Kindheit

Björn Stephan: Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau

Inhalt:

Sommer, 1994. Sascha Labude ist ein etwas verträumter 13-Jähriger, der einzigartige Worte sammelt. Sein Leben ist relativ ereignislos, also abgesehen davon, dass das alte Land untergegangen und Saschas Vater verstummt ist und sein bester Freund Sonny so berühmt werden will wie Elton John.

Doch dann zieht Juri in die Siedlung, ein Mädchen, das alles über das Universum weiß und ganz anders ist als Sascha – nämlich mutig. sogar so mutig, es mit den schlimmsten Schlägern der Siedlung aufzunehmen. (Klappentext)

Rezension:

Der Brief, er liegt schon länger auf dem Schreibtisch des einstigen Kindes, wird geöffnet. Erinnerungen durchfluten Jenni, die nun junge Frau, die bis dahin erfolgreich verdrängt hat, was damals passierte. Die Perspektive wechselnd, Leserin und Leserschaft reisen zurück, in eine Zeit, in der sich alles veränderte, nichts blieb, wie es vorher war.

Beinahe zu ruhig beginnt das Autorendebüt, was uns Leserschaft hier vorliegt und wird doch immer schneller, heftiger werden, mit jeder Zeile, die uns in die Geschichte einsaugt. Wir begleiten den Hauptprotagonisten, der sich selbst für nicht sichtbar für seine Umgebung hält, durch die Tage.

Selbst die Schläger, die im selben Treppenaufgang wohnen, wie er, beachten Sascha nicht. Dem verträumten Jungen, der noch blasser neben seinem besten Freund wirkt, ist dies nur Recht. Seinen größten Schatz hütet er in einem unscheinbaren Heft. Wörter, die es nur einmal auf der Welt in einer einzigen Sprache gibt und die nur dort eine bestimmte Bedeutung haben. Sascha sammelt sie, hält fest, um sich an etwas zu halten. So kann es bleiben.

Tut es nicht. Diesen Sommer wird sich das Lebend es Jungen schlagartig ändern, wie auch die Welt um ihn herum sich ändert. So beobachtet der/die Lesende den Hauptprotagonisten, der zunächst Beobachter, dann Akteur der Ereignisse ist.

Vielschichtig sind die Protagonisten um ihn herum, die Beschreibungen Björn Stephans tun ihr übriges, um sofort den typischen Geschmack des damals angesagten Kaugummis im Mund zu haben und die flirrende Umgebung der Plattenbauten zu spüren, die den Handlungsort prägen. Der Autor indes hat sich hier viel vorgenommen.

Er erzählt von der Zeit zwischen Kindheit und Jugend, von Freundschaft und erster Liebe, von Beobachtung und Irrtum, Angst, Mut und dem Erkennen, dass nichts ist, wie es scheint.

Stephan gelingt es kunstvoll, nicht nur Zeitsprünge zu verbinden, sondern auch Klippen des Kitsches zu umschiffen, einmal haarscharf, zudem mehrere Enden unterzubringen. Jeder Strang wird zu Ende erzählt. Lücken werden durch das Kopfkino gefüllt, besonders gegen Ende eine kleine Herausforderung für die Leserschaft.

Ein Roman, der auf vergleichsweise wenigen Seiten so viel zu erzählen hat und auf mehreren Ebenen die Lesenden nachdenklich zurücklässt, dabei sprachlich schön geschrieben ist, bleibt. So wie die Wörter in Saschas Heft.

Autor:

Björn Stephan wurde 1987 in Schkeuditz geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Aufgewachsen in Schwerin, studierte er zunächst in Berlin Geschichte und Politikwissenschaft und besuchte anschließend die Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Er schreibt für die Zeit, die Süddeutsche Zeitung, arbeitet als freier Reporter. Seine Texte und Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Sozialpreis und dem Reporterpreis. Im Jahr 2021 erschien sein erster Roman. Der Autor lebt in München.

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Alexander Gorkow: Die Kinder hören Pink Floyd

Inhalt:

Die 70er Jahre. Eine Vorstadt. Das Westdeutschland der letzten Baulücken, der verstockten Altnazis, der gepflegten Gärten. Die Kriegskräuel sind beiseite geschoben, zum Essen geht es in den Balkan Grill, die Einbauküche daheim überzeugt durch optimale Raumnutzung. Für den 10-jährigen Jungen aber ist es eine Welt der Magie, der geheimen Kräfte, des Kampfs des Bösen gegen das Gute.

Der Leitstern des Jungen in diesem Kampf ist die große Schwester – das Kind Nr. 1 der Familie. Sie ist herzkrank und sehr lebenshungrig. Mit trockenem Humor und großer Aufsässigkeit stemmt sie sich gegen alle Bedrohungen, nicht zuletzt mithilfe der vergötterten Band Pink Flyd aus dem fernen London, den Kämpfern gegen das Establishment, deren Songs alles zum Glänzen bringen. (Inhaltsangabe des Verlags)

Rezension:

Vor einem großen Teller Leckereien zu sitzen, sich da und dort etwas herauszunehmen, zum Mund zu führen und plötzlich aus einem wunderschönen Traum geholt zu werden. Wer kennt dieses Gefühl nicht? Der Wecker holt einem zurück aus dem Schlaraffenland und daheim wartet nur der geschmacklose Kaffee und das pappige Toastbrot. Was für ein Start in den Tag. So in etwa erging es mir hier beim Lesen einer Geschichte, bei der das Positivste der Klappentext ist. Dann folgt lange nichts.

Geschichten vom Aufwachsen, von Selbstfindung, Verwirklichung, dieses Coming of Age, funktionieren an sich immer. Protagonisten aus dem Alltag gegriffen, wie Du und ich, ein wenig langweilig zwar, aber gerade das macht sie sympathisch, leben ihren Alltag und die Leserschaft begleitet sie auf ihrem Weg. Ein wenig „Stand by me“ (Stephen King), ein wenig Biografie, gegossen in einem schönen Roman, der zudem ein wenig davon wiedergibt, wie die Gesellschaft, das Leben, zu jener Zeit ausgesehen hat, irgendetwas Undefinierbares, was einem beim Lesen in den Bann zieht. Solche Erzählungen machen glücklich, nachdenklich, traurig, zu weilen Spaß.

