Freundschaft

Erri de Luca: Fische schließen nie die Augen

Inhalt:

Ein Sommer vor fünfzig Jahren auf einer Insel im Golf von Neapel: In seinem bislang persönlichsten Buch erinnert sich Erri De Luca, wie er erstmals die magische Kraft der Wörter erkannte. Und dasss sich die Hand eines Mädchens anfühlt wie das Innere einer Muschel. (Klappentext)

Rezension:

Der Erzähler erinnert sich zurück an seine Kindheit am Golf von Neapel, an den flirrenden Sommer in der die Zahl der Lebensjahre genau so hoch ist, wie die Anzahl seiner Finger. Mit Zehn endet sie, die Kindheit und so schaut der Autor zurück und macht sich selbst zum Protagonisten seiner eigenen Novelle, die typisch für De Luca einmal mehr von einer atmosphärischen Leichtigkeit getragen wird.

Aus der Ich-Perspektive des Kindes, welches mit der Mutter die Ferien auf einer Insel vor Neapel verbringt, erzählt der Autor und lässt eintauchen in ein Italien nach Kriegsende. Die ersten Feriengäste erobern sich ihre Plätze, darunter ein gleichaltriges Mädchen, in dessen Bann der Junge gerät. Zuneigung zweier Kinder, Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und nicht zuletzt der anderer.

Man taucht ein in die Geschichte, wie im Wasser zwischen den Fischerbooten, die der Junge beobachtet und sucht das Abenteuer, wie das Kind, welches sich mit einem einheimischen Fischer angefreundet hat und auch mal helfen darf. Wer schon Werke des Autoren gelesen hat, erkennt das wiederkehrende Motiv.

Überhaupt bleibt sich De Luca treu. Ein eingeübtes Schema wird hier wieder strapaziert. Nichts neues aus Italien, also. Egal, in welcher Reihenfolge man seine Erzählungen gelesen hat. Immer ist es der Junge, der in den Ferien auf der Insel nahezu frei umherstreunt, zwischen den Fischerbooten Antworten auf Fragen sucht, manchmal sogar welche findet. Das alles wird mit ruhiger Melancholie erzählt, gerade an der Grenze zu dem, was als Kitsch zu bezeichnen ist. Störend ist das nicht.

Dem Protagonisten begegnet die erste Liebe, die dieser nicht wirklcih einzuordnen ist, doch der erste Konflikt seines jungen Lebens wird damit heraufbeschworen. Aus der Sicht des erwachsenen Lesers wirkt das harmlos. Ein Handlungsstrang ist das, ohne Aufreger. Für die kindliche Hauptfigur, der Blick fast viel zu alt für das Alter, ist dies in dem Augenblick jedoch die ganze Welt.

So wie der Protagonist seine Umgebung und sein weibliches Gegenüber zu begreifen versucht, so nüchtern wirkt der Ton. Ausschweifungen finden sich bei De Luca nur in Form von wunderbaren Formulierungen, in die man sich hinein verliert. Sehr kompakt wird der Zeitraum von nur wenigen Wochen erzählt. Auch die Handlungsorte sind derer überschaubar.

Der Hafen, das Fischerboot, das Wohnhaus oder die Ferienunterkunft, der Strand. Wie geschrieben, Erri De Luca erzählt hier wieder die gleiche Geschichte, wie schon mehrfach, dies aber in Perfektion. Man fühlt sich in den kleinen Protagonisten hinein, der bald die Kraft der Worte finden wird, der Beobachter ist, beobachtet wird. Doch bleibt alles vergleichsweise harmlos. Große Überraschungen bleiben aus.

Trotzdem wirkt die Erzählung in ihrer ruhigen Tonalität, in der eigentlich nur der kindliche Protagonist greifbar wird, weniger die Mutter des Jungen. Schon das Mädchen, um die bald die Altersgenossen ebenfalls „kämpfen“ werden, sind für Hauptfigur und Lesende kaum zu fassen. Man kann sich das dennoch alles bildlich vorstellen. Die Novelle wirkt, wie ein per Hand mit der Videokamera gedrehter Urlaubsfilm. Der Einzige, der sich dabei weh tun wird, ist der Protagonist selbst.

Das war es auch schon. Ein Roman ohne wirkliche Ecken und Kanten, zumindest das hat Erri de Luca schon einmal anders hinbekommen, doch zumindest welche glückliche Kindheit hat die schon? Man muss das nicht gelesen haben, bekommt jedoch den Kopf frei. Eine Novelle wie ein kleiner Erholungsurlaub ist das. Manchmal braucht man das auch. Wer würde da widersprechen?

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Georg Thiel: Nachtfahrt

Inhalt:

Wien 1997. Markus, Matthäus, Lukas und Johannes kennen einander seit dem ersten Schultag und sind, obwohl sie von Temperament und Wesen unterschiedlicher nicht sein könnten, eng befreundet. Diverse Frauengeschichten, bewusstseinsveränderte Substanzen und eine Leiche später finden sie sich auf einem rasanten Roadtrip wieder, der allerdings ganz anders verläuft als geplant. (Klappentext)

Rezension:

„Die Katastrophe fängt damit an, dass man aus dem Bett steigt.“

Georg Thiel: Nachtfahrt

Im Grunde Alltag, der unberechenbar seine Protagonisten in ein kaum zu entwirrendes Chaos stürzt und die Leserschaft gleich mit. So könnte man diesen Roman zusammenfassen, in dem Georg Thiel seinen Protagonisten viel zumutet, gleichsam den Lesenden viel zutraut.

