Leben

Alain Claude Sulzer: Fast wie ein Bruder

Inhalt:

Zwei Männer, die wie Brüder aufwachsen – bis ihre Leben ganz unterschiedliche Entwicklungen nehmen. Doch als eiiner der beiden stirbt, zeigt sich, wie tief die in der Kindheit geknüpfte Verbindung ist. Und als der Freund postum auf rätselhafte Weise zu Ruhm als genialer Maler kommt, erscheint die Beziehung der beiden plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Mit stiller Wucht erzählt Alain Claude Sulzer von einer ungewöhnlichen Freundschaft und einem kurzen Leben, das lange nachwirkt. (Klappentext)

Rezension:

Zumindest geografisch trennt das Leben zwei, die wie Brüder aufgewachsen sind, im jungen Erwachsenenalter. Während der eine sein Glück auf der anderen Seite des Ozeans sucht, findet der Ich-Erzähler seinen Lebensmittelpunkt in Frankreich. Der Kontakt aus der Kindheit, bleibt lose, verliert sich nicht. Erst nach dem Tod des Kunstsinnigen wird dem Erzähler klar, wie tief die Verbindung zueinander wirklich gewesen ist.

Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat mit „Fast wie ein Bruder“ nicht nur einen feinen Coming of Age-Roman geschrieben, sondern auch das Portrait einer sehr sonderbaren Zeit.

Sulzers Erzählung beginnt inmitten der 1970er Jahre, der Kindheit der Protagonisten, die zunächst alle Möglichkeiten für die beiden Jungen bereitzuhalten scheint, doch frühe Schicksalsschläge bereithält, die den weiteren Weg der Hauptfiguren bestimmen, Diesen folgen wir lesend bis in die Gegenwart hinein. Komprimiert auf der konträr zur erzählten Zeit überschaubaren Seitenzahl hat sich der Autor darauf konzentriert die beiden Figuren strahlen zu lassen.

Ihre Ecken und Kanten werden auserzählt, wie auch die Herausforderungen, denen sie sich gegenüber sehen. Dabei nehmen sie so viel Raum ein, dass für Nebenfiguren kaum Platz bleibt. Die Leinwand ist voll. Eingenommen von den beiden, die in unterschiedlicher Entfernung, immer umeinander kreisen.

Dabei durchzieht den Roman ein vergleichsweise ruhiger Erzählstil, dessen Tempo gefühlsmäßig nicht der Autor, sondern die Figuren selbst bestimmen. Sulzer verliert dabei nie den Blick für Orte und Szenarien und behält in diesem Konstrukt die Fäden bis zum Schluss in die Hand. Was kann, was vermag Kunst und was bleibt, wenn der Erschaffende nicht mehr ist?

Solche fast philosophischen Fragen können sich beim Lesen aufdrängen. Man kann diesen Roman jedoch auch einfach als die Erzählung einer Freundschaft lesen. Beide Protagonisten sind dabei nachvollziehbar gestaltet. Auch ergeben sich in der Art und Weise keine Lücken oder unlogische Sprünge. Einzelne Momente lassen sich sehr stark nachfühlen.

Der Roman um Kunst ist selbst Kunst. Fast filmisch führt der Erzähler durch die Leben beider wie entlang von Bildern einer Galerie. Eingerahmt sind sie zwischen zwei weltumspannenden Epidemien, die zugleich Taktgeber sind. Für die Welt, die still steht und einer Entscheidung über Leben und Tod, die die Figuren nicht beeinflussen können.

Alain Claude Sulzers Roman über Kunst, Homosexualität und Aids, einer Freundschaft vor allem, vereint das alles, ohne ins Kitschige abzutriften, in die richtigen Worte. Keines ist hier zu viel oder zu wenig. Eine reduzierte Erzählung, die nachdenklich werden lässt. Allein, es fehlt da noch der Wow-Effekt. Trotzdem darf man empfehlen, in die Geschichte zu versinken.

Autor:

Alain Claude Sulzer wurde 1953 geboren und ist ein Schweizer Schriftsteller. Zunächst absolvierte er eine Ausbildung zum Bibliothekar und war später als Journalist tätig. Seit den 1980er Jahren veröffentlicht er seine eigenen Werke und ist zudem als Übersetzer aus dem Französischen tätig gewesen. Selbst Teilnehmer am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, saß er später in dessen Jury. Er ist Mitgründer des PEN Berlin, lebt zwischen Berlin und Basel. Sulzer wurde für seine Werke mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit den Solothurner Literaturpreis.

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Saneh Sangsuk: Gift

Inhalt:

In einem Dorf mitten im thailändischen Dschungel träumt ein Junge davon, ein berühmter Puppenspieler zu werden. Versunken in die Magie seines Schattentheaters, bemerkt er zu spät, dass er sich über dem Nest einer Kobra niedergelassen hat. Als die zornige Schlange auf ihn zuschießt, beginnt ein gnadenloser Kampf, der die ganze Nacht dauern wird.

Eine existenzielle Parabel über Tradition und Macht, Schönheit und Schrecken, Leben und Tod. (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung, die einem schier den Atem nimmt, ist sicherlich die vorliegende Parabel aus der Feder des thailändischen Schriftstellers Saneh Sangsuk. In „Gift“ erzählt er nicht nur die Geschichte eines Kampfes, sondern nimmt damit gleichzeitig traditionelle Strukturen und Willkür innerhalb einer Gemeinschaft aufs Korn. Oberflächlich hier die Konfrontation, das Ringen ungleicher Gegner. Beinahe David gegen Goliath auf thailändischen Boden. Ein Junge setzt sich unbeabsichtigt auf das Nest einer Kobra, diese will sich wehren und der Gefahr für ihre Eier ein für alle Mal ein Ende setzen. Dem Hauptprotagonisten ist schnell klar, nur einer von beiden wird überleben.

So beginnt ein Ringen, welches Sangsuk mit wenigen Worten, zielgerichtet wie Schlangenbisse, zu erzählen weiß. Abwechselnd erzählt aus der Perspektive des Jungen und des Tieres erleben wir einen Zeitraum von nur wenigen Stunden, die beiden Protagonisten ihre ganze Kraft abverlangen wird. Nur ihnen beiden. Dem Jungen, ohnehin durch eine körperliche Beeinträchtigung Außenseiter innerhalb der traditionellen Strukturen seines Dorfes, wird keine Hilfe zuteil werden. Auf einer anderen Ebene geht es damit auch um klare, sich gegenüberstehende Pole. Kind gegen Erwachsene. Unschuld gegen Korruption und Willkür. Hier kompakt in Konfrontation.