Hier hat man sie, die Protagonisten, die allesamt langweilig in einem aufregenden Jahrzehnt vor sich herleben, deren Alltag man ein Stück begleiten darf und eine Hauptfigur, die nicht weniger als das alte, oder junge, Ego des Autoren sein dürfte. Zutaten für einen Roman, die sonst immer funktionieren. Nur, hier nicht.

Die Sprache spröde, der Erzählstil sehr trocken, selbst der Titel dient nur der Einordnung im Zeitcholorit. Ersetze den Band-Namen und du weißt, in welchem Jahrzehnt der Roman spielt, was in jedem Jahr sein könnte. Passieren tut nichts. Es gibt hier keinen Dreh- und Angelpunkt, wie etwa die Mondlandung als erste, der Selbstfindungsprozess als zweite Ebene im Roman „Der Sommer meiner Mutter“, von Ulrich Woelk, der hier einmal als positives Beispiel herhalten darf. Diese Erzählung liegt bei mir schon länger zurück und ich erinnere mich an Einzelheiten, Details. Hier beginne ich schon jetzt zu verdrängen.

Der derart spröde Erzählstil macht den Eindruck nicht unbedingt besser. Man neigt dann zum Abschweifen, zum Überfliegen, zum Gähnen, verdrängt das Gelesene. Mich beschleicht das Gefühl, aus der Geschichte hätte man mehr herausholen können. Vielleicht gefällt so etwas Verlässliches aber auch vielen. Toastbrot halt. Schmeckt nach nichts, bleibt aber im Magen.

Autor:

Alexander Gorkow wurde 1966 in Düsseldorf geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Journalist. Er studierte Mediävistik, Germanistik und Philosophie und war von 1995-1998 Landtagskorrespondent bei der Süddeutschen Zeitung. 2002 übernahm er deren Samstagsausgabe und ist seit 2009 Leiter der Seite Drei der SZ. Im Jahr 2003 veröffentlichte er seinen ersten Roman, 2007 den zweiten und erhielt den Deutschen Reporterpreis für seine 2012 erschienee Reportage „USA“, zusammen mit dem Fotografen Andreas Mühe.

2017 erschien sein Roman „Hotel Laguna“.

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Wiebke von Carolsfeld: Das Haus in der Claremont Street

Das Haus in der Claremont Street Book Cover
Das Haus in der Claremont Street Wiebke von Carolsfeld Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 10.09.2020 Seiten: 361 ISBN: 978-3-462-05475-0 Übersetzerin: Dorothee Merkel

Inhalt:

Wie überlebt man das Undenkbare? Tom weigert sich zu sprechen, nachdem seine Eltern auf brutale Weise sterben.

Seine unfreiwillig kinderlose Tante Sonya nimmt ihn auf, kommt aber nicht an den traumatisierten Jungen heran. Bald ist Tom gezwungen, erneut umzuziehen, diesmal in die Claremont Street in der Innenstadt von Toronto, in der ihm seine liebenswert-chaotische Tante Rose und sein Weltenbummler-Onkel Will ein Zuhause geben.

Mit der Zeit wird Toms Schweigen zu einer mächtigen Präsenz, die es dieser zerrütteten Familie ermöglichst, einander zum ersten Mal wirklich zu hören. Ein Roman darüber, wie mit viel Humor und Liebe selbst aus den schlimmstmöglichen Umständen etwas Positives erwachsen kann. (Inhaltsangabe Verlag)

Rezension:

„Wir sterben.“ Mit letzter Kraft sind es diese Worte, die dem kleinen Hauptprotagonisten über die Lippen kommen. Dann lange nichts. Tatsächlich ist dieses Debüt, welches mit einem lauten Knall beginnt, ein zutiefst mitfühlendes, auch verstörendes Porträt, eine ansonsten ruhige, dafür um so düstere Erzählung, die nun aus der Feder Wiebke von Carolsfelds vorgelegt wird.

Hauptprotagonist und Mittelpunkt der Geschichte ist ein kleiner Junge, der unschuldiger nicht sein könnte und auf dessen kleinen Schultern nun die Last liegt, eines der schlimmsten Vorkommnisse innerhalb von Familien erlebt zu haben. Zuerst ist der Schmerz da. Sehr viel später wird die Trauer folgen, doch Tom schweigt zunächst, lässt niemanden an sich heran. Warum denn auch? Ist doch eh alles vorbei.

Tom packte sich eine Tonscherbe, die von der Wand abgeprallt und direkt neben seinem Fuß gelandet war. Mama hatte diese Tasse geformt, hatte seinen Namen in den feuchten Ton geschrieben. Aber Tom konnte sich nicht mehr an die Konturen ihrer Hände erinnern. Angewidert schloss Tom seine Finger zur Faust und genoss den Schmerz, den der scharfe Splitter ihn bereitete. Je fester er drückte, je tiefer der Schnitt, desto besser.

Wiebke von Carolsfeld „Das Haus in der Claremont Street“

Herzzerreisend lesen sich die Zeilen, in klarer einnehmender Sprache geschrieben, um diese chaotische Familie, deren Zuhause in glücklichen Tagen ein liebevolles wäre, doch nun versucht jeder Protagonisten das Unbegreifbare zu fassen. Nichts ist schwarz oder weiß in diesem Roman, mit jeder Zeile gleitet man tiefer in die Seelenleben der handelnden Personen, die wechselhaft sympathisch agieren, doch innerhalb des erzählten Schicksallschlags völlig logisch, manchmal kopflos.

Wechselhaft ist die Perspektive, über ein Jahr begleiten wir Tom und das, was von der Familie übrig geblieben ist. Wie trauern wir? Wie gehen wir mit der Trauer anderer Menschen um? Wie können wir einander beistehen, nahe sein, wo wir doch vielleicht selbst Halt brauchen? Ist es möglich, einander zu verstehen? Zu begreifen? Heilt die Zeit alle Wunden?

