Gesellschaft

Asmo Tear/Pjotr X: Tränenhaus

Inhalt:

Für den zwölfjährigen Dominik ist das Leben die Hölle. In der Schule wird er brutal gemobbt und seine Eltern benutzen ihn, um ihre Drogensucht zu finanzieren. Nur sein neuer Freund Piet hält zu ihm und gibt ihm neuen Lebensmut. Schließlich geraten die Dinge immer mehr außer Kontrolle und der Junge landet in einem Heim, wo er vom regen in die Traufe kommt.

Doch Dominik sinnt auf Rache und erhält eines Tages durch ein Geschenk, das nicht aus der realen Welt stammen kann, die Möglichkeit zurückzuschlagen. Menschen in Dominiks Umfeld sterben… (Klappentext)

Rezension:

Die im expliziten Horror mit übernatürlichen Elementen versehene vorliegende Erzählung ist nichts für schwache Nerven. Hart an der Grenze zum Trash sind es hier immer wieder explizite Beschreibungen, die ein Kopfkino in Gang setzen und somit „Tränenhaus“ nicht nur zu einer schweren, gar zu einer beinahe qualvollen Lektüre machen.

Dabei bewegen sich die Autoren, die hier unter Pseudonym veröffentlicht haben, zunächst in einer Genre-Mischung aus Krimi und Thriller, wenn sie uns Lesende die Hauptfigur kennenlernen lassen, die Erschreckendes zu erleiden hat. Die Eltern, mehr als kaputt, benutzen den zwölfjährigen Dominik zur Finanzierung ihrer Drogensucht, auch in der Schule findet der Junge keine Ruhe. Rasant ist das Erzähltempo von Beginn, sowie die Stimmung ernüchternd ist.

Man leidet sofort mit der Hauptfigur, die man eigentlich nur aus dieser doch recht kompakt gehaltenen Erzählung herausziehen und in Sicherheit wiegen möchte. Dabei wird der Gutteil an Unmenschlichen nur durch das Kopfkino im Inneren bestimmt, was aber vollkommen ausreichen kann, um körperliche Reaktionen in Gang zu setzen. Mehr als einmal muss man die innerhalb eines Zeitraums von wenigen Monaten spielende Geschichte beiseite legen, um sie durchzustehen.

Zumindest, wenn man selbst menschliche Seiten hat. Davor warnen auch indirekt die Content-Warnung zu Beginn und das dem Roman angefügte Nachwort, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es nicht besser gewesen wäre, es als Vorwort abzudrucken.

Die in der deutschen Hansestadt Hamburg spielende Geschichte bringt wichtige Themen aufs Tableau und besticht durch ihre zwei Hauptprotagonisten, die man nur sympathisch finden kann. Ohne die, die ebenso wie alle anderen Figuren ihre Ecken und Kanten haben, würde man die Erzählung sonst nicht durchstehen, allem voran Dominik, der Unmenschliches erleiden muss, sich aber dank seines Freundes, auch in später seelischer Verbundenheit, lernt gegen seine Widerparts zur Wehr zu setzen.

Diese sind die verschiedenen Facetten des absolut menschlichen Bösen. Die Autoren bedienen hier ein klassisches Schwarz-Weiß-Schema, was aufgrund der Härte der Beschreibungen noch mal um so mehr seine Wirkung entfacht.

Beinahe allein aus Dominiks Perspektive erleben wir die Handlung. Zeitsprünge wie Rückblenden vervollständigen Hintergründe, auch teilweise sehr detaillierte Ortsbeschreibungen lassen Bilder vor dem inneren Auge entstehen, derer man sich nicht entziehen kann, obwohl man genau das die ganze Zeit möchte.

Ins Trashige kippt die Handlung, die ansonsten sehr viel daran setzt, schlimmste Kopfkino-Szenarien in Gang zu setzen, wenn übernatürliche Elemente vor allem gen Ende einen größeren Raum einnehmen. Das hätte es hier nicht gebraucht, außer man gesteht der Hauptfigur das Schlimmste was ihr angetan wurde, zu manifestieren und in kindlicher Phantasie umzukehren, was sprachlich und psychologisch eine tolle Umsetzung durch die Autoren wäre. Im schlechtesten Fall könnte es aber auch der einzige Ausweg aus einer Geschichte gewesen wäre, von der man nicht wusste, wie man sie sonst hätte beenden können.

Das Ende jedenfalls nimmt sehr viel von dem weg, was die Erzählung zu Dreiviertel ausmacht, was schade ist.

Wer die Content-Warnung zu Beginn und das Nachwort gelesen hat, weiß jedenfalls, worauf er sich einlässt, wenn man das ganze multipliziert. Für alle anderen wird die Erzählung kaum lesbar sein.

Autoren:

Asmodina Tear ist das Pseudonym einer Autorin., die 1985 in Helmstedt (Niedersachsen) geboren wurde. Nach einer Ausbildung im Verwaltungsdienst und dem Erlernen von drei asiatischen Sprachen, entschied sie sich endgültig für das Schreiben und verfasst sowohl Gedichte als auch Kurzgeschichten und Romane.

Pjotr X, ebenfalls ein Pseudonym, schreibt u. a. Horror mit Splatter-Elementen. Er wuchs zwischen Ruhrgebiet und Münsterland auf und studierte an der Universität Münster bevor er sich dem Schreiben widmete. Ein erstes Manuskript entstand in den 1990er Jahren, welches später veröffentlicht wurde. Weitere Geschichten folgten.

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Hans-Christian Dany: Schuld war mein Hobby

Inhalt:

Ein Düsseldorfer Galerist macht Hans-Christian Dany das Angebot, gegen einen Pauschalbetrag zwölf Texte zu schreiben, die online veröffentlicht werden sollen. Ohne Vorgabe von Thema oder Umfang. Der Auftrag mutiert zur literarischen Reise in den Zerfall einer Familie, der sich als Symptom für das Leben in einem kranken Land der Nachkriegsgeschichte erweist.

Dany schreibt über sein Erbe im juristischen und im übertragenen Sinne, über buchhalterische wie emotionale Forderungen und Verbindlichkeiten und über den eigenen (fast unglaublichen) Weg vom Künstler und Schriftsteller zum verschuldeten Firmenerben, Arbeitgeber und »Minusmillionär«. Die Reflexionen zwischen Kunst und großem Geld sind nicht nur autobiografische Essays, sondern auch Versuche einer eigenen Standortbestimmung im ausklingenden Neoliberalismus. Doch, was ist, wenn es sich, wie abzeichnet, bewahrheitet, dass der Galerist die versprochenen Honorare nicht zahlt? (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Am Rande des Abgrundes zwei Schritte voran, sieht sich der Sohn, als er mehr oder wenig gezwungen das beinahe bankrotte Familienunternehmen übernimmt, obwohl er ja eigentlich vom Schreiben leben wollte. Doch nun muss er Schulden jonglieren und Bilanzen lesen, die weit entfernt von rosig sind. Die Glanzzeiten des Aufstiegs sind da schon lange vorbei, hatte der Verfall auch schon zu Zeiten seiner Kindheit begonnen, doch, wer Schulden macht, mutiert zum Liebling der Banken. Die Rolle also, die er künftig spielen wird, ist schnell gefunden. Am Leben gehalten, durch den Künstler, der jetzt schreiben muss, um zu überleben.

