo andere treffen werden oder von globalen Maßnahmen zu sprechen, auf die sich ohnehin nicht die gesamte Staatengemeinschaft einigen wird.

Was bedeutet der Klimawandel für mich, für meine Umgebung, für das Land, in dem ich lebe und was kann jeder Einzelne in kleinen Schritten tun? in großen Schritten denken die wenigsten, zumal kaum Politiker, die bereits die Umfragen für die nächsten Wahlen und den nächsten Karriereschritt im Blick haben.

Dem Schreibstil hätten eine gewisse Dynamik und Tempo gut getan. So reiht sich auch dieses Werk unter vielen einen, die durchaus interessant zu lesen sind, aber schnell unter “ferner liefen” abgestellt werden können, zudem wenn man mehreres dieser Art bereits liest. Hier darf man die berechtigte Befürchtung äußern, dass der Roman untergeht, wie der vor sich hinschmelzende Eisberg. Liest man über die Thematik nicht so häufig einen Roman, hat dieser dennoch die Chance, im Gedächtnis zu bleiben.

Zu guter Letzt, die Titelfindung. Sperriger geht es kaum, zudem der Eisbär weder Auslöser noch Konsequenz ist.

Die Grundidee der Geschichte funktioniert, sowie auch die Figuren durchaus Identifikationspotential mit sich bringen, doch schießt der Autor öfter mit Formulierungen und der Ausgestaltung von Szenen übers Ziel hinaus, da helfen dann auch schöne Worte nichts. Wenn es aber hilft, den einen oder anderen, der thematische Überbau existiert ja, zum Nachdenken zu bringen, hat dieser Roman dennoch seine Berechtigung.

Autor:

John W. Ironmonger wurde 1954 in Nairobi, Kenia, geboren und ist ein britischer Schriftsteller. Zunächst studierte er Zoologie in Nottingham und Liverpool, bevor er an der Universität von Illorin, Nigeria, unterrichtete. Danach arbeitete er im Bereich der medizinischen Informatiok in Groß-Britannien. Im Jahr 1994 veröffentlichte er ein Sachbuch. 2012 folgte sein erster Roman. Seine Werke wurden mehrfach nominiert und ausgezeichnet.

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