Gesellschaft

Angela Findlay: Im Schatten meines Großvaters

Inhalt:

Als die in England aufgewachsene Angela Findlay im Rahmen eines Kunstprojekts ein Gefängnis betritt, hat sie sofort das unerklärliche Gefühl,als ob sie dorthin gehörte. Jahrelang hatte sie mit einem diffusen Schuldgefühl in sich gerungen. Doch nun beginnt sie, nach den Ursachen zu forschen,und so entsteht ein immer detaillierteres Bild von Nazi-Deutschland und vom Leben ihres toten Großvaters, eines hochdekorierten Generals der Wehrmacht. (Klappentext)

Rezension:

Immer detailreicher werden die Erkenntnisse, die sich aus den Forschungen generationsübergreifender Traumata ergeben, doch noch wird dieses Phänomen anhand zu weniger Perspektiven beleuchtet. Inzwischen gibt es Bücher, in denen die Nachfahren von Migranten darüber berichten, schon früh hingegen erschienen die Erfahrungen der Nachfahren Holocaust-Überlebender. Nun ist mit “Im Schatten meines Großvaters” der Blick um eine faszinierende Facette ergänzt worden.

Da sind zunächst einzelne Bemerkungen seitens der Mutter, Momente der Kindheit und eine Art Wissen, auf die sich die Autorin keinen Reim machen kann, doch erlebt Angela Findlay im Rahmen der von ihr gestalteten Kunst-Projekte zunächst, was Verarbeitung bei anderen Menschen bewirkt. Erst später beginnt sie die Hintergründe ihrer eigenen Gefühle zu recherchieren und macht sich auf eine Reise durch die Vergangenheit ihres Großvaters.

Den Blick voller Wohlwollen war da immer die Frage, wie viel wusste der General vom Grauen des Holocaust hinter der Front, in wie fern war er selbst beteiligt? Hat er weg gesehen, mitgemacht oder, bestenfalls, dagegen Widerstand geleistet? In der Hoffnung auf letzteres recherchierte die Autorin quer durch Europa auf der Suche nach Antworten, legt Schicht um Schicht ein Bild voller Grauschattierungen frei und kommt damit auch ihren eigenen Gefühlen immer näher.

Diese psychologische Reportage ist faszinierend zu lesen, allein fehlt manchmal die Einordnung eines fachlichen Historikers, doch in Ergänzung zu anderer Literatur ist auch dieses Buch unglaublich wertvoll. Was hier gut nachzuvollziehen ist, ist die innere Zerrissenheit Findlays, was sich auch auf andere übertragen lässt, die sich mit vererbten Traumata herumschlagen müssen. Medizinische Hintergründe werden dabei angerissen, jedoch so, dass es für die Laien unter uns nachvollziehbar bleibt.

An mancher Stelle fehlt eine sachlich-nüchterne Tonalität, an anderen wären detailreichere Ausführungen interessant gewesen. Trotzdem ist diese psychologische Spurensuche ungemein lesenswert. Ich kann sie nur empfehlen.

Autorin:

Angela Findlay wurde 1964 geboren und ist eine Künstlerin und Vortragsrednerin. Sie unterrichtete Kunst in Gefängnissen und war Koordinatorin für Koestler Arts Charity. Daneben beschäftigt sie sich mit den Folgen ungelöster generationsübergreifender Traumata.Sie lebt in England und Deutschland.

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Tove Alsterdal: Blinde Tunnel

Inhalt:

Sonja und Daniel wollen ihre Ehe retten und erfüllen sich einen Traum: Das schwedische Paar kauft ein Weingut in Tschechien. Das Anwesen liegt seit dem Zweiten Weltkrieg brach, verströmt jedoch eine betörende Magie. Bei ihren Aufräumarbeiten entdecken sie ein Kellergewölbe mit Flaschen aus den Kriegsjahren. Und die mumifizierte Leiche eines Jungen mit weißer Armbinde. Die Polizei hat kein Interesse, der Sache nachzugehen, aber mithilfe der Anwältin Anna erfährt Sonja mehr über die bewegte Geschichte des Dorfes, die Annexion der Gebiete durch Hitler, das Leid der Bevölkerung. Doch dann wird Anna ermordet und Daniel als Verdächtiger verhaftet. Sonja begreift, dass der Schlüssel in der Vergangenheit liegen muss. Und dass manche Dinge für immer verborgen bleiben sollten. (Klappentext)

Rezension:

Alleine das Szenario reicht bereits aus, um eine Erzählung vollkommen zu überfrachten. Die Frage jedenfalls, stellt sich relativ schnell. Kann das funktionieren? Ein schwedischer Krimi, der in Tschechien spielt und die konfliktbeladene Geschichte zwischen Tschechen und Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert. Zwischen die damaligen Fronten zu geraten und verschüttete Emotionen aufzurütteln, ist jedenfalls das Letzte, was die beiden Hauptprotagonisten wollen, als sie in die tschechische Provinz ziehen.

Das verlassene Haus mit ehemaligen Weingut sah ja auf den Bildern vor dem Kauf so malerisch aus. In Zentraleuropa angekommen wird Sonja und Daniel jedoch schnell klar, dass mit dem Grundstück auch ein Teil der Vergangenheit dieses Landstrichs erworben wurde, der noch immer nicht zu viele Fragen erwünscht. Als dann auch noch die Leiche eines Jungen im ehemals zugemauerten Weinkeller gefunden wird, ist schnell nichts mehr, wie es war. Sonja beginnt die Geschichte des Ortes zu hinterfragen, doch wem kann sie noch trauen?

Somit ist der Handlungsrahmen umschrieben, in dem sich die beiden Hauptprotagonisten befinden. Beide geraten schnell in einem Strudel hinein, dessen Wirkung sie schnell nicht mehr kontrollieren können. Jeder im Dorf und alle, auf die vor allem Sonja stößt, um mehr zu erfahren, scheinen eigene Interessen zu verfolgen. Nichts scheint Schwarz oder Weiß, viele Grautöne vermischen sich. Auch die beiden Protagonisten haben ihre Ecken und Kanten. Emotionale Kälte ist zwischen den Zeilen zu lesen, genau so wie der Staub vom lange nicht mehr genutzten Boden aufgewirbelt wird.

Dabei umfasst das Szenario im Hier und Jetzt nur wenige Tage. Rückblicke in die Vergangenheit, die sich Sonja nach und nach öffnen, geben der Geschichte eine Dynamik, die vor allem dann interessant wird, wenn das Erfahrene unmittelbare Auswirkungen bekommt. Zudem gibt es zu wenig Literatur, die diesen Teil der Geschichte so einarbeitet. In sofern funktioniert die Mischung, der dennoch an einigen Stellen etwas mehr Tempo gut getan hätte.

Dieses ist nämlich ansonsten durchaus ordentlich. Erzählerische Längen existieren kaum. Auch Sprünge oder Wendungen sind so eingearbeitet, dass sie nicht fehl am Platze wirken. Vielleicht hätten sogar ein zwei derer Sachen mehr der Geschichte gut getan, doch kann man auch damit zufrieden sein, dass nicht skandinavische Melancholie den O-Ton bestimmt. Der Sprung außerhalb der nordischen Länder funktioniert hier hervorragend. Nur eine Frage bleibt offen, wie würde ein solcher Krimi erzählt werden, wenn dieser aus der Feder tschechischer Schreibender stammte? Vielleicht ist jedoch diese Perspektive dem Ganzen zuträglich.

