biografie

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Inhalt:

1940 ist Chiune “Sempo” Sugihara offiziell der japanische Vizekonsul in Litauen. Tatsächlich aber spioniert er als Agent seines Außenministeriums deutsche und russische Truppenbewegungen aus. Seit seinen Lehrjahren in japanischen Kolonien ein entschiedener Gegner von Tyrannei und Unterdrückung, nimmt er sich der jüdischen Flüchtlinge an, die eines Tages beginnen, sein Konsulat zu belagern. Gemeinsam mit einem kreativen holländischen Konsul und einem profitorientierten russsischen Kommunisten heckt er einen wahnwitzigen Plan aus, ihnen mit Visa zweifelhafter Gültigkeit die freie Passage nach Japan zu ermöglichen.

Für die Juden beginnt eine aufreibende Odyssee durchs eiskalte Sibirien und über die raue japanische See in die Freiheit. Für Sugihara folgen Kriegsgefangenschaft, die unehrenhafte Entlassung aus dem Staatsdienst, Gelegenheitsjobs in Japan und Russland. Erst Jahrzehnte später erfährt er, dass sein Plan aufgegangen ist, und erst kurz vor seinem Tod wird er von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad vashem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. (Klappentext)

Rezension:

War Chiune Sigihara der japanische Schindler? Dass er seit Bekanntwerden seiner Taten immer wieder mit diesem wenig originellen Titel bedacht wird, ist so unglücklich wie verständlich. Auch ohne Vorkenntnisse hat man bei einer derart griffigen Verschlagwortung sofort eine ungefähre Vorstellung von der historischen Rolle, die ihm zukommt. Gleichwohl ist eine solche Bezugnahme auf eine andere historische Persönlichkeit auch immer eine Reduzierung.

Der japanische Schindler ist eben nicht das Original. Mit einer derartigen Größe verglichen zu werden ist einerseits sicherlich eine Ehre, klingt andererseits jedoch nach einem Trostpreis. Eine Hitparade der Holocaust-Helden wäre unschicklich, und darüber hinaus hat Chiune Sugihara es verdient, nicht nur im Schatten eines anderen geehrt zu werden.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Der in Japan lebende Journalist und Autor Andreas Neuenkirchen tut dies in einem recht eindrucksvollen Porträt, welches er über den japanischen Diplomaten, der durch seine Postion getarnt, eigentlich für seine Regierung die Truppenbewegung der Deutschen und der Sowjetunion ausspionieren sollte, dem jedoch per Aufenthaltsort eine bedeutende Rolle zukommen sollte, in Bezug auf die Menschen, deren Leben er rettete. Entstanden ist eine eindrucksvolle Biografie einer hier in Europa fast vergessenen, in Japan erst spät gewürdigten Persönlichkeit, ein wichtiges Werk in der Reihe der Bücher gegen das Vergessen.

Die Geschichte von Chiune Sugihara beginnt der Journalist mit einem Blick auf dessen Elternhaus, Kindheit und Jugend, die schließlich in einem Weg mündete, abseits dessen, welchen der Vater für seinen Sohn erdacht hatte. Wichtige Schlüsselmomente und Stationen werden dargestellt, um darauf später zurückzukommen und die Motivation für das spätere Handeln Sugiharas wenigstens im Ansatz zu klären.

Neuenkirchen begab sich nicht auf die Spuren eines Unternehmers, der zunächst nur günstige Arbeitskräfte für seine Fabriken brauchte, für den dann im Laufe der Zeit die menschlichen Leben einen höheren Stellenwert erhielten oder der Männer, die im Auftrag ansonsten neutraler Regierungen, wie dies etwa in Schweden der Fall gewesen ist, Verfolgte vor dem Schlimmsten bewahren sollten. Chiune Sugihara war im Auftrag der japanischen Regierung in Europa unterwegs.

Wenngleich die Rettung Tausender jüdischer Flüchtlinge die Sugiharas in Deutschland nicht in Bedrängnis bringen sollte, so dauerte es dennoch nicht lange, bis sich der Himmel über ihrem Schicksal verfinsterte.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Nach Lehrjahren in der Mandschurei zunächst in Moskau, später dann in Kaunas, vor allem um die Truppenbewegungen der eigentlich verbündeten Deutschen und derer Gegner auszuspionieren. Neuenkirchen hat den auslösenden Moment für eine menschliche Großtat und den Weg Sugiharas, sowie den Umgang mit dem historischen Erbe gesucht.

Für die zahlreichen Geschichte, ja für diese eine, wirkt der Text auf den ersten Blick beinahe zu kompaktm, doch Neuenkirchen wagt keine Ausschweifungen, hat sich beim Schreiben aufs Wesentliche konzentriert. Die Wirklichkeit ist spannend genug. Sie bedarf keinerlei Ausschmückung. Gestützt auf Archivarbeit, Interviews und Zeitzeugenberichten, Zeitungsartikeln verfolgt er den Weg eines außergewöhnlichen Menschen und der jenigen, deren Leben Sugihara rettete.

Als sich der Zug in Bewegung setzte, zückte Sugihara ein letztes Mal auf litauischem Boden Feder und Papier. Die letzten behelfsmäßigen Visa warf er aus dem fenster des fahrenden Zuges, in die Hände derer, die ihn laufend begleiteten, so lange es ging. Erschöpft und verzweifelt rief er: “Ich kann nicht mehr schreiben, bitte vergebt mir!” Dann sank er in seinen Sitz und schlief sofort ein.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Eindrucksvoll werden einzelne Momente herausgestellt. Fast wirkt es so, als wäre man inmitten eines Dokuspiels und doch ist dies ein sehr flüssig zu lesendes Sachbuch, welches einmal einen anderen erinnerungswerten Aspekt zur Sprache bringt, als dies normalerweise der Fall ist. Ansonsten hätte man schon öfter von Chiune Siguhara gehört.

Andreas Neuenkirchen versteht es Familien- und Personengeschichte, sowie ein gesellschaftlichs Porträt miteinander zu verknüpfen, ebenso Nachwirkungen und den Umgang mit der Vergangenheit darzustellen. Ein Sachbuch, welches sich von der durch das wirkliche Geschehen verursachten Dramaturgie wie ein spannender Roman liest, ist das. Und fast genau so aufgebaut. Im forderen Teil gibt es ein Personenregister. Aber auch die Nachbetrachtungen sind sehr überlegt und kenntnisreich. Sie runden die Thematik gut ab.

Der Ausgang der Geschichte von Chiune Sugiharas Taten ist bekannt, doch noch viel zu wenig beschrieben. Dieser Text ändert das nun.

Autor:

Andreas Neuenkirchen wurde 1969 in Bremen geboren und arbeitet seit 1993 als Journalist. Zunächst zuständig für Bremer Stadtmagazine und Tageszeitungen, arbeitete er von 1998 bis 2016 als Redakteur in München. Nebenher arbeitete er als Autor für Hörspiele, Heftromane, Rundfunkreklame, Bücher und Filme. Die meisten haben Japan-Bezug. Seit 2016 lebt er mit seiner japanischen Frau und der gemeinsamen Tochter in Tokio.

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Christine Westermann: Die Familien der anderen

Inhalt:

Christine Westermann taucht ein in die wechselvolle Geschichte ihrer Familie – anhand der Bücher, die ihr Leben geprägt haben.