Schon mit den ersten Seiten werden wir für den kleinen Hauptprotagonisten eingenommen, der reinen Herzens für seine Umgebung isst, der die Ungerechtigkeiten seiner Welt kaum klarer wahrnehmen könnte als er dies in Sangsuks Erzählung tut. Der indirekte Gegenspieler, versinnbildlicht durch die Schlange, ist der Erwachsene, der die Strukturen des Ortes nutzt, um diesen sich untertan zu machen. Wie könnte man da nicht klar mit dem Kinde mitfühlen? Hoffen und bangen, es möge im ungleichen Kampf bestehen?

Mit wenigen Worten in klarer Sprache, hier hervorzuheben ist die wunderbare Übersetzung durch Sabine Herting, gelingt ein beinahe filmischer Spannungaufbau. Jeden einzelnen Schweißtropfen meint man selbst auf der Haut zu spüren. Innerlich angespannt, nach Atem ringend wird man kaum von der Erzählung loslassen können und diesen Kampf bis zum Ende verfolgen.

Der Perspektivwechsel ist ein Kunstgriff, in dem auch das Tier seinen berechtigten Platz erhält. Beide Gegner mit klaren Blick, dazu eine Umgebung, die der Autor kunstvoll vor dem inneren Auge der Lesenden entstehen lässt. Hier ist der Spagat zwischen schöner Sprache und einer spannenden Erzählung gelungen, die im Einklang zueinander stehen.

Immer mehr Literatur aus Asien wird hierzulande zugänglich. Sie lohnt sich, entdeckt zu werden. Diese kleine Geschichte gehört unbedingt dazu. Hoffen wir, dass noch viel mehr Werke Sangsuks und anderer hier verlegt und ein breites Publikum finden werden. Schon alleine, um zu erfahren, wer die Oberhand gewinnt.

Autor:

Saneh Sangsuk wurde 1953 geboren und ist ein thailändischer Schriftsteller. Er studierte Englisch und arbeitet als freier Schriftsteller und Übersetzer. Zunächst Kurzgeschichten veröffentlichte er seinen ersten Roman 1986, dem weitere folgten. Sangsuks Werke wurden in mehreren Sprachen übersetzt. Er gilt als einer der besten zeitgenössischen Autoren Thailands, wofür er 2018 ausgezeichnet wurde.

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Hubertus von Prittwitz: Skarabäus

Inhalt:

Die Wahrheit ist die beste Lüge. Das lernt der achtjährige Friedrich von seinem Vater. Im Gerichtssaal sieht er seine Schwester das letzte Mal. Sein Vater, ein Spion des BND, trennt ihn für immer von seiner Mutter und seiner Unschuld. Im goldenen Käfig in Neuried bei München züchtigen der Missbrauch durch seine Stiefmutter und der Kontrollwahn des Vaters den Abtrünnigen. Nach mehreren gescheiterten Versucen gelingt die Flucht über Indien, Kairo und den Sudan in das Strafgefangenenlager des Menschenfressers.

Hubertus von Prittwitz rasanter Roman erzählt die Geschichte eines Überlebenden. Die Dichte des Milieus zieht den Leser tief hinein in das historische Erbe der Familienschuld. Im Spiel mit der Macht der Fiktion entspannt sich das Drama eines uralten Adelsgeschlechts. (Klappentext)

Rezension:

Am Ende steht ein Käfer als Symbol für den fortwährenden Versuch, seiner Familie zu entkommen. Diesen lebenslangen Versuch hat Hubertus von Prittwitz erzählerisch in seinem gleichnamigen Autorendebüt „Skarabäus“ verarbeitet. Eng an der eigenen Biografie und doch ganz weit weg.

Fast einem modernen Märchen gleich, springt der Roman zwischen Agententhriller, Politroman und Coming of Age Story entlang den Abgründen der Familie des zunächst achtjährigen Protagonisten. Bei kompakter Seitenzahl geradezu ausschweifend erzählt, begegnen wir Friedrich, der in seiner Kindheit bereits vom eigenen Vater entwurzelt wird, zugleich aber lückenlos kontrolliert. Dazu gesellt sich auch noch der seelische und physische Missbrauch durch die Stiefmutter. Mit der Zeit entwickelt der Junge, den wir bis ins frühe Erwachsenenalter begleiten, Überlebensstrategien, die sämtlichen Willen erfordert, die eine gebrochene Seele aufbringen kann.

Viel zu viele Faktoren für einen Roman, der sich zudem nicht gerade leichtgängig lesen lässt. Das Springen zwischen den Genres ist eine Sache, es gelingt einem jedoch auch nicht, sich dauerhaft an wenigsten einer der Figuren festzuhalten. Alleine die Anspielungen auf verschieden historische Ereignisse sind spannend eingebunden, in eine Erzählung, die keinen anderen roten Faden kennt als die innere Zerissenheit des Hauptcharakters. Zu Beginn weiß man da nicht, was man eigentlich liest. Es scheint, erst mit dem Voranschreiten der Kapitel, die zugegeben zuweilen filmisch wirken, hat der Autor seinen Stil gefunden. Dem entsprechend rund wirkt auch das Ende.

Der Hauptprotagonist ist zugleich Erzähler und Handlungstreiber, in einer Geschichte, die wie ein Schachspiel wirkt. Dabei entgeht dem zunächst sehr jungen Friedrich viel. Nach und nach wandelt sich jedoch die Figur und wird selbst zum aktiven Taktgeber. Dieser Platztausch ist dann doch spannend beschrieben, wobei erzählerische Längen dennoch nicht ganz ausgeblendet werden können.

Hubertus von Prittwitz hat ein Auge für Schauplätze, die er vor dem inneren Auge der Lesenden sehr plastisch wirken lässt. Doch es fehlt der springende Funke, der leider an einigen Stellen dem Gefühl weichen muss, irgendetwas Entscheidendes überlesen zu haben. Vielleicht braucht man einen bestimmten Zugang, diesen speziellen Mix der Genre ganz in sich aufzunehmen? Hier wäre zu schauen, wie ein Werk des Autoren sich liest, wenn es eine Konzentration auf ein bestimmtes Genre oder einen einzelnen Aspekt gäbe.

Eventuell hätte aber auch die Erzählung ganz anders gewirkt, wenn man sich vorher mit der Biografie des Autoren und seiner Familie beschäftigt hätte. Dies sei allen empfohlen, die „Sakarabäus“ lesen möchten. Manches wird da fassbarer.

Nur schade, dass das der Rezensent (ich) vorher nicht gemacht hat.

Autor:

Hubertus von Prittwitz wurde 1969 in München geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Er studierte Politikwissenschaften in München und Berlin, arbeitete als Eventmanager und als Texter, Redakteur und Übersetzer. Er ist für die Deutsche Welle tätig. „Skarabäus“ ist sein Debüt.