Dabei beginnt alles zunächst mit einem Knall, gleichsam einer zufallenden Tür oder den Koffer mit Sachen, der einem der Protagonisten vor die Füße geworfen wird. Wohlgemerkt vom Balkon herunter, komplementiert aus der Wohnung von der ehemaligen Freundin. So wirr geht es zunächst weiter. In den Stil muss man erst einfinden und lernt so die Hauptfiguren kennen. Freunde seit Kindertagen zwischen Jobs, Beziehungen und dem einen oder anderen Joint, der da die Runde macht.

Das ganze Leben, die unterschiedlichsten Charaktere, verteilt auf den schmalen Schultern der Protagonisten. Johannes ist da der Ruhepol in der Runde, Lukas voller wilder Ideen und irgendwann auch im Besitz eines Spanferkels als Hauptpreis des Kartenspiels in der Dorfwirtschaft. Wer bis hierhin nicht folgen konnte, wird an diesen Text seine helle Freude haben. wer eine klare Linie erkennt, der sowie so. Mehr darf, kann man jedoch auch nicht verraten, ohne allzu viel vorweg zu nehmen.

Der Stil ist gewöhnungsbedürftig, die Ausgestaltung der Handlungsstränge ist es auch. Alles ist vorhanden, dann wieder auch nicht. Das Tempo ist rasant, wird mit zunehmender Seitenzahl immer schneller. Der „Nachtfahrt“ wohnt ein Zauber inne, aber Obacht. Dennoch, einige Lücken bleiben. Nicht alles wird auserzählt.

Ohne diesen speziellen Humor, den der Autor hier eingewoben hat, funktioniert das nicht, sondern wirkt wie jeder andere schon mehrfach geschilderte Roadtrip auch. Nur wer hier lachen kann, für den funktioniert die Geschichte. Für alle anderen wird der Text nicht wirken. Die Haupthandlung selbst hätte dabei gerne ausufernder sein dürfen. Auf die Spitze getrieben ist das nicht. Auch das Ende wirkt zu abrupt. Hier ein paar Zeilen mehr, dafür die Vorgeschichte etwas weniger ausführlich. Widerum passt es zum Motto des Romans. Darauf ein Spanferkel, bitte.

Autor:

Georg Thiel wurde 1971 geboren und ist ein österreichischer Schriftsteller und Ausstellungskurator.

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Hendrik Bolz: Nullerjahre

Inhalt:

Ein Plattenbauviertel in Stralsund um die Jahrtausendwende, der nordöstlichste Winkel Deutschlands. Eine Welt, die, obwohl das Land längst nicht mehr „DDR“ heißt, wenig mit dem zu tun hat, was im Westen als Normalität durchgeht. Lediglich das RTL-Nachmittagsprogramm, das im Hintergrund zu hören ist, deutet darauf hin: Es sind die selben Nullerjahre.

Während die großen Brüder mit Glatze und Bomberjacke den Ton angeben, die Eltern mit eigenen Sorgen beschäftigt sind, stellen sich Hendrik und seine Freunde zwei Herausforderungen: Wie vertreiben sie sich die Zeit – und wie bekommen sie möglichst nicht auf die Fresse? Die Lösung findet sich: hart werden, stumpf werden. Die Mittel auch: Kraftsport, Drogen, Rap. (Klappentext)

Rezension:

Nach der großen Euphorie folgt zunächst die Ernüchterung. Arbeitsplätze brechen weg, wo blühende Landschaften versprochen wurden und so verlieren Hendriks Eltern und die seiner Freunde im Plattenbauviertel Knieper West den Anschluss an die Nachwendegesellschaft, während sich die Kinder und Jugendlichen ihren Platz erkämpfen. Der Weg bis ins Erwachsenenalter hinein ist steinig und voller Hindernisse. Da sind die im Viertel bekannten Schlägertypen noch das geringste Übel, immer öfter jedoch auch große Idole, denen es nachzueifern gilt, möchte man selbst nicht am unteren Ende der Rangordnung stehen. Oder am Boden liegen.

Hendrik Bolz‘ biografischer Roman nimmt uns mit durch seine Kindheit und Jugend im Plattenbauviertel, in welchem sich zunächst die Probleme häufen, aber auch die Heranwachsenden ihren Weg erst finden müssen, bevor das Leben in geregelten Bahnen verlaufen kann. Bis dahin wird viel ausprobiert und so befindet sich des Autoren alter Ego hin und hergerissen zwischen Verlockungen, den ältere Jugendliche ihm aufzeigen, bis zu Versuchen, sich durchzusetzen und zwischen Richtig und Falsch zu unterschieden.

Erzählt wird dies in derber Sprache, kurze prägnante Sätze wechseln mit wirren Gedankengängen, Rückblenden und Vorausschauen. Das ist nicht leicht zu lesen, zumal, wenn man vielleicht in der gleichen Zeit, aber in einem etwas anderen Rahmen aufgewachsen ist. Wer etwas behüteter seine Kindheit und Jugend verbracht hat, wird nur bestimmte Dinge nachvollziehen können, denen sich der Protagonist ausgesetzt sieht, teilweise von der einen oder anderen Episode wirklich abgestoßen sein.

