Leben

Nick Reimer/Toralf Staud: Deutschland 2050 – Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird

Inhalt:

Aprikosen aus Hamburg, öffentliche Kühlräume für Berlin. Steppenlandschaft in Brandenburg, Tigermückenplagen im Rheinland. Starkregen und Sturzfluten, Waldsterben, ausgetrocknete Seen. Der Klimawandel wird Deutschland schon bis 2050 tiefgreifend verändern. Was genau uns erwartet, beschreibt dieses Buch auf der Basis neuester Forschungserkenntnisse. (Klappentext)

Rezension:

In den letzten Jahren haben sich extreme Wetterwechsel die Klinke in die Hand gegeben. Örtlich begrenzt versinken Orte in einem Jahr für kurze Zeit im Schneechaos, während anderswo die Bewohner mit heftigen Regenfällen und Überschwemmungen zu kämpfen haben. Wieder andernorts fehlt Wasser in der Landwirtschaft und müssen die Menschen mit Hitzewellen zurecht kommen. Der Klimawandel ist keine abstrakte Bedrohung mehr. Er findet längst statt.

Nur, was bedeutet dies konkret für unser Leben. Die Journalisten und Autoren Toralf Straud und Nick Reimer haben recherchiert, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengetragen und mit Experten verschiedener Fachgebiete gesprochen. Herausgekommen dabei ist ein Blick in eine nicht all zu ferne Zukunft.

Zunächst, in diesem Sachbuch geht es nicht darum, wie Klimaschutz betrieben werden kann, also wie sich z.B. der Ausstoß von Treibhausgasen verringern lässt und hebt sich damit wohltuend von anderen vergleichbaren Werken ab. Auch wird sich nicht primär auf Ursachenforschung begeben. Hier liegt die Konzentration ganz konkret auf die Frage, wie unser Leben unter sich wandelnden Bedingungen gestaltet, wenn wir heute mit ein wenig oder viel mehr Klimaschutz beginnen würden, so dass sich die Erwärmung der Erde auf ein paar Grad begrenzen lassen würde und was dies für uns in Deutschland bedeutet.

Es wird ein Blick in die Zukunft gewährt, der als gesichert gelten darf. Da klimatische Veränderungen mit Verzögerungen ob der Ursachen auftreten, ist der Wandel, der auf uns zukommt, schon längst menschengemacht.

Hier beginnen die Autoren mit eiem Szenario, welches unser Leben im Jahr 2050 zeigt. Feingliedrig schildern Staud und Reimer, wie sich unser Leben in den Städten wandeln wird, mit welchen Problemen wir auf dem Land zu kämpfen haben werden, was die Änderungen für den Wald vor unserer Haustür etwa bedeuten, für Transportwege oder für die Landwirtschaft. Unaufgeregt übersetzen sie Studien verschiedenster Seiten, auch von Unternehmen, denen man jetzt kaum Öko-Affinität nachsagen dürfte, in ein verständliches Gesamtbild und zeigen die ersten Anzeichen auf, die uns schon heute begegnen.

Dass viele Tier- und Pflanzenarten im Regenwald oder in den Korallenriffen Fischarten durch menschliche Eingriffe und dem Klimawandel dezimiert und teilweise ausgerottet werden, bevor überhaupt die Chance bestand, sie zu entdecken, ist landläufig bekannt. Wie sieht es mit dem Überleben aber von einheimischen Insekten, den Bienen und Hummeln etwa, aus oder Vogelarten, wie den Kuckuck?

Kann ruhig aufgeklickt werden. Spoiler nur, wegen der Lesbarkeit des Haupttextes. Das Beispiel Kuckuck näher ausgeführt:

Spoiler

Der Kuckuck legt seine Eier in fremde Nester und lässt diese von den Wirtsvögeln ausbrüten. Das Küken wirft die Eier der Wirtseltern aus dem Nest und bleibt als einziges übrig. Nun ist der Kuckuck ein Zugvogel, der sich jedoch bislang nicht an die verändernden Vegetationsperioden hierzulande anpassen konnte. Hier bleiben immer häufiger Forstperioden aus, das Nahrungsangebot ändert sich. Viele Vogelarten brüten früher.

Wenn der Kuckuck aus Afrika zurückkommt, sind die meisten seiner Wirtstiere schon mit der Aufzucht ihrer Jungen beschäftigt. Dem Kuckuck fehlt die Möglichkeit, seine Eier dazu zu legen. Eine beliebige Auswahl hat dieser aber nicht, da er seine Eier nur zu der Vogelart legt, bei der er selbst aufgezogen wurde (und somit sichergestellt wird, dass die Eifarbe ungefähr gleich ist). In Folge geht die Anzahl der Kuckucks stetig zurück.