Elegant, ehrlich und warmherzig erzählt sie von Büchern, die die Familien der anderen beschreiben. Von Lektüren, die helfen, die eigene Geschichte besser zu verstehen.
(Klappentext)

Rezension:

Der Traum eines jeden bibliophilen Menschen. Christine Westermann träumt ihn schon als Kind. Eine Bibliothek mit Leiter soll es sein, um auch mal die oben stehenden Bücher zu erreichen. Dort oben, im Regal ihrer Eltern, stand z. B. “Der Zauberberg” von Thomas Mann, dieser Roman, der alleine schon durch seinen Umfang zu beindrucken weiß. Die Journalistin, die selbst jahrelang im Fernsehen und Rundfunk schon unzählige Bücher empfohlen und einige geschrieben hat, nimmt ihn sich nun vor, während sie ihr neues Werk schreibt, in dem sie sich entlang der Werke hangelt, die sie für ihr Leben prägten.

In diesem Sinne ist es keine klassische Biografie, die uns Lesenden mit “Die Familien der anderen” vorgelegt wird, auch eine Art Ratgeber sucht man hier vergebens, obwohl die Werke von Christine Westermann in diese Rubrik einsortiert werden. Vielleicht sind es eher zu Papier gebrachte Überlegungen, ein wenig von allem.

So wie in der Öffentlichkeit sie nur Bücher empfehlen möchte, die ihr selbst zusagen, schreibt und erzählt sie, nachdenklich, melancholisch zuweilen, mit einer Prise Humor, denen die das lesen werden, zugewandt. Ausschweifend wie Thomas Mann, gar hochtrabend, wie der, der sein Vorwort Vorsatz nannte, möchte sie nicht sein. Kann sie auch nicht.

Das Lesen dieses Werks fordert, ist anstrengend, die Erinnerungen an erste Auftritte im Literarischen Quartett, an Lesereisen, an deren Ende meist ein Kölsch auf dem Tisch steht oder zermürbende Diskussionen in Sitzungen der Jury zum Deutschen Buchpreis, immer wieder auch das Rückbesinnen auf die eigene familiäre Vergangenheit, zudem, warum sie heute noch mehr an Familienkonstellationen, Brüchen und Wandlungen interessiert ist als an allem anderen.

Das Hochtrabende geht ihr ab, kompakt hangelt sich entlang der Bücher, die sie prägten. Eine sehr interessante Lektüreliste steht am Ende des Buches. Und “Der Zauberberg” von Thomas Mann? Hat sie ihn beenden können, bewältigt diesen Berg? Muss man das überhaupt? Ist abbrechen auch eine Option, wenn man sehr lange schon anderen Bücher empfiehlt? Wenn nicht empfehlen, vielleicht selbst schreiben? Wie macht man das, wird Christine Westermann auf einem Klassentreffen gefragt.

Mir hat diese Art der biografischen Lektüre sehr gefallen. Der Wechsel zwischen Anekdoten der Vergangenheit und Gegenwart, dem Vergleichen mit gelesener Lektüre und wahrscheinlich nicht nur Abgabedatum des Manuskriptes im Nacken, sondern eben auch schwergewichtige Lektüre auf den Nachttisch. Das wirkt sehr locker, sehr nahbar. Was kann ich reinen Gewissens empfehlen, doch bitte nur das, was ich selbst gern gelesen habe. Verrisse versucht Christine Westermann Zeit ihres Lebens zu vermeiden.

Ein paar Anekdoten verraten viel, die Bücherliste der Autorin noch viel mehr, über sie selbst, die für ihre Auswahl der Lektüre oft genug gescholten wurde, nicht nur von Quartett-Kollegen. Doch, was nützt die beste Lektüre, wenn sie die Lesenden nicht erreicht. Das gelingt Christine Westermann mit “Die Bücher der anderen” viel besser.

Autorin:

Christine Westermann wurde 1948 in Erfurt geboren und ist eine deutsche Moderatorin, Journalistin und Autorin. Nach der Übersiedlung von Erfurt nach Mannheim, machte sie nach der Schule ein Volontariat beim Mannheimer Morgen und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Von da an arbeitete sie als freie Journalistin für verschiedene Radio- und Fernsehsender, produzierte Filme und Reportagen.

Später moderierte sie im ZDF “Die Drehscheibe”, später bis 2002 die “Aktuelle Stunde”. Von 1996-2016 moderierte sie die Sendung “Zimmer frei!” und wurde zusammen mit Götz Alsmann dafür mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Von 2015-2019 war sie eine der Teilnehmerinnen des Literarischen Quartetts, daneben präsentiert sie per Podcast und Radiosendung Bücher. Ihr erstes Buch erschien 1999, weitere folgten. Christine Westermann lebt in Köln

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Walter Chmielewski: Mein Leben als Sohn des Teufels von Gusen

Inhalt:

Walter Chmielewskis Vater ist Kommandant des KZ Gusen, einer Außenstelle des KZ Mauthausen, eingestuft als Vernichtungslager. Der Horror ist dem Jungen allgegenwärtig. In den letzten Kriegstagen gerät der jugendliche Walter selbst an die Front, wird gefangengenommen… Der Autor erzählt in seiner Autobiografie vom grausamen Vater ebenso wie von der mitfühlenden Mutter, dem Großvater, einen Widerständler, den Kriegsgräuel und der folgenden Zeit des Friedens und Aufbaus bis heute. Die Schuld seines Vaters sollte ihn allerdings ein Leben lang verfolgen. (Klappentext)

Rezension:

Niemand kann etwas für die Vergangenheit einzelner Familienmitglieder, doch ist gut daran getan, dass manches nicht in Vergessenheit gerät. So ist es wichtig, dass Zeitzeugen Ereignisse dokumentieren, um sie so für die Nachwelt zu erhalten. Doch wie bewertet man so etwas, zumal literarisch, da jene, die dies niedergeschrieben haben, nicht unbefangen waren und die heute Lesenden ebenso automatisch eine Position beziehen? Ja, vielleicht beziehen müssen.

Walter Chmielewski ist solch ein Zeitzeuge, der seine Geschichte und die seines Vaters für die Nachwelt festgehalten hat. Für einige Dokumentationen und Zeitungen stand er für Interviews zur Verfügung, seine Erinnerungen an Kindheit und Jugend sind festgehalten, in diesem Buch. Und jene, an seinen Vater. Dieser machte im NS-Apparat Karriere, stieg schnell auf und wurde schließlich Leiter des Konzentrationslagers Gusen. Brutal, unberechenbar und unerbittlich. Welche Differenz zu der Vaterfigur, die der Junge nicht recht einordnen konnte, mit dem die Mutter, die sich mit den Jahren in der Beziehung immer unwohler fühlte, bald brach.

Der Autor erinnert sich an noch mehr, erzählt von seiner Kindheit und Jugend, seinem Leben als Erwachsener, bis hinein ins hohe Alter. Und davon, wie die Vergangenheit ihn trotz Erfolg, Gesundheit und persönlichen Glücks ihn immer wieder einholt.

