Gesellschaft

Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner

Inhalt:
Der Wolf ist zurück in der Lüneburger Heide. Und während Jannes – wie schon sein Vater und sein Großvater – täglich seine Schafe über die Heideflächen treibt, kochen die Emotionen im Dorf hoch. Kann Heimatschutz Gewalt rechtfertigen? Wo es vordergründig um Wolfspolitik geht, stößt er bald auf Hass, völkische Ideolofie – und auf ein tiefes Schweigen. „Von Norden rollt ein Donner“ ist eine Spurensuche in der westdeutschen Provinz, die Geschichte eines brüchigen „urdeutschen“ Idylls. (Klappentext)

Rezension:

In der Lüneburger Heide hat die Schafszucht und Weidebewirtschaftung Tradition, doch mehren sich die Zeichen einer Veränderung, die einen Riss in der Gesellschaft offenbart. Der Wolf ist zurück in der Region und so fürchten die Hirten um ihr Vieh und damit um ihre Existenz. Der Schriftsteller Markus Thielemann zeichnet in seinem Roman „Von Norden rollt ein Donner“das Psychogramm einer ländlichen Gemeinschaft, die in Angesicht einer kommenden Bedrohung vereinnahmt wird und in der Vergangenes wieder zu Tage tritt.

Schnell ist man in der atmosphärischen Beschreibung der kompakt gehaltenen Erzählung gefangen, die uns schnell Teil des Alltags von Jannes, den Protagonisten, teilhaben lässt, der in einer Linie von Schäfern seine Herde auf die Weiden treibt, während sein Stiefvater mit Sorge die sich nähernden Wolfsrisse mit Stecknadeln auf eine Karte markiert. Ein jeder geht in der Familie mit der für alle neuen Situation anders um. Als wäre dies nicht genug, nehmen Wahnvorstellungen und Vergessen mehr Raum ein, als ein Mensch in der Lage ist, zu ignorieren.

Dabei zeichnet der Autor eine ursprüngliche Landschaft, sowie verwobene Gemeinschaft nach, deren Idyll nicht nur von den Gegebenheiten der Natur bedroht wird. Zahlreiche Anspielungen in die eine, wie andere Richtung durchziehen die Kapitel, so dass sich mehrere Ebenen innerhalb der Handlungsstränge auftun, die jedoch nicht in all ihren Konsequenzen auserzählt werden. Eine mögliche Variante des Erzählens, die man mögen muss, jedoch ein etwas unrundes Ende ergibt.

Dabei spürt der Roman einen Zeitraum von wenigen Monaten nach, in denen ein überschaubares Personentableau agiert, auch einer Gefahr nach, die von einer ganz anderen Ecke kommt. Dies geschieht so feinfühlig, anfangs kaum wahrnehmbar, so dass einem dies beim Lesen fast entgeht, wenn man nicht aufmerksam genug liest. Die Hauptfigur ist dabei fein gezeichnet, mit Ecken und Kanten gezeichnet. Markus Thielemann erzählt über die anderen weniger, gerade jedoch genug, um Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen.

Das Gute und Böse ist hier nicht immer klar, vielmehr überwiegen Grauschattierungen die Charakterzeichnungen. Leider jedoch so, dass man überwiegend kaum eine Beziehungseben zu diesen herstellen mag, die die gesamte Lektüre über anhält. Traum und Wirklichkeit, Vorahnung; Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen dabei. Übergänge wirken nicht immer glatt, auch ein paar eingebaute Klischees tragen jetzt nicht unbedingt dem Lesevergnügen bei.

Fast filmisch wirken dagegen Ortsbeschreibungen. Schauplätze sind eine Stärke dieses Romans. Auch die Beschreibung eines im städtischen Leben nicht vorkommenden Handwerks führt der Autor gelungen vor Augen, ob das jedoch ausreichend ist, ist fraglich. Eine Konzentration auf eine der Ebenen oder Handlungsstränge hätte hier gut getan.

Der schleichende Rechtsruck einer Gesellschaft, einmal handelnd in westdeutschen Gefilden, zu lesen, funktioniert aber gut, zudem wer in der Lage ist, bestimte Anspielungen zu entdecken. Immerhin laden diese zum selbstständigen Recherchieren ein. Ansonsten bleibt dies leider ein Heimatroman mit den entsprechenden Schwächen.

Markus Thielemann hat mit „Von Norden rollt ein Donner“ einen interessanten zweiten Roman hingelegt, der an der einen oder anderen Stelle etwas runder hätte sein können, insbesondere im letzten Kapitel. Wer darüber hinweglesen kann, für den eröffnet sich eine vielschichtige Lektüre.

Autor:

Markus Thielemann wurde 1992 in Ludwigsburg geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Geografie und Philosophie in Osnabrück, gefolgt von Kreatives Schreiben am Hildesheimer Literaturinstitut. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 2021. 2024 stand er mit „Von Norden rollt ein Donner“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

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Eva-Martina Weyer: Tabakpech

Inhalt:

„Tabakpech“ erzählt eine Familiengeschichte aus den Jahren 1930 bis 1995 im unteren Odertal, wo die Grenzen von Preußen und Pommern, von Hochdeutsch und Platt verwischen. Das Leben der Menschen ist vom Tabakanbau und von Traditionen geprägt.

Tabakpech, der Saft, der beim Ernten aus der Pflanze tritt, klebt schwarz an den Händen, hält die Familien fest auf ihren Höfen, auch wenn dabei mancher Traum zugrunde geht. (Klappentext)

Rezension:

Nur eine Bewegung ist es, die über Glück und Unglück der Menschen im Odertal entscheidet. Das Eintauchen der Arme des Aufkäufers, mit dem dieser die Qualität der Ernte prüft, zwischen die Tabakbunde, entscheidet, ob es ein erfolgreiches Jahr gewesen ist oder alle Mühen umsonst waren.