Hans-Christian Dany erzählt vom tiefen Fall einer Hamburger Kaufmannsfamilie, den berühmten Beispiel von Thomas Mann in ihrem Eifer gar nicht so unähnlich und doch kompakt in seinem Essay „Schuld war mein Hobby“. Dabei spürt er dem Kippen der wirtschaftlichen Stabilität hinein ins Ungewisse nach, welches wie ein Gleichnis auf die sich nach dem Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik lang anhaltende Krise wirkt, für die die Familie ein Beispiel von vielen ist.

Immer nah am Abgrund spürt der Autor den einzelnen Familienmitgliedern nach, dem Vater etwa, der den Betrieb schwerkrank übergeben muss, obwohl der jüngere Bruder dessen eigentlich dafür vorgesehen war, der jedoch selbst psychisch krank mit den eigenen inneren Dämonen zu kämpfen hat, der Mutter, nie wirklich in die Geschäfte ihres Mannes eingeweiht und der älteste Sohn darum kämpfend, eine bröckelnde Fassade aufrecht zu erhalten.

Was sind wir unseren Familien, Angehörigen, viel mehr uns selbst schuldig? Wie gehen wir mit vererbten Lasten physischer und psychischer Natur um? Was macht dies mit uns? Fragen, die nur ein jeder für sich selbst beantworten kann, da die Gesellschaft um uns herum, viel zu wenige Antworten dafür bereit hält. Diskussionsmaterial und Denkschrift zugleich, pendelt der Text entlang der Biografie und philosophischer Überlegungen, die durch das Beispiel greifbar werden.

Hoch spannend erzählt der Autor zugleich von einer spannungsgeladenen Beziehung zu Eltern und dem jüngeren Bruder und zeigt, was es mit uns macht, wenn wir die Last der Verantwortung schultern, ohne dem wirklich gewachsen zu sein, aber auch wie viele Berge Kampfes- und Überlebenswille zu versetzen vermag, ohne dass uns am Ende immer klar sein muss, wie wir Hindernisse überwunden haben. Stoff zum Nachdenken immerhin, manchmal etwas schwergängig, jedoch durchweg spannend, wenn man sich auf diese Mischung einlässt.

Autor:

Hans-Christian Dany wurde 1966 geboren und lebt als Künstler in Hamburg. Seine Texte erscheinen u. a. bei Edition Nautilus. Um vom Schreiben leben zu können, geht er wechselnden Tätigkeiten nach. Von einigen ist hier in diesem Essay die Rede.

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Werner Sonne: Israel und wir

Inhalt:

Werner Sonne war am 7. Oktober 2023 in Israel. Schon 50 Jahre zuvor hatte er als junger Reporter über den Jom-Kippur-Krieg berichtet – und nun wiederholte sich die Geschichte. In diesem Buch blickt der bekannte ARD-Journalist auf die hitzigen deutschen Debatten mit Israel. Zugleich erzählt er die Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen – von den schwierigen Anfängen unter Adenauer und Ben-Gurion bis zum Kauf des israelischen Raketenabwehrsystems Arrow 3 und der Frage, was die Formel von der Sicherheit Israels als „Staatsräson“ Deutschlands konkret bedeutet. So bietet dieses anschaulich geschriebene Buch Hintergründe, macht Argumente verständlich und liefert „food for thought“ für eine der drängendsten und umstrittensten Debatten der Gegenwart. (Klappentext)

Rezension:

Nicht erst seit dem terroristischen Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und den sich daran anschließenden neuen Gaza-Krieg wird in Deutschland intensiv über das Verhältnis zu Israel diskutiert. Während sich antisemitische Verfälle häufen, der Ton sich nicht nur in den sozialen Netzwerken verschärft, stellt sich die Politik dagegen mehrheitlich klar an die Seite Israels. Die Sicherheit des Landes sei Staatsräson, heißt es immer wieder, doch was bedeutet dies überhaupt? Wie weit geht Solidarität?

Sollte sie bedingungslos sein und kann sie das überhaupt, angesichts einer Regierung, der rechtsextreme Minister angehören, überdies in Anbetracht eines Konflikts der auch in Zukunft kaum aufzulösen sein wird? Der Journalist Werner Sonne, der bereits als junger Reporter aus Israel berichtete, untersucht unser Verhältnis zu Israel und stellt die Frage, was ist legitime Kritik und wo beginnt als Israelkritik verbrämter Antisemitismus.

Soweit das Grundgerüst dieses kompakt gehaltenen Sachbuchs, welches vom Ausgangspunkt der neuesten Entwicklungen einen Blick in die Geschichte wirft. Hier beginnend, nach dem Zweiten Weltkrieg, zeigt Werner Sonne, wie bereits die Gründer der Staaten, im Hintergrund an einer Zusammenarbeit werkelten, die bis in unsere heutige Zeit hinein wirkt.

Zunächst im Hintergrund geheim gehalten, ist die Kooperation beider Länder auf geheimdienstlichen und militärischen Gebiet heute sehr dicht und intensiv. Widerstände dagegen gab es anfangs auf beiden Seiten. In Israel protestierten zu Beginn nicht wenige auf politischer Seite und in der Bevölkerung gegen eine Zusammenarbeit mit den Deutschen, die unmenschliches Leid über fast alle Familien gebracht hatten. Wie konnte man da etwa verlangen, Uniformen für die im Aufbau befindliche neue deutsche Armee zu nähen, wo doch manche in den KZs einige Jahre zuvor gezwungen waren, für die SS dergleichen zu tun? Verbat es sich anderseits, im Anbetracht beider Geschichte, Rüstungsgüter wie U-Boote von den Deutschen zu beziehen?

Der Autor schaut nicht nur auf die militärische wie geheimdienstliche Zusammenarbeit. Werner Sonne zeigt, was die Sicherheitskooperation Israels mit Deutschland und umgekehrt in den ersten Jahren ausmachte und worin sie heute besteht, beleuchtet ein Verhältnis, welches von Beginn an besonderer Natur gewesen ist und weshalb dies wichtig ist, zu durchdenken, wenn wir über die heutige politische Lage zwischen beiden Ländern und in der Region selbst diskutieren. Hält so der Ausspruch von der Staatsräson Deutschlands gegenüber Israel noch stand?

Mit diesem sehr sachlich gehaltenen Werk zeigt Werner Sonne die historische Entwicklung einer besonderen Beziehung auf und gibt Denkanstöße und Material für Diskussionen. Er stellt sich dabei nicht auf eine Seite oder präsentiert vermeintliche Lösungen. Beim Lesen wird man nicht umhin kommen, an der einen oder anderen Stelle vielleicht einen anderen Standpunkt einzunehmen, doch wird man vielleicht einzelne Entscheidungen der Politik besser nachvollziehen können, warum sie so gefallen sind.

Wenn das erreicht ist und gewisse Denkanstöße damit gegeben sind, ist mit diesem Werk schon viel gewonnen und das ist mehr als man von einem historischen Beziehungsabriss als Diskussionsbeitrag erwarten darf.

Autor:

Werner Sonne wurde 1947 geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Seine journalistische Ausbildung begann er beim Kölner Stadt-Anzeiger, wo er sein Volontariat abschloss, anschließend arbeitete er bei der Nachrichtenagentur UPI und wechselte dann zum Hörfunk des Westdeutschen Rundfunks. Dort berichtete er als Korrespondent aus Bonn und Washington, bevor er 1981 zum Fernsehen wechselte. Nach verschiedenen Stationen arbeitete er als Auslandskorrespondent und Studioleiter, u. a. in Bonn, Washington und Warschau. 2004 wurde er Korrespondent beim ARD-Morgenmagazin. 2012 verabschiedete sich Sonne in den Ruhestand.