Dies ist der interessantere Teil dieses sehr kompakten Werks, welcher an einigen Stellen sehr holprig wirkt. fast scheint es, als müssen die liebevoller Mutter, die das Unheil der Katastrophe bereits mit der Machtergreifung der Nazis kommen sieht, sowie die Großvaterfigur als Rechtfertigung für das unverständliche Handeln des Vaters herhalten. Und natürlich war auch das Kind Walter Chmielewski selbst nicht überzeugt vom NS-Regime. Geht das? Wo doch so viele Kinder und Jugendliche diese Ideologie nahezu ungefragt übernahmen, nicht dass sie eine Wahl gehabt hätten. Zumal, wenn man wie der Autor selbst ein Jahr unter der Knute der NAPOLA-Schule gestanden hat.

Das scheint alles sehr dünn und hätte hier einer ausführlicheren Erläuterung bedürft. Tatsächlich wirkt der Text wie eine versuchte Aufarbeitung der Familiengeschichte, bei der man dann lieber doch in ruhigere Fahrwasser sich bewegen möchte. Möglichst schnell. Hier hätte ein gutes Lektorat oder eine entsprechende Beratung Wunder gewirkt, so fällt eine an sich wertvoll festgehaltene Erinnerung literarisch ins Waser.

Die von mir erwähnten “ruhigen Fahrwasser” hätte sich der Autor jedoch vollkommen sparen können. Sie machen die zweite Hälfte des Werks aus. Hier beschäftigt sich Walter Chmielewski nicht mehr mit der Geschichte seines Vaters, seiner eigenen oder die seiner Familie, was zum Titel und durch den Klappentext suggerierten Inhalt passen würde. Tatsächlich ist zu empfehlen, das Buch danach zur Seite zu legen und den Rest ungelesen zu lassen.

Anfangs scheint es, als hätte der Schreibende versucht anhand von Parallelen in unserer heutigen Gesellschaft zu erläutern, warum er heute unsere Demokratie und Freiheiten gefährdet sieht. Schnell ist dabei jedoch daraus eine Abrechnung geworden. Mit Land, Wirtschaft, Gesellschaft, der heutigen Zeit. Alles ist Mist. Alles läuft schief.

Dass es eben nicht so ist und neben vielen Dingen, die natürlich Diskussionen und Änderungen bedürfen, auch ganz viel existiert, was gut läuft, was funktioniert und was sich eben in den Jahren seit Kriegsende gewandelt hat, sieht er nicht. Will er nicht sehen. Davon abgesehen wäre das Stoff für ein eigenes separates Werk und gehört so nicht in eine Autobiografie oder den Versuch ein zeithistorisches Gedächtnis für die Nachwelt zu erschaffen.

Zurück zur Eingangsfrage. Wie bewertet man so etwas? Wie bewerte ich so etwas? Das Leben des Autors möchte ich nicht einordnen. Ich hoffe, er konnte mit dem Niederschreiben den grausamen Teil seiner Familiengeschichte irgendwie verarbeiten, möchte ihn auch gerne seine Unbeeindrucktheit (Gibt es dafür ein Wort?) gegenüber einer Ideologie abnehmen, sowie dass dies der Vater in seiner Familie, mit diesem Hintergrund so hingenommen hat.

Ein großer Schreiber ist an Chmielewski nicht verloren gegangen. Es fehlen Details, Übergänge. Zu kompakt ist der Text. Dieses Abrutschen ins Polemische im zweiten Teil, praktisch zwei Werke ungetrennt zu schreiben, ist zudem kein glücklicher Zug. Zu viele Punkte sind dort auch rein faktisch unausgegoren. Das ist noch sehr weit entfernt, vom literarischen Schund eines gewissen ehemaligen Berliner Politikers, aber schon zu viel des Schlechten.

Einfach schade.

Autor:

Walter Chmielweski wurde 1929 geboren und war Sohn des späteren KZ-Kommandanten Karl Chmielewski. Nach dem Krieg arbeitete er in verschiedenen Unternehmen und wurde mehrfach als Zeitzeuge interviewt. Der Kontakt zum Vater brach noch während des Krieges ab. Dies sind seine Erinnerungen.

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Oliver Rathkolb: Schirach – Eine Generation zwischen Goethe und Hitler

Inhalt:

Baldur von Schirach sprach von Blut und Ehre, vom Wunder der Kameradschaft und von der Kraft der Fahne. Und er machte Adolf Hitler zum geliebten “Führer”, der das deutsche Volk groß, frei und glücklich machen würde. Eine ganze Generation sang seine Lieder, trommelte und turnte und marschierte mit ihm. Als Reichstatthalter hielt er Hof in Wien, die Deportation der jüdischen Bevölkerung sah er als seinen “aktiven Beitrag zur europäischen Kultur”. Oliver Rathkolb gibt die Geschichte einer schillernden NS-Karriere wieder, die unmittelbar in das Herz des “Dritten Reiches” führt und viele Fragen aufwirft. (Klappentext)

Rezension:

Während andere Biografien viel mehr Aufarbeitung erfahren, sich mit Lebenswegen auf verschiedene Art und Weise auseinandergesetzt wurde, erfuhren andere bisher wenig Beachtung, wobei auch deren Aspekte wichtig sind, um zu verstehen, wie ein Regime wie das der Nationalsozialisten in Deutschland entstehen und seine Macht festigen, die Welt in eine Katastrophe stürzen konnte. In diesem Falle ist ein ganz entscheidender Baustein die Indoktrinierung der Jugend gewesen. Der österreichische Historiker Oliver Rathkolb hat sich nun aufgemacht, Aufstieg und Fall von Baldur von Schirach zu beleuchten, der dies zu verantworten hatte.

Einfach aufgrund der Auswahl der Thematik schon ist dieses Sachbuch sehr besonders, da im Gegensatz zu etwa Hitler selbst, Hitler oder Sperr, die Rolle des Mannes vergleichsweise im Dunkeln liegt, der kurzzeitig als eine der Nachwuchshoffnungen des Dritten Reiches galt und auch dazu beitrug, dass sich dieses grausame Regime so lange halten konnte.

Der Historiker hat sich dabei entlang eines Zeitstrahles gehangelt und geht in die Familiengeschichte von Schirachs weit vor dessen Geburt zurück, um die Hintergründe darzustellen, die Übernahme und Weiterentwicklung damaliger antisemitischer Vorstellungen, wie sie in verschiedenen Gesellschaftsschichten populär waren, aber auch einen der Grundsteine aufzuzeigen, die später Hitlers Paladin als einem der Punkte der Verteidigungsstrategie im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess dienen sollte, was dazu führte, dass von Schirach nicht zum Tode verurteilt wurde.

Minutiös wird die Annäherung an Hitler dargestellt, ebenso die Ideologisierung, aber auch der stetige Konkurrenzkampf und die Intrigen innerhalb der Führungsriege des Regimes. Zugleich erläutert der Autor hier Brüche ausführlich und zeigt, warum die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gerade im Wien nach dem Krieg mit Problemen behaftet war. Auch dafür liegen die Grundlagen in von Schirachs Wirken.

Dies ist so detailreich wie einprägsam dargestellt, dass es eine lohnend ergänzende Lektüre zur bereits vorhandenen Aufarbeitungsliteratur ist. Auch versteht man dadurch, warum gerade von einer ganzen Generation indoktrinierter Jugendlicher in den letzten Kriegstagen an einigen Orten grausame Taten ausgeübt wurden, die sich im kollektiven Gedächtnis eingebrannt haben.