Die Region ist hart zu den Menschen, doch die Nachfahren hugenottischer Einwanderer haben auch ihr Glück im Tabak gefunden. Und so entspannt sich eine Geschichte vom Wandel der Landwirtschaft über mehrere Familiengenerationen, eindrücklich erzählt von Eva-Martina Weyer.

Der Rhythmus der Jahreszeiten, die Erntefolge bestimmt den Takt, in dem Einwohner des kleinen Ortes denen die Autorin in ihrem kompakt gehaltenen Roman verfolgt, um eine Familiengeschichte von Beständigkeit und Veränderung zu erzählen, wie sie dort auch tatsächlich stattgefunden haben könnte.

Dabei werden der gesellschaftliche und persönliche Wandel innerhalb von wenigen Jahrzehnten thematisiert, sowie die sich verändernde Rolle und Stellung von Frauen, die auf den Feldern so manchen Traum abhanden kommen lassen müssen und dann in entscheidenden Momenten selbstbewusst das Heft in die Hand nehmen. Erzählt wird ein Strukturwandel in vielerlei Hinsicht.

Hauptsächlich aus dem Blick von Elfi betrachten wir das Geschehen, die als Waisenkind von Wilmine aufgenommen, ihren Weg zwischen den Tabakpflanzen gehen wird. Beeindruckend hat die Autorin eine Hauptprotagonistin mit Ecken und Kanten versehen, die handlungstreibend wirken. Einerseits ist da die Träumerin, phantasiebegabt, manchmal unsicher, andererseits jene, die mit zunehmenden Jahren immer selbstbewusster auftreten kann. Auch die anderen Figuren wurden feinfühlig ausgestaltet. Eine Gemeinschaft, in der ein jeder zwischen Hoffnungen und Zwängen und dem Gesspür für Veränderung und Tradition agieren muss.

Das strukturschwache Odertal mit seiner landwirtschaftlichen Prägung, war einst eines der größten Tabakanbaugebiete der Welt. Dieser Schauplatz, viel mehr das Dorf, in dem die Hauptprotagonistin aufwächst, wird anhand sehr detaillierter Beschreibungen greifbar. Auch die Handlungen der Protagonisten, die in all ihren Grauschattierungen gezeichnet werden, werden teilweise plastisch beschrieben. Manchmal sehr hart an der Grenze zum Kitsch, gerade wenn es gefühlig wird. Rentnerhafte ARD-Wohlfühlatmosphäre braucht dennoch niemand zu befürchten.

Werden andere Perspektiven eingenommen, als die der Hauptprotagonistin, kündigt sich eine handlungstreibender Wandel an. Das Erzähltempo bleibt dabei gleichförmig. Eva-Martina Weyer lässt dabei keine unlogischen Wendungen oder gar Lücken zu und bleibt im Gegensatz zu anderen Autor:innen von Familien-Epen bodenständig in ihrer kompakten Erzählung.

Diese bleibt bis zum Ende nachvollziehbar. Nicht nur zwischen den Zeilen merkt man, dass die Autorin die Gegend gut kennt. Man bekommt durchaus Lust, der wahren Geschichte des Tabakanbaus in der Region nachzuspüren, wo man doch in die Handlung hineingezogen wird. Nicht nur für Lesende, die das Odertal und ihre Menschen gut kennen, wird hier ein Kulturerbe verschriftlicht, welches diese über Jahrhunderte prägte.

Der Roman lässt einem die körperlichen Anstrengungen, das Hoffen und Bangen förmlich selbst spüren, wenn auch an mancher Stelle ein schnelleres Erzähltempo vermissen. Der Tupfen auf dem I versinkt dabei leider im Tabakpech. Bis zum Schluss bleibt er lesenswert, eben nicht nur der hervorzuhebenden grafischen Gestaltung wegen.

Tabakmuseum:

Wer dem Tabak nachspüren möchte, kann das tun. In Vierraden, Schwedt/Oder.

Autorin:

Eva-Martina Weyer wurde 1961 in Anklam geboren und ist eine deutsche Journalistin und Autorin. Sie wuchs in Schwedt/Oder auf und studierte Journalismus, arbeitete in diesem Beruf für eine große Regionalzeitung Berlins. Als selbstständige Journalistin recherchierte sie zum Tabakanbau in der Uckermark. „Tabakpech“ ist ihr erster Roman.

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Kris/Vincent Bailly: Ein Sack voll Murmeln – Graphic Novel

Inhalt:

Die Memoiren „Ein Sack voll Murmeln“ erschienen 1973, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, zweimal verfilmt und sind längst zum literarischen Klassiker geworden. Darin erzählt Josef Joffo (1931-2018) über seine Kindheit in Paris während der deutschen Besatzung, der Flucht seiner jüdischen Familie und seinen unbändigen Willen im Untergrund zu überleben.

Ein Klassiker, adaptiert als packendes und einfühlsames Comic von Kris und Vincent Bailly.

(Klappentext)

Rezension:

Erinnerungen auf eine komplett andere Form zu übertragen, weit weg vom Ursprungsmedium, ist wagemutig. Dennoch gibt es einige positive Beispiele, neben ganz vielen, die unter die Tische fallen dürfen, wo dies gelungen ist. Bei den Kindheitsmemoiren von Josef Joffo ist dies in beiden Richtungen der Fall.

Ist die erste Verfilmung noch beim Autoren durchgefallen, gilt die zweite als gelungen, was nicht zuletzt großartigen Kinder- und Erwachsenendarstellern, einem klugen Drehbuch und einer nicht minder begabten Regie zu verdanken ist. Auch die hier vorliegende, auf die Biografie fußende Graphic Novel darf als positives Beispiel gelten.