Den ersten Alkoholrausch, die erste Prügelei mag man vielleicht noch nachempfinden. Die Gewaltexzesse, die Null-Bock-Mentalität und Perspektivlosigkeit sind dem jugendlichen Ich des Schreibers der Rezension (Mir!) dagegen unbekannt. Vielleicht hatte ich diese damals nur bei anderen aus den Augenwinkeln heraus registriert.

Doch, der Protagonist beweist nicht nur Anpassungs- sondern auch eine gewisse Wandlungsfähigkeit, mausert sich. Das ist bereits zu Beginn klar, anderenfalls wäre die Lektüre stellenweise kaum zu ertragen und man hätte nichts weniger als eine zeitlich nähere Variante der „Kinder vom Bahnhof Zoo“. Wer möchte schon so etwas nochmals lesen?

Im gleichen Genre ist es jedoch angesiedelt. Die Bestsellerliste sagt Sachbuch, Elemente sind jedoch auch aus den Bereichen Biografie oder Roman zu finden. Die Wahrheit liegt da wohl irgendwo in der Mitte, ebenso wie es mehrere Wege der Generation Nullerjahre gibt. Hendrik Bolz beschreibt nur (s)eine Variante von vielen.

Autor:

Hendrik Bolz wurde1988 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Rapper. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Stralsund und zog nach dem Abitur nach Berlin, wo er u. a. ein Praktikum bei einem Online-Portal absolvierte und nebenbei die Musik für sich entdeckte. Ein erstes Album erschien 2011, zwei Jahre später die erste EP. 2022 erschien sein erstes literarisches Werk.

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Erri de Luca: Das Meer der Erinnerung

Inhalt:

Ein Sommer auf Ischia in den fünfziger Jahren. Während sich die anderen Jugendlichen aus der Stadt am Strand vergnügen, fährt der Ich-erzähler jeden Morgen hinaus aufs Meer. Von dem Fischer Nicola lernt er das Handwerk des Fischens, und Nicola ist auch der Einzige, der ihm vom Krieg erzählt. Die Abende verbringt er oft mit der Clique seines älteren Cousins. Dort lernt er Caia kennen, und ein überwältigendes Begehren ergreift den Sechszehnjährigen. Er ist überzeugt, dass Caia ein Geheimnis besitzt, und entschlossen, es in stiller Intimität ans Licht zu bringen. (Klappentext)

Rezension:

Längst ist das Salz in der Luft mit der Haut eins geworden. Die Netze haben Striemen hinterlassen und vom Bisss der Muräne bleibt eine eindrucksvolle Narbe auf der Handfläche zurück. Es ist Sommer auf der italienischen Insel Ischia und der zunächst, über weite Strecken namenlose Stadtjunge verwildert zusehens. Es sind die Beschreibungen solcher Szenen, die Erri de Luca besonders gelingen und einem in seine Geschichten eintauchen lassen.

Wer liest, nimmt in „Das Meer der Erinnerung“ die Perspektive des Jungen ein, der beobachtet und wird damit selbst zum Beobachter des Insellebens. Das Meer ist einer der Handlungsorte und steht zugleich für die nicht verarbeitete Vergangenheit, das Ungesagte, auf dessen Spurensuche sich der Ich-Erzähler begibt. Sehr schnell wird der Beobachtende zum Handelnden.

Feinfühlig verweb der Autor verschiedene Themen mithilfe kunstvoller Sprache. Ruhig, fast melancholisch ist der Sprachstil, so unerbittlich ist das Nicht-mehr-Kind und der Noch-nicht-Erwachsene zu sich selbst. Nicht geschehene Vergangenheitsbewältigung thematisiert Erri de Luca ebenso wie das Verstehen-wollen und das Nicht-begreifen-können.

Das ist sehr viel in dieser kompakten Form, wird jedoch genügend auserzählt. Das halb offene Ende wirkt hier etwas holzschnittartig und passt nicht wirklich zum Rest der Novelle. An den Themen, des vielschichtig ausgearbeiten Protagonisten liegt es nicht. Nur der Tupfen auf dem I fehlt, vielleicht versunken auf den unerreichbaren Gründen des Meeres.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte. 1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

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Blai Bonet: Das Meer

Inhalt:

Ein folgenschweres geheimnis verbindet Andreu Ramallo, Manuel Tur und Francisca Luna seit ihrer Kindheit. In einem Sanatorium kreuzen sich Jahre später ihre Wege. Überspannt von malerischen Beschreibungen der Landschaft Mallorcas, eingebettet in die wenig bekannte Episode italienischer Faschisten auf Mallorca und ausweglos zwischen Exzessen von Bigotterie und Gewalt steuert das kurze Leben der Protagonisten auf die vorbestimmte Katastrophe zu. (Inhaltsangabe Buchrücken)

Rezension:

In einem Sanatorium kurieren Andreu Ramallo und Manuel Tur ihre Lungenerkrankung aus. Es verbindet sie jedoch mehr als das körperliche Gebrechen. Ein Geheimnis aus Kindertagen verbindet die beiden jungen Männern und die über all dem schwebende Frage der Schuld. Im Zentrum steht das Leiden, der Glaube, verbunden durch Gewalt. Im Rückblick auf das vergangene Geschehen steuern die beiden Protagonisten auf eine Katastrophe zu. Dies sind die handlungstreibenden Elemente von Blai Bonets poetischen Roman.

