zeitgeschichte

Bücher gegen das Vergessen #04

Bücher gegen das Vergessen sollen uns geschichtliche Ereignisse vor Augen führen, für die wir nicht unbedingt die Verantwortung tragen, aber dennoch verantwortlich sind, sie nicht zu vergessen. Abseits von Rezensionen soll hier eine Auswahl vorgestellt werden.

Takis Würger: Stella

Das Literatur heute noch großflächig wirken kann, zeigt sich immer dann, wenn wieder einmal ein Werk erscheint, welches die Emotionen kochen lässt. Nichts anderes passierte, als der Hanser Verlag den vorliegenden Roman von Takis Würger veröffentlichte. Man hätte meinen können, ein Beben wäre durch die Landschaft der gedruckten Wörter gegangen. Viele reißerische Artikel und Beiträge sind erschienen, ob der fiktionalen Verarbeitung eines grausamen historischen Geschehens.

Grundlage von “Stella” ist die Geschichte von Stella Goldschlag, die im Berlin des Nationalsozialismus durch die Gestapo gezwungen wurde, als Jüdin andere Juden aufzuspüren und sie zu verraten. Um ihre Eltern zu retten, schließlich auch, um sich selbst am Leben zu erhalten und weil sie keinen Ausweg mehr aus diesem Teufelskreis sah. Über hundert Menschen soll die echte Stella, deren Ruf als “blondes Gift” unter den sich versteckenden Juden Berlins bald die Runde machte, so verraten haben. Traurig und erschreckend zugleich.

Takis Würger “Stella”
Hanser Verlag,
221 Seiten, Hardcover,
ISBN: 978-3-446-25993-5

Was nun diesen Roman so besonders macht, ist die fiktionale Verarbeitung des schon für sich unglaublichen Stoffes, in Verbindung mit einer Liebesgeschichte. Darf man das? Die historische Wahrheit so verändern, dass man teilweise Sympathie für jemanden empfindet, der so viele Leben auf dem Gewissen hat, dass einem die Galle hochkommen müsste?

Ich war skeptisch.

Zuerst hatte ich das Buch von Peter Wyden, Sachbuch wohlgemerkt, gelesen, welches in den 1990er Jahren erschien und dann lange Zeit vergriffen war. Selbst die englische Ausgabe konnte man teilweise nur zu Mondpreisen erwerben, doch kaum hatte Takis Würger vorgelegt, stieg auch das Interesse an der Hintergrundgeschichte, so wurde das Buch im Steidl Verlag neu aufgelegt.

Abgesehen davon, dass der Verlag die Chance hat verstreichen lassen, das Sachbuch des mittlerweile verstorbenen Autoren auf der Leipziger Buchmesse parallel zu Würgers Roman vorzustellen, war dies ein erschreckend erzähltes Stück Geschichte mit der Frage, wie weit würde man gehen, wenn man seine liebsten Vertrauten und sich selbst am Leben erhalten möchte? Was tun, wenn die Grenze einmal überschritten ist?

Ich war in diese Stadt gekommen, weil ich dachte, es sei wichtig, dass ich die Gerüchte von der Wahrheit trenne, und jetzt floh ich vor ihr.

Der Hauptprotagonist in Takis Würgers Roman “Stella”.

Peter Wyden, einst Mitschüler Stellas, interviewte sie Jahre nach dem Krieg. Immer wieder ging er der Frage nach, wie passieren konnte, was nicht hätte passieren dürfen. Warum lieferte Stella so viele Juden an die Gestapo aus, selbst als die Gründe dafür wegfielen? Oder, fielen sie je ganz weg?

Peter Wyden “Stella Goldschlag – Eine wahre Geschichte”
Link zur Rezension.

Nun also, Takis Würger, der daraus einen Roman gemacht hatte und zurück zur Ausgangsfrage. Darf man das?

Inzwischen bin ich der Meinung, ja. Man darf, zumindest in dieser Form. Der Autor hat seine Geschichte um tatsächliches Geschehen gewebt. Auszüge der Prozessakten, Aussagen der Opfer von Stella Goldschlags Verrat, durchbrechen und ergänzen sichtbar die fiktionale Handlung. Wahres Geschehen gut unterscheidbar, eingewoben und auch eingeordnet. Takis Würger war so klug, ein Personenregister hintenan zu stellen, um einzuordnen, was mit den Vorbildern der Protagonisten tatsächlich geschehen ist. Auch eine Quellenangabe seiner Recherchen fehlt hier nicht.

Alle Aufregung umsonst oder vielleicht auch nicht. Das muss ein Leser für sich selbst entscheiden. Ich muss für mich ein ganzes Stück Kritik zurücknehmen, sage aber auch, dass man sich wirklich auch mit der Hintergrundgeschichte, der echten Stella Goldschlag beschäftigen sollte, wenn man sich den Roman zu Gemüte führt. Vieles wird man wiedererkennen. Vieles wird nachvollziehbarer.

Und, einiges regt zum Nachdenken an.

Inhaltsangabe des Romans

Ein junger Mann kommt 1942 nach Berlin. In einer Kunstschule trifft er eine Frau. Die beiden werden ein Paar. Eines Morgens klopft sie an seine Tür, verletzt, mit Striemen im Gesicht, und sagt: “Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt.” (Klappentext)

Über den Autor von “Stella”

Takis Würger wurde 1985 geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Nach der Schule arbeitete er als Helfer in einem Entwicklungshilfeprojekt in Peru, bevor er Volontär bei der Münchener Abendzeitung wurde und die Henri-Nannen-Schule besuchte.

Als Redakteur arbeitete er bei der Zeitschrift Der Spiegel und berichtete u.a. aus Afghanistan und der Ukraine. 2017 wurde sein erster Roman veröffentlicht. Für seine Arbeit wurde Würger mehrfach ausgezeichnet.