Sachlich und nüchtern hat hier Oliver Rathkolb das zwiespältige Porträt eines Menschen zusammengestellt, der ausschlaggebend für die Ideologisierung eines verbrecherischen Regimes war, sowie für den Tod von Hunderttausenden. Interessant ist zudem der noch zu wenig beleuchtete Kunstraub der Nazis und die Vereinnahmung kulturellen Lebens, welches ebenso ausführlich beleuchtet wird. Alleine dies schon ein Kapitel, weshalb sich die gesamte Lektüre lohnt.

Autor:

Oliver Rathkolb wurde 1955 in Wien geboren und ist ein österreichischer Historiker. Nach Studien der Rechtswissenschaften und Geschichte in Wien war er wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Bruno Kreisky Archiv und übernahm 1992 die Funktion des dortigen Wissenschaftskoordinators.

1984 bis 2005 war er wissenschaftlicher Angestellter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft, 1993 habilitierte er und übernahm die Lehrbefugnis als Dozent für Neuere Geschichte unter Berücksichtigung für Zeitgeschichte im Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Nach verschiedenen Funktionen übernahm er eine Forschungsprofessur der Universität Havard. Er verfasste mehrere Beiträge und Expertisen für Fach- und populärwissenschaftliche Medien und Zeitschriften.

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Benjamin Heisenberg: Lukusch

Inhalt:

Als Anton Lukusch 1987 aus der Ukraine nach Westdeutschland kommt, ahnt niemand, was sich hinter dem stillen Dreizehnjährigen verbirgt. Nur durch Zufall wird er kurze Zeit später als überragendes Schachtalent entdeckt. Die Bundesrepublik stürzt sich auf “ihr” neues Wunderkind. Doch wo Erfolg Geschichte schreibt, da tummeln sich die Profiteure schon.

Benjamin Heisenbergs “Lukusch” ist eine wilde und witzige Fahrt durch die unfassbare Geschichte des jungen Schachgenies Anton und seines grobschlächtigen Sidekicks Igor. klug und lässig zugleich spielt dieser Roman mit den Möglichkeiten des Erzählens und sprengt dabei seine eigenen Grenzen. (Klappentext)

Rezension:

Den Gegner seine Bewegungsfreiheit zu nehmen, ihn Zug für Zug auszumanövrieren, dies ist das Spiel der Könige, welches mit den Gegensätzen spielt. Schwarze und weiße Figuren werden gleichsam zweier Völker wie eine Armee über ein Spielfeld bewegt. Immer weniger Möglichkeiten auf Aktion Reaktion folgen zu lassen, gibt es bald für eine der beiden Seiten, während die andere Oberhand gewinnt. Zumindest meistens.

Übertragen auf große gesellschaftliche Ereignisse und Umbrüche, ist dies meist nicht ganz so einfach. Zu viele Schattierungen befinden sich zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Der Regisseur und Autor Benjamin Heisenberg hat es dennoch versucht, im übertragenen Sinne aus den einzelnen Figuren einen Roman herauszuarbeiten. Ist ihm eine moderne Version der “Schachnovelle” nach Art Stefan Zweigs gelungen oder doch noch mehr und etwas ganz anderes?

Wir Lesende steigen in die Geschichte gegen Ende der 1980er Jahre ein, als sich die Risse im System hinter dem Eisernen Vorhang immer deutlicher zeigen. Das Unglück von Tschernobyl, 1986, lässt die Welt still stehen. Wenig später werden zahlreiche Kinder und Jugendliche zur Genesung und Erholung außer Landes geschickt. Auch in Westdeutschland nimmt man sie auf. Anton Lukusch, der titelgebende unscheinbare Protagonist, ist eines dieser Kinder. Erst als er ein Schachspiel beobachtet, taut er ein wenig auf.

Schnell wird deutlich, der Junge hat Talent. Fortan wird das Wunderkind herumgereicht, spielt gegen den Bundeskanzler, beeindruckt bei Tests und Untersuchungen. Schnell jedoch verdunkeln Wolken den Erfolg. Eine zweifelhafte Organisation möchte sich die Begabung des Jungen zu Nutze machen, der das alles über sich ergehen lässt, immer begleitet von einem noch undurchsichtigeren Schatten, Igor, als er selbst einer ist. Erfolg folgt auf Erfolg, bis der Junge urplötzlich verschwindet. In der Gegenwart begibt sich der erwachsene Sohn seiner Gastfamilie auf Spurensuche, ohne zu ahnen, dass das Spiel noch lange nicht beendet ist.

So viel zur Geschichte, die gleichsam eines Schachspiels aus unwirklich vielen Elementen besteht, aufgrund derer man zeitweilig an der Genre-Zuordnung zweifeln mag. Roman heißt es da, aber genau so haben wir Ebenen eines packenden Thrillers, Gesellschaftskritik, zeithistorisches Porträt und ein Dokuspiel. Es ist ein experimenteller Film in Schriftform, der hier vorliegt, in den man sich einfinden muss, um nicht zwischen den Zügen zerrieben zu werden. Was eindeutig erscheint, wird im nächsten Moment ad absurdum geführt. Erzählstränge gehen nahtlos ineinander über, genauso wir nicht immer sofort ersichtlich zwischen Zeitebenen gewechselt wird.

Passend dazu eingewoben finden sich Fotografien, durchaus mit Realbezug, Fahndungsplakate, Protokolle und Zeitungsausschnitte, die kurzzeitig Zweifel aufkommen lassen, ob man es hier nicht doch mit einem kuriosen Sonderfall der Schachgeschichte, die genug Anlässe für Dramatik bietet, zu tun hat, um dann wieder ins Epische hineinzufinden. Diesen Zugang benötigt man. Wer den Protagonisten folgen will, benötigt Konzentration und Geduld.

Die Figuren sind in ihren Gegensätzen nicht immer nachzuvollziehen oder zu erklären, wie sich auch jeder Zug erst im Kontext eines Spiels erschließt, was manchmal dazu führt, dass eine gewisse Distanz besteht, die erst viel später aufgebrochen wird. Alle Protagonisten spielen um ihr Leben, Zusammenhänge, Sieger und Besiegte stehen erst spät fest. Niemand ist hier allwissend.

Die ungewöhnliche Art des Erzählens ist erst gegen Ende schlüssig. In dieser Art und Weise ist eine Geschichte selten zu lesen, wenn man den Zugang dazu findet. Lange bleibt unklar, welcher der Protagonisten die Oberhand gewinnen wird. Das Verwirrspiel ist gleichsam ein Puzzle aus Auslassungen und Wendungen, die ebenfalls im Nachhinein einen Sinn ergeben.

Wir bleiben einmal bei der Zuordnung Roman, der sicherlich nicht für jeden geeignet ist, zumindest nicht, wenn man liest, um den Kopf frei zu bekommen. Eher werden sich hieran die Geister scheiden, dennoch werden alle Zugang zumindest zu einigen Elementen finden. Davon hat die Geschichte einfach so viele, und sei es nur das zeithistorische Porträt. Man kann sich das gut vorstellen, diese Welt in Umbruch, Ängste, nicht zuletzt durch die Bezüge zur heutigen Zeit. Tschernobyl ist ein Symbol für vieles, das Schachspiel ohnehin.