Der Schriftsteller schrieb diesen Roman als Kritik an die gesellschaftlichen Zustände seines Landes, welches sich damals inmitten der Militärdiktatur Francos. „Das Meer“ wurde gekürzt, durch die Selbstzensur des Autoren, sowohl als auch durch die Zensur der Behörden, die gleich ein ganzes Kapitel strichen und liegt nun erstmals in Übersetzung vollständig vor. Damals stieß Bonet dennoch in ein Wespennest, was sowohl der hoch gehaltenenen katholischen Kirche missfallen musste, als auch den damaligen staatlichen Organen. Heute sind die Themen immer noch brisant, doch alleine in der Art der Verarbeitung funktioniert der Roman „Das Meer“ nicht mehr.

Die Sprache ist beinahe zu poetisch für einen Roman und machte diesen schon zu damaliger Zeit nur schwer zugänglich. Dazu kommt die Erzählung der Geschichte aus wechselnder Perspektive, die innerhalb der recht kompakten Kapitel teilweise zeitliche Ebenen wechseln. Zudem wirkt es oft genug so, als hätte eine Figur mehrere Ich-Perspektiven. Als wäre das nicht genug, fließen auch noch kritische Anspielungen mit hinein, die wohl kaum jemand zu deuten weiß, der nicht selbst die Zeit des spanischen Bürgerkriegs oder der Franco-Diktatur erlebt hat oder sich minutiös damit beschäftigt.

Das ist viel zu viel des Guten und ist damit ein Paradebeispiel für einen Roman, der nur für ein bestimmtes Publikum geschrieben und auch nur dort seine gewünschte Wirkung entfalten kann, ein paar Jahre später allenfalls nur extrem spezialisierte Historiker oder Literaturwissenschaftler gefangen nehmen düfte. Für andere bleibt ein heute schwer zu lesendes und kaum zu verstehendes Konstrukt.

Autor:

Blai Bonet wurde 1926 geboren und war ein spanischer Schriftsteller, Dichter und Kunstkritiker. „Das Meer“ war sein erster Roman, für den er 1957 den Premi Joanot Martorell, den seinerzeit wichtigsten Preis für unveröffentlichte Prosa in katalanischer Sprache. Er starb 1997.

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Ulrich Woelk: Für ein Leben

Inhalt:

Als die Berliner Ärztin Niki kurz nach dem Mauerfall aufgrund einer Ferhldiagnose einem Patienten beinahe schweren Schaden zufügt, ahnt sie nicht, dass sie ihn einmal heiraten wird. Ebenfalls im krankenhaus lernt Niki, geboren in Afghanistan als Kind deutscher Hippies, die schillernde Lu kennen. Die Begegnung der zwei jungen Frauen hat Folgen, die sie niemals erwartet hätten… (Klappentext)

Rezension:

Ein Roman, eine Erzählung wie die Stadt selbst. Berlin ist ein Moloch, aber auch Sehnsuchtsort vieler, ist in der Stadt an der Spree doch die Welt zu Hause. Dazu kommt eine unglaubliche Wandlungsfähigkeit, die Toleranz der Einheimischen und eine Geschichte, die von Symbolen nicht hätte überladener sein können, als dies bis heute der Fall ist. Was liegt da näher als eine Geschichte, nein, mehrere, zu erzählen, wie man sie nur dort glaubwürdig ansiedeln kann? Ob das Konstrukt dann gelingt, ist eine andere Frage.

Erzählt wird die Geschichte zweier Frauen, deren Leben sich zu Wendezeiten kreuzen, als aus zwei Städten wieder eine werden soll, sowie auch die Protagonistinnen zunächst umeinander kreisen und schließlich zueinander finden. Doch, genau wie der Schauplatz, hält auch das Leben beider Geheimnisse der Vergangenheit und Überraschungen in der Zukunft bereit, was bei beiden schon mit jeweils problembehafteten Familiensituationen beginnt, die Auswirkungen auf das restliche Leben von Niki und Lu haben werden.

Dabei zeichnet der Autor ein sehr vielschichtiges Bild seiner Hauptfiguren und einer Stadt im Wandel, die sie so sonderbar ist, wie die Menschen, die dort leben. Die restlichen Protagonisten bleiben dabei vergleichsweise blass.

„Für ein Leben“ ist viel. Viel zu viel, möchte man meinen. Woelk bringt hier nicht nur eine Zeitenwende ins Spiel, auch die Geschichte zweier Frauen und ihrer Familien, Gender und Diversity, das Leben im Westen der Stadt zu Zeiten der Teilung, spirituelle Suchen nach den Sinn des Lebens, gewürzt mit Einblicken ins alternative Szenenleben.