Tom streckte seine Hand aus, um näher an die rot glühenden Kohlen zu kommen. Er würde die Hand nicht zurückziehen, er würde es schaffen, den Kurs zu halten und diese Sache hier zu Ende zu bringen, die er angefangen hatte.

Wiebke von Carolsfeld „Das Haus in der Claremont Street“

Fragen werden aufgeworfen, in diesem relativ kompakten Roman, die nicht einfach zu beantworten sind. Sofern dies überhaupt möglich ist. daran entlang hangelt sich die Autorin und lässt ihre Protagonisten einen langen steinigen Weg gehen, der für jeden von ihnen unterschiedliche Fallstricke bereithält.

Mehr oder weniger geschickt, meistern diese das Bevorstehende, um das Zurückliegende zu begreifen. Der Lesende wird in die Handlung hineingezogen. Klare Sprache, in einem ruhigen und der Thematik angemessenen düsteren Handlungsrahmen.

Kleine Momente des Glücks blitzen auf. Mit Witz treten sie an der Oberfläche, um zunächst so schnell zu verschwinden, wie sie gekommen sind. Die Zeit bringt es mit sich, dass sie zahlreicher werden. Wird es ihnen am Ende gelingen, eine Art Abschluss zu schaffen?

Eine Erzählung über Trauer, Auseinandergehen und Zusammenhalt, Hilfe und Verarbeitung, darüber, was Familie wirklich bedeuten kann. Schon alleine deshalb ist Wiebke von Carolsfelds Roman einer der ganz großen, die es verdient haben, bekannter zu werden.

Kinder sind am Anfang eines solchen Weges die Schwächsten, können jedoch, wenn alle Umstände günstig liegen, am stärksten aus einem solchen Schlag hervorgehen. Die Autorin zeigt das mit sehr viel Einfühlungsvermögen, so dass ich einen allzu kitschigen Absatz gegen Ende gern überlesen habe. Unbedingt lesenswert.

Autorin:

Wiebke von Carolsfeld wurde 1966 in Deutschland geboren und lebt als Filmeditorin, Regisseurin und Drehbuchautorin in Montreal. Als Cutterin gewann sie zahlreiche Preise und gibt zahlreiche Kurse über das Drehbuchschreiben, Filmemachen und den kreativen Prozess. 2002 wurde sie für den besten Schnitt für den Genie Award nominiert. Im Verlag Kiepenheuer & Witsch machte sie zuvor eine Ausbildung zur Verlagskauffrau. Dies ist ihr erster Roman.

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Alan Gratz: Vor uns das Meer

Vor uns das Meer Book Cover
Vor uns das Meer Alan Gratz Erschienen am: 17.02.2020 Hanser Seiten: 301 ISBN: 978-3-446-26613-1 Übersetzerin: Meritxell Janina Piel

Inhalt:

Wenn das eigene Zuhause zu einem Ort der Angst und Unmenschlichkeit wird, ist es kein Zuhause mehr.

Josef ist 11, als er 1939 mit seiner Familie aus Deutschland vor den Nazis fliehen muss. Isabel lebt im Jahr 1994 in Kuba und leidet Hunger – auch sie begibt sich auf eine gefährliche Reise in das verheißungsvolle Amerika. Und der 12-jährige Mahmoud verlässt im Jahr 2015 seine zerstörte Heimatstadt Aleppo, um in Deutschland neu anzufangen.

Alan Gratz verwebt geschickt und ungemein spannend die Geschichten und Schicksale dreier Kinder aus unterschiedlichen Zeiten. Ein zeitloses Buch über Vertreibung und Hoffnung, über die Sehnsucht nach Heimat und Ankommen. (Klappentext)

Rezension:

Unerwartet taucht zwischen den Büchern in den Regalen manchmal ein Juwel auf, was nachhaltig beeindruckt. Rar und kostbar, wenn die Protagonisten berühren und der Schreibende es schafft, seine Leser zu fesseln und nachdenklich zu stimmen. Ein solches Kunststück ist Alan Gratz gelungen. Der amerikanische Autor bringt wie kaum jemand anderes drei Geschichten, drei Zeitebenen, drei Handlungsstränge zusammen und versucht so, kaum zu Erklärendes begreifbar zu machen.

Kapitelweise wechselt die Perspektive zwischen den Zeiten. Die drei Hauptprotagonisten erzählen aus der Ich-Perspektive vom Grauen, welches sie erleben, ihren Sehnsüchten, Träumen. Wir Leser erleben, wenn Hoffnung in Verzweiflung umschlägt und Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden müssen, von jenen, die eigentlich noch Kinder sind, aber viel zu schnell erwachsen werden müssen. 1933 übernehmen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht. Die jüdische Bevölkerung wird an den Rand gedrängt.

Auch Josefs Familie sucht einen Ausweg und ergattert Tickets für das Schiff St. Louis nach Kuba. Jahrzehnte später sucht auch Isabels Familie, die in Kuba hungert und politisch bedrängt wird, nach einem Ausweg und schließlich muss 2015 auch Mahmouds Familie den Kriegswirren in Syrien entfliehen. Verbindendes Element sind Sehnsüchte und Hoffnungen, eine böse Ahnung von Gefahr, falls die Flucht schiefgehen sollte. Werden die drei Jugendlichen ihr Ziel erreichen?

Spannend und einfühlsam beschreibt Alan Gratz den Weg der drei, der anhand von gezeichneten Karten im Anhang des Romans nachvollzogen werdne, nicht zuletzt durch eine historische Einordnung des Autoren im Nachwort. Der Lesende wird mitfiebern, mitleiden.

Unerträglich die Spannung, nur ganz karg blitzen sie auf, die kleinen Momente des Glücks, das Hervorscheinen einer viel zu schnell beendeten Kindheit, nur damit das Schicksal im nächsten Moment wieder mit aller Härte zurückschlagen kann. Ja, so könnte die Geschichte von drei Kindern tatsächlich verlaufen sein. Nachvollziehbar ehrlich geht Gratz mit der Zielgruppe um, wenn auch ein paar Momente ganz klar over the top sind und nicht so recht passen mögen.