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Fabien Nury/Thierry Robin: The death of Stalin

The death of Stalin Book Cover
The death of Stalin Fabien Nury/Thierry Robin Splitter Verlag Erschienen am: 25.02.2018 Seiten: 144 inkl. Bonusmaterial ISBN: 978-3-96219-171-9 Übersetzer: Harald Sachse

Inhalt:

An alle Parteigenossen…

An alle Werktätigen der Sowjetunion…

Das Herz des Kampfgefährten und genialen Fortsetzers der Sache Lenins,

des weisen Führers der Kommunistischen Partei und des Sowjetvolkes, Josef Wissarionowitsch Stalin…

… hat aufgehört zu schlagen.

-Mitteilung der Partei- und Staatsführung der UdSSR vom 8. März 1953-

(Klappentext)

Rezension:

Eine komplette Biografie in Form eines Comics zu gestalten, funktioniert in den meisten Fällen schon aufgrund der Vielschichtigkeit von Ereignissen nicht und würde ein sehr ausuferndes Projekt werden, so scheiterte Thierry Robin bei dem Versuch, eine solche über keinen Geringeren als Stalin zu entwerfen.

Doch, wie ist es, eine solche auf ein bestimmtes Moment zu konzentrieren? Erzielt man damit nicht genau die gleiche, wenn nicht sogar eine bessere Wirkung?

Zusammen von Fabien Nury und Thierry Robin gestaltet, liegt hiermit “The death of Stalin” vor, die Graphic Novel, die nun den Fokus rund um die Ereignisse legt, die sich um den Tode des Massenmörders und sowjetischen Diktators Stalin abspielten.

Fein nuanciert wird dargestellt, welches Machtvakuum dieser Machtmensch bereits im Sterbebett hinterließ und welche Ränkespiele sofort nach seinem Tode begannen.

Die Autoren und Zeichner orientierten sich dabei eher lose an dem, was überliefert ist, so gab es z.B. den am Anfang dargestellten Brief der Maria Judina wirklich, doch war er nicht der Auslöser für Stalins Schlaganfall, der zum Tod führte. Dennoch ist den beiden Zeichnern ein großer Wurf gelungen.

In düsteren Farben wird der irrsinn von Macht- und Ränkespielen dargestellt, sowie die Charkterzeichnung der einzelnen Akteuere auf die Spitze getrieben. Wiedererkennungswert haben die Protagonisten. Ihre realen Vorbilder sind sofort ersichtlich.

Kalt wird es den Lesern den Rücken hinterlaufen, wenn der gefürchtete Geheimdienstchef Beria seine finsteren Pläne schmiedet und Figuren wie Chruschtchow oder Bulganin darauf reagieren müssen. Wirkliche Sympathieträger gibt es nicht, doch zeigen Nury und Robin den ganzen Irrsinn auf, den das Machtvakuum verursachte, welches sich nach Stalins Tod ergab.

Die Autoren zeigen auf, dass Stalins Terrorregime weitreichende Folgen hatte, noch über den Tod hinaus, mit den Folgen zu kämpfen hatte. Das Chaos, welches der große Terror hinterließ, wenn es um die Suche nach geeigneten Ärzten etwa ging oder selbst vor Stalins erwachssenen Kindern nicht haltmachte.

In diesem Sinne kann man Thierry und Nury nur Respekt zeugen, sich auf wichtige Details dieser geschichtlichen Ereignisse zu konzentrieren. Vielleicht ist nicht alles den tatsächlichen Begebenheiten zu hundert Prozent angeglichen, sofern überhaupt überliefert, aber so hätte es sein können. Der Geist des Geschehens kommt in jedem Fall rüber.

Ausgesprochen gut zeigen die Autoren, was Macht mit den Menschen macht, besonders aber die abhängigkeiten udn Rivlitäten der Führungsfiguren, die in den Zeichnungen einen realen Wiedererkennungswert besitzen.

Es fällt leicht, dem zu folgen, selbst, wenn man sich bisher kaum mit den geschichtlichen Werdegängen beschäftigt hat. Alleine, um die Atmosphäre aufzunehmen, genügen bereits ein paar Seiten.

Die Zusammenarbeit von Robin und Nury hat hier zu einer gelungenen Mischung geführt, diese wiederum zu einer interessanten und packenden Graphic Novel, die es in sich hat.

Geschichte kann eben spannend sein. Besonders, wenn sie so erzählt wird.

Autoren/Zeichner:

Fabien Nury wurde 1976 geboren und ist ein französischer Comicautor. Zeichnungen von Kurzgeschichten erschienen in mehreren Magazinen, bevor er sich auf historische Erzählungen spezialisierte. Er prägte dabei das biografische Comic. Seine Werke wurden mehrfach ausgestellt und ausgezeichnet.

Thierry Robin wurde 1958 geboren, ist ebenfalls Comicautor und zeichnete bereits Weihnachtsbriefmarken für die französische Post. Sein Werk wurde 1990 erstmals ausgestellt, was ihm die Türen zum Verlagswesen öffnete. Zusammen mit Nury veröffentlichte mehrere historische Graphic Novels.

Film-Adaption:

Hervorrragend auch die Film-Adaption von 2018.

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Bücher gegen das Vergessen #03

Bücher gegen das Vergessen sollen uns geschichtliche Ereignisse vor Augen führen, für die wir nicht unbedingt die Verantwortung tragen, aber dennoch verantwortlich sind, sie nicht zu vergessen. Abseits von Rezensionen soll hier eine Auswahl vorgestellt werden.

Bisher in dieser Rubrik erschienen:

Der Sohn des letzten Zaren

In einer kalten und klaren Nacht wurde einer einstmals mächtigen Dynastie ein blutiges Ende bereitet. Über dreihundert Jahre Herrschaft der Romanows über das Russische Reich waren entgültig vorbei, als ein Todeskommando den ehemaligen Zaren und seine Familie ermordete. Viele Jahrzehnte später erst sollte feststehen, dass abseits von Legendenbildung niemand die Nacht zum 17. Juli 1918 überlebt hatte.

Elisabeth Heresch “Alexej, der Sohn des letzten Zaren”
Seiten: 416, erschienen bei Langen-Müller, ISBN: 978-3-7844-2587-0

Viel ist bereits darüber geschrieben wurden. Zahlreiche Historiker haben analysiert, warum die glanzvolle Herrschaft der Romanows innerhalb von wenigen Jahren zu Staub zerfiel und weshalb ihr letzter Vertreter Nikolaus II. an einem System, dessen oberster Vertreter er war, scheiterte und nicht zuletzt auch an sich selbst. Bemerkenswert, auch die Personen in seinem Umkreis. Stolypin, einer seiner fähigsten Minister. Rasputin, Mönch und Wanderprediger, der Einfluss auf Nikolaus’ Frau Alexandra nahm und seinen Teil dazu beitrug, das fragile Kartenhaus zu Fall zu bringen.