Dabei ist es gar nicht so einfach, eine Geschichte in ein anderes Medium zu übersetzen. Was nimmt man auf, verdichtet man, welche Szenen und Dialoge bleiben? Was lässt man, zwangsweise, außer Acht. Platz ist begrenzt, wird in dieser Erzählform durch die Größe der Panels vorbestimmt.

Auch die Wahl der Farbpalette und des Zeichenstils spielen für die Wirkung eine maßgebliche Rolle. Daraus folgt die Frage, ob die Adaption des Erzählstoffes am Ende als gelungen gelten darf. So möchte ich nicht weiter auf die Geschichte selbst eingehen, die bereits rezensiert wurde, sondern auf die Besonderheiten des vorliegenden Werkes.

Paris ist bunt gehalten, wie alle Szenen, die Hoffnung verkörpern. Ein schneller Strich ins Urban Sketching hinein, manches Panel wirkt beinahe wimmelbildhaft. Temporeich gebietet sich die Graphic Novel, die mit hohem Erzähltempo schnell ins Düstere kommt. Erdtöne dominieren da plötzlich. Einige Panels wirken gedrungen, der Hintergund verschwimmt des Öfteren. Das Auge ruht auf den Vordergrund.

Den Betrachtenden stockt der Atem. Gerade zur rechten Zeit kommen die Momente, die einem durchatmen lassen, nur um im nächsten Moment wieder über den Haufen geworfen zu werden.

Dies gelingt in dieser Adaption, die ein Stück Lebensgeschichte einer neuen Zielgruppe zugänglich und begreiflich machen kann, ohne das Original zu verraten. Tatsächlich hat man nicht das Gefühl, dass wichtige Szenen vergessen wurden, gerade wenn man den Ausgangstext kennt. Der Geist des Originals bleibt erhalten und so kann diese Graphic Novel neben Buch und der zweiten Verfilmung bestehen.

Autor/Illustrationen:

Vincent Bailly wurde 1967 in Nancy geboren und ist ein französischer Comic-Zeichner. Er studierte 1986 an der Kunsthochschule Straßburg und arbeitet seit 1991 für verschiedene Verlage als Illustrator und veröffentlicht seine Zeichnung in Zeitungen und Kinderbüchern. Sein Zeichenstil gilt als düster, so dass ihn der Durchbruch erst spät gelang. Er veröffentlichte in Zusammenarbeit mit anderen Autor/innen mehrere Graphic Novels und unterrichtete von 2000 bis 2009 an der Kunsthochschule ENAAI in Bourget-du-Lac.

Kris ist das Pseudonym des französischen Comic-Autoren Christophe Goret, welcher 1972 in Brest geboren wurde. Zunächst studierte er Geschichte und arbeitete als Buchhändler, bevor er ein Atelier gründete. Im Anschluss schrieb er Drehbücher und arbeitete für die Zeitschrift Spirou. Seine Arbeit, die mehrere Alben und Drehbücher umfasst, wurde mehrfach ausgezeichnet.

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Florian Russi (Hrsg.): Philosophie für unterwegs (Reihe)

Die großen Philosophen und Philosophinnen verschiedener Zeitepochen selbst einmal zu durchdenken, ihre Werke in ihren Grundsätzen zu durchdringen, ist oftmals mit ziemlich viel Zeitaufwand verbunden, zudem, wenn man sich mit derer Für und Wieder beschäftigt. Auch die Frage, wie und wo man denn beginnen soll, ist vielfach nicht leicht zu beantworten. Die Reihe „Philosophie für unterwegs“, erschienen beim Mitteldeutschen Verlag, herausgegeben von Florian Russi, bietet die perfekte Eingangslektüre dafür.

Mehr als zwanzig Bände umfasst die Heftreihe, die mal auf etwas mehr, mal auf weniger als 50 Seiten pro Heft auf jeweils eine Person und ihrem Werk eingeht. Und zwar durch alle Zeitepochen. Die Autoren und Autorinnen und Florian Russi selbst, haben sich bereits mit den großen Namen wie Aristoteles und Albert Camus beschäftigt, aber auch z. B. mit Simone Weil und Oswald von Nell-Breuning, die zumindest mir bisher vorher gar nicht bekannt waren.

Diese Zusammenstellung ist schon alleine betrachtet etwas besonderes, doch ist es auch faszinierend zu sehen, wie sich selbst komplexeste Werke (Kant dürfte durchaus als schreibwütig zu bezeichnen sein, Hannah Arendt nicht minder.) auf das wesentliche herunterbrechen lassen.

So ist es gelungen, eine Art Einführung und Zugang zu Leben und Werk der beschriebenen Personen zu schaffen. Mehr möchte man mit dieser Reihe im Übrigen auch nicht erreichen. Wer die Kürze hier zurecht beklagt, da er oder sie sich bereits etwa mit Camus ausführlich beschäftigt hat, wird dem ihm gewidmeten Band auch nichts abgewinnen können. Es dient eben nur dazu, eine Art Anfang zu finden, sich überhaupt erst einmal damit auseinanderzusetzen und eine Art Bild des beschriebenen Werks zu bekommen.

Das gelingt vortrefflich. Auch kann man sich diese Art Bände mit Überblickswissen im Philosophpe- oder Ethik-Unterricht vorstellen, um nicht gleich mit allzu Kompliziteren und Hochtrabenden zu verprellen. Und gerade am Beginn einer sehr komplexen Thematik stehend, sollte es ja das Ziel sein, verständlich zu agieren und eine Struktur zu zeigen, nach der man sich orientieren kann. Die Reihe „Philosophie für unterwegs“ vermag das zu tun.

Eine Auswahl der Bände habe ich rezensiert, so z. B. diesen über Hannah Arendt und Albert Camus. Da die Art der Aufbereitung sich von Band zu Band nicht großartig unterscheidet und man, um auf die beschriebenen Werke und Personen ausführlicher eingehen zu können, sich auch mit diesen entsprechend ausführlicher beschäftigt haben muss, hier es aber nur um die Aufbereitung geht, bleibt in diesem Fall der Beitrag zur Reihe für sich stehen.