Das schmälert die Lektüre nicht und so ist dieses Werk auf einer Linie mit z.B. „Damals war es Friedrich“, von Hans Peter Richter zu nennen, wenn auch Gratz gleich mehrere Zeitebenen zu fassen bekommt. Der kontinuierliche Spannungsbogen aller drei Geschichten lässt bis zum Ende nicht locker, wird unscheinbar miteinander verwoben. Die Auflösung selbst vermag zu überraschen, wirkt wie ein Schrei und schüttelt die Leser förmlich.

Wir haben es in der Hand, nicht mehr zu zu lassen, dass sich solche Geschichte wiederholt. Alleine, uns gelingt dies nicht, wie die jüngste der drei Zeitebenen zeigt.

Wie ist das, die Heimat, die gewohnte Umgebung, Spielkameraden, eine Perspektive aufzugeben und dann ständig auf der Hut zu sein? Immer die Gefahr vor Augen, beim nächsten falschen Wort, mit der nächsten falschen Bewegung umzukommen? Beieindruckend in der Lektüre, nachhallend wie kaum anderes.

Eine unbedingte Leseempfehlung.

Autor:

Alan Gratz wurde 1972 in Knoxville, Tennessee, und ist ein amerikanischer Schriftsteller. Er studierte Kreatives Schreiben und veröffentlichte 2006 sein erstes Jugendbuch. Weitere folgten. 2017 gewann er den National Jewish Book Award. Der Autor lebt in Asheville, North Carolina.

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Howard Buten: Burt

Burt Book Cover
Burt Howard Buten btb Erschienen am: 01.01.1997
(antiquarisch)
Seiten: 155 ISBN: 3-442-72110-5 Übersetzerin: Christiane Buchner

Inhalt:

Burt kommt ins Heim für verhaltensgestörte Kinder, da „etwas Schreckliches“ mit Jessica angestellt hat, wie der Erwachsenen sagen. Nun sitzt er im Beruhigungszimmer, da er das Bücherregal des Psychiaters umgeworfen hat, statt auf dessen Fragen zu antworten. Hier schreibt er seine Geschichte an die Wand.

Eines Tages trifft er dort einen Mann, der ihn keine quälenden Fragen stellt, der seine Ängste teilt und Verständnis für die sehnsucht des Jungen nach Jessica hat. Ganz langsam fasst Burt Vertrauen zu dem Mann, der seinen brennenden Wunsch, wie ein erwachsener Mensch behandelt zu werden, wider Erwarten ernst nimmt. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Nach dem Lesen der ersten Zeilen wird schnell, welch gewaltiges Werk hier vorliegt, mit dem der Kinderpsychiater Howart Buten größere Bekanntheit außerhalb des medizinischen Raums erlangte. Schon die ersten Worte haben es in sich, um so mehr der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte erst nach und nach enthüllt wird.

Erzählt wird sie aus Sicht des achtjährigen Hauptprotagonisten, der sich nach einem, laut der Erwachsenen, „schrecklichen Vorfalls“ in einem Heim für psychisch gestörte Kinder wiederfindet und sich gegen die ablehnende Haltung des ihn behandelnden Arztes völlig verschließt. Dessen althergebrachte Methoden stoßen bei Burt an Grenzen, die nur ein jüngerer Kollege mit seiner unkonventionellen Art nach und nach aufbrechen kann. Schritt für Schritt schält sich auch für die Leser der Grund heraus, weshalb der Protagonist sich nun in dieser geschlossenen Einrichtung befindet.

Wie ich fünf war, habe ich mich umgebracht.

Howard Buten: Burt

Ein Roman wie ein Schrei ist es, den uns der Autor hier vorgelegt hat. Die Perspektive eines achtjährigen, sehr ernsten Kindes einnehmend, führt dieses die Leser durch die Geschichte. Schnell, melancholisch und verdichtet wird hier eine Coming of Age Geschichte voller Sehnsucht und Liebe, Melancholie erzählt, über das erschütterte Grundvertrauen eines kleinen Menschen in seine unmittelbare Umgebung.

Abschnittsweise wechseln hier Zeitebenen, sowie die Sichtweisen der greifbaren erwachsenen Protagonisten, hier vor allem die mit ihren Behandlungsmethoden konkurrierenden Ärzte, welche klare Sympathie- und Antipathiepole schaffen. Diese Gegensätzlichkeit nach und nach klar herauszuarbeiten, ist eine der Stärken des Autoren, der zudem eine bemerkenswerte Arbeit geschaffen hat, wenn man bedenkt, dass sich gerade erst zur Entstehungszeit des Werkes viel in der Behandlung der Kinder- und Jugendpsychiatrie begonnen hat zu verändern.

Howard Buten schafft es hier, mit Burt einen kindlichen Sympathieträger zu schaffen, der in dieser Erzählung für Erwachsene funktioniert und bleibt dabei sehr ernst seiner erfundenen Figur als auch den Lesern gegenüber. Klar und deutlich merkt man hier, dass die Erfahrungen seiner Arbeiten mit Kindern in diesem Roman eingeflossen sind, zudem welche Wirkung verschiedene Herangehensweisen haben können.

Die gesamte Handlung spielt sich schlüssig auf einer Ebene ab, zumal auch am gleichen Ort, wobei in Rückblenden wir Burts Weg Richtung Katastrophe (so die Erwachsenensicht) verfolgen können. Gleichsam tritt der Autor jedoch mit dieser Erzählung auch dafür ein, Kindern ebenso die Gefühle Erwachsener zu zu gestehen. Auch das war Anfang der 1990er Jahre, zumal im englischsprachigen Raum noch nicht weit verbreitet.

Ich habe im Schlafanzug dagestanden. Ich habe in das Zimmer von meinen Eltern geschaut, aber es war dunkel. Ich habe gehorcht, aber ich habe überhaupt nichts gehört. Und dann hab ich was gesagt, da uf dem Gang ganz leise: Ist denn da keiner?

Howard Buten: Burt

Nachhaltig beeindruckt, beinahe bedrückt geht ein Lesender aus dieser Lektüre und wird foh darüber sein, wenn auch vielleicht Burts Tat unterschiedlich gewertet wird, je nach Moralvorstellung, dass der medizinisch psycholgische Ansatz heute ein anderer ist als noch vor ein paar Jahrzehnten.