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Doris Wirth: Findet mich

Version 1.0.0

Inhalt:

Erwin bringt das Geld nach Hause, seine Frau kümmert sich um Kinder und Haushalt. Doch als Erwin Mitte 50 seinen Job verliert und sein Vater stirbt, fällt er in eine akute Krise. Er pendelt zwischen Verzweiflung und Größenwahn. In seinem Kopf sprießen bizarre Pläne und die Gier nach einem puren, triebhaften Leben in der Wildnis. Eines Tages zieht er los und verschwindet.

Sprachlich intensiv und formal virtuos verwebt Doris Wirth Familienroman und Roadmovie. Sie zeichnet das komplexe Psychogramm eines Mannes, der eine manische Psychose durchlebt. Aus wechselnden Perspektiven erzählt Findet mich Erwins Geschichte und zeichnet die der Familie über drei Generationen nach: von der Unterdrückung individueller Wünsche über die Prägung durch patriarchale Strukturen bis zur Suche neuer Rollen in der Gegenwart. (Klappentext)

Rezension:

Das vorliegende Romandebüt der Schweizer Autorin Doris Wirth, die zuvor bereits mehrere Erzählungen veröffentlicht, spürt den Veränderungen innerhalb einer Familie nach, deren Alltag plötzlich durch eine psychische Krankheit dominiert wird. Seiner Handlungsspielräume beraubt und seines Platzes verwiesen, spürt das ehemalige Oberhaupt nur noch den Drang, sich privaten Zwängen und dem gesellschaftlichen Druck zu entziehen und nähert nicht nur sich damit einem dunklen Abgrund an.

Leichtgängig klingt dies schon im Klappentext nicht an. Auch in der Zusammenfassung wirkt es nicht besser, doch liest sich der Wandel des Hauptprotagonisten und aller, die ihn umgeben, durchaus flüssig, in sofern wir sofort Bezüge zu den einzelnen Figuren herstellen können. In unserer schnelllebigen Gesellschaft sind nicht wenige selbst von psychischen Zwängen und Krankheiten betroffen oder kennen dies zumindest aus dem engeren Umfeld und so fällt das Einfinden leicht.

Nur wenige Stellschrauben, Auslöser, braucht die Autorin, um Verbindungen herzustellen. Die beiden Hauptfiguren, die im Laufe der Erzählung um eine geringe Anzahl erweitert werden, bekommen durch ihre Vorgeschichte Konturen. Diese sind klar gehalten, nach und nach schält sich das Unheil heraus. Dunkle Momente werden immer zahlreicher, ehe sie schließlich handlungsbestimmend wirken.

Vor allem für den männlichen Hauptpart, dessen Handeln man beinahe atemlos verfolgt. In der Art und Weise dessen, wirkt dies folgerichtig, ohne Lücken oder unlogische Sprünge zu hinterlassen. Bilder schafft hier die Autorin vor allem sehr stark durch innere Monologe, gedankliche Ausführungen, womit die Figuren ihre Ecken und Kanten bekommen. Im Kontrast zu dem vor allem so aufgebauten Protagonisten wirken die umgebenden Personen um so stärker. Doris Wirth gelingt es hier zu zeigen, dass auch Familienmitglieder mit einer solchen Situation zu kämpfen haben, nicht nur die Betroffenen selbst und das der Weg da raus nur entlang von Bruchkanten verlaufen kann.

Dieser Balanceakt erzeugt starke Bilder vor dem inneren Auge, auch bringt der stete Perspektivwechsel innerhalb der Kapitel eine temporeiche Dynamik mit sich. Dieser zu folgen ist dabei nicht sonderlich schwierig, wenn auch die Thematik nicht ohne ist. Man sollte dies vor dem Lesen wissen. Nicht jeder dürfte diese Erzählung einfach so weg lesen können. Auch der Genre-Mix trägt sein Übriges dazu bei. Psychogram und Roadmovie passen, das beweist Doris Wirth, hier wieder einmal gut zusammen. Schauplätze werden hier ebenso plastisch beschrieben wie Gefühlswelten, ohne ins Klischeehafte abzugleiten.

Immer wieder stolpert man dabei über einzelne Passagen, die hängen bleiben und nachdenklich machen. Manchmal ist es auch nur etwas Unbestimmtes, was beim Lesen zurückbleibt. Gerade für solche Momente lohnt sich das Lesen des Romans, in den man gerne den einzelnen Figuren neben dem Hauptprotagonisten noch mehr Raum geben würde, dabei wechseln die Sympathien durchaus von Kapitel zu Kapitel. Es hängt dann von den einzelnen Lesenden ab, welche Nachwirkungen hier Doris Wirth erzielt hat.

Ohne Spuren aber geht es nicht.

Autorin:

Doris Wirth wurde 1981 geboren und ist eine Schweizer Autorin. Zunächst studierte sie Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie in Zürich und Berlin, bevor 2014 ihr erster Erzählband erschien, dem weitere folgten. Für ihre Prosa mehrfach ausgezeichnet, erschien 2024 ihr Romandebüt. Die Gewinnerin mehrerer Literaturwettbewerbe lebt in Berlin.

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Mariam Kühsel-Hussaini: Tucholsky

Inhalt:

Als Rathenau von Attentätern erschossen wird, verliert die Weimarer Republik einen seiner Feinsten. Kurt Tucholsky, die schwungvollste Stimme der Wochenzeitung Weltbühne, will ergründen, wie es jetzt mit Deutschland weitergehen wird. Ein wenig später befindet sich das Land im Ausnahmezustand.

Bis zuletzt kollidiert man mit dem ganzen Sturm der Zeit. Die Presse der NSDAP liefert sich mit der Weltbühne publizistisch eskalierende Mensuren, welche die Menschen im ganzen Land unaufhaltbar aufladen, bis am Ende dieses seine Krisen und seine Menschen mit Notverordnungen regiert. Tucholsky geht. Er geht für immer … (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Fünf Schuss sind es, die den Wendepunkt bedeuten und die Geschwindigkeit eines nicht mehr aufzuhaltenden Falls noch erhöhen. Die Abwärtsspirale, sie dreht sich immer schneller. Nur wenige Politiker hätten sie vielleicht aufzuhalten vermocht. Rathenau, einer von ihnen? Der Journalist Kurt Tucholsky schreibt mit spitzer Feder und treffenden Worten gegen die Zustände im Land, die alles mit sich reißen werden. Und auch ein ehemaliger Kaiser in seinem Exil denkt nach über eine Zeit, aus der er herausgefallen scheint. Die Schriftstellerin Mariam Kühsel-Hussaini hat drei Biografien und Momente zu dem Portrait einer stürzenden Republik verwoben.