Herausgeber:

Florian Russi wurde 1941 in Saarlouis geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Nach dem Abitur studierte er Jura, Volkswirtschaft und Philosophie, sowie Kommunikationswissenschaften u. a. in Saarbrückenn und Wien und begann sich schriftstellerisch zu betätigen. Zunächst Richter am Landgericht Saarbrücken, später als Bildungsreferent und u. a. als Dozent tätig, veröffentlichte er 2004 sein erstes Buch, dem weitere folgten. Im Mitteldeutschen Verlag ist er Herausgeber der Reihe „Philosophie für unterwegs“. 2021 wurde Russi mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

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Alain Claude Sulzer: Fast wie ein Bruder

Inhalt:

Zwei Männer, die wie Brüder aufwachsen – bis ihre Leben ganz unterschiedliche Entwicklungen nehmen. Doch als eiiner der beiden stirbt, zeigt sich, wie tief die in der Kindheit geknüpfte Verbindung ist. Und als der Freund postum auf rätselhafte Weise zu Ruhm als genialer Maler kommt, erscheint die Beziehung der beiden plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Mit stiller Wucht erzählt Alain Claude Sulzer von einer ungewöhnlichen Freundschaft und einem kurzen Leben, das lange nachwirkt. (Klappentext)

Rezension:

Zumindest geografisch trennt das Leben zwei, die wie Brüder aufgewachsen sind, im jungen Erwachsenenalter. Während der eine sein Glück auf der anderen Seite des Ozeans sucht, findet der Ich-Erzähler seinen Lebensmittelpunkt in Frankreich. Der Kontakt aus der Kindheit, bleibt lose, verliert sich nicht. Erst nach dem Tod des Kunstsinnigen wird dem Erzähler klar, wie tief die Verbindung zueinander wirklich gewesen ist.

Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat mit „Fast wie ein Bruder“ nicht nur einen feinen Coming of Age-Roman geschrieben, sondern auch das Portrait einer sehr sonderbaren Zeit.

Sulzers Erzählung beginnt inmitten der 1970er Jahre, der Kindheit der Protagonisten, die zunächst alle Möglichkeiten für die beiden Jungen bereitzuhalten scheint, doch frühe Schicksalsschläge bereithält, die den weiteren Weg der Hauptfiguren bestimmen, Diesen folgen wir lesend bis in die Gegenwart hinein. Komprimiert auf der konträr zur erzählten Zeit überschaubaren Seitenzahl hat sich der Autor darauf konzentriert die beiden Figuren strahlen zu lassen.

Ihre Ecken und Kanten werden auserzählt, wie auch die Herausforderungen, denen sie sich gegenüber sehen. Dabei nehmen sie so viel Raum ein, dass für Nebenfiguren kaum Platz bleibt. Die Leinwand ist voll. Eingenommen von den beiden, die in unterschiedlicher Entfernung, immer umeinander kreisen.

Dabei durchzieht den Roman ein vergleichsweise ruhiger Erzählstil, dessen Tempo gefühlsmäßig nicht der Autor, sondern die Figuren selbst bestimmen. Sulzer verliert dabei nie den Blick für Orte und Szenarien und behält in diesem Konstrukt die Fäden bis zum Schluss in die Hand. Was kann, was vermag Kunst und was bleibt, wenn der Erschaffende nicht mehr ist?

Solche fast philosophischen Fragen können sich beim Lesen aufdrängen. Man kann diesen Roman jedoch auch einfach als die Erzählung einer Freundschaft lesen. Beide Protagonisten sind dabei nachvollziehbar gestaltet. Auch ergeben sich in der Art und Weise keine Lücken oder unlogische Sprünge. Einzelne Momente lassen sich sehr stark nachfühlen.

Der Roman um Kunst ist selbst Kunst. Fast filmisch führt der Erzähler durch die Leben beider wie entlang von Bildern einer Galerie. Eingerahmt sind sie zwischen zwei weltumspannenden Epidemien, die zugleich Taktgeber sind. Für die Welt, die still steht und einer Entscheidung über Leben und Tod, die die Figuren nicht beeinflussen können.

Alain Claude Sulzers Roman über Kunst, Homosexualität und Aids, einer Freundschaft vor allem, vereint das alles, ohne ins Kitschige abzutriften, in die richtigen Worte. Keines ist hier zu viel oder zu wenig. Eine reduzierte Erzählung, die nachdenklich werden lässt. Allein, es fehlt da noch der Wow-Effekt. Trotzdem darf man empfehlen, in die Geschichte zu versinken.

Autor:

Alain Claude Sulzer wurde 1953 geboren und ist ein Schweizer Schriftsteller. Zunächst absolvierte er eine Ausbildung zum Bibliothekar und war später als Journalist tätig. Seit den 1980er Jahren veröffentlicht er seine eigenen Werke und ist zudem als Übersetzer aus dem Französischen tätig gewesen. Selbst Teilnehmer am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, saß er später in dessen Jury. Er ist Mitgründer des PEN Berlin, lebt zwischen Berlin und Basel. Sulzer wurde für seine Werke mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit den Solothurner Literaturpreis.

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Saneh Sangsuk: Gift

Inhalt:

In einem Dorf mitten im thailändischen Dschungel träumt ein Junge davon, ein berühmter Puppenspieler zu werden. Versunken in die Magie seines Schattentheaters, bemerkt er zu spät, dass er sich über dem Nest einer Kobra niedergelassen hat. Als die zornige Schlange auf ihn zuschießt, beginnt ein gnadenloser Kampf, der die ganze Nacht dauern wird.