Wenn das ein Punkt ist, und wenn Buten es schafft, für Kinder wie Burt eine basis des Verständnisses zu schaffen, wenigstens ihnen zuhören zu können, dann ist schon viel gewonnen. In diesem Sinne auch heute noch eine brandaktuelle Lektüre. Für alle anderen ein sehr bewegender Roman.

Autor:

Howard Buten wurde 1950 in Detrot, Michigan, geboren und ist ein amerikanischer Autor. Als Psychologe arbeitete er lange mit autistischen Kindern, zudem betätigt er sich auch als Clown und schriftsteller. Sein erstes Buch wurde 1981 geboren und 1994 verfilmt. Ende der 1990er jahre wurde sein Werk schließlich auch ins Deutsche übersetzt. als Therapeut und klinischer Psychologe arbeitet er in Frankreich, wo auch die meisten seiner Werke erschienen. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet.

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Erri De Luca: Das Licht der frühen Jahre

Das Licht der frühen Jahre Book Cover
Das Licht der frühen Jahre Erri De Luca ullstein Verlag Erschienen am: 29.06.2020 Seiten: 103 ISBN: 978-3-548-29101-7 Übersetzerin: Anette Künzler

Inhalt:

Beim Betrachten alter Fotos, die sein Vater gemacht hatte, bevor er erblindete, erinnert sich ein Mann an seine Kindheit im Neapel der Nachkriegszeit.

Seine Eltern waren arm, und das Leben auf den Straßen war geprägt von der Not, die der Krieg hinterlassen hatte. In einem intimen Zwiegespräch mit seiner verstorbenen Mutter lässt Erri De Luca diese frühen Jahre seines Lebens wieder auferstehen und mit ihnen die Poesie, die noch in der schwersten Kindheit steckt. (Klappentext)

Rezension:

Ein Erzähler erinnert sich an glückliche und unglückliche Tage seiner Kindheit in den Gassen von Neapel, an flirrende Sommer, Begegnungen und Beobachtungen, liebende Eltern, zweifelnde Eltern, wütende Eltern. Erinnerungen, die aufblitzen, wie das Stottern vor der Klasse, welches Besonderheit und Distanziertheit zugleich bedeuten.

Erri De Luca versetzt sich zurück in eine Kindheit, die von Armut, Wandel und schließlich bescheidenen Wohlstand geprägt ist, ein Aufwachsen mit Worten ohne Worte. Das Betrachten alter Fotografien, um verlorengegangene Erinnerungen wieder aufleben zu lassen und doch die Gewissheit zu erlangen, dass es nie wieder so sein wird, wie zuvor.

Ich kenne deinen Namen, du aber kennst mein Schicksal.

Erri De Luca „Das Licht der frühen Jahre“.

Diese kleine Novelle lässt seine Leser in die Erinnerungen des Erzählenden eintauchen, der sich einer schwankenden Kindheit entsinnt. Förmlich spürt man, wie Erri De Luca Bild für Bild betrachtet, die abgebildeten Ereignisse mit seinen Gedanken in Einklang bringt, zugleich aber durch die Fotos die Perspektive seiner Eltern einnimmt. Sein Vater als Bildschaffender, die Mutter als Dreh- und Angelpunkt der Familie. Zugleich spürt er die mit zunehmenden Alter immer deutlich werdende Entfernung.

Das Alter nimmt den Erzähler die Eltern, den Eltern ihren Sohn. Poetisch ist die Sprache hier, nicht aber anstrengend zu lesen. In der Novelle gleichsam, passiert jedoch nicht viel. Rein die Handlung betrachtet, ist „Das Licht der frühen Jahre“ ziemlich dünn. Das spielt jedoch keine Rolle, die Liebe zu den Eltern, denen sich Erri De Luca zu entsinnen versucht, durchdringt jede Zeile. Nur das ist wichtig. Nicht mehr, nicht weniger.

Menschen, die innehalten, begegnen einander, auch eine junge Mutter und ein alter Sohn.

Erri De Luca „Das Licht der frühen Jahre“.

Der Autor verknüpft die Erlebnisse und spielt mit der Sprache, nicht so grob, wie der Umgang des Kindes mit neuen Spielzeugen, eher feinfühlig, wie die Beobachtungen des Kindes, welches die Umgebung um sich herum zu fassen versucht. Das funktioniert gut. Es ist eine Erzählung, in deren Worten man sich wohlfühlt und zugleich sich in die eigene Kindheit zurückversetzt.

Der Erzähler ist nachdenklich, kritisch mit sich selbst und nimmt Abschied von der Mutter. Die gemeinsame Zeit entrinnt. Was der Erzähler beim Vater zu verpasst haben glaubt, will er nun bei der Mutter richtig machen. Und so sind diese Zeilen durchdrängt von Liebe, die eines Kindes, welches selbst längst in der Mitte seines Lebens angelangt ist. Traurigkeit, Bitterkeit und Glück liegen hier nah beieinander.

Erri De Luca weiß sie meisterhaft zu verbinden.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte.

1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Oskar Roehler: Der Mangel

Der Mangel Book Cover
Der Mangel Oskar Roehler ullstein Erschienen am: 28.02.2020 Seiten: 170 ISBN: 978-3-550-20038-0

Inhalt:

Vom Übergang einer Mangelgesellschaft, in der es von allem zu wenig gab, in eine Konsumgesellschaft, die den Menschen ihre Würde raubt.

Vom Großwerden einer Gruppe von Kindern in den Sechszigern, den Anstrengungen der Väter, Wohlstand oder zumindest eine Illusion davon zu erschaffen.

Von den Rückschlägen, die sie erleiden. Von den Sorgen und Existenzängsten der Mütter und das Gegenbild dazu, der Ausweg aus Mangel und Überfluss zugleich: die Kunst als Rettungsanker für das Überleben. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Der namenlose Junge beobachtet die Erwachsenen, die daran scheitern, eine Illusion von Wohlstand Wirklichkeit werden zu lassen und daran zu Grunde gehen, zerbrechen. Mit Gleichaltrigen trollt er durch die noch nicht fertige Neubausiedlung am Rande eines Dorfes, gräbt sich durch Schlamm und Lehm, versinkt sprichwörtlich in seiner eigenen Welt.