Die beiden Hauptfiguren sind glaubwürdig ausgearbeitet, wobei der männliche Part durch die weibliche Protagonisten Konturen bekommt. Auch die Geschichte wird ja aus Perspektive Sonjas erzählt, bis auf die Rückblicke, die sich ihr nach und nach erschließen. Facettenreich sind sie und alle Nebenfiguren vor allem dadurch, dass lange nicht klar ist, wer der Gegenpart ist und auch das Ende einem mit gemischten Gefühlen zurücklassen wird, was jedoch hervorragend zur Geschichte passt und kaum anders vorstellbar wäre. Eine Erzählung in der nicht alle Konflikte zur Gänze aufgelöst sind, ist eben eines nicht. Langweilig.

So facettenreich die Geschichte, so spannend erzählt Tove Alsterdal diese, dass man gerne mehr erfahren möchte, immer einen kalten Schauer im Nacken spürend. Effekthaschend blutige Szenarien sucht man hier vergebens. Angenehm hat sich die Autorin hier zurückgehalten, trotzdem kommt keine Langeweile auf. Im Gegensatz zu vielen anderen Krimis wird hier mit etwas längeren Kapiteln gearbeitet, deren Übergänge im Verhältnis fließend sind. Trotz der insgesamt sehr kompakten Erzählung hat man das Gefühl, dass die Autorin sich Zeit für die Ausarbeitung der Szenarien genommen und ebenso ausreichend für deren Grundlagen recherchiert hat.

Das trägt dazu bei, dass man sich die einzelnen Schauplätze und Figuren gut vor dem inneren Auge vorstellen kann, ohne sich darin allzu lang aufhalten zu müssen. Dieser Krimi ist damit nicht nur für alle Fans des Genre, sowie so an skandinavischer Literatur Interessierte gerichtet, eben auch für jene, die einmal ausweichend von Sachbüchern mit zweifelhafter Tendenz sich einer Thematik nähern möchten, die sonst nur wenig besprochen wird.

Am Ende fehlt noch der eine oder andere I-Tüpferl, insgesamt ist es jedoch eine sich lohnende Lektüre. Zumal jeder irgendeine Leiche im Keller hat.

Autorin:

Tove Alsterdal wurde 1960 in Malmö geboren und ist eine schwedische Schriftstellerin, Journalistin und Dramatikerin. Zunächst arbeitete sie als Krankenschwester, bevor sie 1985 eine Ausbildung zur Journalistin begann. Danach arbeitete sie lange Zeit für Radio und Fernsehen, begann 1990 zudem für eine unabhängige Theatergruppe zu schreiben. Ihr Krimidebüt gab sie 2009, dem weitere Romane folgten. 2014 erhielt sie den Preis für den besten Kriminalroman des Jahres der Svenska Deckarakademin. 2020 begann sie an einer Krimiserie zu arbeiten, die 2023 abgeschlossen wurde.

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Homeira Qaderi: Dich zu verlieren oder mich

Inhalt:

Wie wird ein Mädchen zur Frau in einer Gesellschaft, die ihm alle Möglichkeiten verwehrt? Wie wählt eine Mutter zwischen ihrem Kind und ihrer Zukunft? Dich zu verlieren oder mich ist die bewegende Lebensgeschichte der afghanischen Autorin und Frauenrechtlerin Homeira Qaderi – und ihre stärkste Waffe im Kampf für Gleichberechtigung in ihrer Heimat. (Klappentext)

Rezension:

Über Nacht änderte sich das Leben für die Menschen, als nach dem Abzug der Sowjets die Taliban die Macht übernahmen. Das Leben in Afghanistan war nie einfach, doch vor allem für die Frauen wurde in der ohnehin patriarchalischen Gesellschaft die Luft zum Atmen immer dünner. Plötzlich waren sie wie Vögel eingesperrt, im eigenen Land. Zu dieser Zeit, “im Land der unsichtbaren Kugeln und des angekündigten Todes” wächst Homeira auf, ihr Glück findet das Mädchen, die Jugendliche im Lesen und Schreiben, doch Bildung ist den Frauen Afghanistans untersagt, wie auch sonst das Leben der Bevölkerungen von Tradition und Gesellschaft eingeschränkt ist. Bereits im jungen Alter wehrt sich die künftige Autorin dagegen, bringt gleichaltrigen Mädchen heimlich das Schreiben bei, doch der größte Kampf steht ihr bevor, als sie als junge Mutter vor der Entscheidung steht, entweder sich selbst zu verlieren oder ihren Sohn.

Ein Land mit einer Kultur und gesellschaftlichen Sichtweisen, die uns kaum ferner liegen könnten, offenbart nur selten Perspektiven aus dessen Inneren. Erfahrungsberichte und Biografien wie diese sind rar gesät und so sich “Dich zu verlieren oder mich” heraus und verlangt, gehört zu werden. Hunderttausende Frauen mögen unter der Terror- und Willkürherrschaft des Regimes der Taliban leiden, begünstigt durch eine fatale Interpretation von Religion und verkrusteten traditionellen Strukturen, die nur schwer aufgebrochen werden können. Als eine von wenigen ist das der Autorin gelungen, die stille Momente im Geheimen als auch den Mantel der Geschichte zum richtigen Zeitpunkt für sich nutzen konnte.

Die Veränderung war fast augenblicklich spürbar. Auf den Straßen waren schlagartig keine Frauen mehr zu sehen. […] Während dieser ganzen Zeit fühlte ich mich wie ein Vogel im Käfig, ich schlug mit den Flügeln gegen die Stäbe und versuchte noch immer zu fliehen.

Homeira Qaderi: Dich zu verlieren oder mich

Homeira Qaderi hangelt sich von ihren Kindheitserinnerungen an bis zur titelgebenden Frage, auf der letztendlich alles hinausläuft. Anschaulich beschreibt sie die Veränderungen, denen das Land fortwährend ausgesetzt war und was dies vor allem für die Frauen bedeutete. Einzelne Sätze geben dieser doch sehr kompakt gehaltenen Biografie Literarität, während andere sehr sachlich auf den Boden der Tatsachen zurückführen, welcher gespickt ist von Kälte, Trost- und Hoffnungslosigkeit. Wie die Geschichte jedoch ausgeht, lässt sich erahnen, alleine schon dadurch, dass wir diesen Text in den Händen halten. Manchmal setzt sich eben doch der Funken Glück durch, sei er auch noch so klein.

[…] all meine Träume und Ziele verdorrten wie nicht gegossene Blumen.