In einer Mischung aus historischen und gesellschaftskritischen Roman, der ins Heute hineingreift, führen uns wirkmächtige Figuren durch die Weimarer Jahre. Die Unsicherheiten, direkt nach dem verlorenen Krieg wechseln einer nervösen Stabilität ohne Selbstbewusstsein, hinein in die Zwanziger, die später einmal als die Goldenen bezeichnet werden.

Tucholsky, hier Hauptfigur beobachtet und ist Teil dieser Welt, zugleich ihr größter Kritiker. So treffsicher seine Worte, so groß die Differenz zu seinem eigenen Leben. Ein Kontrast, den die Autorin ebenso zielgerichtet auszuarbeiten verstand. Der Blick dieses Protagonisten ist es, der hier die Gegensätze aufzeigt. Nahtlos die Übergänge zu anderen Sichtweisen. Da ist der ehemalige Kaiser, im niederländischen Exil, von Reportern belagernd. Hier ist Rathenau, der die neue Zeit verkörpert, aber ihre Menschen nicht erreichen tut.

Ein Roman ist das, der von einer flirrenden Zeit erzählt, dies mit wenigen Worten vermag, denen man sich nicht recht entziehen kann. Schnell ist man inmitten der Handlung, die die Figuren vor sich hertreibt, die pointiert mit Ecken und Kanten ausgearbeitet sind. Das liegt da auch am Text, der sich zuweilen wie ein Strudel anfühlt, den man nicht entkommen kann. Damit ist aber auch die Schwäche der Erzählung gefunden. Klare Übergänge oder Bruchlinien fehlen oft genug.

Ohne Abgrenzung ist man da mitunter zuerst in der Erzählperspektive Tucholskys gefangen, um im nächsten Satz einen aus der Sicht Rathenaus zu lesen. Manchmal hätte ein Absatz mehr oder eine andere Kapitelunterteilung Not getan, um gewisse Verwirrstellen zu vermeiden.

Der erzählende Zeitraum umfasst die Jahre der Weimarer Republik, in der die Gegensätze mit zunehmender Geschwindigkeit aufeinanderprallen. Gegensätze hat die Autorin sowohl mit den Handlungsorten, die man sich gut vor Augen führen kann, geschaffen, ebenso mit den Figuren, die wie ihre realen Vorbilder, Spiegelbilder ihrer Zeit sind. Getriebene und Treibende. Mit dem Wissen von heute, können wir die Seiten klar zuordnen. Die Figuren jedoch staunen, versuchen sich einzuordnen, versuchen zu verstehen. Dem Hauptprotagonisten gelingt das über lange Strecke, bis schließlich alles aus den Fugen geraten ist.

Das macht nahbar und kann zugleich als Warnung auf unsere Gegenwart verstanden werden, so plastisch vor Augen geführt. Kräfte, die in einer sich immer mehr polarisierenden Welt, sich zunächst misstrauisch, dann feindlich gegenüberstehen. Hier konzentriert auf politische Ansichten und konfrontativen Journalismus, was es sehr greifbar werden lässt.

„Die Menschen nehmen alles hin“, strich es Tucholsky über die Brust, „sie nehmen alles hin.“

Mariam Kühsel-Hussaini: Tucholsky

Allwissend sind hier nur die Lesenden. Dem Hauptprotagonisten beschleicht zumindest eine Ahnung, die er gen Ende umzusetzen weiß. Überraschende Wendungen gibt es solche nicht. Das dargestellte Zeitkolorit, welches ein gewisses Gefühl für die Menschen damals heraufbeschwört, ist es, was diesen Roman lesenswert macht. Figuren, Orte, man kann sich das alles gut vorstellen. Wer Miniserien, wie Babylon Berlin mag, ohne die Krimikomponente, die gesellschaftliche Zustandsbeschreibung ist hier Krimi genug, wird mit der Lektüre gut bedient sein, ebenso, wer jetzt keine klischeehafte Historienschmonzette zur Hand nehmen möchte.

Die Erzählung lädt zudem dazu ein, sich mit den Biografien der wirklichen Figuren zu beschäftigen, ohne den Text danach in die hintersten Winkel des Bücherreagals verbannen zu müssen. Der Gutteil passt. Am Ende fehlen ein paar Absätze und klare Konturen für die B-Note. Ob die zu vernachlässigen sind, muss ein jeder für sich entscheiden.

Autorin:

Mariam Kühsel-Hussaini wurde 1987 in Kabul geboren und ist eine deutsch-afghanische Schriftstellerin. Seit 1990 lebt sie in Deutschland und veröffentlichte 2010 ihren ersten Roman, dem weitere folgten. 2013 bekam sie ein Stipendium aus dem Else-Heiliger-Fonds der Konrad Adenauer Stiftung. Sie lebt in Berlin.

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Zora del Buono: Seinetwegen

Inhalt:

Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die große Leerstelle der Familie. Wie kann jemand, der fehlt, ein Leben dennoch prägen? Die Tochter macht sich auf die Suche und fragt, was der Unfall bedeutet hat: für die, die mit einem Verlust weiterleben, für den, der mit einer Schuld weiterlebt. Seinetwegen erzählt Zeitgeschichte als Familiengeschichte – detailgenau, raffiniert komponiert, so präzise wie poetisch. (Klappentext)

Rezension:

Wir wirken Lücken auf uns, die praktisch immer schon existieren, wenn Verlust Dauerzustand ist und was macht dieser mit jenen, die ihn verursacht, aber ansonsten kaum Berührungspunkte haben? Vor allem nicht mit den Betroffenen, die darunter dann Zeit ihres Lebens leiden müssen. Die Schweizer Journalistin und Autorin Zora del Buono geht diesen und damit zusammenhängenden Fragen in ihrer biografischen Reportage „Seinetwegen“ nach und entdeckt anhand eines Teils der Familiengeschichte auch ein Stück ihrer Selbst.

Der Erzählton des vorliegenden Textes ist ruhig und doch spürt man das Drängen, mit dem die Schriftstellerin den letzten Stunden ihres Vaters nachgeht, welchem sie im Alter von acht Monaten bei einem Autounfall verlor. Die Mutter im Heim, längst in die Demenz abgeglitten, Zeit ihres Lebens hatte sie nicht darüber gesprochen, vom Verursacher des Unfalls existiert zunächst nur ein Name und ein kleiner Zeitungsartikel über den nachfolgenden Prozess.