Zu Beginn ist er ein Vorschulkind, welches um sich herum alles aufnimmt, später versucht, mit den Mitteln der Kunst zu überleben, beinahe wie einst die Mütter und Väter um ihn herum, zu scheitern droht.

Beindruckend ist diese Novelle, deren Handlung der Leser wie einen kunstfollen Kurzfilm vor dem inneren Auge ablaufen sieht. Nicht von ungefähr kommt dieser Effekt, ist doch der Autor Oskar Roehler selbst Filmregisseur und Drehbuchautor.

Der Protagonist, Vorschulkind, Kind, früher Jugendlicher ist das alte Ego des Autors, der Eindrücke in sich aufsaugt, wie ein Schwamm. Kurz und prägnant sind die Sätze, messerscharf und folgerichtig, wie die Beobachtungen selbst.

In der Erzählung fühlt man mit dem Handelnden, der begreift, dass es da draußen in der großen weiten Welt noch etwas anderes geben muss, dass die Chancen, die sich ihm bieten, jedoch noch weniger als rar gesät sind.

Röhler verbildlicht hier Trost- und Perspektivlosigkeit, die Zeit des Wirtschaftswunders, die überall ankommt, nur nicht dort. Die Zeitspanne umreißt die ersten Jahrzehnte der bundesrepublikanischen Gesellschaft, mit allen Möglichkeiten, vielmehr jedoch mit allen Fallstricken.

Der Protagonist bleibt dabei immer in der Position des Schwachen, ständig am Rand des Abrgund stehend, selbst, als er beginnt, sich daraus zu kämpfen. Trost nur in der Welt der Kunst, der Sprache.

Roehlers Stil, diese Geschichte eine lehmhafte Schwere angedeihen zu lassen, ist gewöhnungsbedürftig. Schön zu lesen, doch plätschert die Trostlosigkeit wie voluminöse Regentropfen nur so dahin. Die Atmosphäre ist düster, die ganze Zeit über, kaum Hoffnungsschimmer.

Um das zu lesen, sollte man in der richtigen Stimmung sein. Für depressive Gemüter ist das nichts.

Es ist eine kompakte Erzählung mit dem Effekt eines Günter Grass, der mit Worten zu faszinieren oder verschrecken mochte. Dazwischen gibt es nichts, sozusagen luftleerer Raum.

Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Kunst als zweifelhafter Rettungsanker. Und immer wieder Dreck, Schlamm, Feuchtigkeit, Lehm. Graue, braune Masse, aus der man etwas erschaffen oder in die man versinken kann.

Doch, muss das zwischen zwei Buchdeckeln sein?

Autor:

Oskar Roehler wurde 1959 geboren und ist ein deutscher Filmregisseur, Journalist und Autor. Nach seinem Abitur ist er als Autor für Drehbücher tätig und wurde ab 1990 als Spielfilmregisseur bekannt. Sein erfolgreichster Film war „Die Unberührbaren“, der u.a. mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde.

Roehler gehört zu den Gründungsmitgleidern der Deutschen Filmakademie, 2003. Im Jahr 2011 veröffentlichte er einen autobiografischen Roman, den er auch verfilmte. 2018 verfilmte er den Roman „HERRliche Zeiten“ des umstrittenen rechten Schriftstellers Thor Kunkel.

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Mikey Walsh: Jungen weinen nicht

Jungen weinen nicht - Meine Kindheit bei den Roma Book Cover
Jungen weinen nicht – Meine Kindheit bei den Roma Autor: Mikey Walsh Bastei Lübbe Erschienen am: 30.09.2019 Seiten: 317 ISBN: 978-3-404-61149-2 Übersetzerin: Katja Bendels

Inhalt:
„Bist du bereit, Mikey?“, fragt ihn sein Vater, bevor er ihn mit erbarmungslosen Schlägen traktiert.

Der Box-Champion einer archaischen Roma-Community will, dass sein Sohn ein genauso harter und gnadenloser Mann wird wie er. Doch der sensible, nachdenkliche Junge entspricht so gar nicht seinen Erwartungen.

Jahrelang wird mikey von seinem Vater deswegen gequält und gedemütigt, sein Onkel tut ihm Unaussprechliches an, und in der verschworenen Roma-Gemeinschaft findet er niemanden, dem er sich anvertrauen kann.

Als er sich schließlich in einen Mann verliebt, wird ihm klar, dass sein Leben in Gefahr ist, denn eine schwule Liebe würde sein Vater niemals akzeptieren… (Klappentext)

Rezension:
Wie bewertet man den Bericht über eine Kindheit? Wie bewertet man eine Biografie? Ist es mit der Sternenvergabe nicht so, als würde man das Urteil über ein Leben fällen? Den „Daumen hoch“ für „gut gemacht“, den „Daumen runter“ für einen verpfuschten Lebenslauf.

Wie anmaßend ist dass denn? Was bei der Auswahl zwischen Bewerbern um eine Stelle noch mit den Blick auf Eignung und Fähigkeiten für einen bestimmten Berufsweg gehen mag, finde ich hier kritisch und so bin ich bei Autobiografien eher geneigt, eine höhrer Wertung zu geben, da das Schema sie nun einmal verlangt. Wie auch hier.

Im Bericht „Jungen weinen nicht“, lässt nun Mikey Walsh seine Kindheit Revue passieren. Einfühlsam übersetzt von Katja Bendels, liegt dieser nun im Deutschen, erschienen bei Bastei Lübbe vor. Darin geschrieben, ungeheuerliches.

Der Roma erzählt von einer Kindheit, wie man sie keinem Jungen oder Mädchen wünschen mag, einem archaischen und uns so fremden Leben, dass man als Leser kaum das Geschehene erfassen, geschweige denn begreifen mag und davon, wie viel Eltern auch falsch, kaputt machen können, so dass man zwangsläufig ausbrechen und für sich kämpfen muss.

In prägnanten Kapiteln beschreibt der Autor die Situation seiner Familie und eine für den Außenstehenden hoch komplexe, aber undurchschaubare und aus der Zeit gefallenen Gemeinschaft der Roma, die schon seit Jahrzehnten ums Überleben kämpft.