Eine existenzielle Parabel über Tradition und Macht, Schönheit und Schrecken, Leben und Tod. (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung, die einem schier den Atem nimmt, ist sicherlich die vorliegende Parabel aus der Feder des thailändischen Schriftstellers Saneh Sangsuk. In „Gift“ erzählt er nicht nur die Geschichte eines Kampfes, sondern nimmt damit gleichzeitig traditionelle Strukturen und Willkür innerhalb einer Gemeinschaft aufs Korn. Oberflächlich hier die Konfrontation, das Ringen ungleicher Gegner. Beinahe David gegen Goliath auf thailändischen Boden. Ein Junge setzt sich unbeabsichtigt auf das Nest einer Kobra, diese will sich wehren und der Gefahr für ihre Eier ein für alle Mal ein Ende setzen. Dem Hauptprotagonisten ist schnell klar, nur einer von beiden wird überleben.

So beginnt ein Ringen, welches Sangsuk mit wenigen Worten, zielgerichtet wie Schlangenbisse, zu erzählen weiß. Abwechselnd erzählt aus der Perspektive des Jungen und des Tieres erleben wir einen Zeitraum von nur wenigen Stunden, die beiden Protagonisten ihre ganze Kraft abverlangen wird. Nur ihnen beiden. Dem Jungen, ohnehin durch eine körperliche Beeinträchtigung Außenseiter innerhalb der traditionellen Strukturen seines Dorfes, wird keine Hilfe zuteil werden. Auf einer anderen Ebene geht es damit auch um klare, sich gegenüberstehende Pole. Kind gegen Erwachsene. Unschuld gegen Korruption und Willkür. Hier kompakt in Konfrontation.

Schon mit den ersten Seiten werden wir für den kleinen Hauptprotagonisten eingenommen, der reinen Herzens für seine Umgebung isst, der die Ungerechtigkeiten seiner Welt kaum klarer wahrnehmen könnte als er dies in Sangsuks Erzählung tut. Der indirekte Gegenspieler, versinnbildlicht durch die Schlange, ist der Erwachsene, der die Strukturen des Ortes nutzt, um diesen sich untertan zu machen. Wie könnte man da nicht klar mit dem Kinde mitfühlen? Hoffen und bangen, es möge im ungleichen Kampf bestehen?

Mit wenigen Worten in klarer Sprache, hier hervorzuheben ist die wunderbare Übersetzung durch Sabine Herting, gelingt ein beinahe filmischer Spannungaufbau. Jeden einzelnen Schweißtropfen meint man selbst auf der Haut zu spüren. Innerlich angespannt, nach Atem ringend wird man kaum von der Erzählung loslassen können und diesen Kampf bis zum Ende verfolgen.

Der Perspektivwechsel ist ein Kunstgriff, in dem auch das Tier seinen berechtigten Platz erhält. Beide Gegner mit klaren Blick, dazu eine Umgebung, die der Autor kunstvoll vor dem inneren Auge der Lesenden entstehen lässt. Hier ist der Spagat zwischen schöner Sprache und einer spannenden Erzählung gelungen, die im Einklang zueinander stehen.

Immer mehr Literatur aus Asien wird hierzulande zugänglich. Sie lohnt sich, entdeckt zu werden. Diese kleine Geschichte gehört unbedingt dazu. Hoffen wir, dass noch viel mehr Werke Sangsuks und anderer hier verlegt und ein breites Publikum finden werden. Schon alleine, um zu erfahren, wer die Oberhand gewinnt.

Autor:

Saneh Sangsuk wurde 1953 geboren und ist ein thailändischer Schriftsteller. Er studierte Englisch und arbeitet als freier Schriftsteller und Übersetzer. Zunächst Kurzgeschichten veröffentlichte er seinen ersten Roman 1986, dem weitere folgten. Sangsuks Werke wurden in mehreren Sprachen übersetzt. Er gilt als einer der besten zeitgenössischen Autoren Thailands, wofür er 2018 ausgezeichnet wurde.

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Hubertus von Prittwitz: Skarabäus

Inhalt:

Die Wahrheit ist die beste Lüge. Das lernt der achtjährige Friedrich von seinem Vater. Im Gerichtssaal sieht er seine Schwester das letzte Mal. Sein Vater, ein Spion des BND, trennt ihn für immer von seiner Mutter und seiner Unschuld. Im goldenen Käfig in Neuried bei München züchtigen der Missbrauch durch seine Stiefmutter und der Kontrollwahn des Vaters den Abtrünnigen. Nach mehreren gescheiterten Versucen gelingt die Flucht über Indien, Kairo und den Sudan in das Strafgefangenenlager des Menschenfressers.

Hubertus von Prittwitz rasanter Roman erzählt die Geschichte eines Überlebenden. Die Dichte des Milieus zieht den Leser tief hinein in das historische Erbe der Familienschuld. Im Spiel mit der Macht der Fiktion entspannt sich das Drama eines uralten Adelsgeschlechts. (Klappentext)

Rezension:

Am Ende steht ein Käfer als Symbol für den fortwährenden Versuch, seiner Familie zu entkommen. Diesen lebenslangen Versuch hat Hubertus von Prittwitz erzählerisch in seinem gleichnamigen Autorendebüt „Skarabäus“ verarbeitet. Eng an der eigenen Biografie und doch ganz weit weg.

Fast einem modernen Märchen gleich, springt der Roman zwischen Agententhriller, Politroman und Coming of Age Story entlang den Abgründen der Familie des zunächst achtjährigen Protagonisten. Bei kompakter Seitenzahl geradezu ausschweifend erzählt, begegnen wir Friedrich, der in seiner Kindheit bereits vom eigenen Vater entwurzelt wird, zugleich aber lückenlos kontrolliert. Dazu gesellt sich auch noch der seelische und physische Missbrauch durch die Stiefmutter. Mit der Zeit entwickelt der Junge, den wir bis ins frühe Erwachsenenalter begleiten, Überlebensstrategien, die sämtlichen Willen erfordert, die eine gebrochene Seele aufbringen kann.