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Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Inhalt:

Constanze zieht nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten in die Wohngemeinschaft von Jörg, Anke und Murat. Was zunächst als Übergangslösung gedacht war, entpuppt sich als zunehmend stabil. Da ist Jörg, dem die Wohnung gehört und der eine große Reise plant; Anke, die als mittelalte Schauspielerin kaum noch gebucht wird und plötzlich nicht mehr die einzige Frau in der WG ist; und Murat, der sich einfach keine Sorgen machen will und dessen Lebenslust auf die anderen mitreißend und manchmal auch enervierend wirkt.

Constanze sorgt als Neuankömmling dafür, dass sich die bisherige Tektonik gehörig verschiebt. Alle vier haben ihre eigenen Träume und Sehnsüchte und müssen sich irgendwann der Frage stellen, ob sie eine reine Zweck-WG sind oder doch die Wahlfamilie. (Klappentext)

Rezension:

Ein Kammerspiel zwischen zwei Buchdeckeln ist der neue Roman „Wohnverwandtschaften“ der Hamburger Autorin und Übersetzerin Isabel Bogdan, die nun einem Ein-Pfauen- und einem Ein-Personen-Stück der Dynamik von Vieren folgt und so eine kurzweilige Erzählung schafft, deren Figuren einem praktisch sofort ans Herz wachsen.

Sie alle haben sich zusammengefunden, grundverschieden, doch zusammen ist man weniger allein, das gilt in verschiedener Art und Weise für die Protagonisten, deren Leben wir über den Zeitraum von zwei Jahren verfolgen, aus derer Sicht abwechselnd erzählt wird. Schnell bekommen Anke, Constanze, Murat und Jörg ihre Konturen innerhalb derer ihnen zugeschriebenen Kapitel, die mal als innerer Monolog als auch Gespräch zwischen mehreren daher kommen, jede Figur dabei in ihrem ganz eigenen Duktus.

ANKE: Ehrlich gesagt: Du bist manchmal ein bisschen unempfindlich für so was. Ist dir schon mal aufgefallen, dass alle anderen die Klotür hinter sich zumachen? Und etwas anhaben, wenn sie nicht allein sind.
MURAT: Ich wohne hier!
ANKE: Aber doch nicht jetzt, um diese Zeit!
BEIDE lachen.

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

In diese Art Erzählstruktur muss man erst hineinfinden, doch schnell gewinnt man Übersicht, kann sich diese Wohngemeinschaft vorstellen, in der jeder seine inneren Konflikte und Gedanken einbringt, Haarrisse zeigen sich schnell, doch dunkle aufziehende Wolken fordern erst schleichend, dann immer mehr die Konfrontation.

Doch noch bleiben? Ich will gar nicht so richtig nach Hause, ich will nicht Jörgs Verwirrtheit ertragen, ich will nicht so gereizt reagieren, wenn er zum hundertsten Mal irgendein Quatsch fragt. Hoffentlich geht das wieder weg, es ist jetzt schon ganz schön lange so.

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Einzelne Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, mit zunehmender Seitenzahl verschärfen sie sich, was zugleich Auswirkungen auf das Erzähltempo hat. Der Konflikt der Gruppe ist glaubwürdig dargestellt, wird zum Handlungsgegenstand, um den sich alles dreht, könnte sich so reell abspielen. Man darf aber auch feststellen, dass Bogdans Figuren ein Glücksfall für das aufgebaute Szenario sind.

Eingebettet in der quirligen Hafenmetropole braucht es nicht viel, um mit dem Roman warm zu werden. Wer ein wenig sucht, findet jedoch Anspielungen aus Musik und Literatur oder aus dem ersten Buch Isabel Bogdans „Sachen machen“. Eine gewisse Band taucht da wieder auf. Ansonsten ist natürlich der Konflikt einer, wie er in vielen Familien irgendwann auftauchen dürfte. Wie hart aber, wenn es eine Gemeinschaft trifft, die man sich selbst erwählt hat? Es trifft mitten hinein ins Herz.

Aber bei Jörg ist was passiert, bei Jörg ist viel zu viel passiert, nur das Falsche, Jörg hat diesen riesigen Stein im Kopf, den man nicht ausgraben kann, es gibt keinen Spaten für die Versteinerung eines Gehirns, man muss doch irgendwas tun können? Irgendwas?

[…]

Wie soll das weitergehen?

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Das dröselt die Autorin feinfühlig auf, mitsamt einer Bandbreite vorstellbarer Reaktionen, wie sie in einer solch kompakt gehaltenen Erzählung möglich ist. Kein Wort ist dabei zu viel. Jeder Sprung, jede Lücke sind bewusst gesetzt, ergeben mitsamt der unterschiedlichen Figurenstile ein harmonisches stimmiges Bild.

Praktisch unmöglich, so gar keinen Zugang zu bekommen, gerade da es eine Thematik betrifft, die folgerichtig wie eindrücklich dargestellt wird, derer man bei einem selbst nahestehenden Personen (und wohl später auch bei sich selbst) zunächst nicht eingestehen möchte, dass sie problematisch ist.

Sie sind jetzt natürlich alle da, ich kenne die Gesichter, aber ich habe nicht alle Namen parat, […].

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften

Erkennt man es, ist es beinahe zu spät. Alle Tragik und Traurigkeit hat Isabel Bogdan hier hineingesteckt und doch ist „Wohnverwandtschaften“ ein lebensbejahender Roman und ein Appell, die gemeinsame Zeit, die man mit seinen Liebsten hat, zu genießen. Nicht nur deshalb lesenswert.

Autorin:
Isabel Bogdan wurde 1968 in Köln geboren und studierte nach dem Abitur Anglistik und Japanologie in Heidelberg und Tokyo. Mit ihrer Familie lebt sie in Hamburg und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin (u.a. Jonathan Safran Foer, Sophie Kinshalla und Megan Abbott), liest und schreibt selbst, hauptsächlich in Blogform aber auch in der Kolumne „Was machen die da?“, die Menschen beschreibt, die ihren gewöhnlichen und manchmal außergewöhnlichen Beruf leben und lieben. Ihre Romane „Der Pfau“ (2016) und „Laufen“ (2019) wurden verfilmt.

Sie ist Vorsitzende des Vereins zur Rettung des „anderthalb“ und erhielt 2006 den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzung, 2011 den für Literatur.

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Verlagsgeschichte: 60 Jahre Wagenbach

Wie überlebt man gute Bücher? Besser als schlechte jedenfalls! Der unabhängige Verlag für wildes Lesen feierte im letzten Jahr sein sechzigjähriges Bestehen und das, obwohl er sich anfangs gegenüber politischen Widerständen durchsetzen musste und heute ebenso wie andere mit steigenden Produktionskosten und den Schwund von Leserinnen und Lesern zu kämpfen hat. Nicht einfach, wenn man weder dem Mainstream folgen möchte, Nischen entgegen wirtschaftlicher Erwägungen besetzt hält und sich ganz und gar dem Genuss schön gemachter Bücher hingeben möchte. Wie in den Anfangsjahren eben auch.