Dies wirkt sich prekär auf die Lebenssituation aus, in der viele gewzungen sind, sich als Tagelöhner durchzuschlagen, kriminellen oder nur ansatzsweise nachvollziehbaren Geschäften nachzugehen, zumal Tradition und Familie wichtiger zu sein scheinen, als den Anschluss an eine sich immer schneller drehende Welt zu finden.

Doch, Mikey Walsh passte von früh an nicht so wirklich dazu. Diese Empfindung traf den Autoren schon in seiner Kindheit, was sich bis hinein ins junge Erwachsenenalter zog. Der sensible und einfühlsame Junge, nicht geschaffen für die archaische Kultur und den immerwährenden Kampf zwischen den Familienclans erlebte Schreckliches und nicht zu Erzählendes.

Als Leser überkommt einem das stille Entsetzen über Eltern, die unfähig sind, ihr Kind so zu akzeptieren, wie es ist, über eine Gemeinschaft, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt und über einen Jungen, der im Kampf gegen eine Mauer aus Unverständnis ihn gegenüber beinahe zerbricht, daran zugleich wächst, von dem man aber letztendlich weiß, dass er seinen Weg gehen wird.

Das ist dann vielleicht auch die größte Erkentnis, die man aus der Lektüre ziehen kann, die dann noch wirkt, wenn man schon längst die letzte Seite aufgeschlagen und die letzte Zeile gelesen hat.

Irgendwie geht es weiter, irgendwann kommen gute Zeiten, für die es sich zu kämpfen und zu leben lohnt.

Vielleicht können dies gerade Menschen wie Mikey Walsh, da sie eben auch die Schattenseite, Lieb- und Trostlosigkeit kennengelernt haben und wenn nicht für die daraus folgende einfühlsame und nahegehende Erzählung dessen, wofür dann, sollte es hier die Höchstwertung geben. Womit wir wieder beim bereits geschilderten Problem wären. Nun, denn.

Autor:
Mikey Walsh ist ein britischer Schriftsteller und Schauspiellehrer. Als Sohn einer Roma-Familie, 1980 geboren, verließ er diese Gemeinschaft mit 15 Jahren und lebt in London als Schauspiellehrer, engagiert sich für die Rechte Homosexueller.

Er schreibt Kolumnen für verschiedene Zeitungen, seine Kindheits-Biografie veröffentlichte er im Jahr 2010. Diese wurde bereits verfilmt.

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Michaela Küpper: Der Kinderzug

Der Kinderzug Book Cover
Der Kinderzug Rezensionsexemplar/Roman Droemer Hardcover Seiten: 348 ISBN: 978-3-426-28218-2

Inhalt:
Im jahr 1943 begleitet Barbara, Lehrerin, eine Gruppe Mädchen im Rahmen der sog. Kinderlandverschickung. Angst, gespannte Unruhe, begleitet die Gedanken der Kinder, die nicht wissen, was sie erwartet.

Eine Odyssee beginnt, die nicht nur die Kinder, sondern auch Barbara an ihre Grenzen führt. Immer mehr werden die Realität und die grausamen Methoden der Nationalsozialisten deutlicht. Schließlich verschwindet eines der Mädchen und ein polnischer Zwangsarbeiter wird verdächtigt. Barbara muss sich entscheiden. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Im Jahr 1943 bekamen die Deutschen entgültig die Auswirkungen des von ihnen verursachten Weltkrieges zu spüren. Städte wurden zerbombt, Lebensmittel waren schon längst rationiert, die Armeen an allen Fronten befanden sich auf den Rückzug.

Um Zugriff auf die Kleinsten zu haben, aber auch um sie zu schützen, wurden hunderte Kinder im Rahmen der sog. Kinderlandverschickung von ihren Eltern getrennt und beinahe schulklassenweise in vermeintlich sichere, zumeist ländliche, Gebiete verteilt. Ein großer Umbruch im Leben der Kinder und Jugendliche, die später diese als schönste oder schlimmste zeit ihres Lebens empfinden würde, ganz abhängig vom Erlebten.

So viel zur wahren Geschichte und zum Szenario, welches sich Michaela Küpper für ihren neuesten Roman „Der Kinderzug“ vorgenommen hat. Der Leser begleitet eine Gruppe von Kindern, doch vor allem eine ihr zugeteilte Lehrkraft quer durch die Lande und erlebt die Schrecken dieser Zeit praktisch hautnah mit.

Erzählt wird die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, in Form der Draufschau eines Tagebucheintrages etwa oder und vor allem durch die Ich-Erzählerin, die junge Lehrerin, Barbara, die als Identifikationsfigur dient.

Zum Greifen nah ist die Spannung der Ungewissheit sonderbarer Zeit und das Abwiegen zwischen der Notwendigkeit, einen gewissen Alltag zu leben und sich der sonderbaren Lage anzupassen. Letzteres vor allem, wenn Erwachsene und Kinder mit den Auswirkungen der großen Politik konfrontiert und von deren schlimmster Sorte zum Spielball degradiert werden.

Wie weit darf, muss man mitgehen, wann Haltung bewahren oder Kompromisse machen, um sich selbst und seine Schutzbefohlenen zu schützen? Michaela Küpper hat sich diesen Spannungsbogen vorgenommen und erzählt, zunächst langsam, was auch beim Lesen einige Längen verursacht, dann in einem immer schnelleren Tempo, die Geschichte.

Erzählt wird von den Auswirkungen einer menschenverachtenden ideologie auf das Leben der Jüngsten, die später einmal unsere Groß- und Urgroßeltern werden sollten, in Romanform.

Zur Geltung kommt aber auch das Engagement vieler Lehrkräfte, die sich für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendliche bis hinein in den letzten Kriegstagen einsetzten. In kurzweiligen Kapiteln, nur anfangs stört ein etwas flacher Erzählstil das gesamte Bild, gibt sich dann jedoch später, orientiert sich Michaela Küpper am roten Faden der Geschichte und erzählt die von ihr gesponnene.