Viel zu viele Faktoren für einen Roman, der sich zudem nicht gerade leichtgängig lesen lässt. Das Springen zwischen den Genres ist eine Sache, es gelingt einem jedoch auch nicht, sich dauerhaft an wenigsten einer der Figuren festzuhalten. Alleine die Anspielungen auf verschieden historische Ereignisse sind spannend eingebunden, in eine Erzählung, die keinen anderen roten Faden kennt als die innere Zerissenheit des Hauptcharakters. Zu Beginn weiß man da nicht, was man eigentlich liest. Es scheint, erst mit dem Voranschreiten der Kapitel, die zugegeben zuweilen filmisch wirken, hat der Autor seinen Stil gefunden. Dem entsprechend rund wirkt auch das Ende.

Der Hauptprotagonist ist zugleich Erzähler und Handlungstreiber, in einer Geschichte, die wie ein Schachspiel wirkt. Dabei entgeht dem zunächst sehr jungen Friedrich viel. Nach und nach wandelt sich jedoch die Figur und wird selbst zum aktiven Taktgeber. Dieser Platztausch ist dann doch spannend beschrieben, wobei erzählerische Längen dennoch nicht ganz ausgeblendet werden können.

Hubertus von Prittwitz hat ein Auge für Schauplätze, die er vor dem inneren Auge der Lesenden sehr plastisch wirken lässt. Doch es fehlt der springende Funke, der leider an einigen Stellen dem Gefühl weichen muss, irgendetwas Entscheidendes überlesen zu haben. Vielleicht braucht man einen bestimmten Zugang, diesen speziellen Mix der Genre ganz in sich aufzunehmen? Hier wäre zu schauen, wie ein Werk des Autoren sich liest, wenn es eine Konzentration auf ein bestimmtes Genre oder einen einzelnen Aspekt gäbe.

Eventuell hätte aber auch die Erzählung ganz anders gewirkt, wenn man sich vorher mit der Biografie des Autoren und seiner Familie beschäftigt hätte. Dies sei allen empfohlen, die „Sakarabäus“ lesen möchten. Manches wird da fassbarer.

Nur schade, dass das der Rezensent (ich) vorher nicht gemacht hat.

Autor:

Hubertus von Prittwitz wurde 1969 in München geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Er studierte Politikwissenschaften in München und Berlin, arbeitete als Eventmanager und als Texter, Redakteur und Übersetzer. Er ist für die Deutsche Welle tätig. „Skarabäus“ ist sein Debüt.

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Mariam Kühsel-Hussaini: Tucholsky

Inhalt:

Als Rathenau von Attentätern erschossen wird, verliert die Weimarer Republik einen seiner Feinsten. Kurt Tucholsky, die schwungvollste Stimme der Wochenzeitung Weltbühne, will ergründen, wie es jetzt mit Deutschland weitergehen wird. Ein wenig später befindet sich das Land im Ausnahmezustand.

Bis zuletzt kollidiert man mit dem ganzen Sturm der Zeit. Die Presse der NSDAP liefert sich mit der Weltbühne publizistisch eskalierende Mensuren, welche die Menschen im ganzen Land unaufhaltbar aufladen, bis am Ende dieses seine Krisen und seine Menschen mit Notverordnungen regiert. Tucholsky geht. Er geht für immer … (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Fünf Schuss sind es, die den Wendepunkt bedeuten und die Geschwindigkeit eines nicht mehr aufzuhaltenden Falls noch erhöhen. Die Abwärtsspirale, sie dreht sich immer schneller. Nur wenige Politiker hätten sie vielleicht aufzuhalten vermocht. Rathenau, einer von ihnen? Der Journalist Kurt Tucholsky schreibt mit spitzer Feder und treffenden Worten gegen die Zustände im Land, die alles mit sich reißen werden. Und auch ein ehemaliger Kaiser in seinem Exil denkt nach über eine Zeit, aus der er herausgefallen scheint. Die Schriftstellerin Mariam Kühsel-Hussaini hat drei Biografien und Momente zu dem Portrait einer stürzenden Republik verwoben.

In einer Mischung aus historischen und gesellschaftskritischen Roman, der ins Heute hineingreift, führen uns wirkmächtige Figuren durch die Weimarer Jahre. Die Unsicherheiten, direkt nach dem verlorenen Krieg wechseln einer nervösen Stabilität ohne Selbstbewusstsein, hinein in die Zwanziger, die später einmal als die Goldenen bezeichnet werden.

Tucholsky, hier Hauptfigur beobachtet und ist Teil dieser Welt, zugleich ihr größter Kritiker. So treffsicher seine Worte, so groß die Differenz zu seinem eigenen Leben. Ein Kontrast, den die Autorin ebenso zielgerichtet auszuarbeiten verstand. Der Blick dieses Protagonisten ist es, der hier die Gegensätze aufzeigt. Nahtlos die Übergänge zu anderen Sichtweisen. Da ist der ehemalige Kaiser, im niederländischen Exil, von Reportern belagernd. Hier ist Rathenau, der die neue Zeit verkörpert, aber ihre Menschen nicht erreichen tut.

Ein Roman ist das, der von einer flirrenden Zeit erzählt, dies mit wenigen Worten vermag, denen man sich nicht recht entziehen kann. Schnell ist man inmitten der Handlung, die die Figuren vor sich hertreibt, die pointiert mit Ecken und Kanten ausgearbeitet sind. Das liegt da auch am Text, der sich zuweilen wie ein Strudel anfühlt, den man nicht entkommen kann. Damit ist aber auch die Schwäche der Erzählung gefunden. Klare Übergänge oder Bruchlinien fehlen oft genug.