Homeira Qaderi: Dich zu verlieren oder mich

Die Geschichte der Autorin ist Beispiel dafür, dass man die Hoffnung nicht aufgeben darf, dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen. Qaderi zeigt jedoch auch die Gefahren eines gesellschaftlichen Systems, welches das Lebensglück seiner Menschen dermaßen mit den Füßen tritt. So ist der Text zugleich vor allem Stimme für jene Frauen, die die ihre nicht mehr erheben können, die an Afghanistan zerbrochen sind. Man kann ja auch kaum anders, wenn man vor der Wahl zwischen der Liebe zu seinem Kind und dem Wunsch nach Freiheit steht, dabei weiß, die dunkle Seite jeder Entscheidung könnte zum Schlimmsten führen. Wie würde man sich sich selbst entscheiden, ohne zu wissen, ob dies nicht in eine noch größere Katastrophe führt.

Ein Text über lebenslanges Kämpfen für sich selbst, für die Frauen Afghanistans und für das eigene Kind. Kaum möglich, davon loszukommen.

Autorin:

Homeira Qaderi wurde 1980 geboren und ist eine afghanische Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Professorin für Literatur. Nach der Machtübernahme der Taliban 1989 organisierte sie heimlich Grundalphabetisierungskurse für Mädchen aus der Nachbarschaft, unterrichtete selbst und veröffentlichte als Jugendliche eine Kurzgeschichte, die von den Taliban scharf kritisiert wurde. Im Jahr 2001 ging sie in den Iran und setzte ihre unterbrochene Ausbildung fort, studierte persische Literatur, worin sie schließlich 2014 in New Dehli promovierte.

Im Jahr 2011 wurde sie Beraterin der afghanischen Regierung. Während des Falls von Kabul 2021 gehörte sie m it ihrem Sohn zu den Letzten, die das Land an Bord eines amerikanischen Flugzeugs verlassen konnten. Seit dem lebt und arbeitet sie in den USA als Autorin und Professorin und setzt sich weiterhin für Frauenrechte ein. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht und wurde verschiedenfach ausgezeichnet.

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Karin Hofmann (Übers.): DK History – Bauwerke der Menschheit

Inhalt:

Von der beeindruckenden Sonnenfinsternis vor der Maya-Pyramide Kukulcan über das fröhliche Fest zu Ehren der Athene auf der Akropolis bis zu den Menschen in Stonehenge, die ein Ritual zur Wintersonnenwende vollziehen: Entdecke die bedeutendsten Bauwerke der Menschheit durch atemberaubende 3-D-Szenen und erlebe hautnah, wie diese besonderen Orte und ihre Menschen Weltgeschichte schreiben. (Klappentext)

Rezension:

Nach den Momenten der Geschichte begeben wir uns auf eine neue Reise durch die Zeit und entdecken diese nun anhand der Bauwerke, und derer, die sie einst errichteten. Auch diesmal führt uns unsere Reise einmal quer durch die Weltgeschichte, zu den verschiedensten Orten und wieder können wir bekanntes wieder und anderes neu entdecken. Nicht nur kleine Hobby-Archäologen und Entdecker kommen dabei auf ihre Kosten, wenn sie etwa durch die Bauten der Verbotenen Stadt des Chinesischen Kaiserreichs wandeln oder das Treiben der Spiele im Kolosseum beobachten.

Der neue Band macht es möglich und lässt uns eintauchen, auf bewährte Art und Weise mit einer bunten Mischung aus liebevollen Illustrationen, hochqualitativen Grafiken und Fotografien. Zusammengestellt mit kurzen kompakten Erklärungen werden die geschichtlichen Kapitel übersichtlich gehalten. Wer liest, hält praktisch ein Wimmelbuch in den Händen.

Immer wieder gibt es neue Details zu entdecken. Dabei sorgt wieder die Mischung aus bekannteren und nicht ganz so geläufigen Themen für Abwechslung, zudem wird hier Wissen auf eine Art und Weise vermittelt, die gerade junge Lesende ernstnimmt. So funktioniert auch dieses Werk für das gemeinsame Lesen, wie auch für erste Leseversuche selbst, wenn man die Grundlagen dafür beherrscht und sich allein auf Entdeckungsreise begeben möchte.

Jedes “Kapitel” ist gleich dem ersten Band so aufgebaut, dass eine Überblicksseite mit einer großen Illustration das Thema eröffnet und danach einzelne Details erläutert werden, anhand von Kartenmaterial, weiteren Zeichnungen, abgeschlossen zuletzt durch eine großformatige Fotografie. Egal, wo das Auge hinschaut, immer gibt es etwas zu sehen. Dieses Werk lässt sich ebenso als Nachschlagewerk, wie auch zum Hintereinanderweg-Schmökern verwenden und reiht sich damit so würdevoll in sämtliche andere Bild-Enzyklopädien des Verlags ein, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Am Ende steht wieder ein Glossar zur Klärung der wichtigsten, immer wiederkehrenden Begriffe.

Natürlich kann auch dieses Werk geschichtliche Themen nur anreißen, aber es ist sehr geeignet, die Kleinsten schon zu interessieren und zu begeistern. Die Reise zu einem Empfang Ludwig XIV. wie auch in den Hafen von Karthago sei hier allen zu empfehlen.

Übersetzung:

Karin Hofmann ist freiberufliche Übersetzerin.

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Thomas von Steinaecker: Die Privilegierten

Inhalt:

In Norwegen beginnt der Winter. Der erste seit vielen Jahren. In einer abgelegenen Hütte muss sich Bastian eingestehen, dass er zu alt ist, um dort zu überleben. Anstatt zur weit entfernten Siedlung aufzubrechen, beginnt er, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Mit seiner Kindheit in den 90ern zwischen Star Wars, Magnum-Eis und Lichterketten gegen Rechts. Der Zeit als junger Vater und der Herausforderung, Familie, Karriere und eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Und mit den Jahren in der geschützten Wohnsiedlung in der Nähe Münchens, in denen die Welt immer bedrohlicher wurde.

(Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Der neue Roman von Thomas von Steinaecker ist das vielschichtige Porträt unserer Gegenwart in all ihren Widersprüchen. Vor allem aber auch: eine bewegende Geschichte von Liebe und wahrer Freundschaft.

Angaben des Verlags

Das meint zumindest der Verlag, doch zunächst begegnen wir den Protagonisten am Ende der Welt, der Einsam- und Unerbittlichkeit des kargen und unerbittlichen norwegischen Winters ausgesetzt. Bastians Vorräte gehen zu Neige. Er weiß, wenn nicht bald etwas passiert, ist sein Ende nicht weit. Zeit zurückzublicken, zu resümieren, ist genug vorhanden.

Bastian, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Dinge um ihn herum zu katalogisieren und fernab aller Menschen zu leben, beginnt aufzuschreiben, was einst geschah. Von den ersten Kindheitserinnerungen an bis hin zum Zeitpunkt, der alles veränderte.

Nachdem der Rahmen so festgelegt ist, schlittern wir lesend in eine Mischung aus Generationen- und Familienroman, Gesellschaftskritik und Dystopie, die zu gleichen Teilen ausufernd wie beinahe nichts sagend erzählt wird. Schon zu Beginn der eigentlichen Erzählung beschleicht einem das Gefühl, hier wollte jemand möglichst viele Seiten füllen, um des Textes Willen. Gleich in den ersten Abschnitten hätte etwas weniger Detailliertheit der Handlung gut getan. So richtig warm wird man damit nie, was um so schwerer wiegt, da der Umfang eines Mammutwerks sich nicht mal eben schnell weglesen lässt.