[Einklappen]

Welche Probleme bringen immer häufigere Wetterwechsel der Extreme in den Städten mit sich? Wird es auch in Deutschland Probleme mit dem Grundwasserhaushalt geben? Wie wird unser Wald in ein paar Jahren aussehen? Was bedeutet es für unsere Wirtschaft, Handelswege und Energieversorgung, wenn selbst große Flüsse immer weniger Wasser führen und sich die Fließgeschwindigkeit verringert? Die Autoren reihen diese und andere Fragen gleichsam einer Perlenkette aneinander und zeigen, wie bereits heute in verschiedenen Bereichen versucht wird, zu reagieren.

Nick Reimer und Toralf Staud werten dabei nicht, die Sprache wirkt zwar eindringlich, meist jedoch sehr nüchtern. Sie zeigen, warum es uns Menschen schwerfällt, in längerfristigen Zeiträumen Konsequenzen zu überdenken und warum für viele der Klimawandel zumindest noch für Deutschland kein großes Problem zu sein scheint, es jedoch dringend auf die Agenda gehört. Denn, so viel wird klar, einige der Konsequenzen werden unvermeidlich auf uns zukommen, die anderen können wir nur versuchen, abzumildern.

Es braucht solch eine nüchterne Beschreibung, wenn es darum gehen soll, Grundlage für Diskussionen und Verständnis zu schaffen, vor allem aber auch, da nicht alle Zeit, Muße und wissenschaftliche Kompetenz besitzen, um wissenschaftliche Studien in konkret formuliertes zu übersetzen. Die Autoren haben sich die Zeit genommen. Der Anhang ist eine öffentlich zugängliche und beeindruckende, unterstützende Auflistung von Quellen.

Wer sich dieses Buch zur Hand nimmt, wird danach mit anderen Augen durch den heimischen Wald gehen, durch angelegte Parks und Gärten, vielleicht auch die Dach- oder Kellerwohnung seines Wohnhauses anders betrachten. Ein nicht mit dem erhobenen Zeigefinger geschriebener Antrieb, dass wir uns ändern, ist das. Nicht mehr, nicht weniger.

Autoren:

Nick Reimer wurde 1966 geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Während der Wende 1989/90 gründete er in Freiberg die erste überregionale Umweltzeitschrift der DDR und war Mitbegründer des Neuen Forums Mittelsachsens. Nach Abschluss seines Studiums begann er 1993 ein Volontariat bei der Berliner Zeitung, arbeitete ab 1996 für die Morgenpst und 1998 als Korrespondent der taz.

Von 2000-2011 war er als Wirtschaftsredakteur für die Themen Klima und Energie zuständig und arbeitete zusätzlich für andere Medien als freier Journalist. Er erhielt, gemeinsam mit Toralf Staud, den Otto-Brenner-Preis, 2012, in der Kategorie Medienprojekte. 2014 hatte er einen Lehrauftrag für Nachhaltigkeit und Journalismus an der Universität Lüneburg.

Toralf Staud wurde 1972 geboren und ist ein freier Journalist und Buchautor. Zunächsst war er bei der Altmark Zeitung tätig, studierte dann von 1991 bis 1998 Journalistik und Philosophie in Leipzig und Edinburgh.

Währenddessen arbeitete er für die zeitung Die Zeit und diverse Medien, schließlich von 1998 an als Polit-Redakteur für Die Zeit in Hamburg und Berlin. Seine Themen sind hauptsächlich der Klimawandel und die extremen Rechten. Für seine Recherche über die staatliche Reaktion auf Gwalt in Flüchtlingsunterkünfte würde er 2016 gemeinsam mit Kollegen mit dem Reporterpreis, in der Kategorie Datenjournalismus, ausgezeichnet.

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Billie Eilish: Billie Eilish

Inhalt:

Die legendäre Musikerin Billie Eilish gewährt in diesem wunderschön und ausgiebig bilderten Buch einen intimen Einblick in ihr Leben – sowohl auf als auch abseits der Bühne. Jedes einzelne Foto wurde von Billie selbst sorgfältig ausgewählt und angeordnet und greift für sie persönlich bedeutsame Momente auf. Abgerundet durch eine Einleitung und Bildunterschriften lässt uns Billie an ihren Gedanken zu der abenteuerlichen Reise, die sie bis jetzt bestritten hat, teilhaben. (Klappentext)

Rezension:

Was soll man hierzu sagen? Fan-Bücher gehören zum Merchandise, der eine Art Nähe und Verbundenheit suggerieren soll, die so nicht vorhanden ist, doch natürlich funktioniert das. Warum auch nicht? Ist nicht jede Person BewundererIn für etwas oder irgendwen und saugt man von Idolen nicht jeden Schnipsel an, wie auch immer gearteten, Informationen auf?