Wer bei so vielen Handlungssträngen noch den Überblick behalten kann, verdient Hochachtung. Der Autor scheint, wie Berlin selbst, nicht wirklich zu wissen, wohin er mit seinen Figuren möchte. allzu oft werden Handlungsstränge nicht genug ausgeführt, viel zu wenig wurde gestrafft und die Zusammenführung der Handlungen wirkt an manchen Stellen zu gewollt. So funktioniert das leider nicht. Der Schreibstil lässt zwar keine größeren Längen zu, wer jedoch z. B. „Der Sommer meiner Mutter“ von ihm gelesen hat, sollte nicht mit der gleichen Erwartungshaltung an dieser Erzählung herangehen. Das funktioniert nicht.

Autor:

Ulrich Woelk wurde 1960 in Bonn geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Von 1980-1987 an, studierte er physik und Philosophie an der Universität Tübingen. Er arbeitete bis 1995 an der Technischen Universität Berlin, sowie in Göttingen als Astrophysiker. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1990. 1991 promovierte er über Weiße Zwerge in engen Doppelsternsystemen. Seit 1995 lebt Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Er schreibt Theaterstücke, Romane und Hörspiele. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.

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Hwang Sok-yong: Vertraute Welt

Inhalt:

Am Rand der südkoreanischen Metropole Seoul liegt die „Blumeninsel“, eine gigantische Müllhalde, Lebensgrundlage und Wohnstätte einer Kolonie von Habenichtsen und Ausgestoßenen, die dort ihre Claims abgesteckt haben. Unentwegt durchkämmen sie den frischen Abfall der boomenden Stadt nach Verwertbaren. hier landet der 13-jährige Glupschaug zusammen mit seiner Mutter, nachdem sein Vater von der regierung in ein „Umerziehungslager“ gesteckt wurde.

Es ist kein tiefer Fall, denn sie kommen aus den wuchernden Slums der Mega-City, wo seine Mutter Straßenhändlerin ist. Glupschaug hat die Schule abgebrochen und geht seiner Mutter zur Hand, für die sich ein in der Hackordnung weit oben stehender Müllhaldenbewohner interessiert. Dieser „Baron“ ist Glupschaug unsympathisch, eine verhasste Stiefvaterfigur. Mit Glatzfleck, dem Sohn des Barons, freundet er sich jedoch rasch an. Glatzfleck nimmt ihn mit auf seine Abenteuergänge und eröffnet ihm eine geheimnisvolle Welt jenseits der gewaltigen Müllberge. (Klappentext)

Rezension:

Das Leben in Millionenstädten ist ein unaufhörlicher Verdrängungswettbewerb, der täglich Existenzen scheitern lässt. Wie Gegenstände, die sich überholt haben oder nicht mehr gebraucht werden, werden auch die Menschen sehr schnell aussortiert, an den Rand gedrängt. In einigen Ländern greift dann ein soziales Netz, welches die schlimmsten Auswirkungen abfedert.

Vielerorts gibt es das jedoch nicht. So finden sich auch der 13-jährige Glupschaug und seine Mutter am Rande einer Mülldeponie wieder, auf der sie fortan leben sollen. Der einzige Platz, der ihnen in der Mega-City Seoul noch bleibt. Glupschaug muss mit der neuen Situation zurechtkommen, denn die Deponie verzeiht nichts, doch findet er schnell Anschluss in dieser eigentümlichen Welt.

In seinem Roman „Vertraute Welt“ verdeutlicht der südkoreanische Schriftsteller Hwang Sok-yong die Schattenseiten des Erfolgs seines Landes. „Tigerstaat“ nennt man Südkorea zuweilen, dass in Sachen Technologie Spitzenpositionen einnimmt, doch rau ist zu den Menschen, die diesen Fortschritt schaffen.

Wer nicht aufpasst, bleibt zurück, der Fall ist mitunter tief und so nimmt der Autor uns mit zu jenen, die damit nicht mithalten können. All jenen Vergessenen, die die Gesellschaft wie gerade weggeworfene Gegenstände behandelt, gibt er eine Stimme.

Von Beginn an begleiten wir den sehr sympathischen Hauptprotagonisten, einen Jungen, der in dieser rauen Umgebung zu schnell erwachsen werden muss und doch immer wieder an grenzen stößt, die aufzeigen, dass er eben doch nur ein Kind, ein Jugendlicher ist. Wir durchstreifen mit ihm eine eigentümliche welt, die hwang Sok-yong uns sehr plastisch vor Augen führt. . Fast ist es, als würde man den Müll in seiner gaballten Form vor sich sehen, spüren, wie sich Gerüche von Vergangenem in Kleidung und Haut festsetzen, während Gase einen metallischen Geschmack auf der Zunge hinterlassen.

Glupschaug lebte nun schon länger als einen Monat auf der Blumeninsel. Seine Mutter hatte ihm gleich am Anfang einreden wollen, dies sei eben auch nur ein Ort wie viele anderer, wo Menschen hausten. Doch er ließ sich nichts vormachen. Es war ein Mishaufen. Hier landeten Sachen, die man weggeworfen hatte. Verbraucht, nicht mehr interessant, kaputt. Und auch die Menschen, die hier lebten, waren von der Stadt aussortierte und entsorgte Existenzen.

hwang Sok-yong: Vertraute Welt

Viele Worte verliert er dabei nicht, dafür um so härtere. Trotzdem blitzen hin und wieder kleine Momente des Glücks auf, die es auch dort gibt. Sonst würde man die Erzählung kaum durchhalten. Die Figuren sind klar gezeichnet, haben alle ihre Geheimnisse, Ecken und Kanten, auch die Welt des Slums, der ein reales Vorbild nahe dem berühmten Stadtteil Gangnam hat, wird sehr kompakt geschildert. Hart und kompromisslos schildert er diese Leben, immer aus Sicht Glupschaugs.