Die tragischste Figur ist gleichwohl eine andere. Alexej, das jüngste Kind des Zaren, einziger Sohn und Thronfolger. Bei seiner Ermordung gerade einmal 13 Jahre alt. Gebeutelt vom Schicksal, lebte er mit der von der Familie der Zarin ererbten Bluterkrankheit quasi ständig am Rande des Todes. Kleinste Verletzungen konnten Schlimmes bedeuten.

Die Medizin war, gerade auf diesem Gebiet, noch nicht so weit und so war der Junge der ständigen Bedrohung einer Prellung, einer Blutung oder anderer Verletzungen ausgesetzt, die besonders seiner Mutter zu schaffen machten. Rasputin, dessen Einfluss auf Zarin und nicht zuletzt dem Zaren selbst als Folge und alles, was danach kam, ist bekannt.

Wenn Sie mich töten wollen, sollen sie es nur tun – wenn sie mich nur nicht lange quälen.

Alexej Nikolaiewitsch Romanow, 1918.

Die Historikerin Elisabeth Heresch, die sich lange Zeit mit den letzten Romanows beschäftigte, konzentrierte sich in einer ihrer Arbeiten auch auf Alexej, der nur den Fehler hatte, Sohn des letzten Zaren zu sein. Davon abgesehen wollte er “so sein, wie alle anderen Kinder”, auch. Wer hätte es ihm verdenken können? Die Autorin zeichnet ein vielschichtiges Bild eines Jungen, von den man sich unwillkürlich fragt, wie ein Russland unter seiner Herrschaft hätte aussehen können? Oder, wäre er nicht an den gleichen Problemen gescheitert, wie sein Vater?

Herresch begibt sich nicht in Spekulationen, zeichnet dafür das Bild nach, wie es für Alexej war, am Zarenhof aufzuwachsen, als Thronfolger auf die Aufgaben eines Herrschers vorbereitet zu werden und eine Kindheit in Angesicht eines Krieges zu verbringen. Herauskommt das Bild eines sensiblen und intelligenten, launischen, gerne lebhaften Jungen. Ein Portrait, welches sich zu lesen lohnt.

Weiterführende Links:

Alexej Nikolaijewitsch Romanow, Biografie

Ermordung der Zarenfamilie

Die letzten Tage // Zehn Fakten zum Zarenmord

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Simon Schwartz: IKON

IKON Book Cover
IKON Simon Schwartz Avant Verlag Erschienen am: 01.03.2018 Seiten: 216 ISBN: 978-3-945034-79-8

Inhalt:

IKON folgt dem Russen Gleb Botkin, der als Sohn des Leibarztes des russischen Zaren die Oktoberrevolution miterlebt und dabei seine engste Vertraute verliert – die Zarentochter Anastasia.

Jahre später, im amerikanischen Exil, trifft der spirituell entwurzelte Ikonenmaler Botkin eine psychisch kranke Frau, die vorgibt, seine verlorene Anastasia zu sein und Anspruch auf den russischen Thron erhebt. Botkin, der sein ganzes Seelenheil auf diese tragische Gestalt projiziert, verliert erneut den Halt und verschreibt sich mit Leib und Seele seiner wiedergefundenen Ikone.

IKON ist eine – auf wahren Begebenheiten basierende – Erzählung über Verlust, Projektion und die Liebe zweier verlorener Seelen, die von der Brutalität des 20. Jahrhunderts gezeichnet wurden. (Klappentext)

Rezension:

Die Geschichte der Anna Anderson, die unter mysteriösen Umständen in einer Berliner Heilanstalt in den 1920er Jahren auftauchte und Anspruch darauf erhob, eine der Töchter des letzten Zaren von Russland zu sein, ist bekannt und bereits Stoff für zahlreiche filmische und nicht zuletzt literarische Umsetzungen gewesen.

Zu schön um wahr zu sein ist es doch, einem grausamen Massaker, wie durch ein Wunder, entkommen zu sein und damit um Stellung und nicht zuletzt einem unvergleichlichen Vermögen, wenn auch kaum greifbar, zu kämpfen.

Doch, lässt sich eine Geschichte, die sich über einen Zeitraum von Jahrzehnten abspielte und mindestens die Wucht eines Krimis auf vielerlei Ebenen hatte, wirklich in Form einer Graphic Novel erzählen?

Die Umsetzung einer komplexen Thematik in Comic.Form ist bereits mehreren Zeichnern gut gelungen. Die Graphic Novel um Anne Frank etwa gehört wohl dazu und auch die mehrteilige Kindheits- und Jugendbiografie des Charlie-Hebdo-Zeichners Riad Sattouf “Der Araber von morgen” kann man da nennen. Wie steht es also um “IKON”, in der Simon Schwartz die Geschichte des Russen Gleb Botkin und des Mythos Anastasia erzählt?

Zunächst ist auffällig der grobe Zeichenstil, der in Schwarz-Weiss diese atemraubende Geschichte versucht, zu verbildlichen. Bewusst ist hier vom Versuch die Rede, denn nur schwer gewöhnt man sich an die unruhigen Zeichnungen, die im zusammenhang mit der sprunghaften Erzählweise eine Konzentration abverlangen, die man wohl kaum bei einer Graphic Novel voraussetzen darf.

Zudem wechseln sich hier Zeitebenen nach nur wenigen Seiten ab, Handlungsstränge, die sich nur schwer zusammenführen lassen, zumal für ungeübte Leser. Vorkenntnisse um die Ereignisse des Lebens der letzten Zarenfamilie, der Mordnacht in Jekaterinburg 1918 und nicht zuletzt um Anastasia/Anna Anderson selbst, sind unbedingt von Nöten, möchte man sich auf die Graphic Novel auch nur halbwegs einlassen.