Mit zunehmender Seitenzahl findet die Autorin mittel und Wege zu beschreiben, Emotionen aufkeimen und wirken zu lassen und wird von Zeile zu Zeile stärker.

Die große Politik und die Auswirkungen des Krieges, die die Welt in eine Katastrophe stürzte, wird hier geschickt in eine gut nachvollziehbare Romanhandlung verpackt. In allen Perspektiven.

Unterstützt wird der Roman durch ein starkes Nachwort der Autorin, ebenso wie ein Quellenverzeichnis, welches in Auszügen die Recherchearbeit im Vorfeld des Schreibens verdeutlicht. Bitte mehr von solchen Romanen und auch von Michaela Küpper, von der ich gespannt wäre, noch mehr zu lesen.

Autorin:
Michaele Küpper ist eine deutsche Autorin. Nach einer Jugend in Bonn, studierte sie in Marburg Soziologie, Psychologie, Politik und Pädagogik. Nach einem Volontariat war sie als Projektmanagerin für einen Verlag tätig. Heute arbeitet sie als freie Autori und Illustratorin.

Im Jahr 2011 wurde sie für den NordMordAward nominiert, ein Jahr zuvor erhielt sie die Nominierung für den Krimipreis der Stadt Frauenfeld (Schweiz). Neben Kurzgeschichten schrieb sie bereits mehrere Romane. Heute lebt sie wieder mit ihrer Familie im Rheinland.

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Rene Marik: Wie einmal ein Bagger auf mich fiel

Wie einmal ein Bagger auf mich fiel - Eine Provinzjugend Book Cover
Wie einmal ein Bagger auf mich fiel – Eine Provinzjugend Autor: Rene Marik Droemer Taschenbuch Seiten: 239 ISBN: 978-3-426-30221-7

Inhalt:
Westerwald, Kasernen, Bratensoßengeruch: Rene Marik verbringt seine Kindheit in einem Bundeswehrlager, dessen kantine von seinen Eltern betrieben wird. Während die „Grünen“ draußen im Feld zelten und rumballern üben, versucht er dem seltsamen Verhalten der Erwachsenen einen Sinn abzuringen.

Auf der Suche nach Freiheit vom piefigen Alltag stürzt sich Rene gemeinsam mit der bis zur Besinnungslosigkeit gelangweilten Dorfjugend in immer verwegenere Abenteuer, bis es eines Nachts zur Katatrophe kommt, in der ein Bagger die Hauptrolle spielt… (Klappentext)

Rezension:
Alles Gute kommt von Oben. Ob dies der Fall ist, wenn man den Titel wahr werden lässt, sei dahingestellt, den bekannten Puppenspieler Rene Marik scheint es jedoch nicht geschadet zu haben. Und so nimmt uns der Komödiant mit, in seine doch recht sonderbare Kindheit, die zunächst einmal geprägt ist von Kommandoton und ständigen Geballer, wenn die „Grünen“ nmal wieder ihre Feldübungen abhalten.

Die „Grünen“ sind in diesem Fall die in einer Kaserne stationierten Soldaten, deren Kantine durch Mariks Eltern betrieben wird und so fühlt sich der Junge, der dem ganzen nichtsw abgewinnen und sich auf die Erwachsenen auch keinen Reim machen kann, oft genug wie ein Außerirrdirscher. Die Schule fällt ohnehin hinten runter.

Rene Marik beschreibt mit seinem eigenwilligen Humor das Aufwachsen zwischen Uniformen, kleineren und oft größeren familiären Katastrophen. Kurzweilig, slapstickhaft sind die Kapitel. Diesen stil muss man mögen, sonst funktioniert diese amüsante Biografie nicht, in der es nie geradlinig zugeht, sondern immer kurvenreiche Wege genommen werden.

Man durchlebt mit dem Autoren Tagträume in langatmigen Schulstunden, derer gibt es viele, oder die Flucht vor dem Schlägertypen im angrenzenden Dorf, der noch ganz andere Seiten hat. Der Ich-Erzähler versetzt sich zurück in seine Kindheit und lässt die Erinnerungen lebendig werden, um dann doch gegen Ende unverhofft ins kalte Wasser geworfen zu werden.

Dieses Stilmittel der Wendung ist hier angebracht, da der Bruch zwischen Kindheit und Jugend mit rosaroter Brille und vollkommenen Erkennen der Realität sehr abrupt erfolgt und zu einem notwendigerweisen nachdenklichen Ende führt, welches sich schon für sich lohnt, gelesen zu werden. Mit einem Appell, worauf wird nicht verraten, endet diese Kindheitsbiografie und man gelangt schon als Leser zu der Erkenntnis, dass humorvolle Menschen im Grunde ernst sind.

Oder umgekehrt? Das bleibt Mariks Geheimnis, der nicht nur mit seinem Puppenspiel die Menschen zum Schmunzeln und Lachen bringt, sondern dies auch in Textform schafft. Einige Längen gibt es im Handlungsverlauf, was den Erinnerungen geschuldet sein mag, dennoch hätte ich mir manche Ereignisse etwas ausführlicher geschildert gewünscht. Das ist dann jedoch Freiheit des Schreibenden, wie viel man von sich preiszugeben bereit ist oder wie viel man seinen Lesern zumuten mag.

Rene Marik hat, zumindest meistens, die richtige Balance gefunden.

Autor:
Rene Marik wurde 1970 in Hildesheim geboren und ist ein deutscher Puppenspieler, Komiker, Gitarrist, Sänger und Schauspieler. Nach einer abgebrochenen Lehre als Kfz-Mechaniker holte er sein Abitur nach und studierte zunächst in Siegen Mathematik, bis er 1995 an die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin wechselte und das Fach „Puppenspiel“ belegte.

1999 erhielt er sein Diplom und war in den Jahren darauf Mitglied des Ensembles am Theaterhaus Jena. Regelmäßige Auftritte im Quatsch Comedy Club und in „Bar jeder Vernunft“ machten ihn bekannt. Seine Auftritte wurden mehrfach ausgezeichnet. Seine bekannteste Figur ist ein sprachbehindeter und blinder Maulwurf. Regelmäßig tourt er durch Deutschland. Marik lebt in Berlin.

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