Dabei hat die Geschichte alles an Potential, greift der Autor doch tief genug in die Nostalgiekiste hinein, zudem funktionieren Familienerzählungen grundlegend immer, wenn sie vor allem aus einer Perspektive heraus beschrieben werden. Doch weder der Ich-Erzähler noch die anderen Protagonisten gewinnen im Verlauf der Handlung an Sympathie.

Manchmal weiß man so gar nicht, an wen man sich denn halten kann, zudem bei einiger Ausgestaltung gehörig Kitsch eingeflossen ist, um mal nur den Mutter-Theresa-behafteten Sohn Bastians zu nennen, der wohl ein Gleichnis zur Letzten Generation darstellen soll oder den Erzähler selbst, der dem Klischee eines Boomers par excellence entspricht. Irgendwann ist’s auch mal gut. Hier oft genug davon viel zu viel. So kann man aber eben auch Gegensätze schaffen. Ein Mitfühlen, mit dem einen oder anderen ist aber nur in einzelnen Momenten gegeben.

So wie Genre und Protagonisten schwer zu fassen sind, bewegen wir uns durch die jüngere Vergangenheit bis hinein in die unmittelbar bevorstehende Zukunft, in der bestehende Gewissheiten auseinander gebrochen sind. Die Veränderungen zu beschreiben, ist Thomas von Steinaecker durchaus geglückt, in dem gewollten Sinne auch logisch, doch möchte man die sich darin bewegenden Figuren durchweg schütteln.

Ein gewisser Spannungsbogen ist allein durch den beschriebenen Zeitstrahl gegeben, auch wenn da leicht überprüfbare Fakten, die eingewoben wurden, schon zu Beginn durcheinander geraten. Dass man sich bei Jahreszahlen vertippt mag ja noch angehen, der Regierungswechsel von Kohl zu Schröder fand im Jahr 1998 statt, nicht zwei Jahre zuvor. Im Kanzleramt saß dann aber letzterer und nicht Joschka Fischer. Gerade solche Sachen sollten spätestens im Lektorat auffallen. Es bleibt zu hoffen, dass das mindestens mit den kommenden Auflagen oder der Taschenbuchausgabe korrigiert wird.

Der Protagonist resümiert und verliert sich in vielen Details, die uns gleichsam den Spiegel vorhalten, aber keinen Anker zum Festhalten geben. Dennoch gelingt es, sich die Welt vorzustellen, sowohl die vergangene als auch die dystopisch erdachte, doch bleiben beide seltsam kalt, selbst wenn man die eine tatsächlich ähnlich empfunden oder erlebt haben mag. Die Figuren berühren kaum, wie auch die Erzählung selbst, die kaum in Bewegung kommt, vor Themen, die der Autor unbedingt mit hineinbringen wollte. Viel ist eben nicht gleich gut.

Autor:
Thomas Freiherr von Steinaecker wurde 1977 in Traunstein geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, Filmregisseur, Hörspielautor und Journalist. Er studierte zunächst in München und in Cincinnati Literaturwissenschaft, bevor er 2006 über literarische Fototexte promovierte.

Währenddessen arbeitete er für verschiedene Zeitschriften und sendete 2007 dem Bayerischen Rundfunk sein erstes Hörspiel. 2007 erschien sein Debütroman, der auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gelang. Weitere Werke wurden u. a. für den Preis der Leipziger Buchmesse oder den Alfred-Döblin-Preis nominiert.

Zudem betätigt er sich als Film- und Theaterregisseur, schreibt Comic-Rezensionen u. a. für die Süddeutsche Zeitung. Seit 2017 ist er Mitglied des PEN.

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Narges Mohammadi: Frauen! Leben! Freiheit!

Inhalt:

Narges Mohammadis Buch lässt uns nicht nur am furchtbaren Gefängnisalltag der Frauen teilhaben, sondern auch ihren unbesiegbaren Zusammenhalt miterleben. Die Vorworte namhafter Expertinnen und die erklärenden Fußnoten bringen den Alltag im Iran, Gepflogenheiten und Bräuche sowie politische Strömungen näher, was die Lektüre nicht nur zu einem wichtigen Dokument der Gegenwart macht, sondern auch zu einem Augenöffner über den Iran und seine Menschen, die in Freiheit und Frieden leben wollen und sich weiter gegen ihre Unterdrückung wehren werden. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Die Reaktion eines Systems aus Angst vor Veränderung ist physische und psychische Gewalt gegen jene, die es als Gegner identifiziert und das sind in der theokratischen Diktatur Irans vor allem Frauen, die sich unterdrückt und ihren Freiheiten beraubt und darum betrogen fühlen und dies mindestens seit der iranischen Revolution, die viele Veränderungen zum Schlechteren mit sich brachte. Immer weniger Menschen lassen sich dies gefallen.

Das Regime, nicht fähig zur Veränderung, reagiert heftig und füllt seine Gefängnisse. Wieder sind es vor allem Frauen, die für ihre Rechte einsetzen, die darunter zu leiden haben. Allein, der Widerstand hält an. Auch aus den Gefängnissen des Staates, seines Geheimdienstes, der Revolutionsgarden heraus. Einige von ihnen, allem voran Narges Mohammadi, die 2023 den Friedensnobelpreis für ihren Kampf um die Menschenrechte erhalten hat, erzählen nun ihre Geschichte. So entstand eine Sammlung von Interview-Portraits von Frauen verschiedener Gesellschaftsschichten, Religionsgemeinschaften und Hintergründen, welche zeigt: Der Protest der Frauen im Iran ist vielschichtig und auch eingesperrt, sehr lebendig.

Dem vorangestellt gibt es zunächst eine Einordnung verschiedener Expertinnen für den Iran und der Menschenrechte, auch die Biografie Narges Mohammadi wird bündig dargestellt, um zu verstehen, woher die Kraft dieser und anderer Frauen für die Proteste kommt, die teilweise seit Jahrzehnten geführt werden. Auch verschiedene Arten der in den iranischen Gefängnissen und bei Verhören verwendeter Folter wird eingeordnet und sortiert.

Die körperliche Gewalt von Gefängniswärtern etwa ist das eine, die psychische, etwa durch Einzelhaft und Isolation, sogenannte weiße Folter, ist ein anderer Bestandteil dieses perfiden Systems, welches allzu oft außer Blickfeld gerät.

Die Frauen schildern in den Interviews, die nicht selten aus den Gefängnissen heraus geschmuggelt werden mussten, ihre Wege, die sich oft kreuzten. Lesend entdeckt man Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede und Veränderungen von Verhörsituationen und der Haftsituation, die über die Jahrzehnte mit unterschiedlichen Zielen geführt wurden, an derer nicht wenige zerbrachen. Besonders vermögen beschriebene Momente der Stärke zu beeindrucken. Immer wieder fragt man sich, woher bloß diese Frauen, denen Tag für Tag jede Perspektive vorenthalten wird, diese Kraft nehmen.