Dabei hat der Verlag viel zu bieten, anfangs kontrovers diskutierte Themen, anspruchsvolle Essays und Lesestücke, sehr schnell viel Literatur aus Italien, Lateinamerika, Spanien und innerhalb seiner „roten Reihe“ Alan Bennetts „Die souveräne Leserin“, die lesende britische Monarchin und nicht nur sie als bemerkenswerten und überraschenden Bestseller innerhalb der Verlagsgeschichte. Auf die kann man zurückblicken und dabei überraschend vielseitige Texte, nach Erscheinungsjahr im Verlag geordnet, lesen. In diesem wunderbaren Almanach zum Jubiläum und dabei auch Einblick in Verlagsgeschehen nehmen. Wie ging das damals eigentlich, das schöne Buch? Und wie geht das heute?

Zettel und Stift daneben legen, zum Notieren, ist jedenfalls zu empfehlen. Sei es, um Namen für das spätere Recherchieren herauszuschreiben oder die Wunschliste zu verlängern. Letzteres wird in jedem Fall passieren.

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Scott Alexander Howard: Das andere Tal

Inhalt:
Dieses Tal ist ein besonderer Ort. Geht man nach Osten oder Westen, stößt man auf die gleichen Häuser, Hügel, Straßen – doch alles ist zwanzig Jahre zeitversetzt. Nur in Trauerfällen dürfen die Grenzen passiert werden. Als die junge Odile in Besuchern aus der Zukunft die Eltern ihres Freundes Edme erkennt, weiß sie, dass er bald sterben wird. Was wäre, wenn Odile das ihr auferlegte Schweigen bricht? Ein bewegendes und außergewöhnliches Debüt über Freiheit und die Macht des Schicksals. (Klappentext)

Rezension:
Ein Schlag in die Magengrube, der einem zum Nachdenken bringen wird, ist das schriftstellerische Debüt Scott Alexander Howards, der mit „Das andere Tal“ ein philosophisches Gedankenexperiment in einer kühlen dystopischen Welt wagt, welches in eine Coming of Age Geschichte eingebettet ist.

Anfangs ist nicht klar, wohin die Reise geht, genau so wie der Mantel der Erzählung sich erst nach und nach erschließt, wagt auch die Hauptprotagonistin zunächst den Blick über die Grenzen ihrer Welt hinaus. Das Leben beschränkt sich auf das von ihren Mitmenschen und ihr bewohnte Tal, dessen Grenzen man nur unter strengen Voraussetzungen überschreiten darf.

Je nach welche Richtung man einschlägt, reist man damit entweder zwanzig Jahre in die Vergangenheit zurück oder in die Zukunft, doch wer dies tut, könnte unachtsam das Leben aller im Hier und Jetzt und allen Zeiten für immer verändern. Das mächtige Conceil und die Gendarmerie wachen seit jeher über dieses gesellschaftliche Konstrukt, doch was gilt das noch, wenn es einen engen Freund betrifft?

Kühl ist die Atmosphäre in diesem Roman, dessen Figuren über lange Strecken genau so kühl bleiben, auch die Hauptprotagonistin selbst, wie auch die Enge des Tals es ist, deren Beschreibung einem förmlich die Luft zum Atmen nimmt. Der Autor hat sich dabei Zeit für den Aufbau der Geschichte genommen, die zunächst langsam voranschreitet, um dann unweigerlich scheint, auf die Katastrophe hin zu steuern.

Dabei steht zum Einem die Frage im Raum, wie viel sind wir bereit als Einzelne an Verantwortung zu tragen oder wie weit einem gesellschaftlichen Konstrukt, welchem uns die Kehle zu schnürt, uns einengt? Wie weit aber würden wir selbst gehen, im Wissen, das ein kleinster Fehltritt alles Passierte vielleicht noch verschlimmern könnte. Fragen, die wie ein Damokles-Schwert ständig über die Hauptfigur schweben. Irgendwann, so ahnt man bereits zu Beginn, wird Odile für sich selbst Antworten darauf finden müssen.

Als beinahe einzige Figur mit Ecken und Kanten versehen, verblassen neben ihr beinahe alle anderen Figuren. Aus der Realität genommene Elemente werden dagegen in den Vordergrund gestellt. Zu weilen wirken damit gesellschaftliche und weltenbildende Elemente plastischer als das Figurenensemble selbst.

Die Grenze zwischen den Tälern mit einer Art Niemandsland erinnert zu sehr an den Eisernen Vorhang oder die innerdeutsche Grenze, die Frage nach der Erlaubnis um Betreten oder Ausreise zu grausam an nicht zu ferne Fragen, die heute den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen. Der Autor zeigt mit dieser Art von Verarbeitung und Übertragung, welche inneren Konflikte damit einhergehen können, so dass man am Ende doch wieder mit der Hauptfigur Odile mitfühlen wird, die es förmlich im Inneren zerreißt.

Nur aus ihrer Perspektive wird die Geschichte erzählt, die wir sie von früher Kindheit an bis hinein ins Erwachsenenalter begleiten. Fragen, die erklärungswürdig wären, wie etwa der Erhalt einer Gesellschaft, wenn im Grunde nichts von außen dringt, werden bewusst ausgeklammert, um sich alleine auf den Konflikt Odiles zu konzentrieren, was zwangsläufig zu Lücken führt, über die man beim Lesen stolpern wird.

Solcherlei Auslassungen führen dazu, kurz innehalten zu müssen. Nein, man hat nichts überlesen. Diese Information bekommt man nicht. Man muss mit der Lücke leben, die nicht wenig zu einem beklemmenden Gefühl beitragen wird.

Im letzten Drittel steigern sich sowohl Beklemmung als auch Erzähltempo. Man fiebert mit und bleibt doch bis zum Ende seltsam distanziert. Eine fiktionale Dystopie, die weder zeitlich noch örtlich irgendwo einzusortieren ist, wirkt wie die der Erzählung zugrundeliegenden Überlegung. Man liest sich eben durch eine Modelbetrachtung in Romanform.

Dieser Stil ist nicht für jedem etwas, wenn auch die behandelten Fragen interessant und sehr diskutabel sind. Ob das jedoch ausreicht, um sich dieser Lektüre hinzugeben, muss sich jeder selbst beantworten.

Autor:

Scott Alexander Howard lebt in Vancouver, British Columbia. Er wurde an der Universität von Toronto in Philosophie promoviert und war Postdoktorand in Harvard, wo er sich mit der Beziehung zwischen Erinnerung, Emotionen und Literatur beschäftigte. Das andere Tal ist sein erster Roman.

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Henning Kreitel: August Barthel 1 – Der Mord an der Mühle

Inhalt:

August Barthel ist Bürgerpolizist in der Sächsischen Schweiz. Nach einer Wanderung hört er Hilferufe aus einer nahe gelegenen Schlucht. Er vermutet, dass sie von Friedrich Hauer stammen, dem Zimmermann. Hinweise auf ein Verbrechen findet er dort aber nicht, nur dessen Handy. Vom Zuhälter Carlo Wolff erfährt Barthel von Hauers Plänen, die ehemalige Lochmühle bei Pirna in einen Edelpuff umzuwandeln. Auf Hauers Handy entdeckt er aufreizende Fotos der Wildhüterin Ronja Gräfe. Als er sie zur Rede stellen will, flieht sie. Hauer bleibt derweil verschwunden. Ein Mord wird immer wahrscheinlicher … (Klappentext)

Einordnung in der Reihe:

Henning Kreitel: August Barthel 1 – Der Mord an der Mühle

[Einklappen]

Rezension:

Von der quirligen Metropole Berlin verschlägt es den Polizisten August Barthel inmitten der Sächsischen Schweiz, als er das Haus seines verstorbenen Vaters erbt. Fortan nimmt er dort für zwei Gemeinden die Stelle des Bürgerpolizisten wahr, ein stiller Posten, den ihn mancher Kollege neidet. Mit der Ruhe indes ist es bald vorbei, als der umtriebige Zimmermann des Ortes verschwindet. Barthel beginnt sofort mit seinen Ermittlungen, nicht ahnend, in welches Wespennest er sticht.