Die Sängerin Billie Eilish macht daher alles richtig und gibt ihren Fans nun mit diesem gleichsalm als Fotoalbum konzipierten Buch Einblick in ihr Leben, welches sie ansonsten unter Verschluss hält. Sie selbst ist es gewesen, so im von ihr selbst geschriebenen Vorwort, die die Bilder ausgewählt hat, die ihren Weg von der Geburt, über Kindheit bis hin zu Proben aufzeigen, für eine Tournee, die pandemiebedingt nicht stattfinden sollte.

Billie Eilish bestimmt damit die Wahrnehmung über sich selbst, genau so, wie ihre Social Media Kanäle durchdacht und Konzerte durchgeplant sind. Kontrastreiche Fotos zeigen mal ruhige und bewegende Momente, eine unglaubliche Serie von Fuß- und Knöchelverletzungen. Das ist toll anzusehen und sicherlich ein wertvoller Schatz in jeder Sammlung von Fan-Devotionalien und hat sicherlich seine Berechtigung.

Andere werden eh nicht dazu greifen. Berechnend oder nicht, die Zusammenstellung gefällt und gewährt mehr Einblick, als sie Stars sonst zulassen, was sicherlich auch der Welt der Social Media geschultet ist, in der die Sängerin aufgewachsen ist. Wie sehr muss man sich heute als KünstlerIn im Gespräch halten, wie sehr die Berichterstattung über sich kontrollieren? Diese Fragen darf man durchaus stellen. Solche Bücher geben eine Ahnung, wie eine Antwort ausfallen könnte.

Autorin:
Billie Eilish (eigentlich: Billie Eilish Pirate Baird O’Connell) wurde 2001 in Los Angeles geboren und ist eine US-amerikanische Singer-Songwriterin, die Mitglied eines Kinder- und Jugendchores war und 2015 ihre erste Debütsingle veröffentlichte. 2019 kletterte ihr Album auf Platz 1 der Charts. Bei den Grammy-Awards gewann sie 2020 in allen Hauptkategorien.

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Michael Wolffsohn: Wir waren Glückskinder – trotz allem

Inhalt:

Thea Saalheimer ist siebzehn, als sie mit ihrer Familie vor dem Naziterror nach Tel Aviv flieht. Dort verliebt sie sich in Max Wolffsohn und baut mit ihm ein neues Leben auf. Fünfzehn Jahre später kehren die beiden mit ihrem Sohn Michael ins Nachkriegsdeutschland zurück. Wie erlebten Thea und ihre Familie den Nationalsozialismus und die Emigration in ein Land, das ihnen in jeder Hinsicht fremd war? Wie kam es, dass sie ins Land der Täter zurückzogen? (Klappentext)

Rezension:

Als im Jahr 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen, realisierte kaum jemand die von ihnen ausgehenden Gefahren. Geheimnisse daraus indes, hatten sie gemacht. Von Anfang an waren deren Ziele klar. Von Beginn an, wirkten sie darauf hin. Warum jedoch, realisierten allzu viele die Zeichen erst, als es längst zu spät war?

Warum erkannten nur wenige die Zeichen der Zeit und schafften es, rechtzeitig zu fliehen? Der Autor Michael Wolffsohn versucht eine Erklärung zu finden und nimmt dabei die Geschichte seiner Familie auf.

Wem das bekannt vorkommt, der hat Recht. Schon einmal hat sich der Historiker damit beschäftigt. In „Deutschjüdische Glückskinder – Eine Weltgeschichte meiner Familie“ hat er diese bereits vor einigen Jahren aufgearbeitet. Ausführlicher und detaillierter, jedoch gefühlt neutraler. Diese Variante hier ist kompakter, liest sich schneller und von der Tonalität gleicht es einem Buch für ältere Kinder oder einem für jüngere Jugendliche, um diese an diese Thematik heranzuführen und mit entsprechenden Fragestellungen zu konfrontieren, ist auch so entsprechend angedacht.

Der Autor gleichsam Erzähler und Beobachter führt die Lesenden entlang der wechselhaften Geschichte seiner Familie. Wie erlebten seine Großeltern den Umbruch, der alles veränderte, die beginnende und immer deutlich zu Tage tretende Ausgrenzung? Wie schwer fiel es der Familie den Entschluss zu fassen, alles Bekannte zurückzulassen, trotz der Gefahren, die immer sichtbarer wurden?