Wer will, erfährt so einiges über die russisch-orthodoxe Religion, die Bedeutung und Werdung von Ikonen, versteht die Anspielungen, die Simon Schwarz hier durchaus gelungen eingebracht hat. Das funktioniert jedoch nur bei denen, die nicht gerade Einsteiger in diese Thematik sind.

In der Graphic Novel nachempfunden. Gleb Botkin zeichnet für die Zarenkinder.
Quelle: Simon Schwartz, IKON, Avant Verlag.

Die Zeichnungen Gleb Botkins für die Zarenkinder gab es wirklich, sahen auch so ähnlich aus, wie sie der Protagonist in mehreren Szenen zu Papier bringt, auch hält sich der Autor strickt an die Historie und erliegt nicht der Versuchung, dem schon aufgeklärten aber immer noch an manchen Stellen gepflegten Mythos um Anastasia neue Nahrung zu verschaffen.

Wenn man jedoch dieses Vorwissen nicht hat, fällt es trotz der nachstehenden Erläuterungen schwer, in die Geschichte einzutauchen und sich auch darauf einzulassen.

Prägnant ist der erdrückend wuchtig wirkende Zeichenstil.
Quelle: Simon Schwartz, IKON, Avant Verlag.

Zu wuchtig, zu eigenwillig wirken sämtliche Protagonisten, was am Zeichenstil einerseits liegt, von den ständigen Zeitsprüngen mal gar nicht zu reden, andererseits auch und besonders an einer Überbetonung von Charakterzügen. Das funktioniert vielleicht auf einer Theaterbühne, damit’s dann auch der Zuschauer in der hintersten Reihe mitbekommt, hier aber allzu aufdringlich und abstoßend wirkt.

Wer sich wirklich mit der Tragik der Familie des letzten Zaren beschäftigen wollte, noch keine Berührungspunkte mit der Thematik hat, sollte besser zu Simon Sebag-Montefoire oder Elisabeth Heresch (“Alexej, der Sohn des letzten Zaren”) greifen, die beiderseits hervorragende und verständlich zu lesende Sachbücher darüber verfasst haben. Damit ist Interessierten und Kennern eher gedient.

Mittels eines DNA-Tests konnte Jahrzehnte später zweifelsfrei festgestellt werden, dass es sich bei Anna Anderson nicht um die Zarentochter Anastasia handelte.

Simon Schwartz über richtige und falsche Ikonen.

Nebenbei erfährt der Leser etwas über russische Orthodoxie und die Entstehung von Ikonen.
Quelle: Simon Schwartz, IKON, Avant Verlag.

Zeichner:

Simon Schwartz wurde 1982 geboren und ist ein deutscher Comiczeichner, Autor und Illustrator. Nach dem Abitur arbeitete er im Mosaik Verlag und studierte von 2004-2009 Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg.

Für verschiedene Tageszeitungen verfasst er reegelmäßig Comic-Strips und veröffentlichte 2009 seinen ersten comic-Roman. Für Wände mehrerer Gedenkstätten zeichnete er die Vorlagen. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet.

Weiterführende Links und Literatur:

Ein anderer Blog: MonerlS bunte Welt

Simon Sebag-Montefoire: Die Romanows

Douglas Smith: Rasputin – Und die Erde wird zittern

Wikipedia: Die Ermordung der Zarenfamilie

Das Ipatjew-Haus / 10 Fakten / Wikipedia: Anna Anderson

Wikipedia: Anastasia Nikolajewna Romanowa

Helen Rappaport: The Romanov Royal Matyrs (Book Trailer)

Empfehlenswerte Verfilmung:

“Nikolaus & Alexandra”, Spielfilm von 1971, bassierend auf Robert K. Massies gleichnamigen Buch. Sehr nah am Biografischen. Länge: 181 Minuten.

Vielleicht schreibe ich doch mal ein Special zu verschiedenen Verfilmungen und anderen Büchern? Da gibt’s mehrere sehr interessante Umsetzungen.

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Bücher gegen das Vergessen #02

Bücher gegen das Vergessen sollen uns geschichtliche Ereignisse vor Augen führen, für die wir nicht unbedingt die Verantwortung tragen, aber dennoch verantwortlich sind, sie nicht zu vergessen. Abseits von Rezensionen soll hier eine Auswahl vorgestellt werden.

Bisher in dieser Rubrik erschienen:

#01: Die Tagebücher des Petr Ginz

[Einklappen]

Kressmann Taylor “Adressat unbekannt”

Es sind nur ein paar Briefe, auf denen diese kleine Novelle beruht und doch traf die Autorin einen Nerv bei ihrem Lesepublikum, als ihre Geschichte als Fortsetzungsreihe 1938 veröffentlichte. Unter Pseudonym in der Zeitschrift “Story” publiziert, erzählt Kathrine Taylor in Form eines Briefwechsels vom Zerbrechen einer Freundschaft aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933.

Wenige Seiten sind es, nicht einmal 60, auf denen ein Strudel von Ereignissen sich abspielt. Zunächst ist da die Freundschaft zweier, die zusammen eine kleine Kunstgalerie in San Francisco gründeten und nun getrennt voneinander leben. Der Eine, seiner Familie zu Liebe in Deutschland, macht nun in der Stadtverwaltung von München Karriere. Martins Freund dagegen, Max, leitet nun alleine die Galerie.

Meine Ausgabe ist eine bei Rowohlt erschienene Taschenbuchausgabe.

Verlinkt ist die aktuell verfügbare.

Sprengstoff tut sich auf. Max ist jüdischer Abstammung und nimmt die aus Deutschland kommenden Berichte mit Sorge auf. Er hakt bei seinem Freund nach, der zunächst beschwichtigt, jedoch immer mehr der grausamen Ideologie der Nazis verfällt. Natürlich muss die Freundschaft zuerbrechen, natürlich macht die Politik auch nicht vor Max’ Familie in Deutschland halt. Natürlich macht sich Martin schuldig.

Die kleine Novelle besteht nur aus diesen Briefen, die man in sich aufnimmt und immer hilfloser Zeile für Zeile liest. Kressmann Taylor reißt ihre Leser, gleichsam wie ihre beiden Protagonisten, in den Abgrund. Der wahre Hintergrund ist es, der diese Geschichte so grausam werden lässt. Die Nazis hatten das Büchlein in Deutschland wohlweißlich verboten.