Wenig temporeich beginnt vergleichsweise unscheinbar der erste Band der vorliegenden Krimi-Reihe aus der Feder Henning Kreitels, der uns Lesende in die idyllische Sächsische Schweiz entführt und nach und nach immer rätselhafter anmutet. Beinahe novellenhaft liest sich der leichtgängige Roman, mit dessen Figuren man sich leicht identifizieren kann. Dem Autoren ist hier die Ausarbeitung nicht nur seines Hauptprotagonisten gelungen. Klar, jedoch mit Ecken und Kanten hat Kreitel die Dorffiguren versehen und füllt damit einen Regionalkrimi von der besseren Seite und spielt mit Klischees wie Charakterzügen.

Der Kriminalfall wird ruhig erzählt, ohne haarsträubende Wendungen aufzunehmen, denen man schnell nicht mehr folgen könnte. Man folgt der Ermittlerfigur, wie sie nach und nach Puzzleteile auffindet, wieder verwirft oder neu zusammensetzt. Der Autor beweist hier, dass auch ohne hohem Erzähltempo ein spannendes Rätsel aufgebaut werden kann, wenn auch, gerade wer mehr den modernen Thriller oder Krimi gewohnt ist, sich in diese Art Erzählung wieder einfinden muss.

Ohne zu viele Worte zu verlieren, auf kompakten Raum, wird hier ein Zeitraum von wenigen Tagen erzählt, und ein Geflecht aufgebaut, welches August Barthel zu entwirren und überblicken versucht, der nicht nur gegen den Argwohn seiner Kollegen ankämpfen, sondern auch als praktisch wieder Zugezogener sich in die Empfindlichkeiten seines Ortes neu eindenken muss. Nicht klar zunächst, wer die Gegenspieler sind, vermeintliche sind beim Lesen schnell ausgemacht. Der Autor weiß jedoch mit Grautönen ebenso zu spielen, wie er auch Landschaftsbilder vor dem inneren Auge entstehen lassen kann.

Hier liegen die Stärken Henning Kreitels, der atmosphärisch seinen Reihenauftakt gestaltet, ohne erzählerische Lücken oder unbedachte Sprünge zu machen. An mancher Stelle wirkt diese Komposition fast zu ruhig, doch fängt sich der Roman sehr schnell, so dass man kaum von größeren Längen sprechen kann. Den Fokus hat Kreitel auf seinem Hauptprotagonisten und die Verstrickungen der handelnden Figuren untereinander gelegt, die ebenso gut vorzustellen sind wie die Gegend, in der die Handlung spielt. Damit ist die Art von Kriminalroman geschaffen, deren Ermittelnden man gerne auf den Pfaden weiterer Fälle folgen wird und so darf man gespannt sein, auch um die Entwicklung der Protagonisten willen, was uns mit August Barthel noch alles erwartet.

Ein viel versprechender Reihenauftakt, der an manchen Stellen fast vorabendserientauglich (Schreibt man das so?) daherkommt, mit zu vernachlässigenden Abzügen in der B-Note. Ein Kammerspiel auf Ortsgröße gebracht. Das ist doch etwas.

Autor:

Henning Kreitel wurde 1982 in Weimar geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Fotograf. Er absolvierte eine Ausbildung zum Bankkaufmann und studierte anschließend Kommunikationsdesign mit Schwerpunkt Fotografie in Stuttgart. Seit 2012 entstanden erste literarische Texte. Während eines Austauschsemesters in Island wurde eine seiner fotografischen Serien ausgestellt. 2014 schloss er sein Studium ab und ist seitdem als freiberuflicher Schriftsteller und Fotograf tätig. Seine Bilder wurden mehrfach ausgestellt, zudem ist er in der Deutschen Gesellschaft für Fotografie und im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller tätig, Vorsitzender deren Berliner Landesverbands. Kreitel, der in Berlin lebt, wurde 2022 in das PEN-Zentrum Deutschlands aufgenommen.

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Die Frankfurter Buchmesse 2024

Meine Premiere im vergangenen Jahr bedurfte einer Wiederholung und so bin ich auch diesmal wieder auf der Frankfurter Buchmesse gewesen, habe mich aber an meinem Vorsatz gehalten, nur die Fachbesuchertage zu nutzen. Im letzten Jahr war es stellenweise viel zu voll, was ich mir nicht mehr antun möchte, zumal, wenn ich schon die Gelegenheit habe, es anders machen zu dürfen. Einen Tag vorher bin ich mit der Bahn problemlos angereist, übrigens heute ebenso problemlos zurück, auch wenn der eigentliche Zug für die Rückfahrt bereits eine Woche zuvor von der Deutschen Bahn gecancelt wurde. Manchmal muss man halt Glück haben.

Auch mit meinem Hotel, welches im berüchtigten Bahnhofsviertel lag, war das so. Von außen sehr zweifelhaft, was noch freundlich ausgedrückt ist, war es zumindest von innen zwar sehr einfach, aber sauber, auf den Gang vielleicht etwas hellhörig, aber Fenster zum Hof ohne Straßenlärm, den ich eh nicht höre, wenn ich denn einmal schlafe.

Und mehr tut man ja eh nicht in einem Hotel, wenn man eine Städtereise macht, wegen was auch immer. Nach Einchecken im Hotel ging es dann auf das Messegelände, da ich in die Pressekonferenz zur Eröffnung hineinkommen wollte. Dafür aber hätte man extra Tickets gebraucht, die ich nicht hatte, auch nicht bekam und so habe ich den ersten „Eklat“ der Buchmesse verpasst, dem einige schon vorausgegangen waren und weitere folgen sollten.

Gastland war in diesem Jahr Italien, was aufgrund seiner Regierung, nicht allen gefällt, bestimmt doch das Gastland z. B. die Auswahl von Autoren und Autorinnen, die im Rahmen der Messe offiziell das Land vertreten „dürfen“. Kritiker der postfaschistischen Regierung kamen daher nicht auf offiziellen Wege auf die Buchmesse, konnten dennoch aber daran teilnehmen, auf Einladung ihrer Verlage hin.

Auf der Eröffnungsveranstaltung gab es jemanden, so zumindest Social Media, der diese demonstrativ verließ, als der italienische Kulturminister gesprochen hatte. Meine Frage ist, warum man sich eine solche Veranstaltung antut, auf der man weiß, wer sprechen wird und vor allem, mit welcher Ausrichtung sich der oder diejenigen wahrscheinlich präsentieren werden? Spart man sich das dann nicht lieber?

Wie dem auch sei, das ist eine kleine Randnotiz, trotzdem habe ich mir auch in diesem Jahr natürlich die Halle des Gastlandes angeschaut. Da konnte man jedoch die Klaviatur moderner Propaganda sehen. Ein Saal mit stilisierten römischen Säulen, die Bücher an den Rand gedrängt. Ein höherer Rückgriff als auf die Symboliken des alten Roms und der Bauten römischer Kaiser hätte nicht sein können, während im letzten Jahr das Gastland Slowenien noch die Bücher und ihre Übersetzungen in den Vordergrund gestellt hatte.