Sehr trocken wirken teilweise die für das Vorwort gewählten Texte, in deren Erläuterungen einige Wiederholungen tatsächlich ermüden, doch beim Lesen der Interviews wird klar, dass diese nur dazu dienten um Wichtig- und Dringlichkeit der Beschäftigung mit der Thematik zu verdeutlichen. Die Proteste und der Widerstand der Menschen, insbesondere der Frauen, benötigt Aufmerksamkeit, die bei all den anderen Krisenherden zu kurz kommt. Die Wirkung der Interviews ist mit bedrückend beschrieben noch untertrieben. Es wird einem schlecht beim Lesen der geschilderten unmenschlichen Grausamkeit eines Systems und derer, die es am Leben erhalten.

Solche Sammlungen und Berichte braucht es, auch um die Politik anderer Länder entsprechend in Aufmerksamkeit zu halten und den Menschen die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie benötigen. Nur ein Bruchteil kommen hier natürlich zu Wort, an manchen Stellen sind die Schilderungen auch arg gerafft, doch darf man dabei nicht vergessen, unter welchen Bedingungen diese zustande gekommen sind. Fast schade, dass Rezensionssysteme auch dafür eine Wertung “verlangen”.

Autorin:

Narges Mohammadi wurde 1972 geboren und ist eine iranische Menschenrechtsaktivistin. Sie ist Vizepräsidentin des Defenders of Human Rights Centers und Kritikerin des Hijab- und Keuchheitsprogramms von 2023 2016 wurde sie zu 16 Jahren Haft verurteilt, da sie sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzt. Vor ihrem Engagement studierte sie zunächst Physik und arbeitete als Ingenieurin und begann für eine Studentenzeitung zu schreiben, worauf hin sie erstmals verhaftet wurde. Sie schrieb zunächst für mehrere reformistische Zeitungen und wird seit 1998 immer wieder verhaftet. Sie kritisiert Folter, Einzelhaft und Menschenrechtsverletzungen, bekam 2023 für ihr Engagement den Nobelpreis verliehen. Ihre Familie lebt inzwischen im Exil.

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Alexander Häusser: Karnstedt verschwindet

Inhalt:

Wer in der Schule zu sehr aus der Masse heraussticht, wird schnell zum Außenseiter. Doch für Simon und Karnstedt, die beide gar keine andere Wahl haben, als aufzufallen, bedeutet die Ausgrenzung der Beginn ihrer besonderen Freundschaft. Über zwanzig Jahre später steht Simon vor dem Haus seines Jugendfreundes.

Nach der Schulzeit brach jeglicher Kontakt ab, bis Simon die Nachricht von Karnstedts Verschwinden erreichte. Nun soll sich ausgerechnet Simon um dessen Nachlass kümmern. Als er das Haus betritt, findet er ein heilloses Chaos vor. Und überall dazwischen: Erinnerungen. Von ihm, dem klein gewachsenen Simon, und dem kahlen Karnstedt, der mit seinem Anderssein den Klassenkameraden Tummer und dessen Clique provozierte. Beide teilten damals ein Geheimnis, das der Grund für die rätselhaften Ereignisse zu sein scheint. (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung, gleichsam wie ein Schrei und doch ganz leise. Das ist “Karnstedt verschwindet” des Schriftstellers Alexander Häusser, dessen Roman sich keinem Genre ausschließlich zuordnen mag. In einer Verbindung einer Coming-of-Age-Geschichte mit einem Kriminalroman und Psychorama erleben wir die Geschichte einer Jungenfreundschaft aus der Sicht dessen, der zurückblicken muss.

Neugierig und ängstlich zu gleich, was er entdecken mag und über diese Verbindung und damit auch über sich selbst herausfinden wird. Der eher kompakt gehaltene Text kommt auf leisen Sohlen daher, wie der Protagonist selbst für sich anhand seiner Umgebung die Vergangenheit aufdröselt, die ihn vielleicht im übertragenen Sinne in den Abgrund führen wird. Genau weiß er das zunächst nicht, auch wir bleiben zu Beginn lesend unwissend.

Drei Handlungsstränge braucht es, die zwischen den Zeitebenen und der Genre wechseln. Nachvollziehbar ist das vor allem anfangs nicht immer, doch nach und nach wird zusammengeführt und es ergibt sich ein klares Bild der überschaubaren Hauptfiguren, die der Autor hier aufeinandertreffen lässt. Welche Figur hat auf wen größeren Einfluss? Wer ist wessen Spielball? Wie die Reaktion? So wird eine Gemenglage aufgebaut, die unweigerlich zum Ausbruch führen muss.

Die Geschichte spielt im Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Rückblenden sind die stärksten Elemente der Erzählung, in denen der Ich-Erzähler immer mehr eigene Konturen gewinnt, sein Konterpart im Wechsel zwischen Faszination und Abstoßen ein sehr differenziertes Bild abgibt. Auch der Antagonist bekommt seine Ecken und Kanten. Ruhige Sätze lullen ein, um mit einem lauten Knall zu überfallen. Einige dieser Momente wirken arg gewollt platziert, doch möchte man unbedingt weiterlesen, erfahren. Ein gewisser Sog ist über Strecken nicht abzusprechen.

Der Erzähler nimmt diese Perspektive dauerhaft ein und setzt in seine Erinnerungslücken einzelne Puzzleteile gleichsam den Überbleibseln seines verschwundenen Gegenübers ein, um sein eigenes Bild zu vervollständigen. Immer wieder gibt es zwischen den Zeilen verschiedene Ebene als verbindende Elemente zwischen den Handlungssträngen. Entstehende Längen durchbrechen dann zuweilen den Lesefluss, dem an einigen Stellen mancher Sprung nicht hilft. Mit dem nächsten Satz hat der Autor jedoch wieder packen können.

Eine unterschwellige Spannung ist die ganze Zeit über zu spüren, wenn auch die Wendungen nicht immer überraschen können. Gerade zum Ende hin, funktioniert dies jedoch gut, was daran liegen mag, dass man sich spätestens ab Mitte des Romans in den Erzählstil eingefunden hat. Der in der Vergangenheit liegende Handlungsstrang wird dabei zu Ende am stärksten in Erinnerung bleiben. Punktuell hätte der Geschichte etwas mehr Detailliertheit gut getan, zudem Häusser passagenweise durchaus filmisch zu beschreiben weiß.

Die Perspektive und Position des Erzählenden wird, außerhalb der Zeitebene, von Beginn an sich nicht ändern. Das Gefühlschaos des Protagonisten tut es dagegen stetig. Simon wächst einem ans Herz, ist nachvollziehbar. Karnstedt als zweite Hauptfigur bleibt wie vom Nebelschleier umhüllt. Glaubt man ihm fassen zu können, endgleitet er einem schon wieder.

Egal, welches Buch man lesen möchte, den nicht ganz einfachen Coming-of-Age-Roman, das Psychogram oder den Kriminalroman, mit “Karnstedt verschwindet”, wird man all das bekommen. Ist nur die Frage, was davon am besten funktioniert. Für mich hat sich das entschieden.