Im Jahr 1995, anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung der Vernichtungslager wurde die Novelle, von der nicht viel mehr verraten werden kann, nicht verraten werden darf, wieder aufgelegt. Diesmal in mehr als fünfzehn Sprachen. Es ist eines dieser Bücher, die so ganz unscheinbar sind, von denen man sich angesichts ihrer Dichte nicht viel erhofft, die einem dann jedoch umhauen und nicht mehr loslassen.

Wie viele Freundschaften mögen auf ähnliche Art und Weise zerstört worden sein? Wie erging es den Menschen, die hinter den Briefen steckten, die die Vorlage für diesen erschütternden Roman bildeten? Zumindest von einem der Protagonisten kann man das Schicksal erahnen. Dessen Brief kam mit dem Stempel “Adressat unbekannt” zurück.

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Jeremy Dronfield: Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte Book Cover
Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte Autor: Jeremy Dronfield Droemer Erschienen am: 30.12.2020 Seiten: 460 ISBN: 978-3-426-27804-8 Übersetzerin: Ulrike Strerath-Bolz

Inhalt:
Wien, 1938. Gustav Kleinmann und sein Sohn Fritz werden von den Nazis verhaftet, weil sie Juden sind. Im Konzentrations-lager Buchenwald beginnt für beide eine unvorstellbare Tortur, die mehrere Jahre dauern wird.

Doch der Liebe und dem Vertrauen zwischen Vater und Sohn kann die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie nichts anhaben: Als Gustav nach Auschwitz deportiert wird, beschließt Fritz, ihm zu folgen…

Aus nächster Nähe erzählt Jeremy Dronfield die erschütternde Geschichte zweier Holocaustüberlebender: von Hunger, Misshandlungen und ständiger Todesangst – aber auch von Freundschaft, Solidarität und tiefster Menschlichkeit im Angesicht des Unmenschlichen. (Klappentext)

Rezension:

Viel ist schon über den Holocaust, das größte Verbrechen der Menschheit, geschrieben wurden. Zahlreiche Erinnerungen wurden niedergeschrieben, Interviews veröffentlicht. Überall in Europa wird an die sechs Millionen Menschen erinnert, die den grausamen Terrorregime der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.

Braucht es da noch eine weitere Veröffentlichung? Eine weitere Erinnerung, die für die Nachwelt aufbereitet und verbreitet wird? Beispiele wie der Anschlag in Halle und die immer noch schwelende Diskriminierung von zu vielen zeigen, dass dies notwendig ist.

Jeremy Dronfield hat nun die Erinnerungen von einer weiteren Familie ausformuliert, so dass auch diese nicht in Vergessenheit gerät. Der anerkannte Geschichtswissenschaftler führte Interviews mit Kurt Kleinmann, dessen Wiener Familie 1938 nach der Besetzung Österreichs ins Visir der Nazis geriet, sichtete Briefe und durchsuchte Archive.

Heraus kam ein erschütterndes Porträt. In der Form eines literarischen Sachbuchs hält sich der Autor streng an Fakten, konstruiert Begebenheiten und Gespräche anhand von Briefen und tagebucheinträgen, lässt so Kurts Geschwister, vor allem seinem älteren Bruder Fritz, Hauptprotagonist des Buches, wieder lebendig werden, sowie seinen Vater, der es schaffte, seinen Optimismus selbst in dunkelster Zeit beizubehalten.

Klatsch – er liegt auf allen Vieren,
doch der Hund will nicht krepieren!

Gustav Kleinmann

Erzählt wird praktisch aus der Vogelperspektive den einzelnen Lebenslinien der Familienmitglieder nach. Die eine Schwester schafft es etwa nach England, das jüngste Kind Kurt entkommt den Häschern nach Amerika.

Besonders beeindruckend jedoch die gemeinsame Geschichte von Fritz und Gustav, die in Angesicht des Todes zusammenhalten. Fortwährend. Erschütternd, wie in aller Ausführlichkeit das Leid der Lebenden beschrieben wird. Zeile für Zeile immer näher an den Abgrund heran.

Am Anfang hatten sie stehen müssen, aber nach ein paar Tagen waren so viele von ihnen vor Kälte gestorben, dass man sich setzen konnte. Die Leichen wurden am Ende des Waggons aufgestapelt, ihre Kleidung wurde verteilt, um die Lebenden zu wärmen.

Jeremy Dronfield “Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte”

Kaum auszuhalten ist das. Man möchte vor Verzweiflung aufschreien. Unvorstellbar das Leid, welches Menschen anderen Menschen antun können.

Gerade dies hat der Autor sehr schön herausgearbeitet, lässt jedoch ebenso seine Leser an die Momente der Menschlichkeiten in Zeiten des Terrors teilhaben, die den Haupt- und anderen Protagonisten zuteil werden, die ihnen half durchzuhalten. Nachdenklich wirken Schreib- und Erzählstil, durch wenige Fotos ergänzt.

Mahnend, dass sich so etwas nie wiederholen darf.

Bitte, unbedingt lesen.

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Christian Goeschel: Mussolini und Hitler

Mussolini und Hitler - Die Inszenierung einer faschistischen Allianz Book Cover
Mussolini und Hitler – Die Inszenierung einer faschistischen Allianz Christian Goeschel Rezensionsexemplar/Sachbuch Suhrkamp Hardcover Seiten: 476 ISBN: 978-3-518-42891-7

Inhalt:
Öfter als jedes andere Duo westlicher Staatschefs jener Zeit trafen sich Mussolini und Hitler, die Diktatoren an der Spitze Italiens und des Deutschen Reichs.

Die Inszenierung der Freundschaft sollte nach außen Einheit und Macht demonstrieren, nach innen Volksnähe vermitteln, doch war sie nur wenig mehr als ein Zweckbündnis, welches sich verselbstständigte.

Beide Männer konnten sich persönlich nicht leiden, waren zunehmend aneinander gebunden, stürzten schließlich Europa und sich selbst in den Abgrund.