Wenig für diejenige, die begreifen und ergründen möchte, doch del Buono spürt der Geschichte des Moments nac, der das Leben der Familie für immer verändern sollte. Ihr Bild des Unfallfahrers verschiebt sich dabei ebenso, wie jenes von der Schweizer Gesellschaft, von den 1960er Jahren bis heute.

So unaufgeregt das kompakte Werk daherkommt, so aufgewühlt ist im Inneren der Autorin zugegangen, die mit ihrer Recherche eine große Lücke in ihrem Leben zu füllen. Die rastlose Suche, die zwischen den Zeilen daherkommt und immer wieder an Glasdecken stößt, ergibt nur langsam ein vielschichtiges Bild, zunächst vor allem von einer Gesellschaft im wandel. Erst später wird sie beiden Personen nahekommen. Dem Verursacher, dessen Leben vom Wandel der Gesellschaft erzählt und ihrem Vater, der einst als Fremder in die Schweiz kam und sich dort ein neues Leben zu aufbauen versuchte.

Die Zeitstrahlen einerseits der vergangenen Jahrzehnte, andererseits der wochenlangen Suche laufen schließlich zusammen, doch sind es die Figuren selbst, die diese biografische Reportage zu etwas Besonderen machen. Dabei beschränkt sich die Autorin, die damit auch zum Gegenstand ihres Schreibens wird, auf wenige Personen. Nach und nach kann man sogar dem Unfallverursacher nachspüren. Jede Geschichte hat zwei oder mehr Seiten. So verarbeitet Zora del Buono das, was ihre Mutter nie so wirklich konnte. Braucht es also, zu der Erkenntnis könnte man gelangen, manchmal nur eine Generation Abstand?

Kurze prägnante Sätze wechseln sich mit ausschweifenden Gedankengängen ab, kulminierend in den Treffen der Freunde der Autorin, die im Verlust zu geliebten Menschen vereint sind. Rückblenden in die Kindheit durchbrechen den Text, der auch dadurch nahbar wird. Schauplätze werden zu Bildern. Del Buono lässt sie vor dem inneren Auge entstehen.

Es ist der Versuch der Verarbeitung etwas Unbegreiflichen. Ob dieser gelungen ist, kann nur die Autorin selbst entscheiden, er macht jedenfalls ordentlich Eindruck. Natürlich stellt sich die Frage, was dabei gewonnen ist, einem Menschen auf dieser sehr persönlichen Suche zu begleiten? Vielleicht können jene die Frage beantworten, welche selbst solch einen Verlust erlitten haben.

Für alle anderen bleibt die Erzählung des gesellschaftlichen Wandels. Dafür aber braucht es jetzt nicht unbedingt diesen Rahmen. Dieser kleine biografische Bericht lässt einem dennoch für einen Moment innehalten und nachdenklich zurück. Letztlich muss wohl jeder für sich entscheiden, ob dies genügt.

Autorin:

Zora del Buono wurde 1962 in Zürich geboren und ist eine Schweizer Architektin, Journalistin und Autorin. Zunächst studierte sie Architektur in Zürich und Berlin, wo sie bis 1995 als Architektin tätig war. Danach absolvierte sie ein Studium für Szenografie. 1996 war sie Mitgründerin der Zeitrschrift Mare, welche sie von 2001 bis 2008 als stellvertretende Chefredakteurin begleitete.

2008 erschien ihr Debütroman, dem weitere Werke folgten. Del Buono ist Mitglied des Schweizer PEN, erhielt 2024 den Schweizer Buchpreis und 2012 den ITB Buch Award.

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Der Erste Weltkrieg/Der Zweite Weltkrieg – Die visuelle Geschichte

Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich in diesem Jahr zum achtzigsten Mal. Grund genug also, sich ausführlich mit den unterschiedlichen Aspekten des Krieges zu beschäftigen, der so zerstörerisch und so mörderisch werden sollte, wie keiner zuvor. Davor, mit einer kurzen Phase brüchigen Friedens dazwischen hatte es bereits schon einmal einen weltumspannenden Krieg gegeben. Und so umfassend müssen auch die Übersichten sein, um alle Aspekte aufzuführen, die die Vorgeschichte, Kriegsverläufe und was danach folgen sollte, einigermaßen begreiflich machen zu lassen. Und so haben sich eine Vielzahl von Historikern und anderen Wissenschaftlern daran gemacht, Gesamtdarstellungen zu erarbeiten. Nun liegen diese im Verlag Dorling Kindersley vor.

Die Werke dieses Verlags haben die Eigenheit, gerade wenn sie bewusst in einer Abfolge zueinander erscheinen, nahezu die gleiche Rezension herauf zu beschwören, weshalb ich mir die Freiheit genommen habe, einen gemeinsamen Beitrag für beide Sachbücher zu schreiben. Entlang eines Zeitstrahls wird Geschichte hier erzählt, eingerahmt durch die Vor- und Nachgeschichte, dann die Jahre des jeweiligen Krieges, nochmal einzeln aufgedröselt. Unterschiedliche Perspektiven kommen zur Sprache, sei es durch die Erläuterung der Kriegstaktiken innerhalb der jeweiligen Phase oder weil einzelne Feldzüge beleuchtet werden.

Dabei nehmen die Autor:innen beider Werke nicht nur eurozentrische Perspektive ein, sondern vergessen nicht zu beleuchten, wie der Erste und der Zweite Weltkrieg auf der anderen Seite des Globus‘ aussahen. Immer wieder werden einzelne Persönlichkeiten beleuchtet, die in den jeweiligen Phasen oder überhaupt eine Rolle spielten, sowie auch der „Alltag“ im Krieg oder der Terror des NS-Regimes analysiert, um nur die Beispiele zu nennen.

Die Lesbarkeit ist aufgrund der abwechslungsreichen Gestaltung gegeben. Fließtexte wechseln sich mit Infoboxen ab, Karten und Grafiken visualisieren Informationen. Schon das Überformat zwingt einem, sich bewusst eines der Bücher hervorzuholen, entweder sich mit einem bestimmten Thema zu beschäftigen oder gezielt zu suchen, was sowohl ein Stichwortregister am Ende der beiden Enzyklopädien möglich macht, als auch ein übersichtliches Inhaltsverzeichnes.

Autorenkollektiv: Der Erste Weltkrieg – Die Visuelle Geschichte
Seiten: 372
Rezensionsexemplar/Sachbuch
Verlag: Dorling Kindersley
ISBN: 978-3-8310-4874-8
Übersetzung: Burkhard Schäfer, Birgit Lamerz-Beckschäfer (u. a.)

Autorenkollektiv: Der Zweite Weltkrieg – Die Visuelle Geschichte
Seiten: 360
Rezensionsexemplar/Sachbuch
Verlag: Dorling Kindersley
ISBN: 978-3-8310-3757-5
Übersetzung: Burkhard Schäfer, Klaus Binder (u. a.)