Für die Entwicklung des Hauptprotagonisten und jenen, die ihn direkt umgeben, gibt Sok-yong dagegen Raum. Wir begleiten Glupschaug, der auf diesen Spitznamen stolz ist, da ehrlich errungen, durch die Müllberge, Hütten aus Wellblech und Pappe Mit jeder voranschreitender Zeile spüren wir die sich heranschleichende Katastrophe, in dieser dennoch irgendwie heilen Welt, wenn man davon sprechen kann.

Der Autor übt Kritik, wie in seinem Leben schon so oft, und legt den Finger in die Wunde. Die Härte der asiatischen Gesellschaft zu den sozial Schwachen wird ebenso dargestellt, wie die Wegwerfmentalität unserer Wohlstandsgesellschaft. Welchen Preis lassen wir die unteren Schichten für unser Leben zahlen? Was wird aus uns, wenn wir selbst aussortiert werden, wie der Müll um uns herum?

Autor:

Hwang Sok-yong wurde 1943 in Xinjing, damaliges Mandschukou, heute zu China gehörig, geboren und ist ein südkoreabnischer Autor, der schon als Schüler Erzählungen schrieb. Er schloss ein Philosophiestudium ab und kehrte 1969 aus dem Vietnamkrieg zurück, engagierte sich später aktiv in der Demokratiebewegung der 1970er und 80er Jahre. In den 1970er Jahren entstanden seine ersten Romane, die sich mit der Frage der Arbeiterbewegung und der Teilung Koreas beschäftigten.

1985 formulierte er ein Manifest für die Demokratiebwegung in Korea. Nach Teilnahme an einem Treffen von Schriftstellern in Nordkorea lebte er für mehrere Jahre abwechselnd in Berlin und New York, wurde nach seiner Rückkehr nach Südkorea wegen seiner Besuche im Nachbarland zu sieben Jahren Haft verurteilt. 1998 wurde er begnadigt und zum südkoreanischen Kulturbotschafter für Nordkorea ernannt. Seine Werke wurden mehrfach übersetzt, teilweise verfilmt und ausgezeichnet.

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Michael Göring: Dresden – Roman einer Familie

Inhalt:

Fabian reist 1975 zum ersten Mal über die deutsch-deutsche Grenze zur Familie Gersberger nach Dresden. Danach kommt er fast jedes Jahr. Er verliebt sich in Anne, freundet sich an mit ihrem Bruder Kai und wird Zeuge, wie die Unzufriedenheit mit dem Staat von Jahr zu Jahr wächst. Gleichzeitig erlebt Fabian eine zwischenmenschliche Wärme in der Familie, die ihn, den Westbesucher, herausfordert und verändert.

Michael Göring schreibt eine bewegende Familiengeschichte und erzählt einfühlsam und präzise von den entscheidenden Jahren 1975-1989. (Klappentext)

Rezension:

Wie umfassend kann ein zeithistorisches Portrait sein? Wie komplex die Betrachtungen der Sichtweisen und wie vielschichtig die Protagonisten? Daran scheitern die Schreibenden großer historischer Romane immer wieder, zumal wenn zwischen vergleichsweise wenigen Seiten viel erzählt werden soll.

Besser ist es, sich auf einen genau umrissenen Ausschnitt zu konzentrieren. Das versucht der Schriftsteller Michael Göring mit seiner Erzählung „Dresden – Roman einer Familie“.

Die in Zeitsprüngen erzählte Handlung umfasst die letzten Jahre der DDR, deren Wandel er aus der Sicht des zunächst wohlwollenden Westbesuchers erzählt, der jugendlich optimistisch zunächst die Schwächen des Systems großzügig übersieht, wozu auch die ihm umgebenden Protagonisten beitragen.

Der Besucher von „Drüben“ soll einen guten Eindruck bekommen, schon die menschliche Wärme der Gastgeber nimmt Fabian in sich auf, nichts ahnend, dass sein Schicksal vom ersten Treffen an mit denen der Gersbergers eng verknüpft sein wird. So erlebt auch er immer mehr das Leben hinter der zunehmend bröckelnden Fassade, aber auch die verschiedenen Innenansichten, die die Jahre 1975-1989 prägten.

Der Autor zeichnet die Protagonisten klar, die jenigen, die sich im System eingerichtet haben und ihr kleines Glück gefunden haben, eben so, wie diese, die an den Schwächen zweifeln oder gar ihr Heil in der Flucht suchen. Das gelingt an vielen Stellen, anderes muss man mit eigenen Erfahrungen abgleichen oder mit den Geschichten, die einem selbst erzählt worden.

Klar ist, der Autor bringt in den Hauptprotagonisten teilweise seine Perspektive ein, die wohlwollend wirkt, aber nichts übersieht. Gleichsam machen auch die anderen Figuren eine langsame Wandlung durch, verstärkt durch den Kontrast der Zeitsprünge, die kapitelweise erfolgen.