Beim Schreiben merkt man den Hintergrund des Autoren, die Freude am Konstruieren und Schichten. Das gelingt nicht zuletzt durch einen klug ausgestalteten Hauptprotagonisten. Nur, wer spielt die Figuren? Wer wird am Ende matt gesetzt?

Autor:

Benjamin Heisenberg wurde 1974 in Tübingen geboren und ist ein deutscher Regisseur, Autor und Künstler. Nach der Schule studierte er Bildhauerei und erhielt 2000 sein Diplom an der Akademie der Bildenden Künste München, arbeitete anschließend als Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie. 2000 erhielt er den Debütantenpreis und studierte parallel, seit 1997, zudem Spielfilmregie, welches er 2005 abschloss. Zudem veröffentlichte er mehrere schriftstellerische Werke, Kurzfilme und nahm an zahlreichen Ausstellungen teil. Für seine Arbeit wurde Heisenberg mehrfach ausgezeichnet.

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Jenny von Sperber: Fritz, der Gorilla

Inhalt:

Diese faszinierende Gorilla-Familiensaga erzählt nicht nur das bewegte Leben von Fritz, sondern zeigt auch die Entwicklung in europäischen Zoos im Umgang mit Menschenaffen auf. Als Jenny von Sperber Fritz zum ersten Mal begegnet, lässt der Gorilla sie nicht aus den Augen. Er ist damals schon über 50 Jahre alt, aber immer noch sehr charismatisch. Für die Journalistin ist klar: Sie will alles über das Leben von fritz herausfinden. (Klappentext)

Rezension:

Es ist noch gar nicht so lange her, da bekamen Zoos weltweit nicht selten ihre Tiere durch Wildfänge rund um die Welt, bis man diese Praxis durch internationale Abkommen weitgehend beendete. In Bezug auf Menschenaffen bedeutete dies oft, eine ganze Gruppe von Tieren zu töten, um an die Jungtiere heranzukommen. Wahrscheinlich, genau weiß man das nicht, kam so auch der Gorilla Fritz als einer der ersten seiner Art nach Deutschland und begründete dort eine Familiendynastie, die nicht nur den Wandel der Zootierhaltung erlebte. Die Journalistin Jenny von Sperber begab sich auf weltweite Spurensuche. Entstanden ist so eine beeindruckende tierische Biografie.

Mal etwas ganz anderes ist es, eine Biografie über ein Individuum unserer nächsten Verwandten zu verfassen, zugleich ein Sachbuch, welches sich mit dem Wandel der Betrachtung von Tieren und den Blick auf eine zeitgemäße Betrachtung von Zoos und Tierparks richtet. Dies kombiniert die Autorin hier in einem kompakten, einfühlsamen und doch sehr informationsreichen Sachbuch, welches sich spannend liest, ohne den objektiven Blick zu verlieren.

Interessant ist dabei der immerwährende Perspektivwechsel zwischen der Geschichte eines Tieres, welches nicht nur die Autorin ins herz geschlossen hat, dem sie trotz anfangs spärlich vorhandener Informationen auf den Grund gehen möchte, auch die Geschichte von Zoos, die Tiere zu reinen Anschauungsobjekten machten, bis zum heutigen Versuch einer, wie auch immer, artgerechten Tierhaltung. Natürlich verbunden mit Artenschutzprogrammen und dem Aufbau eines Backups für bedrohte Tierarten, die in freier Wildnis kaum eine Chance hätten, zu überleben, da Lebensräume immer kleinräumiger werden.

Jenny von Sperber geht dabei biografisch vor, hangelt sich anhand einer Zeitachse entlang und streut Episoden aus den Erinnerungen ehemaliger Mitarbeiter von Zoos, sowie Fritz’ Nachkommen nach, um ein Gefühl für den beeindruckenden Gorilla-Mann zu bekommen, der nur ein paar Jahre nach ihrem ersten Treffen sterben, damit jedoch trotzdem seine Artgenossen in der Wildnis um mindestens zwanzig Jahre überleben sollte. Sie stellt dabei ethische Fragen über Tierhaltung und Artenschutz in Verbund mit Zoos, zudem die Probleme, mit denen sich das internationale Arterhaltungsprogramm heute auseinandersetzen muss.

Keineswegs nüchtern liest sich das. Den Zwiespalt der Autorin liest man in jeder Zeile, doch verlässt Jenny von Sperber, vielleicht auch wegen des Kontakts mit Zoomitarbeitern und Wissenschaftlern, Naturschützern, nicht die sachliche Ebene. Schon deshalb ist die Lektüre wertvoll, da sie sich nicht auf die oft sehr falsch oder zumindest ziemlich einseitig geführte Diskussion um die Daseinsberechtigung der Zoos und Tierparks einlässt. Die Autorin sieht Zweck und Nutzen, verknüpft diese mit einem großen Aber.

Schwenks zurück führen immer wieder zu Fritz und seinen Verwandten, so dass die Grundthematik nicht aus den Augen verloren wird. Interessant hierbei ist der Blick auf Fritz’ Familie, deren Nachkommen inzwischen weltweit verstreut leben, aber auch, wie viel Wissen sich die Autorin im Laufe der Recherchen und Kontaktaufnahmen zu Sachverständigen und Experten erarbeitet haben muss. Zudem wird detailreich erzählt, ein großes Plus.

Das Sachbuch ist biografisch gehalten, eröffnet neue Blickwinkel und lässt uns einem unserer nächsten Verwandten fortan mit anderen Augen sehen. Mehr solche Beiträge zu Diskussionen wären wünschenswert, gerade wenn nicht die Festlegung auf nur eine Perspektive dieser zuträglich ist. Und das ist ja zumeist der Fall. Auch dafür steht dann Jenny von Sperbers “Fritz, der Gorilla”.

Autorin:

Jenny von Sperber wurde 1979 geboren und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin. Für Rundfunk und Fernsehen veröffentlichte sie verschiedene Beiträge mit den Schwerpunkten Ökologie, Wild Life, sowie weitere gesellschaftlich relevante Themen. Ausgezeichnet wurde sie mit dem Heureka-Preis für Wissenschaftsjournalismus. Vorher studierte sie u. a. in Tokyo, Japan, bereiste für verschiedene Reportagen die Welt. “Fritz, der Gorilla”, ist ihr erstes Buch.

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Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Inhalt:

Die 1960er Jahre. BRD. Im rheinischen Troisdorf betreiben die Eltern des Erzählers ein gutgehendes Fotoatelier. Häuser. Neues Auto. Sonntags Kirchgang. Doch hinter der gutbürgerlichen Fassade legen die Familienmitglieder verstörende Verhaltensweisen an den Tag. Was treibt die Eltern um, die während des Zweiten Weltkriegs bereits junge Erwachsene waren? Warum verabscheut die Oma, die zwei Weltkriege erlebte, ihren Enkel? Eine deutsche Familiengeschichte über 3 Generationen. Ein Kriegsenkelroman.