Christian Goeschel analysiert die choreographierte Diktatorenfreundschaft im Zeitalter der Massenmedien und zeigt, was geschehen kann, wenn in der Politik Performance und Macht miteinander verschmelzen. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Kaum ein Ereignis hat in Folge seiner Aufarbeitung so viel Literatur hervorgebracht, wie die größte aller Katastrophen unserer Geschichte.

Um so schwieriger ist es, einen neuen Ansichtspunkt zu finden, der die Betrachtung lohnt, doch ein Blick in die Archive, in private und öffentliche Korrespondenzen fördert auch heute noch Interessantes und Erschreckendes zu Tage.

Der Historiker Christian Goeschel hat einen solchen Ansatz zu einer an sich bekannten Thematik gefunden. Ergebnis seiner Recherchen ist vorliegendes Werk.

Kein anderer Krieg war so zerstörerisch und so mörderisch, wie dieser. Als Europa in Trümmern lag, hatte dieser Millionen von Menschen das Leben gekostet. Heraufbeschworen hatten ihn Diktatoren, in deren Ländern der Weltenbrand, den sie einst ausgelöst hatten, nach sechs Jahren zurückkehrte.

Einer der Männer wurde erschossen und seine Leiche in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt, der andere entzog sich der Verantwortung durch Selbstmord. Doch, wie konnte die Allianz von Hitler und Mussolini, die eine Freundschaft inszenierten, die es so nie gab, einen Kontinent in den Abgrund stürzen?

Welche Rolle spielten persönliche Sympathien, welche die Vorurteile der Diktatoren für dieses Bündnis, welches sich schnell außerhalb der Kontrolle beider verselbstständigen sollte?

In diesem Sachbuch stellt der Historiker Goeschel die Entwicklung eines Bündnisses dar, welches durch erstaunlich dünne Fäden zusammengehalten wurde.

Er analysiert die Gründe, welche die Diktatoren aneinander banden und gemeinsam in den Abgrund stürzten, wie auch sie ihre Länder und die halbe Welt in Schutt und Asche legten. Kühle Analyse trifft hier auf Logik, so dass die Thematik selbst dann zugänglich wird, wenn man sich nur rudimentär für diesen Teil der Geschichte interessiert.

Dennoch bekommt man durch die Lektüre eine Fülle von neuen Informationen oder anderen Blickwinkeln, die sich dann eröffnen.

Christian Goeschel weiß zu interessieren, beschränkt sich jedoch auf’s Wesentliche. Daran sollte man denken, wenn die unzähligen Treffen von Mussolini und Hitler in ihrer Ausführlichkeit detailliert beschrieben werden.

Gefühlt gibt dies Längen in der Lektüre, die jedoch die Komplexität der sich verselbstständigten Dynamik zweier Diktatoren aufzeigt und folgerichtig darstellt. Die Kapitel sind logisch gegliedert. Ein Bildteil dient der Veranschaulichung.

Grundlage bildet eine umfangreiche Recherche, wie das Quellenmaterial erschließen lässt und die Zusammenarbeit, der Austausch mit anderen renomierten Historikern. Diese trugen ungemein zum Gelingen bei.

Hitler und Mussolini im Hinblick ihrer inszenierten Freundschaft, die sich als Bild in den Köpfen der Menschen verselbstständigte und die Dynamik der daraus folgenden Prozesse, deren tödliche Spur sie noch gewollt verstärkten. Eine sehr interessante Analyse.

Autor:
Christian Goeschel wurde 1978 geboren und ist Historiker. Er lehrt an der Universität Manchester und forscht über Interaktion zwischen Politik, Kultur und Gesellschaft in der jüngeren Geschichte.

Zu seinem bemerkenswerten Arbeiten gehört die im Jahre 2011 erschiene Ausarbeitung “Selbstmord im Dritten Reich”. Er unterrichtet Europäische Geschichte.

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Claudia Weber: Der Pakt

Der Pakt Book Cover
Der Pakt Claudia Weber C.H. Beck Erschienen am: 18.07.2019 Seiten: 276 ISBN: 978-3-406-73531-8

Inhalt:
Im Zweiten Weltkrieg waren Nazideutschland und die Sowjetunion nicht nur erbitterte Gegner, sondern vorübergehend auch Verbündete.

Der Pakt war mehr als das politische Zweckbündnis, das Hitlers Überfall auf Polen erlaubte und den Krieg für die Sowjetunion hinauszögerte. Seine Wirkung blieb nicht nur auf Osteuropa beschränkt, auch wenn beide Mächte ihren Gewaltfuror dort entfesselten. Claudia Weber zeichnet nach, wie Hitler und Stalin einen ganzen Kontinent in weniger als zwei Jahren ins Verderben stürzten. (Klappentext)

Rezension:
Monate vor Kriegsbeginn horchte die Welt auf. Neben den offiziellen Meldungen machten Gerüchte die Runde. unglaublich und unerklärlich für die Völker Europas nicht zuletzt auch für die Deutschen und die Russen selbst.

Deren oberste politische Führungen, die sich ideologisch diametral gegenüber standen, gingen zum handschlag über und hatten einen Pakt geschlossen, den sich niemand ob der vergangenen feindlichen Rhetorik und entgegengesetzten Weltanschauungen erklären konnte. Was also, steckte dahinter?

Claudia Weber begibt sich auf Spurensuche in politischen und privaten Archiven, zwischen Moskau und Berlin. Die Professorin für Zeitgeschichte rekonstruiert die Ereignisse, die dem Schlimmsten aller Kriege vorausgingen, den es je gegeben hat.

Das vorliegende Werk ist das Ergebnis ihrer unermüdlichen Recherchearbeit, die dennoch nicht alle Geheimnisse aufdecken konnte. “Der Pakt”, zeigt dennoch auf, wie zwei Diktatoren Europa unter sich aufteilten und für Jahre in den Abgrund stürzten.

Im C.H. Beck Verlag erschienen, der sich hiermit wieder einmal der Aufarbeitung eines geschichtlichen Kapitels verdient gemacht hat, zeigt Claudia Weber auf, wie und warum die Bestandteile des Hitler-Stalin-Paktes beschlossen wurden, welche Gespräche und Überlegungen dem vorausgingen, welchen Nutzen und Vorteile sich die beiden Vertragspartner davon versprachen.