Ohne Abgrenzung ist man da mitunter zuerst in der Erzählperspektive Tucholskys gefangen, um im nächsten Satz einen aus der Sicht Rathenaus zu lesen. Manchmal hätte ein Absatz mehr oder eine andere Kapitelunterteilung Not getan, um gewisse Verwirrstellen zu vermeiden.

Der erzählende Zeitraum umfasst die Jahre der Weimarer Republik, in der die Gegensätze mit zunehmender Geschwindigkeit aufeinanderprallen. Gegensätze hat die Autorin sowohl mit den Handlungsorten, die man sich gut vor Augen führen kann, geschaffen, ebenso mit den Figuren, die wie ihre realen Vorbilder, Spiegelbilder ihrer Zeit sind. Getriebene und Treibende. Mit dem Wissen von heute, können wir die Seiten klar zuordnen. Die Figuren jedoch staunen, versuchen sich einzuordnen, versuchen zu verstehen. Dem Hauptprotagonisten gelingt das über lange Strecke, bis schließlich alles aus den Fugen geraten ist.

Das macht nahbar und kann zugleich als Warnung auf unsere Gegenwart verstanden werden, so plastisch vor Augen geführt. Kräfte, die in einer sich immer mehr polarisierenden Welt, sich zunächst misstrauisch, dann feindlich gegenüberstehen. Hier konzentriert auf politische Ansichten und konfrontativen Journalismus, was es sehr greifbar werden lässt.

„Die Menschen nehmen alles hin“, strich es Tucholsky über die Brust, „sie nehmen alles hin.“

Mariam Kühsel-Hussaini: Tucholsky

Allwissend sind hier nur die Lesenden. Dem Hauptprotagonisten beschleicht zumindest eine Ahnung, die er gen Ende umzusetzen weiß. Überraschende Wendungen gibt es solche nicht. Das dargestellte Zeitkolorit, welches ein gewisses Gefühl für die Menschen damals heraufbeschwört, ist es, was diesen Roman lesenswert macht. Figuren, Orte, man kann sich das alles gut vorstellen. Wer Miniserien, wie Babylon Berlin mag, ohne die Krimikomponente, die gesellschaftliche Zustandsbeschreibung ist hier Krimi genug, wird mit der Lektüre gut bedient sein, ebenso, wer jetzt keine klischeehafte Historienschmonzette zur Hand nehmen möchte.

Die Erzählung lädt zudem dazu ein, sich mit den Biografien der wirklichen Figuren zu beschäftigen, ohne den Text danach in die hintersten Winkel des Bücherreagals verbannen zu müssen. Der Gutteil passt. Am Ende fehlen ein paar Absätze und klare Konturen für die B-Note. Ob die zu vernachlässigen sind, muss ein jeder für sich entscheiden.

Autorin:

Mariam Kühsel-Hussaini wurde 1987 in Kabul geboren und ist eine deutsch-afghanische Schriftstellerin. Seit 1990 lebt sie in Deutschland und veröffentlichte 2010 ihren ersten Roman, dem weitere folgten. 2013 bekam sie ein Stipendium aus dem Else-Heiliger-Fonds der Konrad Adenauer Stiftung. Sie lebt in Berlin.

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Zora del Buono: Seinetwegen

Inhalt:

Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die große Leerstelle der Familie. Wie kann jemand, der fehlt, ein Leben dennoch prägen? Die Tochter macht sich auf die Suche und fragt, was der Unfall bedeutet hat: für die, die mit einem Verlust weiterleben, für den, der mit einer Schuld weiterlebt. Seinetwegen erzählt Zeitgeschichte als Familiengeschichte – detailgenau, raffiniert komponiert, so präzise wie poetisch. (Klappentext)

Rezension:

Wir wirken Lücken auf uns, die praktisch immer schon existieren, wenn Verlust Dauerzustand ist und was macht dieser mit jenen, die ihn verursacht, aber ansonsten kaum Berührungspunkte haben? Vor allem nicht mit den Betroffenen, die darunter dann Zeit ihres Lebens leiden müssen. Die Schweizer Journalistin und Autorin Zora del Buono geht diesen und damit zusammenhängenden Fragen in ihrer biografischen Reportage „Seinetwegen“ nach und entdeckt anhand eines Teils der Familiengeschichte auch ein Stück ihrer Selbst.

Der Erzählton des vorliegenden Textes ist ruhig und doch spürt man das Drängen, mit dem die Schriftstellerin den letzten Stunden ihres Vaters nachgeht, welchem sie im Alter von acht Monaten bei einem Autounfall verlor. Die Mutter im Heim, längst in die Demenz abgeglitten, Zeit ihres Lebens hatte sie nicht darüber gesprochen, vom Verursacher des Unfalls existiert zunächst nur ein Name und ein kleiner Zeitungsartikel über den nachfolgenden Prozess.

Wenig für diejenige, die begreifen und ergründen möchte, doch del Buono spürt der Geschichte des Moments nac, der das Leben der Familie für immer verändern sollte. Ihr Bild des Unfallfahrers verschiebt sich dabei ebenso, wie jenes von der Schweizer Gesellschaft, von den 1960er Jahren bis heute.

So unaufgeregt das kompakte Werk daherkommt, so aufgewühlt ist im Inneren der Autorin zugegangen, die mit ihrer Recherche eine große Lücke in ihrem Leben zu füllen. Die rastlose Suche, die zwischen den Zeilen daherkommt und immer wieder an Glasdecken stößt, ergibt nur langsam ein vielschichtiges Bild, zunächst vor allem von einer Gesellschaft im wandel. Erst später wird sie beiden Personen nahekommen. Dem Verursacher, dessen Leben vom Wandel der Gesellschaft erzählt und ihrem Vater, der einst als Fremder in die Schweiz kam und sich dort ein neues Leben zu aufbauen versuchte.