Rezension:

Mit “Die Königin von Troisdorf”, liegt hier vieles vor, nur kein Roman, wie es der Klappentext des Werks von Andreas Fischer behauptet. Beim Lesen wird man sich einmal mehr fragen, wie Verlage machmal zu ihren Einordnungen kommen. Viel mehr ist dieser Text eine Mischform aus literarischem Sachbuch, Tagebuch, Familien- und nicht zuletzt die Biografie einer Kindheit und Jugend in wirtschaftswunderlichen Zeiten.

Aus der Sicht des Kindes, des Erwachsenen, des Jugendlichen Andreas Fischer wird eine Chronik von Ereignissen aufgefächert, an die sich der Autor zu erinnern vermag, sprunghaft in Episoden erzählt, die erst nach und nach ein komplettes Bild mit all seinen Widersprüchen ergeben. praktisch in Form eines Tagebuch springt der Schreibende vom Erlebten zu Erlebten, versucht jene zu verstehen, die ihn in seiner Kindheit und Jugend umgaben und doch immer fern blieben.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestank ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Mehrere Facetten versucht Andreas Fischer zu ergründen, nicht zuletzt den Kitt, der diese dysfunktioniale Familie über Jahrzehnte zusammenhält. Wie erklärt sich die Differenz zwischen dem Schein nach außen, der eine heile Welt vorgaukelt und den Kontrollwahn der Großmutter und ihrer Tochter, vom Erzählenden nicht umsonst Hindenburg und Ludendorff genannt, gegenüber dem Kind, welchs Halt sucht und kaum findet, weder dort, noch bei dem trunksüchtigen Vater, der der Nazi-Zeit hinterhertrauert oder dem schlagkräftigen Onkel mit seinem cholerischen Wutanfällen.

Ich habe zu gehorchen, nur ein gehorsames Kind ist ein gutes Kind. Ich habe nichts zu wollen und schon überhaupt nicht etwas nicht zu wollen. Ein Infragestellen der Befehlsgewalt bedeutet für Hindenburg und Ludendorff Hochverrat, eine Gefährdung der Herrschaftsstruktur an und für sich, und an dieser Stelle kennt die Oberste Heeresleitung kein Pardon.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Über allem schwebt die Frage, welche Nachwirkungen zwei Kriege noch über Jahre hinaus auf diese Familie gehabt haben, welche Konsequenzen vor allem jener zu spüren bekommt, der deren Schrecken, Gnade seiner Geburt, nicht erleben musste. Sprunghaft und fahrig wirkt dies zunächst. Mal wird eine Episode aus dem neunten Lebensjahr, dann wieder vom sechsten, zwischendurch vom dreizehnten des Autors aufgefächert, nur um dann einen Briefwechsel nachzuspüren, den der im Krieg gefallene Sohn der Großmutter hinterlassen hat.

Vergleichbar mit immer wieder mündlich erzählt werdenden Familienereignissen ist dies und entfaltet nach und nach eine ganz eigene Dynamik, derer der Autor sich nicht ganz entziehen kann und nicht verstehen wird. Wer tut das schon, selbst bei der eigenen Familie? So spürt Andreas Fischer “Der Königin von Troisdorf” nach, die als Patriarchin versucht, alle Fäden Zeit ihres Lebens in den Händen zu halten und doch nicht verhindern wird können, dass der Enkel “tüchtig Sand ins Getriebe werfen” wird, zu Zeiten, die weder sie noch die Eltern des später Schreibenden ganz verstehen werden.

Was wäre, wenn das Undenkbare stimmt?
Was wäre, wenn Vater nicht die Wahrheit sagt?
Kann mein Vater mich anlügen?

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Anstrengend zu lesen, für jene, die sich in diesem Stil nicht zurechtfinden, der mir jedoch auch bisher recht selten begegnet ist. Eine Art Tagebuch über Jahre, Rückblicke, Einstreusel, Zeitsprünge. Das muss man mögen. Der Autor beherrscht diese Kunst und vermag es, eine Art Film vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen. Vielleicht findet man sogar selbst ein Stück eigene Familiengeschichte wieder.

Andreas Fischer versucht mit “Der Königin von Troisdorf” ein Stück Bewältigung der eigenen Kindheit, sowie der Traumen der Vergangenheit, die wie wiederkehrende Nadelstiche, die Familiengeschichte durchziehen. Es ist ein Versuch, zu verstehen, was kaum zu begreifen ist, literarisch in einer wunderbaren Form, zugleich das Psychogramm einer Familie, mit der der Autor erst im Erwachsenenalter einen wie auch immer gearteten Frieden machen wird, was sich nie ganz auflösen wird.

Ja, ich bin der Prinz.
Ich bin einziger Sohn, einziger Neffe, einziger Enkel.
Auf mich läuft alles zu.
Ich bin der Fluchtpunkt.
Ich werde sie alle beerben.
Ich spiele keine Rolle.
Ich bin unsichtbar.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Für jene, die Geschichte einmal in einer besonderen Form aufgearbeitet erleben möchten, eine unbedingte Empfehlung.

Autor:

Andreas Fischer wurde 1961 in Troisdorf geboren und ist ein deutscher Filmemacher und Autor. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Fotografen und studierte Filmwissenschaft, Ethnologie und Psychologie in Köln und Berlin. Von 1999 bis 2004 war er künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien Köln. 1983 erschien sein erster Kurzfilm, danach zahlreiche Dokumentaqrfilme u. a. “Contergan: Die Eltern” (2004) oder “Söhne ohne Väter (2007). “Die Königin von Troisdorf” ist sein erster Roman.

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Jules Valles: Jacques Vingtras 1 – Das Kind

Inhalt:

In diesem großen Klassiker der französischen Literatur erzählt Jules valles die durchaus autofiktionale Geschichte eines kleinen Jungen, der von seiner Bauernmutter und seinem Lehrervater ständig zum Sündenbock gemacht und emotional und körperlich missbraucht wird. Sein größtes Anliegen ist es, den sozialen Status der Familie zu verbessern.

Allen geschilderten sozialen Abgründen und menschlichen Bösartigkeiten zum trotz ist Das Kind doch voller Ironie und Humor und gilt vielen gar als eines der witzigsten Bücher der französischen Literatur überhaupt. In Christa Hunschas leichtfüßiger Übersetzung erstrahlt der Roman so modern, als sei er aus dem Herzen der Gegenwart geschrieben. (Klappentext)

Einordnung der Reihe:

Jules Valles: Jacques Vingtras 1 – Das Kind
Jules Valles: Jacques Vingtras 2 – Die Bildung
Jules Valles: Jacques Vingtras 3 – Die Revolte

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Rezension:

Einerseits historischer Roman aus heutiger Sicht, in jedem Fall gesellschaftliches Porträt, autobiografische Erzählung, entführt der Schriftsteller Jules Valles uns in ein Frankreich, welches es so nicht mehr gibt. Unter den Eindruck der Zeitenwende, das Experiment der Pariser Kommune sollte rst Jahre später scheitern, erzählt er von seiner Kindheit, die in Nuancen an die psychische Verlorenheit erinnert, die man später auf der anderen Seite des Kanals in der Figur des Oliver Twists wiederfinden wird.