Beide Werke erhalten, es ist gar nicht anders möglich:

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Sascha Lübbe: Ganz unten im System

Inhalt:

Unzählige Arbeitsmigrant*innen arbeiten unter teils menschenunwürdigen Bedingungen auf deutschen Baustellen, in Schlachthöfen, als LKW-Fahrer*innen oder als Reinigungskräfte in Hotels und Firmen. Viele von ihnen werden systematisch ausgebeutet. Sascha Lübbe entlarvt das krakenartige Geflecht aus teils kriminellen Firmen, eine Schattenwelt, in der die Grenze zwischen Legalität und Illegalität verschwimmt.

In einem aufrüttelnden Buch zeigt er, wie sich ein Parallelsytem in der deutschen Arbeitswelt etabliert hat. Er lässt Betroffene zu Wort kommen, zeigt, wie sie leben, aber auch, wie sie Widerstand leisten. Und er geht der Frage nach: Wie konnte es so weit kommen? (Klappentext

Rezension:

Gerade verschärft sich die Tonlage, doch kommen Debatten um die für immer mehr Branchen notwendige Migration zur Unzeit. Heute schon sind Migrant*innen in einigen Bereichen eine tragende Säule. In der Bauwirtschaft etwa, der Logistik oder in der Fleischindustrie.

Doch, einmal angekommen, heute zumeist aus Rumänien oder Polen, liegt für jene, die eigentlich nur ein gutes Auskommen suchen, vieles im Argen. Der Journalist und Autor Sascha Lübbe hat sich auf Spurensuche begeben und die Schattenwirtschaft systematischer Ausbeutung ergründet und mit den Betroffenen gesprochen, und jenen, die ihnen versuchen, zu helfen.

In ihren Ländern haben sie keine Zukunft. Jobs sind kaum vorhanden. So versuchen zumeist Männer wie Eugen und Dejan, die Namen sind in diesem aufrüttelnden und erschütternden Bericht zumeist zum Schutze derer geändert, die bereit sind, zu reden, ein Auskommen in Deutschland zu finden.

Mit falschen Versprechen in die Fremde gelockt, finden sie sich in einem System der Abhängigkeiten von dubiosen Firmengeflechten wieder, müssen körperliche Schwerstarbeit verrichten, werden drangsaliert und systematisch um einen Großteil ihres Lohnes betrogen. Dabei bilden die obersten Firmen nur die Spitze des Eisberges. Gut vernetzt auf allen Ebenen der Politik, reichen sie die Verantwortung an Subunternehmen weiter. Einmal darin verfangen, ist es für die Menschen, die oft kaum des Deutschen mächtig sind, schwer, sich zur Wehr zu setzen und zustehende Rechte einzufordern.

Der Autor geht anhand von drei Branchenbeispielen der Frage nach, wie funktioniert dieses System der Schattenwirtschaft überhaupt, wie ist es entstanden und was macht es mit den Menschen? Wie können Gesellschaft und Politik, die Betroffenen selbst dieses durchbrechen und was müsste sich ändern, damit auch die Menschen, profitieren, die die Jobs übernehmen, die niemand sonst machen möchte?

Anhand der Biografien und infolge von Gesprächen mit denen, die für die meisten Augen unsichtbar bleiben, zeigt der Autor auf, auf welchen menschnverachteten Grundlagen verschiedene Bereiche unserer Wirtschaft fußen, nicht ohne Auswege aufzuführen oder auch erste Schritte auf den Weg zur Besserung zu schildern, die es durchaus seitens Verbänden und Organisationen und auch der Politik gab, was jedoch immer noch zu wenig ist, angesichts der bestehenden Problematiken.

Nur selten kommen Menschen wie Samid und Umid zu Wort. Ihnen gibt der Autor eine Stimme und die Aufmerksamkeit, die es braucht, um ein Bewusstsein für ihre Situation zu schaffen. Er versucht dabei mit allen Ebenen ins Gespräch zu kommen, trifft dabei nicht nur auf Trostlosigkeit und Verzweiflung, sondern auch auf jene, die dagegen ankämpfen. Oder es zumindest versuchen.

Aufgrund der Nähe zu den einzelnen Personen ist der Bericht, der das fortsetzt, was Günter Wallraff einst angestoßen hat, sehr nahbar. Sascha Lübbe zeigt, dass sich am Umgang mit den Menschen, die für unseren Wohlstand arbeiten, unter anderen Vorzeichen nicht viel geändert hat. Zudem hat er eine ausführliche Quellenlage für seine Recherchen verwendet, die verschiedene Aspekte der Thematik aufgreifen tut. So unterbleibt eine zu theoretische Aufarbeitung. Man kann nicht anders, als davon berührt zurückzubleiben.

Abseits von den bloßen Zahlen, um die vor allem in der großen Politik diskutiert werden, sind die in diesem Werk aufgeführten Aspekte zu wichtig, um sie zu unterschlagen. Wie gehen wir mit den Menschen um? Wie müssen wir uns und das System ändern, damit auch sie gerecht und menschenwürdig teilhaben können? Sascha Lübbes Debattenbeitrag gibt dazu wichtige Denkanstöße.

Autor:

Sascha Lübbe wurde in Berlin geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Zunächst studierte er Publizistik und Nordamerikastudien, sowie Soziologie in Berlin und Lissabon, bevor er Redakteur für die drehscheibe, dem Magazin der Bundeszentrale für Politische Bildung wurde, danach war er unter anderem tätig für die Wissenschaftsseite der Berliner Zeitung und bis 2021 als Redakteur für den Mediendienst Integration.

Er schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und wurde 2022 für den Deutschen Reporter:innen-Preis, ein Jahr später für den Alternativen Medien- und den Deutschen Journalistenpreis nominiert. Sein Buch „Ganz unten im System“ wurde 2024 für den NDR-Sachbuchpreis nominiert.

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Wolfgang Kraushaar: Israel

Inhalt:

Als die Hamas am 7. Oktober 2023 über 1.100 Israelis ermordete, schien auf einen Schlag der von den Nazis verübte eliminatorische Antisemitismus zurückgekehrt zu sein. Premierminister Netanyahus Versuch, den Aggressor umgehend auszuschalten, führte jedoch im Gaza-Streifen zu einer humanitären Katastrophe. Die Bilder, die seitdem um die Welt gehen, haben zu einem Aufflammen des Antisemitismus und zu Debatten geführt, die von einer Begriffsverwirrung erheblichen Ausmaßes gekennzeichnet sind.