Los ging es aber mit einem anderen Italienbezug. Tobias Roth sprach am Stand von DLF Kultur über sein Werk „Florenz in der Welt der Renaissance“, an einem anderen Tag auf der Messe ebenso über „Rom in der Welt der Renaissance“, eines von denen wurde mir später übergeben zum Rezensieren, dem anschließend in einem Pavillon im Hof der Messe ein Gespräch über „Ein Jahr nach dem 7. Oktober“ folgte, als Versuch einer Bestandsaufnahme der aktuellen Entwicklungen in Israel. Auch das nächste Gespräch über Demokratien vs. Autokratien war nicht minder spannend, wie auch der Besuch des Bloggertreffens des Wagenbach-Verlags.

Am Stand hat sich der Verlag allen Anwesenden einmal vorgestellt, bevor dort für uns eine Lesung mit dem italienischen Autoren Mario Desiati startete. Nur leider kann er nicht ganz so gut Deutsch und hatte auch kein Mikrofon, so dass man ihn an den äußeren Ecken, wo wir teilweise auf Schaumstoffwolken saßen, kaum verstanden hat. Wenn ich also einen Wunsch frei hätte: Gebt den Autoren und Autorinnen bitte ein Mikrofon in die Hand und lasst sie entweder Englisch oder in ihrer Sprache sprechen und stellt jemanden daneben, der übersetzt. Ist für alle angenehmer, wäre es auch in diesem Falle sicherlich für den armen Autoren gewesen.

Besser hat dies am nächsten Tag für Martina Berscheid geklappt. Sie hat ihren Roman „Fremder Champagner“ auf der Leseinsel der unabhängigen Verlage vorstellen und daraus lesen können. Hier gab es Mikrofone. Anschließend habe ich ein paar Worte mit ihr und der Verlegerin des Mirabilis-Verlags (welcher in diesem Jahr mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet wurde) wechseln können.

Es war toll, beide zu treffen, wie auch Dmitry Glukhovsky, der ein wenig später am Stand der RandomHouse-Verlage sein neuestes Werk vorstellen durfte, eine Zusammenstellung vieler Zeitungsartikel und Kolumnen aus seiner Feder, über die Entwicklung Russlands. Gedanklich landete dieses Buch nebst vielen anderen natürlich auf meiner Wunschliste.

Nicht auf der Wunschliste, wie so viele, landete in meinen Koffer, wie ebenso viele, ein wenig später „Mein Freund YBor“, das Kinderbuch von Rüdiger Kinting, welchen ich danach treffen durfte. Diese Gespräche und Treffen sind es, die für mich diese Messen ausmachen. Wenn jemand ganz begeistert über sein Buch spricht, die Findung der Geschichte, der Gestaltung, ist das doch ansteckend. Ich bin in jedem Fall positiv gespannt auf dieses kleine Werk und freue mich schon, es zu lesen.

Ein anderer Aspekt der Messen, eher für den Blog wichtig oder den Schrittzähler, den ich nicht besitze, sind die Rundgänge zu den Verlagen. Das ist in Frankfurt ungleich schwieriger als in Leipzig, da alle ständig Termine haben und ich jetzt niemand bin, der selbige sprengt. Nach und nach hat es dann aber doch geklappt, auch wenn mir wiederholt Verlage begegnet sind, die keine Visitenkarten annehmen dürfen (Warum?) oder andere, die meinen, Bloggende nicht zu brauchen. Finde ich schwierig, in Zeiten, wo gerade kleine Verlage darum kämpfen müssen, sichtbar für das Publikum zu sein und doch jeder Beitrag doch nur helfen kann.

Man muss aber auch dazu sagen, dass das Ausnahmen waren. Viele freuen sich über das Interesse, erinnern sich an die eine oder andere Rezension und geben auch das Feedback, dass sie es tatsächlich an den Verkaufszahlen merken, wenn Beiträge über die Bücher erscheinen, übrigens auch in Literaturforen.

Den Abschluss des Tages bildete ein Umtrunk am Stand des Karl Rauch Verlags, dessen Bücher so unterschiedlich wie schön gestaltet sind und anschließend eine Veranstaltung des Netzwerks schöner Bücher von zehn unabhängigen Verlagen. Gott sei Dank, nachdem meine Kopfschmerzen wohl zu müde waren, um weiterzumachen. Die hatten mich von früh an leider begleitet. Aber zu den Zeitpunkt war alles wieder soweit in Ordnung, weshalb ich den Abend genießen und bei Pizza und Getränken mit Verlagen und Bloggenden ein paar wunderbare Stunden verbringen und wir Gleichgesinnte uns austauschen durften.

Natürlich ging es dabei auch um Bücher, aber schaut bitte selbst beim Netzwerk schöner Bücher vorbei. Einige davon werde ich im Laufe der Zeit vorstellen, aber hinter jedem stecken Verlegerinnen und Verleger, die tolle kreative Ideen umsetzen und sich nebenbei zum Teil gesellschaftlich engagieren, was viel mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte.

Der Abend endete spät, der nächste Tag startete früh und begann wieder mit Verlagsrundgängen und dem Bloggertreffen von Rowohlt. Dort wurde das kommende Verlagsprogramm vorgestellt und zwei Autorinnen durften zudem ihre Romane vorstellen. Jen Besser mit „Dirty Diana“ und Raphaelle Red mit „Adikou“. Von beiden Büchern lagen zu wenige Exemplare aus, als dass alle eines bekommen hätten, selbst, wenn alle sich nur für einem der beiden Romane entschieden hätten.

Ich habe keines genommen, da für mich die Programmvorstellung im Fokus stand und mich andere Sachen interessieren, aber wenn man sieht, dass so wenige Bücher ausliegen, nimmt man sich doch bitte nur eines, damit mehr Menschen die Chance bekommen, eines zu erhalten. So gehe ich zumindest bei solchen Veranstaltungen vor. Es ist ein Privileg, die Bücher kostenfrei zu erhalten, nur sollte man einschätzen können, was man daraus macht.

Ein Beispiel hierzu, ich hatte es wegen des Bloggertreffens nicht zu einer parallel stattgefundenen Signierstunde von Sasha Filipenko geschafft, der dort seinen neuesten Roman signiert hatte. Deswegen hatte ich vorher dem Verlag geschrieben, ob es vielleicht möglich wäre, für mich, eventuell eines signieren und zurücklegen zu lassen.

Nicht selbstverständlich auf einer Messe, wo alle Termine haben, auch noch solche Anfragen irgendwo zu vermerken und das auch nicht zu vergessen, was ich verstanden hätte. Aber das war ein ganz toller Moment, was mich riesig gefreut hat. Fast schon Tradition hat ein Gespräch mit einer mir bekannten Literaturagentin, bei dem wir uns über unsere Messeeindrücke unterhalten. Auch das ein Bälle einander zuspielen, weswegen ich solche Messen mag und das Bloggen liebe. Es hat schon was, zu sehen, dass auch andere diese Arbeit, die man macht, schätzen.

Danach ging es zum Bloggertreffen von Kiepenheuer & Witsch, wo die Übersetzerin und Autorin Isabel Bogdan ihren neuen Roman „Wohnverwandtschaften“ vorstellte und daraus las. Ich mag ihre Bücher sehr und freue mich darauf, auch dieses zu lesen. Meines hatte ich bereits, so dass ich mich anschließend nur mit meinen Büchern von ihr, die noch nicht signiert waren, in die Schlange einreihen konnte. Die Autorin hat sich jedenfalls sowohl beim Lesen als auch im Gespräch bei der Fragerunde sehr sympathisch gezeigt.