Doch der Autor hatte Eltern, was es hier nicht besser macht. Deren einzige Erziehungsmaßnahmen schien darin zu bestehen, dem Kind seine Unvollkommenheit, das Kindsein selbst vorzuwerfen. Entlang der eigenen Biografie entwirft der Autor das Bild eines Aufwachsens unter Qualen, eines Kindes, welches um so ungezwungener ist, je weiter es der Recihweite der Eltern entkommt.

Wenn man so möchte, liegt mit “Das Kind”, hier in einer wunderbaren Übersetzung von Christa Hunscha, ein aus heutiger Sicht historischer Coming of Age Roman vor, der sich flüssig lesen lässt. Die Sprache ist klar und ohne Schmirkel. Wo französische Begriffe auftauchen, hilft ein nachgestelltes Glossar. Die Sympathien werden sofort verteilt, vereint der Erzähler doch alle auf sich.

Für die umgebenden Protagonisten ist die Figur des Jacques’ oft mehr, mal weniger ein lästiges Übel. Frei fühlt sich der Junge. Die größte Freude der Mutter ist es, das Kind zu piesacken. Der Vater gibt Jacques die Schuld für den fehlenden Karriereaufstieg. Von beiden Seiten setzt es Schläge.

So zusammengefasst wirkt das deprimierend, doch Jules Valles bewahrt seinem Protagonisten Neugier und Beobachtungsgabe, Traum und Phantasie, vor allem Hoffnung. So überlebt der Junge den Tag, so alle Lesenden die Seiten, die sonst nur erdrückend wären. Um so bedeudungsvoller erscheinen kleinere Erfolge Jacques’, die am Ende Früchte tragen, um so witziger wirken einzelne Szenen.

So liest sich schnell, was sonst nur schleppend zu ertragen wäre, auch wenn der Zeitraum eine ganze Kindheit und Jugend, die zu damaliger Zeit, 19. Jahrhundert, schneller zu Ende ging als heute, umfasst.

Das Unglück ist da!

Jules Valles: Jacques Vingtras 1 – Das Kind

Wer liest hangelt sich entlang der Schilderungen aus der Sicht des Protagonisten, Sinnbild für das Gute und Reine.

Die Eltern sind der klare Gegenpol, mit überkommenen und aus der Zeit gefallenen Vorstellungen, die den Betrachtungen des Jungen nicht Stand halten können. Jules Valles lässt Jacques die Stationen seiner Kindheit durchlaufen, erzählt schlüssig. Lücken und unlogische Brüche existieren in diesem Format nicht. Die Erzählung kommt kompakt daher. Ausschweifungen werden vergleichsweise sparsam eingesetzt, dann jedoch besonders betont. Einzelne Sätze stechen heraus.

Man fühlt die Verlorenheit, Hilflosigkeit, später die Entschlusskraft der Hauptfigur, dessen Geschichte so übersetzt, auch gut ins Heute zu übertragen wäre. Jede historische Staubschicht oder Melancholie wurde hier zu Gunsten der Erzählung entfernt.

Das funktioniert, hinterlässt Eindruck. Wer liest, der steht, sitzt neben Jacques, erleidet, erträgt Schläge und psychische Erniedrigung, den kram, den Hass der Eltern, die diesen über das eigene Kind ausschütten. Zart besaite müssen die Lektüre vielleicht das eine oder andere Mal unterbrechen. Lichtblicke für den Jungen gibt es dennoch zur Genüge.

Ein Coming of Age Roman aus einem wechselhaften Epoche in moderner Übersetzung, biografisch angehaucht und Missstände kritisierend, viel steckt in diesen doch überschaubaren Seiten. Doch Valles hat es hier geschafft, das unterzubringen, ohne sich zu vertun. Lesenswert allemal. Kleinere Schwächen ergeben sich aus der Distanz der heute Lesenden heraus.

Wie hätten Erwachsene, wie Kinder in vergleichbaren Situationen heute handeln können? Man ertappt sich dabei, den Protagonisten ein ums andere Mal schütteln zu wollen, als würde das Kind nicht genug körperlich gedemütigt werden, aus damaliger Perspektive ist das jedoch folgerichtig. Macht neugierig auf die weiteren Teile.

Autor:

Jules Valles wurde 1832 geboren und war ein französischer Journalist, Romaschriftsteller und Publizist, sowie Sozialkritiker. Unter den Eindrücken des Deutsch-Französischen Kriegs wurde er 1871 Mitglied der Pariser Kommune, des revolutionären Stadtrats, der gegen den Willen der Zentralregierung versuchte, Paris nach sozialistischen Vorstellungen zu verwalten.

Nach Niederschlagung dieser gelang es ihm nach London zu fliehen. 1880 kehrte er schließlich nach Frankreich zurück, um fortan von seiner publizisitischen Arbeit zu leben. Er starb 1885 in Paris.

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Rudi van Dantzig: Der verlorene Soldat

Inhalt:

Erzählt wird die Geschichte eines elfjährigen Jungen, der -im letzten Kriegsjahr mutterseelenallein in ein winziges friesisches Fischerdorf evakuiert- nach der Befreiung durch die Amerikaner von einem jungen Soldaten in eine sexuelle Beziehung hineingezogen wird. Selten sind Kinderängste und verwirrte Gefühle so eindringlich, so offen und so einfühlsam beschrieben worden, und zwar aus der Sicht des Kindes. (Ausschnitt aus Klappentext)

Rezension:

Es gibt autobiografisch angehauchte Erzählungen, die so kompakt wie schwer lesbar sind, dass sie schon mit Erscheinen kontrovers diskutiert und dann beiseite gelegt werden. So muss es auch mit dieser des niederländischen Choreografen und Tänzers Rudi van Dantzig gewesen sein. “Der verlorene Soldat”, 1988 erschienen, ist heute in der Übersetzung von Helga van Beuningen nur mehr antiquarisch zu erwerben.

Worum geht es? Ein Amsterdamer Junge wird gegen Ende des Krieges auf’s Land geschickt, da in der Stadt ein Mangel an Lebensmittel herrscht und die Familie Sorgen hat, über die Runden zu kommen. Die Niederlande leiden unter dem Besatzungsregime, doch gibt es außerhalb der Stadt immer noch Möglichkeiten, so dass sich der kleine Jeroen bald bei einer friesischen Familie untergebracht findet.

Auf sich gestellt, hat er Probleme sich in die Gegebenheite, Sitten und Gebräuche seiner neuen Umgebung einzufinden. Nicht besser wird es, als der Ort von kanadischen Soldaten befreit wird. Einer der neuen Herren nimmt sich Jeroen an, ist beinahe zärtlich, doch schnell rutscht die bekanntschaft in ein Missbrauchsverhältnis ab, welches Jeroen kaum einzuordnen weiß. Instinktiv ahnt er, dass nicht richtig ist, was da passiert, doch mit jedem Kontakt wird die Verwirrung größer, die Grenze durchlässiger.

Die Beschreibung des Inhalts ist geschönt, wird der Autor in der Erzählung doch sehr explizit. Das Entstehen des Abhängigkeitsverhältnisses, explizite Missbrauchsszenen muss man lesen können, um den Roman durchhalten zu können.

Dies ist einer der Gründe, warum das Werk heute als problematisch angesehen werden kann, zudem, wenn bewusst ist, dass Rudi van Dantzig dies zu Teilen am eigenen Leib erfahren musste.