Wolfgang Kraushaar ordnet die unterschiedlichen Diskurse, trennt die antisemitschen Stereotype von triftigen Argumenten und stellt die unverzichtbaren zivilisatorischen Minimalforderungen heraus, nicht ohne den Umgang mit den Problem- und Grenzfällen zu präzisieren. (Klappentext)

Rezension:

Einen Tag nach Beginn des Jom-Kippur-Krieges fünfzig Jahre zuvor, am jüdischen Feiertag Simchat Tora brachen zunächst Unmengen von Raketen über die Mitte und den Süden Israels herein. Damit wurde der seit 2014 zwar fragile, aber bestehende Waffenstillstand gebrochen, doch war dieser Angriff nur Ablenkung für das, was folgen sollte. Kämpfer der Hamas durchbrachen die Grenzanlagen und forderten über 1.100 Todesopfer, 3.000 Verletzte. Unzählige Menschen wurden in den Gaza-Streifen verschleppt. An keinem Tag seit dem Holocaust zuvor sind so viele Jüdinnen und Juden getötet worden, wie am 7. Oktober 2023.

Das ganze Ausmaß der Bestialität wurde erst nach und nach deutlich. Je detaillierter die Informationen ausfielten, desto massiver wurden die Schockwellen. Zugleich suchte man nach Worten, einen Begriff für diese Barbarei. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar ordnet darauf Begrifflichkeiten ein, beleuchtet die Phrasen und Narrative einer kaum zu durchdringenden Diskussion und zeigt die Meta-Diskurse auf.

Zunächst beginnt der Autor beim jüngsten aller Konflikte und zeigt auf, was eigentlich am 7. Oktober geschehen ist und wie es überhaupt zu den dann stattfindenden Ereignissen kam. Er erläutert die Vorbereitungen der Hamas, aber auch die Reaktionen Israels in sehr kompakter Form, bevor er zunächst geografische Begrifflichkeiten einordnet, beginnend mit von der deutschen Politik beschworenen Solidarität mit dem jüdischen Staat. Was heißt dies überhaupt und können diese Worte überhaupt mit einer sinnvollen Bedeutung gefüllt werden oder ist dies letztendlich eine hohle Phrase ohne Wert, nur aus Pflichtbewusstsein?

Danach wird die politische Geografie aufgedröselt und zugleich auf die Geschichte der Region eingegangen. Was sind Israel und der Zionismus überhaupt? Wie sind Politiker, wie etwa ein Netnyahu einzuordnen, um dann widerum den Bogen zu Deutschland als Partner des Landes zu spannen. Auch wird die Gemengenlage im Gaza-Streifen erläutert, sowie im Westjordanland, ohne zu vergessen, dass wenn wir Israel betrachten, auch geklärt werden muss, was eigentlich Palästina in den unterschiedlichen Ansichten als geografischer Raum bedeutet und wie der Stelllenwert der Hamas ist. Auch wieder im Gegenlicht zu den Akteuren der Politik Israels.

So geht es weiter in der Lektüre, die zu weilen sehr theoretisch daherkommt, aber gerade bei dieser sensiblen Thematik sehr viel Wert darauf legt, Begrifflichkeiten korrekt einzuordnen. Dabei erklärt Kraushaar die verschiedenen Interpretationen und stellt sie einander gegenüber. Nur so entsteht ein klares Bild, für welches man jedoch durchgehend Konzentration benötigt, dieses in sich aufzunehmen. Einerseits politiktheoretisch, andererseits fast philosophisch wirkt diese Einordnung, die versucht, einem Konflikt sprachlich Herr zu werden. Zuweilen sehr distanziert scheint das, nicht jedoch vollends ohne Emotion zu sein.

Der Autor zeigt die Wendepunkte der Geschichte der Region als Verkettung. Unweigerlich kommt die Frage auf, was als nächstes passieren muss, was als nächstes passieren wird. Lehrreich ist das Sachbuch vor allem mit den letzten Kapiteln, in dem Parolen erläutert werden, die zu weilen auf Demonstrationen zu hören sind und wenn Meta-Diskurse kurz zusammenfassend dargestellt werden.

Man geht mit einer Fülle an Informationen und Wissen aus der Lektüre heraus, muss sich jedoch bis dahin sehr konzentrieren und zuweilen wiederholend lesen. Leicht zugänglich ist etwas anderes. Positiv anzumerken ist jedoch, dass Kraushaar nicht vergisst, anhand zusammengestellter Punkte zu erläutern, was im Endeffekt für die Auflösung eines Konflikts in der Region seines Erachtens erfolgen müsste. Ob das dann so funktioniert, steht jedoch in den Sternen.

Autor:

Wolfgang Kraushaar wurde 1948 geboren und ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Von 1987 bis 2014 arbeitete er am Hamburger Institut für Sozialforschung, seit dem bis zum 2023 für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Seine Forschungsschwerpunkte sind Protestbewegungen und der linke Terrorismus. Er ist Autor verschiedener Werke zu diesen Thematiken.

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Zdena Salivarova: Ein Sommer in Prag

Inhalt:

Ein heißer Sommer im Prag der Fünfzigerjahre: Jana Honzlova, eine junge Sängerin in einem Folklore-Ensembble, darf nicht mit auf Tournee ins Ausland reisen, da sie im kommunistischen System als politisch unzuverlässig gilt. Stattdessen soll sie im Büro des gähnend leeren Betriebsgebäudes die Stellung halten, woe sie ihre Langeweile einzig mit der freundlichen Putzfrau teilen kann und heimlich internen Intrigen nachforscht.

Das allgegenwärtige Spitzelwesen, aber auch ihre verwickelte Familiensituation und die Wiederbegegnung mit einem früheren Verehrer halten Jana in Atem – die sich trotz aller Widrigkeiten ihre Chuzpe und ihren Straßenwtz bewahrt. (Klappentext)

Rezension:

Ein beeindruckendes Stück der jüngeren tschechischen Exilliteratur ist sicherlich „Ein Sommer in Prag“, von Zdena Salivarova, welcher nun erstmalig in deutscher Übersetzung vorliegt. Erzählt wird in diesem leichtgängien Roman die Geschichte von Jana, die wir durch einen flirrenden Sommer in der tschechischslowakischen Hauptstadt begleiten. Das Prag der Fünfziger Jahre ist hart zu jeden, der sich den gesellschaftlichen Anforderungen des kommunistischen Systems nicht anpassen möchte.

Zwei Familienmitglieder der Hauptprotagonistin befinden sich in Arbeits- und Internierungslagern und auch Jana ist schon längst ins Visier des allgegenwärtigen Innenministeriums geraten. Sie ist es, die mit ihrem Gehalt ihre Mutter und die jüngeren Geschwister durchbringt, doch geraten Sicherheiten beinahe schon zu Beginn ins Wanken.