Bei Dorling & Kindersley (DK), Verlag toller Bildbände zu den verschiedensten Themen, wie auch Kochbücher oder Bildenzyklopädien, habe ich anschließend zusammen mit anderen den Tag ausklingen lassen, wieder mit tollen Gesprächen und (hier) mit einem Glas Kaffeecocktail. Am Samstag gab es dann nur noch ein Treffen mit meiner Ansprechpartnerin vom Verlag C. H. Beck, sowie ebenso beim Mitteldeutschen Verlag. Danach jedoch musste ich schon den Zug nach Hause nehmen. Oder wollte es, um den Besuchermassen zu entgehen. Hat geklappt, auch im ausgewählten (da nicht mehr an die Reservierung wegen Zugausfall gebundenen) Zug schnell einen Sitzplatz gefunden.

Im Zug erfuhr ich dann beim Verfolgen der Nachrichten und Social Media von der Debatte um Clemens Meyer, die hier zumindest einmal (und danach nicht wieder) erwähnt werden soll, welcher auf der Preisverleihung des Deutschen Buchpreises das Verhalten eines Kindergartenkindes gezeigt hat, was natürlich die mediale Aufmerksamkeit jetzt von der ausgezeichneten Preisträgerin Martina Hefter für ihren Roman „Hey, guten Morgen, wie geht es Dir?“ ablenkt. Kurzfristig mag das Clemens Meyer ein paar Bucheinkäufe mehr einbringen, langfristig wahrscheinlich aber jeder Verlagsmarketingkampagne schaden, zudem wird er vielleicht so schnell nicht mehr für einen Preis überhaupt nominiert werden.

Und so endete eine tolle Messezeit für mich, mit vielen interessanten Begegnungen und Gesprächen und Ideen, die ich jetzt erst einmal sortieren muss.

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Johannes Balve: Kirschblüte in Fukushima

Inhalt:

Fremdwerden im fremden und im eigenen Land. Als es zu einem Atomunfall im japanischen Fukushima kommt, beginnen all jene Geschichten mitreißende, beängstigende und tragische Momente anzunehmen. Einige Protagonisten bringen sich in Gefahr, andere versuchen dem Unheil zu entfliehen, ringen um die Suche nach sich selbst und neuer Lebensentwürfe. Ihre Wege kreuzen einander, in einer Zeit, in der Glaube an die Absolutheit der Technik obsolet geworden ist. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Eigentlich soll die französische Journalistin Jeanne für ihre Zeitung nur über ein Städtebauprojekt recherchieren, doch als plötzlich die Erde zu beben beginnt und ein Tsunami sicher geglaubte Grundsätze der japanischen Gesellschaft ins Wanken bringt, versuchen vor allem die Expats einen Ausweg. Möglichst weit weg vom Ort der Katastrophe möchten alle, während vor allem die Journalisten die Neugier packt und sich in der Unterwelt des Inselstaats weiteres Unheil zusammenbraut. Dieses Gerüst trägt den aus der Feder Johannes Balve stammenden vielschichtigen Gesellschaftsroman „Kirschblüte in Fukushima“.

Zunächst beginnt dieser in vergleichsweise gemächlichen Erzähltempo ein Figurentableau aufzufächern, deren handlungsstränge sich im Verlauf der Geschichte immer wieder kreuzen werden, wirft doch die Katastrophe alle lang geglaubte Sicherheiten über Bord. Der Botschaftsangehörige, der sein Team zusammenhalten versucht, das Mitglied eines Handelsvereins, welches die Familie möglichst schnell außer Landes bringen möchte, der Wissenschaftler, der auf taube Ohren stoßen wird. Als gesellschaftskritische Erzählung beginnt der Roman sich pro Handlungsstrang in einen Wissenschaftskrimi, Agententhriller und Familienroman aufzufächern.

Anfangs wirkt das irritierend, wie das sehr umfangreiche Figurenensemble, welchem der Autor schafft, allen ihre Ecken und Kanten zu verleihen. Jeder Protagonist ist so vielschichtig, wie auch handlungstreibend, doch gerade die ersten Seiten muss man noch sehr konzentriert lesen, um kein wichtiges Detail zu übersehen. Schnell aber zeigt sich, dass Johannes Balve es schafft, weder Handlungen noch Figuren aus den Blick zu verlieren. Dabei hat er Maß gehalten. Keine Seite wirkt überzählig, auch wird man nicht das Gefühl haben, es würde etwas fehlen. Für westliche Lesende eher ein Moment, stutzig zu werden, ist die beschriebene Obrighörigkeit innerhalb der japanischen Gesellschaft. Das mag so sein, bildet aber zu Bekannten durchaus einen gewissen Kontrast.

Wer die Stellen der Antagonisten ausfüllt, ist nicht immer ganz klar. Das wechselt auch zwischendurch, schafft aber ebenso eine Dynamik herbeizuführen, deren Sogwirkung man sich nicht entziehen kann. Das wirkt, ohne zu starke Brüche alles durchaus schlüssig, auch wenn die Agentengeschichte mit einigen Punkten durchaus over the top ist. Ob das nun gut oder schlecht ist, entscheidet sich wohl mit den Genrevorlieben. Aus der Perspektive heraus, dass Lesende ja um die Katastrophe wissen, wirken manche Stellen wie ein vor den inneren Auge ablaufender Film, in dem sich spannende mit sehr ruhigen Momenten abwechseln, den einen oder anderen Zeitsprung mit einbezogen.

Johannes Balve schafft es vieler Arten von Romanvorlieben mit „Kirschblüte in Fukushima“ gerecht zu werden, ohne sich zu verheddern. Nicht alle Auflösungen von Handlungssträngen sind dabei gleichermaßen gelungen, trotzdem können wohl alle etwas für sich hier finden. Wann hat man das schon mal? Zudem bei einem Autoren, der es schafft, sehr detailreich zu beschreiben, andererseits durch Auslassungen Bilder zu erzeugen. Empfehlenswert.

Autor:

Johannes Balve ist ein promovierter Literatur- und Bildungswissenschaftler und Schriftsteller. Seit 1990 forscht und lehrt er an deutschen und ausländischen Universitäten. In Japan hat er in Kanazawa den Lehrstuhl für Germanistik und Europäische Kulturwissenschaft inne. Er berät zudem andere japanische Universitäten und ist als wissenschaftlicher Gutachter tätig. Für deutsche Zeitungen und Magazine verfasste er zahlreiche Reportagen über Japan und veröffentlicht in deutschen und internationalen Fachzeitschriften.

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Matthias Sander: China – Auf dem Weg zur digitalen Supermacht

Inhalt:

Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping will sein Land dank Technologie zur Supermacht formen. Bei künstlicher Intelligenz, E-Autos und Computerchips zählt China schon zur Weltspitze. Doch weitere Fortschritte sind bedroht, etwa durch amerikanische Sanktionen und Xis hartes Durchregieren.