Die Historikerin zeigt, dass es hierbei nicht nur um die Aufteilung eines Kontinents ging, sondern auch um intensive wirtschaftliche Beziehungen, fernab aller Ideologien und strategischen Überlegungen.

Detalliert werden hier Konsultationen zwischen Deutschen und Sowjets geschildert, sowie die Interpretation ihrer direkten und indirekten Nachbarn, etwa den Polen oder den Briten.

Diese Ausgewogenheit ist notwendig zur zeitlichen Einordnung, gleichzeitig sehe ich einige Formulierungen, so wie sie zwischen den Buchdeckeln geschrieben stehen, kritisch, lenken sie doch die Sympathie manchmal auf die falsche Seite. Größtenteils gelingt es der Autorin jedoch, neutral zu sein, so dass dies nicht allzu sehr ins Gewicht fällt.

Kurzweilig und spannend wie ein Krimi liest sich die Historie zwischen den “two evils”, wie der damalige britische Premier Winston Churchill die Diktoratoren Hitler und Stalin bezeichnete, ihrem Streben nach Macht, Einfluss und territorialen Gewinnen, die Europa auf Jahrzehnte hinaus verändern sollten.

Insbesondere die von beiden Ländern vorab geknüpften, jedoch selten besprochenen, wirtschaftlichen Beziehungen werden hier haarscharf analysiert.

Aufgelockert durch zahlreiche Fotografien und Einbindung noch nicht zu häufig genutzten Quellenmaterials kann dieses Werk als Ergänzung und Vertiefung der Materie genutzt werden, zumal auch das Vertragsprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes selbst mit eingebunden ist, wie auch das geheime Zusatzdokument.

Claudia Weber schildert eindrucksvoll dieses Ereignis, welches dem Weltenbrand vorausging, der unmittelbare Folge davon zwingend sein musste. Trotz Abstrichen in manchen Formulierungen, sehr informativ geschrieben, empfehlenswert zu lesen.

Autorin:
Claudia Weber wurde 1969 geboren und ist eine deutsche Historikerin. Seit 2014 ist sie Professorin für Europäische Zeitgeschichte in Frankfurt/Oder. Zunächst studierte sie Lehramt in Leipzig, danach Südslavistik, Politik- und Osteuropawissenschaften.

Nach mehreren Zwischenstationen sind ihre Forschungsschwerpunkte die Gewalt- und Diktaturengeschichte des 20. Jahrhunderts, die Kulturgeschichte des Kalten Krieges, sowie die vergleichende Imperiengeschichte. Sie veröffentlicht reglmäßig Beiträge in nationalen und internationalen Fachzeitschriften.

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Hans Richard Fischer: Unter den Armen und Elenden Berlins

Unter den Armen und Elenden Berlins Book Cover
Unter den Armen und Elenden Berlins Hans Richard Fischer Verlag: Walde+Graf Seiten: 128 Hardcover ISBN: 978-3-946896-44-9

Inhalt:
Ende des 19. Jahrhunderts sorgte ein schmales Büchlein für Aufsehen unter der bevölkerung. darin beschrieben, das Leben der untersten Schichten der Berliner Bevölkerung, der Ärmsten der Armen.

Ein junger Journalist erkundet verdeckt das Obdachlosenasyl, besichtigt Waisen- und Siechenhäuser, schreibt darüber beinahe wertfrei und begründet einen neuen Reportagestil, wie es ihn vorher noch nicht gegeben hat. Hans Richard Fischer lenkte damit das Interesse der Öffentlichkeit auf die Menschen am Rande der Gesellschaft. Nun wurde sein Buch wieder neu aufgelegt. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Jede neue Sozialstudie warnt heute davor, dass die sprichwörtliche Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander klappt, und das in einem so reichen Land, wie Deutschland.

Um so beeindruckender, um so wichtiger sind Dokumente, wie dieses Werk, welchs, so unscheinbar daher kommt und um so größer der Verdienst eines kleinen Verlages, der es sich getraut, den sprichwörtlichen Finger in die Wunde zu legen.

In einfachen, fast schmucklosen Einband wird den Lesern hier “Unter den Armen und Elenden Berlins – Streifzüge durch die Tiefen einer Weltstadt” vorgelegt, der genau das ist, was der Titel verrät. Eine investigative Reportagereihe, die es in sich hat und es schon einmal gab.

Das Buch selbst, sorgte 1887 für Aufsehen, als Deutschland noch ein Kaiserreich war und sich inmitten der Industrialisierung befand. Mit all seinen Auswirkungen für die Ober-, die Mittelschicht, getragen auf den Rücken der Ärmsten der Bevölkerung.

Über diese wollte der Journalist Hans Richard Fischer berichten, seinen Lesern die Augen für die jenigen öffnen, die ganz am Rande der gesellschaft standen. Er tat dies beinahe wertfrei, behutsam und mit den Blick für besondere Momente, begründete damit einen unpolitischen und unaufgeregten Reportagestil, wie man ihn sich heute oft genug wünschen würde, der jedoch nur von wenigen Journalisten beherrscht wird.

Kurzweilig sind seine Reportagen, trotz der zeitlichen Distanz immer noch gut zu lesen. Ergänzt werden sie durch vom Verlag ergänzte Fußnoten, die den heutigen Lesern es erleichtern, den Ausführungen des Autoren zu folgen. der Streifzug durch Berlin ist auch in heutiger zeit nachvollziehbar, das beschriebene Elend erschreckend nah geschildert, ohne die unfreiwilligen Protagonisten vorzuführen.

Natürlich, das Frauenbild von Fischer ist nicht modern im heutigen Sinne, jedoch gefälliger als das der meisten seiner Zeitgenossen und so ist die Neuauflage vor allem als eindrückliches zeithistorisches Dokument zu verstehen, welches leicht die Zustände der Unterschichten Berlins zu Zeiten der Industrialisierung vor Augen führt.