Das West- und Ostdeutschland der Nachkriegszeit und Fünfziger Jahre dürfte hinreichend beschrieben wurden sein. Der Blick in andere Länder kam dagegen noch nicht so häufig vor und so folgen wir den Spuren der Protagonistin durch die quirlige tschechische Hauptstadt, deren Atmosphäre man sich in sich aufnimmt. Mit feinfühligen Schreibstil hat Salivarova eine Geschichte mit mehreren Strukturelementen aufgebaut, die der Erzählung einen ganz besonderen Sound geben.

Zunächst sind da die Protagonisten selbst, die das Spiegelbild der damaligen Gesellschaft abbilden. Die Hauptprotagonistin selbst schwangt dabei zwischen der Lebenslust einer jungen Frau, aber auch einer, die schnell an die gesellschaftlichen Grenzen stößt, im Wissen, dass sie an gewisse Glasdecken stoßen wird, die schnell immer undurchdringlicher werden. Um sie herum gruppiert sehen wir die Familie, die Nachbarschaft, sowie verschiedene Arten von Kolleginnen, die sich vor allem durch ihre Einstellung zum herrschenden System unterscheiden.

Die Bedrohung als zweites Element wirkt dabei zunächst diffus, beginnt aber durch das Drängen einer der Figuren immer mehr Gestalt anzunehmen. Abgeschlossen schließlich wird die Erzählung durch eine Art Märchen. Die Erzählperspektive wechselt hier.

Das ist viel für einen Roman, dessen erzählerischer Zeitraum nur einen knappen Monat umfasst, doch kann natürlich in wenigen Wochen allerhand passieren. Salivarova gelingt dabei der Spagat einiges zu beschreiben und vieles zwischen den Zeilen erscheinen zu lassen. Dabei ist es vor allem die Perspektive der Hauptprotagonistin, aus derer wir die Geschehnisse erleben, einer Kämpfernatur mit hoher Auffassungs- und Beobachtungsgabe, die sich zunehmend die Frage stellen muss, wie lange Widerstand noch aushaltbar ist.

Was wieder einmal beweist, dass die Literatur den Menschen veredelt. Nur leider war es mit ihrer Liebenswürdigkeit schnell wieder passe.

Zdena Salivarova: Ein Sommer in Prag

Schauplätze sind hier in ihrer Beschreibung ebenso gelungen. Ob nun im kleinen, der muffige Büroraum des Ensemblegebäudes, die Widrigkeiten eines baufälligen Hauses mit all den kleinen Eigenheiten, die den Roman unverkennbar in Prag verorten lassen. Das beginnt bei baulichen Besonderheiten, wie der Pawlatsche, eine Art Zugangsbalkon im Innenhof des ärmlichen Wohnhauses der Protagonistin bis hin zu Wegbeschreibungen durch Prag, die einem Bilder von quirligen Gassen dieser Stadt vor dem inneren Auge entstehen lassen.

Zdena Salivarova, die selbst nur wenig geschrieben und sich eher auf das Verlegen von Exilliteratur konzentriert hat, hat ihren Figuren Ecken und Kanten verliehen, wobei die unangenehmen Protagonisten einem einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen. Die Ungewissheit drohender Konsequenzen schwebt wie ein Damokles-Schwert dauerhaft drohend über den Kopf der Hauptfigur. Dieses Gefühl vor allem bestimmt die Erzählung, doch zeigt sich in ihr auch die Vielschichtigkeit, zumal wenn man dem familiären Chaos‘ Janas beiwohnt oder ihrer Beziehung zum kleinen Bruder, Paradebeispiel kindlicher Unschuld.

Auffällig ist, was fehlt und damit ist nicht nur die Stalin-Statur gemeint, an derer Stelle heute in Prag das Metronom zu finden ist. Aber auch dies macht die Erzählung zu etwas besonderen. Die Autorin, so scheint es, wollte zwar das Lebensgefühl in der Stadt zu dieser Zeit vermitteln, dabei jedoch ein bestimmtes Bild bewahren. Eine gewisse Tristesse und dunkle Wolken, ohne zu sehr ins Düsterne abzugleiten, bestimmt die Stimmung, durchsetzt mit Elementen, der Hoffnung. Der Schreibstil bleibt dabei beständig ruhig. Man ahnt dabei die ganze Zeit nicht, worauf es hinauslaufen und dass der Stoß von einer anderen als der zu erwartenden Stelle kommen wird.

Der Blick der Autorin, nicht nur auf ihre Protagonisten, auch auf die Örtlichkeiten ist vielschichtig. Man folgt ihm gern und hat, vor allem wenn man die Stadt kennt, das Gefühl, man könnte die Erzählung ablaufen. Das ist so heute nicht mehr möglich, zudem die Atmosphäre sich vollkommen geändert hat, aber alleine dass diese Idee immer noch funktioniert, trotz der inzwischen verstrichenen Jahre seit Erscheinen des Romans, zeigt das schriftstellerische Können Salivarovas.

Nur einen einzigen Kritikpunkt habe ich, einen Zahlendreher. Dabei kann es sich um ein Versehen der Autorin, einem Übersehen der Übersetzerin Sophia Marzolff handeln oder dem Nichterwähnen eines kleinen, ansonsten für die Geschichte aber unerheblichen Ereignisses. Den Gesamteindruck schmälert das jedoch nicht wirklich.

Ansonsten ist dies einfach eine liebevolle Erzählung.

Autorin:

Zdena Salivarova wurde 1993 in Prag geboren und ist eine tschechisch-kanadische Autorin, Schauspielerin und Verlegerin. Nach dem Abitur war sie von 1952 bis 1962 Mitgleid des staatlichen tschechoslowakischen Gesang- und Tanzensembles und gehörte danach zum Ensemble eines Kabaretts. 1965 studierte sie Dramaturgie an der Prager Filmhochschule, dem einige Filmproduktionen folgten, bevor sie zusammen mit ihrem Ehemann nach Kanada emigrierte.

Dort gründete sie 1971 einen Exilverlag, den sie bis zu dessen Auflösung 1993 leitete. Wegen ihrer publizistischer Aktivität wurde ihr 1978 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt. 1990 erhielt sie wegen eben dieser den Orden des Weißen Löwen der Tschechischen Republik, zwei Jahre später die Ehrendoktorwürde der Universität Toronto. Sie veröffentlichte zwei Romane aus eigener Feder, nebst mehrerer Erzählungen und Kurzgeschichten, konzentrierte sich aber af das Verlegen anderer Autorinnen und Autoren.

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