Beim Lesen muss bewusst sein, dass es neben dieser auch unzählige andere Sichtweisen gibt, ja, geben muss, der Fokus liegt hier aber vor allem auf die familiäre Dynamik zwischen den Jahren, derer man sich nicht entziehen möchte.

Es ist kein Roman mit Knalleffekt oder mit Zeigefinger, zumal an nicht wenigen Stellen einfach zu knapp gehalten, gar ein sprachlicher Geniestreich. Eine nette Familiengeschichte bekommt man. Nicht mehr und nicht weniger. Manchmal reicht das aber.

Autor:

Michael Göring wurde 1956 in Lippstadt geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Zuinächst studierte er Anglistik, Geografie, Amerikanistik und Philosophie, bevor er sich mit englischen Literaturwissenschaften beschäftigte.

1986 war er als Hochschulassistent an der Universität München tätig und wechselte darauf zur Studienstiftung des deutschen Volkes nach Bonn. 2011 erschien sein erster Roman, darauf folgten weitere. Er ist Mitglied und Vorsitzender der ZEIT-Stiftung und lehrt an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Göring wurde mehrfach ausgezeichnet und gehört zu den Initiatoren der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union.

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Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Inhalt:

Wie fühlt sich ein junger, lebenshungriger Mann in Belarus? Eine hochaktuelle Geschichte über die Sehnsucht nach Freiheit. Eigentlich sollte Fransisk Cello üben fürs Konservatorium, doch lieber genießt er das Leben in Minsk. Auf dem Weg zu einem Rockkonzert verunfallt er schwer und fällt ins Koma. Alle, seine Eltern, seine Freundin, die Ärzte, geben ihn auf. Nur seine Großmutter ist überzeugt, dass er eines Tages wieder die Augen öffnen wird. Und nach einem Jahrzehnt geschieht das auch. Aber Zisk erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint. (Klappentext)

Rezension:

Immer mehr Menschen drängen Richtung U-Bahn-Schacht, als ein Unwetter über sie hereinbricht und schieben die anderen vor sich her. Schutz suchen sie. Immer enger wird es im Tunnel, immer weniger Luft bekommen jene, die sich schon im Inneren befinden. Noch, als der Schacht voll ist, bewegen sich die Massen, die ersten werden niedergetrampelt, förmlich zerquetscht. Am Ende des Tages wird es unzählige Verletzte geben und zu viele Tote. Auch der jugendliche Cello-Schüler Franzisk ist unter den Opfern und wird darauf hin zehn Jahre lang im Koma liegen. Als er wieder erwacht, ist die Welt eine andere und doch stehengeblieben.

Leise kommen die Romane von Filipenko daher, um die Lesenden dann in einem Strudel von Gefühlen zu werfen, dem man sich kaum entziehen kann. Dies ist so, auch im zweiten Roman aus der Feder des belarussischen Schriftstellers Sasha Filipenko, der es auch hier versteht, seine Leserschaft mitzureißen. Er erzählt von Belarus damals und heute, von Trostlosigkeit und Tristesse, von der Hoffnungslosig- und Müdigkeit der Menschen und dem Glauben daran, was wäre, wenn doch noch das Unmögliche geschieht.

„… Verzeihen Sie, wenn ich unhöflich bin, aber Sie sind schon ein wenig mühsam, das ist, verdammt nochmal das Leben. Ihr Enkel ist tot! Tot, verstehen Sie? Finden Sie sich damit ab. Er ist tot. Wenn Ihnen dieses Wort nicht in den Kopf hineingeht, dann vielleicht >krepiert<. Es ist aus mit ihm. Er ist gestorben. Das Gehirn ihres Enkels wird nie wieder funktionieren, nie, hören Sie mich?“ „Wissen Sie was, Herr Doktor? Lecken Sie mich am Arsch!“

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Dabei ist der Hauptteil des Romans sehr düster gehalten. Nur ganz wenige positiv besetzte Protagonisten begegnen hier vielen Unsympathen, denen man im realen Leben lieber ausweichen sollte. Wer in die Geschichte um Franzisk eingesogen wird, muss das über sehr weite Strecken aushalten können, wird immer nur kurz mit wenigen Funken Hoffnung für die Figuren entlohnt. Filipenko, der auf Russisch im Nachbarland über die Stadt seiner Kindheit schreibt, greift hier die brodelnde Stimmung seiner Heimat auf, beschreibt diese aus der Sicht des Ausgewanderten, des Entfernten und doch ganz nahen Beobachters.

Bevor er seine Leserschaft ins kalte Wasser einer Stadt wirft, deren Obere der dort lebenden Bevölkerung längst das Herz herausgerissen haben, stimmt er seine Leser im Vorwort darauf ein. Die Übersetzerin Ruth Altenhofer ordnet, sortiert und erklärt im Nachwort, wie viel Sasha Filipenko eigentlich an Themen gelungen ist, auch zwischen den Zeilen zu verarbeiten, egal ob dies geschichtliche und politische Ereignisse in Belarus betrifft oder die jenigen, die grausame Paten standen, für die Geschehnisse des Romans.