Was bleibt ist ein geschärfter Blick auf das, was damals schon für die Ärmsten der Armen getan wurde und wie froh wir heutzutage sein können, über das soziale netz, welches auch durch solche aufmerksamen Reportagen mit geschaffen wurde.

Die Neuauflage zeigt aber auch die Wirkung eines ruhigen Reportagestils, der heute wahrscheinlich vielfach im Geschrei der Revolverblätter untergehen würde, den sich heute nur noch die großen Zeitungen und Zeitschriften erlauben können, es jedoch viel zu selten tun.

Nicht zuletzt ist “Unter den Armen und Elenden Berlins” ein zustandsbericht aus vergangener Zeit, welches sonst in Vergessenheit geraten wäre und alleine deshalb schon lesenswert ist. So weit entfernt von den Dramen und Ängsten der Ärmsten heute, ist es schließlich nicht.

Autor:
Hans Richard Fischer wurde 1863 geboren und war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Selbst als Waise in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, schrieb er später für verschiedene Zeitungen über die ärmlichen Verhältnisse Berliner Bevölkerungsschichten und begründete dabei einen, damals völlig neuen, investigativen Reportagestil.

Drei Bücher veröffentlichte er, gefüllt mit den Inhalten seiner Zeitungsartikel, die er u.a. für den Hannoverschen Kurier und den Westfälischen Anzeiger schrieb. Als Chefredakteur leitete er einige Zeit die Westfälischen Volksblätter. Zudem arbeitete er als freier Autor.

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Tanja Langer: Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday

Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday Book Cover
Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday Tanja Langer Mitteldeutscher Verlag Erschienen am: 06.08.2019 Seiten: 416 ISBN: 978-3-96311-181-5

Inhalt:
Linda, Übersetzerin aus dem Persischen, lässt sich gern von ihren träumen lenken, und so findet sie sich eines Tages in Lüneburg wieder: Dort lebte ihre kaum gekannte Großmutter Ida unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, geflohen aus Oberschlesien, verwidmet, mit fünf Kindern.

Knapp eineinhalb Meter groß, “arbeitete sie für den Direktor des englischen Kinos”. Dieser Halbsatz entzündet Lindas Phantasie, und schon ist sie mitten in der Zeit der britischen Besatzung, von 1945 bis 1949. Ida schrubbt Wäsche für die Tommys, Ida begegnet Mr. Thursday, Ida fängt bei im im “Astra Cinema” an, Und das Kino wird zum Gegenbild für die raue Wirklichkeit, durch die Ida und ihre kleine rasselbande sich als “Flüchter” durchboxen… (Klappentext)

Rezension:
Lebensgeschichten stellen an sich gute Grundlagen für ausschweifende Erzählungen dar, in der man als Leser hineingesogen wird und mit den Protagonisten lebt, liebt oder leidet. Das gelingt auch regelmäßig, denn nichts ist ja spannender als das wahre Leben und so kann der Autor oder die Schriftstellerin schon mal mit der Themenwahl nicht viel falsch machen. Tanja Langer hat dies gewagt und ihrerseits die Geschichte ihrer Großmutter genommen und daraus eine an deren Biografie angelehnte Erzählung veröffentlicht, die nun im Mitteldeutschen Verlag erschienen ist.

Zunächst ist es natürlich die Geschichte einer Frau, die sich beginnt zu emanzipieren, weil sie durch die historischen umstände dazu gezwungen wird und am ende auch die Geschichte des Nachkriegdeutschlands, welches hauptsächlich von Frauen aufgebaut wurde. Die Männer waren entweder in den zurückliegenden Kriegsjahren gefallen oder befanden sich in Gefangenschaft, die Frauen befanden sich auf der Flucht und begannen auf den Trümmern der Geschichte sich einzurichten und ums Überleben zu kämpfen, schließlich sich und ihren Kindern eine Zukunft aufzubauen.

Im Roman ist dies dargestellt durch die Hauptprotagonistin Ida, die in den großflächigen Kapiteln eine starke Identifikationsfigur abgibt, neben der alle anderen verblassen. Über weite Strecken funktioniert dies, trotzdem das so manche Länge mit sich bringt. Hier gefällt besonders die Darstellung des Alltags in einer sehr sonderbaren Zeit. Auch die inneren Konflikte hat die Autorin sehr schön ausgestaltet.

In wechselnder Perspektive wird einmal aus der Sicht der Erzählerin die Gegenwart nachempfunden, hier findet sich die Autorin im Ich einer Übersetzerin des Persischen wieder und dann aus Sicht der Großmutter, die ihren Alltag inmitten der Nachkriegszeit bewältigen muss. Beides für sich genommen starke, suchende und kämpferische Sichtweisen, doch ein letzter Funke, das berühmte tüpfelchen auf dem I bleibt aus.

Das ist schade, denn gerade im Hinblick auf die Idee dahinter, hätte die Autorin detaillierter und ausschweifender erzählen können. Ständig Wiederholungen als Stilmittel stören zudem den Lesefluss, als wären Tanja Langer Synonyme ausgegangen. Das wird dann irgendwann schwierig.

Zu guter Letzt ist das Cover nach, und das ist jetzt persönliches Empfinden, keine gute Wahl. Natürlich hat diese Wahl viel mit Vermarktung und Aufmerksamkeitsziehung einer bestimmten Käuferschicht zu tun und mit Sicherheit eine Berechtigung, doch hätte es hier auch ein geschlechtsneutraleres Cover getan. Mit Abstrichen, wer Kino mag und Überlebensgeschichte in sonderbarer Zeit, sowie starke Frauen, wird sicherlich hier fündig.

Autorin:
Tanja Langer wurde 1962 geboren und ist eine deutsche Regisseurin und Schriftstellerin. Nach ihrem Abitur, 1982, studierte sie Vergleichende Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, philosophie und Politikwissehnschaften in Paris, München und Berlin.

Sie gründete eine Theatergruppe, schrieb und inszenierte eigene Stücke, verlegte sich jedoch ab 1993 auf das Schreiben von Büchern und Beiträgen für Tageszeitungen. 1999 veröffentlichte sie ihren ersten Roman und gründete 2016 ihren eigenen Verlag, den Bülbül Verlag, in Berlin, wo sie mit ihrer Familie lebt.

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