Autor:

Alexander Häusser wurde 1960 in Reutlingen geboren und studierte zunächst Germanistik, Philosophie und Geschichte. Für sein Werk, welches mehrere Romane umfasst, erhielt er Auszeichnungen, wie den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg. Häusser wirkt zudem im Rundfunk mit. Sein Roman “Zeppelin!” wurde für das Kino verfilmt.

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Fatih Cevikkollu: Kartonwand

Inhalt:

Sie steht symbolisch für den Traum vom baldigen Glück in der Heimat: eine ganze Wand aus Kartons, in denen alles verstaut wird, was schön und wertvoll ist – für das spätere Leben in der Türkei. Was macht es mit Menschen, wenn sie irgendwann merken: der Traum zurückzukehren hat sich nicht erfüllt? Und das neue Zuhause möchte einen lieber heute als morgen loswerden, egal, wie lange man schon hier lebt und wie sehr man sich auch anstrengt?

Fatih Cevikkollu erzählt von den generationsübergreifenden Wunden, die die Arbeitsmigration gerissen hat, und gibt so einer bisher übersehenen Gruppe eine Stimme: die der sogenannten “Gastarbeiter” und ihrer Familien. (Klappentext)

Rezension:

In einer Mischung aus Familiengeschichte, Biografie, Bericht und Zustandsbeschreibung sucht der Theater- und Fernsehschauspieler Fatih Cevikkollu Antworten auf drängende Fragen, die sich für ihn spätestens seit dem Tod seiner Mutter, hintergründig jedoch schon viel eher gestellt hatten. Wo liegen Ursachen und auslösende Momente der Psychose, die sie ins Unglück stürzten und an denen die Familie augenscheinlich zerbrach und wie weit reichen die Geschehnisse, so sie es tun, in das Tun und Wirken seiner, d. h. der nachfolgenden Generation hinein?

Die Eltern gehören zur ersten Generation der sogenannten Arbeitsmigranten, die in den 1960er Jahren im Rahmen des Abwerbeabkommens mit der Türkei nach Deutschland kamen und so einen bedeuteten Anteil zum Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit beitrugen. Gedankt wurde es ihnen nicht. Der deutsche Staat nicht gewillt, herkommende Menschen zu integrieren, macht es ihnen bis heute nicht leicht, die Gesellschaft ebenso wenig, auch in der ursprünglichen Heimat war später kaum ein Anknüpfen möglich. Und so blieb diese Generation entwurzelt ohne neue Wurzeln schlagen zu können. Dies hatte, ebenso auf sie wie auf die Kinder ihren Einfluss.

Fatih Cevikkollu begibt sich auf die siche, spürt der eigenen Familiengeschichte nach und analysiert zunächst die geschichtlichen Grundlagen und Ausgangsvoraussetzungen, auf die der neue deutsche Staat nach Kriegsende fußte und welche Überlegungen seitens Politik und Gesellschaft den Anwerbeabkommen vorausgingen. Darauf aufbauend nimmt er die eigene Familiengeschichte in Bezug. Lassen sich so seine drängensten Fragen klären? Wie weit gelten sie?

Für die Familie, für die Mutter, die eigentlich psychologischer Hilfe bedurft hätte, aber nie Zugang dazu bekam. Zugleich sachlich und einfühlsam analysiert er in kompakter Form diese Punkte und setzt sie zueinander in Bezug. Anhand von persönlich Erlebten, ob von Familienmitgliedern erzählt oder aus der eigenen Erinnerung heraus, wird das Erzählte verdeutlicht und gibt so einen Einblick in eine Thematik, die bisher kaum registriert wurden ist. Dabei kennt man die Grundproblematik durchaus, in Bezug auf die nachfolgenden Generationen der Überlebenden des Holocausts und der Frage, warum habe ich überlebt? Abgesehen von der Fragestellung ist die Frage, in wie weit Traumata in nachfolgende Generationen hineinreichen, die gleiche.

Der Autor hat sich in “Kartonwand” ein wichtiges Stück der jüngeren Zeitgeschichte vorgenommen, deren Riss sich durch viele Familien in Deutschland und der Türkei zieht und ihre Spuren hinterlassen hat. Von der Ausgangssituation folgen wir seinen Ausführungen über die erste Generation der Migranten bis ins heute zu einem Zeitpunkt, in der deren Kinder längst erwachsen sind und als Folge ihren Platz in der Gesellschaft suchen müssen, was ihnen immernoch erschwert wird.

Wie viel können Menschen aushalten, denen übergreifend immer wieder verdeutlicht wird, dass kein Platz für sie vorgesehen ist. Cevikkollu möchte verstehen, jedoch auch die Aufmerksamkeit schaffen, am Beispiel seiner Familie, welche seelichen Wunden da geschaffen wurden und dass unsere Gesellschaft dies verstehen und danach handeln muss. Zwischen den Zeilen ist berechtigt zu lesen, hier kommt ein Land schlicht und einfach einer Fürsorgepflicht gegenüber denen nach, die alles Recht dazu hätten, dies einzufordern, auch rückwirkend, zumal wenn man sieht, dass es eben doch bei zahlreichen Beispielen funktioniert, wie man z. B. an den ukrainischen Flüchtlingen sieht. Da wurde viel richtig gemacht. Warum nicht so, von Anfang an.

Dies wird nur kurz angesprochen, dem Autoren liegt es fern, Menschen gegeneinander auszuspielen, aber er möchte verdeutlichen und zieht Vergleiche, um zu veranschaulichen. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass er nicht auf Allgemeingültigkeit besteht, sich vor allem auf das Schicksal seiner Mutter und Familie beschränkt und stetig versucht, diesen Fokus aufrechtzuerhalten, um sich so auch viele Gegebenheiten aus seiner Kindheit im Nachhinein zu erklären.

Die detailreiche familienbiografische Analyse, die sich nicht so trocken liest, wie das klingen mag, lässt einem fassungslos zurück, zudem wenn man weiß, wie ein Land und seine Gesellschaft den gleichen Fehler mehrfach begehtm, bis heute. Ausnahmen, siehe oben. “Kartonwand” regt zum Nachdenken an und schafft Grundlage, nicht nur anhand dieser Familiengeschichte etwas aufzuarbeiten, worüber bisher überwiegend geschwiegen wurde. Von beiden Seiten.

In sofern ist dies ein wichtiger, dennoch kurzweilig formulierter, Text, sowohl für Betroffene, vielleicht als Anlass ebenfalls die eigene Familiengeschichte zu verstehen, andererseits die Stimme zu erheben und für die Gesellschaft sollte es ein wichtiger Denkanstoß sein. Vielleicht lassen sich so auch Handlungs- und Denkweisen bestimmter Gruppen nachvollziehen, um künftig Ursachen, die sich so auswirken, gleich aus den Weg räumen. Wenn der Autor mit der Geschichte seiner Familie dazu einen Anstoß gegeben hat, hat er mit “Kartonwand” etwas erreicht.

Autor:

Fatih Cevikkollu wurde 1972 in Köln geboren und ist ein deutscher Theater-, Film- und Fernsehschauspieler und Kabarettist. Er arbeitete zunächst als Theaterschauspieler, bevor er an der Hochschule Ernst Busch in Berlin studierte und ans Düsseldorfer Schauspielhaus ging.