Die andere Fascette des jungen Protagonisten kommt jedoch eben so zum Tragen, wenn der Autor die Verwirrungen Jeroens herausstellt, der mit seinen eigenen Gefühlen und der aufkommenden Pubertät zu kämpfen hat, um am Ende nicht einmal mehr selbst zu wissen, vielleicht nur noch instinktiv, was gerade richtig ist und was definitiv falsch läuft. Der kleine Hauptprotagonist wird dadurch greifbar, für den Gegenpart, der den Jungen so ausnutzt, kann man nichts mehr als Unverständnis, Ekel und Verachtung empfinden.

Wer zu körperlich negativen Reaktionen neigt, sollte von der Geschichte Abstand nehmen, nicht einmal die kurz darauf erfolgte Verfilmung sich ansehen, die sehr viele explizite Szenen abschwächt.

Beschrieben wird ein fassbarer Zeitraum von etwa zwei Jahren aus einer einzigen Perspektive. Der unverstellte Blick des Kindes ist es, der die Handlung vorantreibt und selbst zum Getriebenen wird, ist maßgebend. Der Autor schildert zudem eine Umgebung, in der man nicht anders konnte, als schneller erwachsen zu werden, einfach nur, um zu überleben. Hier gelang Rudi van Dantzig ein Kniff, der diese Differenz zwischen Kindsein und dem nicht Begreifen, sowie der Konfrontation mit der schrecklichsten aller Seiten, die Erwachsene gegenüber Schwächeren zeigen können, noch einmal besonders herauszustellen.

Handlungsorte und Schauplätze sind überschaubar, treten ob der eigentlichen Thematik in den Hintergrund und stellen diese zur Diskussion. So weit gehen wie einige Rezensionen, die meinen, der Autor verherrliche Pädophilie, würde ich nicht gehen, konzentriert sich van Dantzig doch auf die Gefühlswelt des Jungen, der nicht einordnen kann, was da mit ihm gemacht wird und passiert, der eigentlich vertrauen möchte, aber doch jedes Mal aufs Entsetzlichste enttäuscht wird, der kaum einen Weg aus diesem Abhängigkeitsverhältnis weiß, in das er hinein manöviert wird. Einige Passagen sind dennoch mehr als bedenklich zu bezeichnen.

Für wen ist diese Erzählung nun? Für den Autoren selbst, der damit einen Teil seiner Kindheitserinnerungen wohl verarbeitet, vor allem? Den Lesenden, denen eine nahezu unbekannte, vielleicht nicht massenhafte aber doch mögliche Facette des Krieges oder der Nachkriegszeit vor Augen geführt werden soll? Eine Ergänzung zu den vielen Perspektiven, die damals schon veröffentlicht wurden und noch erscheinen sollten? Diskussionsstoff ist damit in jedem Fall gegeben.

Autor:

Rudi van dantzig wurde 1933 in Amsterdam geboren und war ein niederländischer Tänzer, Choreograf und Schriftsteller. Er debütierte 1952 beim “Nederlands Ballet”, schrieb drei Jahre später seine erste Choreografie. Im späteren “Dutch National Ballet” wurde er 1968 Co-Direktor, von 1971-1991 alleiniger Chef. 1986 veröffentlichte er seinen autobiografisch angehauchten Roman “Voor een Verloren Soldaat”, welcher 1992 verfilmt wurde. Er starb 2012.

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SAID: Ein vibrierendes Kind

Inhalt:

In seinem nachgelassenen Roman “Ein vibrierendes Kind” erzählt SAID von seiner Kindheit und Jugend im Iran zwischen 1947 und 1965. Die Eltern sind geschieden und das Kind wächst beim Vater auf, der als Offizier viel unterwegs ist, sich aber liebevoll um seinen Sohn kümmert.

In seinem einfach gehaltenen, bildreichen Stil erzählt SAID von einer Welt und Gesellschaft, die so nicht mehr existiert, die ihn prägt und schützt, aber auch seinen Widerstand hervorruft, bis er das Land für immer verlässt – nicht zuletzt ermuntert durch seinen Vater. “Ein vibrierendes Kind” ist ein ans Herz gehendes Buch. (Klappentext)

Rezension:

Das Manuskript schon fertig, suchte der Autor und Poet einen passenden Verlag dafür, fand ihn und starb kurz vor der Veröffentlichung seiner Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend in einem längst vergangenen Land. SAID, so sein Künstlername, der sich für politisch Verfolgte einsetzte, sich immer auch über sein eigenes Werk hinaus für die Vermittlung persischer Literatur engagierte, wandelte hier zwischen den Welten.

Und so liegt mit seinem Text “Ein vibrierendes Kind” eine Mischform vor, zwischen Epik und Lyrik, fast einem Langgedicht, dessen Abschnitte sich jedoch auch getrennt voneinander lesen lassen. In diesem Stil muss man erst einmal hineinfinden. Die ungewöhnliche Schreibweise, Großbuchstaben komplett außen vor zu lassen, tut ihr übriges, volle Konzentration denen abzuverlangen, die sich darauf einlassen, um dann in eine wundersame Welt der Erinnerungen einzutauchen.

ein kind für den samowar

jeden morgen wacht das kind mit seinem summen auf.
am abend arbeitet das kind für den samowar.
glühende kohle wird in einen kleinen drahtkorb gelegt, der korb hat
einen langen stiel, das kind greift zu seinem ende und rennt in den patio.
es dreht den kohlenkorb an seiner seite im kreis.
je schneller das kind ist, desto früher glüht die kohle.
dann rennt es ins haus und liefert die kohle für den samowar.’
großmutter mault, die tätigkeit sei zu anstrengend.
doch das kind verteidigt jeden abend sein naturrecht auf das amt.
es ahnt nicht, daß bald die moderne gegen das kind siegt.
bald kommen samoware mit öl.
dann steht das kind da –
ohne auftrag, ohne würde.

SAID: Ein vibrierendes Kind

SAID erzählt vom Aufwachsen zwischen den Frauen seines Vaters, Ausflügen und den feinen Geflogenheiten der Erwachsenen, die das Kind beobachtet, vom Zwischenspiel im Internat und dem Drang zur Kontrolle der Großmutter. Melancholie sticht durch, ebenso der kritische Blick, der schon dem kleinen Jungen und später dem Jugendlichen nicht fehlt, der seinen Weg sucht, finden und vom Vater gefördert wird. Schon aufgrund der Art des Textes, der sich nicht wirklich einer literarischen Gattung zuordnen lässt, der Verlag spricht vom Roman, ist dies etwas besonderes, wie auch der Autor zeit seines Lebens immer umtriebig war.

Autor:

SAID, eigentlich Said Mirhadi, wurde 1947 in Teheran geboren und war ein iranisch-deutscher Schriftsteller. Seit 1965 lebt er in München, ging 1979 für kurze Zeit in den Iran zurück, um dann entgültig nach Deutschland zurückzukehren. 2004 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft und schrieb Prosa und Lyrik, war zudem an der Produktion von Hörspielen beteiligt. Der Schriftsteller war Mitglied des PEN-Zentrums, 1995-1996 Vizepräsident dessen und von 2000-2002 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Er wurde mehrfach für sein Werk ausgezeichnet, etwa 2006 mit der Goethe-Medaille und 2014 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Er starb im Jahr 2021.

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