Die anschaulichen, erzählenden Texte des Auslandsjournalisten Matthias Sander erkunden Chinas technologische Ambitionen ganz konkret. Seine Reportagen führen durch den digitalen Alltag, stellen innovative Startups vor und beleuchten die staatliche Subventionspolitik. Dabei betrachtet Sander Technologie stets im größeren Kontext von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Individuum – und den Auswirkungen auf Europa. (Klappentext)

Rezension:

Wer aus Europa nach China kommt, dem fällt sofort auf, wie verbreitet Technologie hier ist. Zutrittsschranken an Flughäfen und Wohnanlagen öffnen sich per Gesichtserkennung. Auf den Bürgersteigen filmen Überwachungskameras all paar Meter die Fußgänger. Taxifahrer halten ihren Fahrgästen am Zielort kommentarlos einen ausgedruckten QR-Code hin, damit sie per Handy bezahlen. […] Der Alltag in chinesischen Metropolen ist so digitalisiert wie wohl nirgendwo sonst.

Matthias Sander: China – Auf dem Weg zur digitalen Supermacht

Nach überstandener Quarantäne in einem Hotel fragt der Journalist nach einer Zutrittskarte im Checkkartenformat für seine Wohnanlage, die sonst nur per Gesichtserkennung zu betreten ist. Sander bekommt mehrere ausgehändigt, muss jedoch schnell feststellen, wie praktisch im Alltag diese Art Zutrittsberechtigung ist, vor allem, wenn man z. B. in beiden Händen jeweils eine Einkaufstüte hat.

In der Praxis wird er die Karten höchst selten benutzen. Um so häufiger WeChat, den kleinen Alleskönner, der als App für die Mehrzahl der Chinesen das Internet komplett ersetzt. Taxifahrten und Stromrechnungen kann man u. a. darüber bezahlen, seine Reisen planen und Behördengänge erledigen, vielfach nur auf diesem Wege.

Doch was bedeutet das, wenn auf Algorithmen und Daten der Staat Zugriff hat, über Nutzungsrechte seine Bürger kontrollieren und sanktionieren kann? Was heißt das für Unternehmen, die im vorauseilenden Gehorsam einer politischen Linie folgen müssen und mit Selbstzensur sich ausbremsen, bevor es der Staat tut?

Bis zu welchem Grad kann so Fortschritt gehalten werden und Innovation nachhaltig entstehen? Matthias Sander hat sich auf Spurensuche begeben und erlebt beinahe autonom fahrende Autos, durchleuchtet die handfesten wirtschaftlichen Hintergründe des Taiwan-Konflikts und zeigt die vielen Schattenseiten des vermeintlichen Fortschritts des Landes auf.

Die „Große Firewall“ ist keine harte Mauer. Sie bedeutet, dass die chinesische Regierung den grenzüberschreitenden Datenverkehr filtert und gegebenenfalls blockiert. Das ist in China relativ einfach, weil das Netz ganz bewusst nur an wenigen Knotenpunkten mit dem globalen Internet verbunden ist.

Matthias Sander: China – Auf dem Weg zur digitalen Supermacht

Entstanden ist dieses hoch interessante Sachbuch aus einer Zusammenstellung von Zeitungsartikeln des Autoren, die unvoreingenommen kritisch, fasziniert, von verschiedenen Aspekten Chinas berichten und über Technologie immer wieder sowohl zur Bedeutung dessen im Alltag der normalen Bevölkerung kommen als auch zur großen Politik und derer Auswirkungen auf die Welt.

Geordnet nach verschiedenen Themenbereichen beleuchtet Sander das unaufhaltsame Streben nach wirtschaftlicher Autarkie und politischen Voranpreschen in einer Vielzahl technologischer Bereiche und zeigt eine Politik, die nach absoluter Kontrolle strebt, aber damit jede Innovation zunächst einmal ausbremst oder kappt, wenn sie zu mächtig, damit unbeherrschbar werden droht.

Sander zeigt ein Land im Zwiespalt. Startups etwa, die der KI Chat-GPT nacheifern wollen, jedoch sich bereits im Voraus selbst zensieren und so keinen umfassenden Nutzen bringen, sondern sich auf eng umgrenzte Bereiche fokussieren, wie ein Internet, welches ebenso determiniert zeigt, was die chinesische Staatsführung eben zulässt, aber eben auch ein China, welches stolz seine Erfolge präsentiert. Die größten Hersteller von E-Autos sind alles inländische Firmen, selbst Tesla präsentiert sich dort wie eine einheimische Marke.

Doch was bedeutet der technologische Fortschritt für die Menschen in Bezug auf geopolitische Konflikte, im Wettbewerb mit ausländischen Firmen, die einerseits um die Chancen auf dem chinesischen Markt wissen, anderseits dort zumeist in Joint-Ventures gezwungen, Ideen- und Patentklau befürchten müssen? Wie wappnen sich amerikanische und europäische Firmen dagegen, wo lernen sie voneinander?

Teslas Erfolg mag auf den ersten Blick überraschen. Schließlich stecken die USA und China in einem Wettstreit um die Tech-Vorherrschaft. China will bei Schlüsseltechnologien wie Elektroautos, autonomem Fahren und Batterien Selbstversorger werden. Daten, wie Tesla sie massenhaft zur Entwicklung des autonomen Fahrens benötigt, gelten für Peking als Produktionsfaktor und sollen das Land praktisch nicht mehr verlassen. Wie also erklärt sich der Erfolg für Tesla in China? Und wie lange kann er anhalten?

Matthias Sander: China – Auf dem Weg zur digitalen Supermacht

Sander beobachtet, zeigt einen Innovationsgeist, der wohl noch größer wäre, würde er nicht durch politische Vorgaben eingeengt werden, doch verfällt er nicht in reiner Lobhudelei oder alles verdammender Kritik, sondern versucht die Bedeutung dessen, was er sieht, zu beleuchten. Hintergründe und Geschichten dortiger Unternehmen im Kontext der chinesischen Politik, werden beleuchtet, als auch deren schlimmste Auswüchse aufgezeigt, etwa was geschieht, wenn Wissenschaftler zunächst einmal fernab jeder Moralvorstellung agieren können.

Über jeden dieser ursprünglichen Zeitungsartikel, die nun in Themenbereiche gegliedert sind, steht das Entstehungsdatum, was so sortiert noch einmal das unaufhaltsame Tempo aufzeigt, in welchem sich die chinesische Gesell- und Wirtschaft bewegt. Auch kann man diese häppchenweise lesen oder hintereinander weg als ganzes Bild. Dabei sind auch sehr komplexe Inhalte so aufbereitet, dass sie auch für Laien gut zugänglich sind und so zum Verständnis beitragen, ohne bestimmte Mittel und Wege diskussionslos gutheißen zu müssen.

Sander zeigt die Auswirkungen scheinbar unaufhaltsamen Voranschreitens, aber auch die vielen großen Aber, damit auch, wie wichtig es ist, solchen Technologiedystopien etwas eigenes, positives entgegenzusetzen. Gelingt das, so zeigt diese Sammlung von Reportagen, können wir vor allem den hier geschilderten negativen Auswirkungen Alternativen gegenüberstellen. In diesem spannenden Sachbuch zeigt sich, gerade in China ist nicht alles Gold was glänzt. Manches kann übernommen oder adaptiert werden. Anderes ist mit großer Vorsicht zu genießen, selbst wenn der erste Blick zum Staunen einlädt.

Autor:

Matthias Sander wurde 1996 in Mainz geboren und studierte zunächst Politik und Soziologie. Seit 2014 ist er Journalist der Neuen Zürcher Zeitung NZZ aus der Schweiz. 2020-2023 war er China-Korrespondent der Zeitung und berichtete zunächst aus Taiwan, danach aus Shenzhen, seit 2024 ist er Korrespondent der französischsprachigen Schweiz.

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