Später übernahm er eine Rolle in der Fernsehserie “Alles Atze”, spielte auch verschiedene Film- und Fernsehrollen. Seit Mitte der 1990er Jahre war er zudem Mitglied der Hip-Hop-Gruppe Shakkah. 2006 bekam er den Jurypreis Prix Pantheon und 2008 folgte die Veröffentlichung seines ersten Buches, dem weitere folgten. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet.

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Thomas Edler: Reisebus & Pflaumenmus

Inhalt:

Jahre nach der Matura ergibt sich für die beiden Freunde Hannes und Thomas die Gelegenheit, mit einem Reisebus von Indien nach Europa zu fahren. Die Gelegenheit, aus dem Alltag auszubrechen, ist ein großes Abenteuer, doch schon bei der Einreise nach Pakistan kommt es zu Schwierigkeiten, die den gesamten Trip infrage stellen. Wenn sie es innerhalb der nächsten Tage schaffen, über die Grenze zu gelangen, waren alle Vorbereitungen umsonst.

Unterwegs auf einer Transitroute, die seit jeher Europa mit Asien verbindet, begegnen die beiden Freunden verschiedenen Kulturen, Menschen und Geschichten aus längst vergangenen Tagen. (abgewandelter Klappentext)

Rezension:

Es ist eine dieser Gelegenheiten, die sich nur selten im Leben, vielleicht nur einmal, ergibt und so ergreifen zwei Freunde die Chance, zwischen den Kulturen zu reisen. Ihr Weg führt sie entlang einer alten Handelsroute, späteren Hippie-Trail, in umgekehrter Richtung vom rastlosen Indien wieder zurück in die Heimat nach Österreich. Unterwegs mit einem VW Bus, kommen sie mit den Menschen ins Gespräch, Einheimische und andere Reisende, lassen sich deren Geschichten erzählen und spüren einer Vergangenheit nach, die auch heute noch Tempo und Empfindungen der durchquerten Regionen bestimmt.

Den modernen Reisebericht muss der Spagat gelingen, sowohl einerseits jene mitzunehmen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, nicht zu verklären oder in Klischees zu versinken, das Fernweh wecken und die Faszination der beteiligten Akteure zu transportieren. Nichts ist schlimmer als mit rosaroter Brille zu erzählen und dabei ein Publikum zu verlieren oder gar überhaupt nicht zu gewinnen.

Eventuell kennt jeder die eine oder andere Erzählung, gar längere Foto- oder Videovorführungen im Bekanntenkreis, die im Grunde nur für den jeweils Beteiligten Erinnerungen wecken, jedoch für andere eher den Stellenwert einer Hintergrundberieselung innehaben. Dieses Phänomen lässt sich nicht selten auf Texte übertragen. Thomas Edler gelingt in seiner Mischung aus Reportage und Bericht jedoch der Drahtseilakt, die Faszination herüberzubringen und sehr einnehmend von seinem großen Abenteuer zu erzählen.

Zum einen ist da der Bericht über die Fahrt selbst und die Schilderung von Begegnungen entlang des Weges, die ergänzt werden durch Blenden in die Geschichte der bereisten Orte, sowie Einblicke den Alltag der Menschen heute. Ergänzt durch rein informative Absätze, durchmischt mit Kuriosa von landestypischen Gerichten bis hin zur Teppichkunde, ist mit “Reisebus & Pflaumenbus” das Porträt einer Reise gelungen, die man gerne nachverfolgt, zumal anhand von Fotos und der obligatorisch abgedruckten Routenkarte.

In ruhiger Tonalität erzählt Thomas Edler von einer Reise voller Unwägbarkeiten und faszinierenden Begegnungen, welche auf Gegenseitigkeit beruhen. Wohltuend hebt sich der positive Blick auf Gegebenheiten und Unterschiede hervor, immer im Vertrauen, dass der Reisetrip schon irgendwie vorangehen wird, schließlich ist man auf geschichtsträchtigen Routen unterwegs und das Gefährt hat ja den Weg in die andere Richtung auch ohne größere Probleme gemeistert.

Kurzweilig wirken die einzelnen Kapitel, in denen der Autor von den einzelnen Reiseabschnitten erzählt. Diese nehmen so ein, dass man sich gut vorstellen kann, diese Reise oder zumindest einzelne Teilstücke dieser selbst einmal nachzuvollziehen und ein Stück von dieser Faszination der beiden Freunde mitzunehmen, zumal ein gewichtiger Teil des Trips durch Länder folgt, von denen uns hier sonst nur bestimmte Bilder erreichen. Alleine deshalb schon ist dieser Bericht empfehlenswert. Entlang der einstigen altertümlichen Handeslrouten herrscht noch immer geschäftiges Treiben und lassen sich noch Abenteuer erleben.

Auch sprachlich schafft es “Reisebus & Pflaumenmus” den Bogen zwischen Bericht und Informativen zu schlagen, wenn sich auch abschnittsweise einzelne Sätze das eine oder andere Mal wiederholen. Das kann jedoch auch meinen Lesegewohnheiten geschuldet sein, ist ohnehin nur ein Abzug in der B-Note, schließlich liegt der Fokus bei dieser Art von Reportagen auch woanders. Tatsächlich wünsche ich mir mehr solche Texte, die die Faszination für andere Länder und Kulturen wecken, dabei einen Rundumblick versuchen und Lust darauf machen, selbst Abenteuer zu erleben.

Autor:

Thomas Edler wurde 1971 geboren und ist ein österreichischer Projektmanager und Autor. Zunächst studierter er in Granz Betriebswissenschaften, bevor er im Bereich der erneuerbaren Energien tätig wurde. Nebenher schreibt er Texte über die Schulzeit und über das Reisen, versucht diese mit kulturellen Erfahrungen und historischen Gegebenheiten zu verbinden. In “Reisebus & Pflaumenmus” erzählt er von seinem 2008 mit einem Freund unternommenen Trip von Indien nach Österreich.

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Linda Segtnan: Das achte Haus

Inhalt:

An einem Maiabend im Jahr 1948 verschwindet die neunjährige Birgitta Sivander zwischen den Bäumen eines schwedischen waldes und kehrt nicht mehr zurück. Kurz vor Sonnenaufgang wird sie tot in einem graben gefunden. Siebzig Jahre später liest Linda Segtnan zufällig einen Zeitungsartikel über den ungeklärten Mord. Etwas veranlasst sie, Birgittas Schicksal näher zu erforschen. Sie beginnt, in Archiven zu recherchieren, doch auch vor dem Unergründlichen dieses Falls schreckt sie nicht zurück. Ihre Besessenheit wird immer größer – während gleichzeitig in ihrem Bauch Leben heranwächst. Ein Mädchen. Wie hält man es aus, ein Kind in eine Welt zu setzen, die so bodenlos grausam sein kann? Wie erträgt man die Gefahren, die eine Tochter bedrohen? (Klappentext) 

Rezension:

Es ist das wohl schrecklichste aller Szenarien, wenn dem eigenen Kind etwas angetan wird, wenn dieses plötzlich verschwindet und später tot aufgefunden wird. Welten brechen damit zusammen und nicht nur für die Eltern ist danach nichts mehr, wie zuvor. Am Ende bleiben Verzweiflung, Hilflosigkeit, Ermittlungsakten und Zeitungsartikel. Auf letzteren stößt zufällig Linda Segtnan bei der Vorbereitung einer ihrer Stadtführungen, nicht ahnend, dass bald die Recherche nach den Hintergründen sie in Abgründe stößt, denen sie sich nur schwer entziehen wird können.