Die Zeitstrahlen einerseits der vergangenen Jahrzehnte, andererseits der wochenlangen Suche laufen schließlich zusammen, doch sind es die Figuren selbst, die diese biografische Reportage zu etwas Besonderen machen. Dabei beschränkt sich die Autorin, die damit auch zum Gegenstand ihres Schreibens wird, auf wenige Personen. Nach und nach kann man sogar dem Unfallverursacher nachspüren. Jede Geschichte hat zwei oder mehr Seiten. So verarbeitet Zora del Buono das, was ihre Mutter nie so wirklich konnte. Braucht es also, zu der Erkenntnis könnte man gelangen, manchmal nur eine Generation Abstand?

Kurze prägnante Sätze wechseln sich mit ausschweifenden Gedankengängen ab, kulminierend in den Treffen der Freunde der Autorin, die im Verlust zu geliebten Menschen vereint sind. Rückblenden in die Kindheit durchbrechen den Text, der auch dadurch nahbar wird. Schauplätze werden zu Bildern. Del Buono lässt sie vor dem inneren Auge entstehen.

Es ist der Versuch der Verarbeitung etwas Unbegreiflichen. Ob dieser gelungen ist, kann nur die Autorin selbst entscheiden, er macht jedenfalls ordentlich Eindruck. Natürlich stellt sich die Frage, was dabei gewonnen ist, einem Menschen auf dieser sehr persönlichen Suche zu begleiten? Vielleicht können jene die Frage beantworten, welche selbst solch einen Verlust erlitten haben.

Für alle anderen bleibt die Erzählung des gesellschaftlichen Wandels. Dafür aber braucht es jetzt nicht unbedingt diesen Rahmen. Dieser kleine biografische Bericht lässt einem dennoch für einen Moment innehalten und nachdenklich zurück. Letztlich muss wohl jeder für sich entscheiden, ob dies genügt.

Autorin:

Zora del Buono wurde 1962 in Zürich geboren und ist eine Schweizer Architektin, Journalistin und Autorin. Zunächst studierte sie Architektur in Zürich und Berlin, wo sie bis 1995 als Architektin tätig war. Danach absolvierte sie ein Studium für Szenografie. 1996 war sie Mitgründerin der Zeitrschrift Mare, welche sie von 2001 bis 2008 als stellvertretende Chefredakteurin begleitete.

2008 erschien ihr Debütroman, dem weitere Werke folgten. Del Buono ist Mitglied des Schweizer PEN, erhielt 2024 den Schweizer Buchpreis und 2012 den ITB Buch Award.

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Der Erste Weltkrieg/Der Zweite Weltkrieg – Die visuelle Geschichte

Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich in diesem Jahr zum achtzigsten Mal. Grund genug also, sich ausführlich mit den unterschiedlichen Aspekten des Krieges zu beschäftigen, der so zerstörerisch und so mörderisch werden sollte, wie keiner zuvor. Davor, mit einer kurzen Phase brüchigen Friedens dazwischen hatte es bereits schon einmal einen weltumspannenden Krieg gegeben. Und so umfassend müssen auch die Übersichten sein, um alle Aspekte aufzuführen, die die Vorgeschichte, Kriegsverläufe und was danach folgen sollte, einigermaßen begreiflich machen zu lassen. Und so haben sich eine Vielzahl von Historikern und anderen Wissenschaftlern daran gemacht, Gesamtdarstellungen zu erarbeiten. Nun liegen diese im Verlag Dorling Kindersley vor.

Die Werke dieses Verlags haben die Eigenheit, gerade wenn sie bewusst in einer Abfolge zueinander erscheinen, nahezu die gleiche Rezension herauf zu beschwören, weshalb ich mir die Freiheit genommen habe, einen gemeinsamen Beitrag für beide Sachbücher zu schreiben. Entlang eines Zeitstrahls wird Geschichte hier erzählt, eingerahmt durch die Vor- und Nachgeschichte, dann die Jahre des jeweiligen Krieges, nochmal einzeln aufgedröselt. Unterschiedliche Perspektiven kommen zur Sprache, sei es durch die Erläuterung der Kriegstaktiken innerhalb der jeweiligen Phase oder weil einzelne Feldzüge beleuchtet werden.

Dabei nehmen die Autor:innen beider Werke nicht nur eurozentrische Perspektive ein, sondern vergessen nicht zu beleuchten, wie der Erste und der Zweite Weltkrieg auf der anderen Seite des Globus‘ aussahen. Immer wieder werden einzelne Persönlichkeiten beleuchtet, die in den jeweiligen Phasen oder überhaupt eine Rolle spielten, sowie auch der „Alltag“ im Krieg oder der Terror des NS-Regimes analysiert, um nur die Beispiele zu nennen.

Die Lesbarkeit ist aufgrund der abwechslungsreichen Gestaltung gegeben. Fließtexte wechseln sich mit Infoboxen ab, Karten und Grafiken visualisieren Informationen. Schon das Überformat zwingt einem, sich bewusst eines der Bücher hervorzuholen, entweder sich mit einem bestimmten Thema zu beschäftigen oder gezielt zu suchen, was sowohl ein Stichwortregister am Ende der beiden Enzyklopädien möglich macht, als auch ein übersichtliches Inhaltsverzeichnes.

Autorenkollektiv: Der Erste Weltkrieg – Die Visuelle Geschichte
Seiten: 372
Rezensionsexemplar/Sachbuch
Verlag: Dorling Kindersley
ISBN: 978-3-8310-4874-8
Übersetzung: Burkhard Schäfer, Birgit Lamerz-Beckschäfer (u. a.)

Autorenkollektiv: Der Zweite Weltkrieg – Die Visuelle Geschichte
Seiten: 360
Rezensionsexemplar/Sachbuch
Verlag: Dorling Kindersley
ISBN: 978-3-8310-3757-5
Übersetzung: Burkhard Schäfer, Klaus Binder (u. a.)

Beide Werke erhalten, es ist gar nicht anders möglich:

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