Die Angst floss aus seinem Körper ins Haus. Die Angst war in seiner Wohnung und in der Wohnung gegenüber, hier, überall, in der ganzen Stadt.

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Der Autor zeigt einem lebenshungrigen Protagonisten, der aus dem Alltag herausgerissen und umgeworfen wurde, aber auch, dass es sich lohnt, für sich selbst zu kämpfen, übertragen, dass vielleicht auch der Kampf der jungen Menschen in Belarus für eine Zukunft ihres Landes, für Freiheit und Demokratie, eines Tages Früchte tragen wird. Gäbe es das Nachwort nicht, müsste man vieles davon zwischen den Zeilen lesen, dort wird es denen, die das nicht können, erklärt.

Die Grundstimmung der Erzählung macht das fortlaufend geschriebene Werk nicht gerade zu einer einfachen Lektüre, zumal diese einem nachdenklich und bedrückt zurücklassen wird. Filipenko beeindruckt und legt im Gegensatz zu seinem Debüt, welches vergleichsweise leise daherkam, noch einmal eine Schippe drauf. Großartig ist das, gleichsam ein Cellospiel in Worten.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. In seiner Wahlheimat St. Petersburg studierte er nach einer abgebrochenen Musikausbildung Literatur und widmete sich der journalistischen Arbeit, war Drehbuch-Autor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator.

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Björn Stephan: Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau

Inhalt:

Sommer, 1994. Sascha Labude ist ein etwas verträumter 13-Jähriger, der einzigartige Worte sammelt. Sein Leben ist relativ ereignislos, also abgesehen davon, dass das alte Land untergegangen und Saschas Vater verstummt ist und sein bester Freund Sonny so berühmt werden will wie Elton John.

Doch dann zieht Juri in die Siedlung, ein Mädchen, das alles über das Universum weiß und ganz anders ist als Sascha – nämlich mutig. sogar so mutig, es mit den schlimmsten Schlägern der Siedlung aufzunehmen. (Klappentext)

Rezension:

Der Brief, er liegt schon länger auf dem Schreibtisch des einstigen Kindes, wird geöffnet. Erinnerungen durchfluten Jenni, die nun junge Frau, die bis dahin erfolgreich verdrängt hat, was damals passierte. Die Perspektive wechselnd, Leserin und Leserschaft reisen zurück, in eine Zeit, in der sich alles veränderte, nichts blieb, wie es vorher war.

Beinahe zu ruhig beginnt das Autorendebüt, was uns Leserschaft hier vorliegt und wird doch immer schneller, heftiger werden, mit jeder Zeile, die uns in die Geschichte einsaugt. Wir begleiten den Hauptprotagonisten, der sich selbst für nicht sichtbar für seine Umgebung hält, durch die Tage.

Selbst die Schläger, die im selben Treppenaufgang wohnen, wie er, beachten Sascha nicht. Dem verträumten Jungen, der noch blasser neben seinem besten Freund wirkt, ist dies nur Recht. Seinen größten Schatz hütet er in einem unscheinbaren Heft. Wörter, die es nur einmal auf der Welt in einer einzigen Sprache gibt und die nur dort eine bestimmte Bedeutung haben. Sascha sammelt sie, hält fest, um sich an etwas zu halten. So kann es bleiben.

Tut es nicht. Diesen Sommer wird sich das Lebend es Jungen schlagartig ändern, wie auch die Welt um ihn herum sich ändert. So beobachtet der/die Lesende den Hauptprotagonisten, der zunächst Beobachter, dann Akteur der Ereignisse ist.

Vielschichtig sind die Protagonisten um ihn herum, die Beschreibungen Björn Stephans tun ihr übriges, um sofort den typischen Geschmack des damals angesagten Kaugummis im Mund zu haben und die flirrende Umgebung der Plattenbauten zu spüren, die den Handlungsort prägen. Der Autor indes hat sich hier viel vorgenommen.

Er erzählt von der Zeit zwischen Kindheit und Jugend, von Freundschaft und erster Liebe, von Beobachtung und Irrtum, Angst, Mut und dem Erkennen, dass nichts ist, wie es scheint.

Stephan gelingt es kunstvoll, nicht nur Zeitsprünge zu verbinden, sondern auch Klippen des Kitsches zu umschiffen, einmal haarscharf, zudem mehrere Enden unterzubringen. Jeder Strang wird zu Ende erzählt. Lücken werden durch das Kopfkino gefüllt, besonders gegen Ende eine kleine Herausforderung für die Leserschaft.

Ein Roman, der auf vergleichsweise wenigen Seiten so viel zu erzählen hat und auf mehreren Ebenen die Lesenden nachdenklich zurücklässt, dabei sprachlich schön geschrieben ist, bleibt. So wie die Wörter in Saschas Heft.

Autor:

Björn Stephan wurde 1987 in Schkeuditz geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Aufgewachsen in Schwerin, studierte er zunächst in Berlin Geschichte und Politikwissenschaft und besuchte anschließend die Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Er schreibt für die Zeit, die Süddeutsche Zeitung, arbeitet als freier Reporter. Seine Texte und Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Sozialpreis und dem Reporterpreis. Im Jahr 2021 erschien sein erster Roman. Der Autor lebt in München.

Björn Stephan: Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau Weiterlesen »