Der Kriminalfall an sich gilt aus damaliger Sicht als schnell gelöst. Die schuldige Person ist schnell ausgemacht. Lücken und Differenzen, die aus heutiger Sicht kaum zu übersehen sind, werden als nichtig abgetan, doch stößt man sich unweigerlich daran, wenn man sich heute damit beschäftigt. Wurden bestimmte Aspekte zu Gunsten einer einfachen Lösung damals außer Acht gelassen, da entweder untersuchungstechnische Mittel nicht zur Verfügung oder gesellschaftliche zwänge im Wege standen? 

Mit diesem Spagat hat sich die Autorin beschäftigt und damit eine Besonderheit im Bereich des True Crime geschaffen, eben nicht nur nüchtern einen Fall nacherzählt. Segtnan wollte erfahren, warum handelnde Personen wie ermittelnde Beamte  bestimmte Entscheidungen trafen und was dies mit den Familien des Opfers, des Verdächtigen und mit ihrer Umgebung machte, zugleich schildert sie, was die Erkenntnisse mit ihr selbst machten, was dieser Fall auch Jahrzehnte später noch auszulösen vermag.

Im Wechsel zwischen den Zeiten, einmal die Nachstellung damaliger Szenen, wie sie sich abgespielt haben müssen, dann wieder wie die Recherche nach Fakten und weiterführenden Informationen in das eigene Leben hineingreifen, schildert sie diesen Kriminalfall, versucht nach und nach ein Puzzle zusammen zu setzen. Je klarer sich Konturen, Ecken und Kanten ergeben, um so unerträglicher wird es, zumal Familie und Privatleben, was sich daraus ergibt. Zunächst besteht die Recherche da nur aus dem Zusammensuchen von Zeitungsartikeln, später Archivmaterial bis hin zur Kontaktaufnahme mit Zeitzeugen und Ortsbegehungen. Nicht nur diese Schilderungen sind es, die eine Dynamik beim Lesen erzeugen, der man sich ebenso wie die Autorin kaum entziehen mag.

Linda Segtnan legt sich dabei nicht fest, stellt mehrere Perspektiven dar, um ein vielschichtiges Bild aufzuzeigen. Wie war das gesellschaftliche Gefüge der örtlichen Gemeinschaft, in deren Nähe dieses Verbrechen geschah, wie der stand der einzelnen Familien und Personen, sowohl des Opfers als auch des Verdächtigen und wie der Umgang mit beiden, der so in alle Richtungen heute nicht mehr vorkommen würde? Welche Auswirkungen hatte dies auf die Ermittlungen und wie wirkt das in der Nachbetrachtung heute?

Gegensätze werden dabei sehr detailliert herausgearbeitet. Es ist aber eben auch spannend zu erfahren, wie die Autorin mit dem Wissen umgegangen ist, und dieses verarbeitet hat, wenn auch die spiritistischen Einsprengsel manchmal ein Zu viel des Guten gewesen sind, sollte man sich doch eigentlich über die Vorgehensweise der ermittelnden Beamten aufregen, die den Fall von Beginn an in eine bestimmte Richtung gelenkt haben, ohne andere Facetten überhaupt in Betracht zu ziehen, anstatt über die Autorin selbst. 

Manchmal fragt man sich beim Lesen schon, wie ernst man die Autorin noch nehmen kann, wenn wiederholt die App erwähnt wird, die auf ihrem Smartphone aufgespielt, angeblich die Anwesenheit von Geisterwesen anzeigt. Diese Erwähnungen einmal bitte ausklammern und nach dem Lesen schnell vergessen, um den Fokus auf andere Aspekte, nämlich die Beschäftigung und Vereinnahmung des Falls, legen, dann ist “Das achte Haus” allemal eine spannende Lektüre wert.

Trotzdem mögen alle für sich bestimmte Anknüpfungspunkte finden. Fans von True Crime kommen hier auf ihre Kosten, ebenso wie an Psychologie interessierte Menschen, aber auch jene, die sich gerne mit Historie und gesellschaftliche Zusammenhänge vergangener Zeiten beschäftigen möchten. 

Es fehlt, glücklicherweise, der zu sehr melancholisch alles übertünchende Mehltau, der zumindest in der romanhaften skandinavischen Kriminalliteratur immer noch häufig anzutreffen ist. Im True Crime Bereich gleicht “Das achte Haus” in etwa Michelle McNamaras “Ich ging in die Dunkelheit”, welches die Autorin sowohl als Vorbild nennt, jedoch auch in den Folgen für McNamara als abschreckendes Beispiel. Dieser Gefahr des sich in etwas Hineinsteigern hat Segtnan förmlich versucht zu vermeiden. Ob dies ihr gelungen ist, bitte einmal selbst herausfinden.

Auf der einen Seite die Schilderung des Falls, auf der anderen die des Verarbeitungsprozesses als Kontrapunkt zeichnen sich verantwortlich für die Dynamik und das Erzähltempo, den man sich kaum entziehen kann. Als gelernte Stadtführerin kann die Autorin zudem detailreich Orte bildlich vor dem inneren Auge entstehen lassen, was dann beinahe eine gewisse literarische Qualität besitzt, ohne jedoch diesen Anspruch haben zu wollen. Zuweilen wirkt das so, als würde man den Besprechungen, Begehungen beiwohnen. So schafft die Autorin Nähe zu sich selbst und auch zum recherchierten Geschehen.

Für Fans von True Crime, die auch einmal einer anderen Herangehensweise als im englischsprachigen Raum offen gegenüberstehen, ist “Das achte Haus” als Lektüre zu empfehlen, ebenso für jene, die die sich auch mit hierzulande unbekannteren Fällen beschäftigen möchten. Der besondere Aspekt des beschriebenen Vereinahmung- und Verarbeitungsprozesses bringt noch einmal eine andere Komponente mit hinein, auf die man sich einlassen können muss.

Alleine der Zugang zu den spiritistischen Einsprengseln geht mir persönlich ab und hätte es wirklich nicht gebraucht. Viel spannender waren da die Schilderungen historischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge, für die sich dann doch alleine schon die Lektüre lohnt. Unter diesen Gesichtspunkten kann ich “Das achte Haus” empfehlen. 

Autorin:

Linda Segtnan wurde 1986 geboren und ist eine schwedische Historikerin und Autorin. Sie hat Audio-Horrorgeschichten mit historischem Bezug zu Orten in Schweden recherchiert, geschrieben und aufgenommen. Das achte Haus ist ihr erstes Buch, es erschien im schwedischen Original im September 2022. Segtnan lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Stockholm.

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