Weshalb entschlossen sich die Wolffsohns zu den, nur wenige Jahre nach dem Krieg, für viele Juden unbegreiflichen Schritt, wieder nach Deutschland zurückzukehren? Fragen, die sich wie die Perlen einer Kette aneinanderreihen und komplexer Antworten bedürfen. Fragen, mit denen der Schreibende die jungen Lesenden dazu bringen möchte, selbst Fragen zu stellen, die Dilemma zu erkennen, vor denen seine Familie stand, auf dass der heute wieder deutlich werdende Hass keine Chance bekommt, ein neues 1933 zu weden.

Das Werk selbst, kann als Einführung in die Geschichte genutzt werden, ist so aufbereitet auch durchaus als Unterrichtslektüre denkbar. Für ältere Leser empfiehlt sich die komplexere Variante für Erwachsene. Für sie könnte alleine der Erzählstil etwas angestrengt wirken, zumal das Jugendbuch nicht ganz so detailreich wird. In der entsprechenden Altersgruppe gelesen, ist es dennoch gut vorstellbar.

Autor:

Michael Wolffsohn wurde 1947 geboren und ist ein deutscher Historiker und Publizist. In Tel Aviv geboren, kehrte er mit seiner Familie 1954 nach Deutschland zurück, aus dem diese einst im Zuge des Holocausts fliehen musste. Nach der Schule studierte er Politikwissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte in Berlin, Tel Aviv und den USA, nahm später Stellen an verschiedenen Universitäten an. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet Internationaler Beziehungen, der deutschen und jüdischen Geschichte, sowie der historischen Demoskopie. In der Bundeswehruniversität Münschen begründete er 1991 die Forschungsstelle Deutsch-Jüdische Zeitgeschichte. Er wurde mehrfach ausgezeichnet. Wolffsohn ist Ehrenmitglied im Verein Deutsche Sprache.

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Natasha A. Kelly: Rassismus – Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen!

Inhalt:

Es ist an der Zeit, die Antirassismusdebatte endlich voranzubringen! Rassismus ist eine Ideologie, die seit Langem unsere gesamte Gesellschaft durchzieht und ihre Strukturen prägt – in der öffentlichen Debatte wird jedoch meist allein auf der individuellen Ebene nach Lösungen gesucht. Wir müssen aber die strukturelle Dimension des Rassismus verstehen, um erfolgsversprechende Maßnahmen dagegen entwickeln zu können. Natasha A. Kelly setzt mit ihrem grundlegenden Buch nun elementare Impulse für eine längst überfällige Diskussion. (Klappentext)

Rezension:

Nur die spektakulärsten und grausamsten Fälle rassistisch motivierter Gewalttaten schaffen es in unserer Nachrichtenlage. Von allem anderen bleiben nur mehr Zahlen für die Statistiken. Doch, Rassismus ist in unserer Gesellschaft seit Jahrhunderten fest verankert und beginnt im Kleinen, oft unterbewusst, im Alltag.

Erst dann, wenn wir also verstanden haben, dass Rassismus strukturell ist, das Rassedenken ungebrochen fortwirkt, Kolonialismus noch andauert […], können wir diese Debatten zusammenführen und nicht nur soziale Gerechtigkeit, sondern intersektionale Gerichtigkeit einfordern. Wenn wir aber die politischen Themen und gesellschaftlichen Teilbereiche voeneinander isolieren, kommen wir nicht an die verwobenen Strukturen des Rassismus heran und können auch keine nachhaltigen Lösungen finden.

Natasha A. Kelly: Rassismus – Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen!

Zu oft konzentrieren wir uns auf die einzelnen Geschehnisse, die Behörden sowie so, zu wenig werden die Strukturen betrachtet, die in unserem Denken, unseren Institutionen fest verankert sind und Grundlage der Problematik sind. Die Kommunikationssoziologin Natasha A. Kelly stellt dies zur Diskussion.

In ihrem Essay definiert die Autorin zunächst, was genau Rassismus bedeutet, wie sich dieser äußert und wie sich dieses Denken in unserer Gesellschaft verankern konnte. Ausführlich wird dabei auf die Geschichte eingegangen, den Beitrag etwa, den das Streben nach Kolonien geleistet haben oder auch ansonsten gefragte Philosophen, darauf aufbauend der Bogen vom biologischen zum soziologischen Rassebegriff.

Natasha A. Kelly verdeutlicht schon hier komplexe Zusammenhänge, immer wieder mit Beispielen aus ihrer Forschung und Arbeit, die das Grundproblem verdeutlichen, um dann die Rolle von Wissenschaft und Bildung hervorzuheben, die bei der Bekämpfung von Rassismus eine wesentliche Rolle spielen müssen.

Das kommt alles unaufgeregt daher, dennoch eindrücklich, wobei sich die Autorin natürlich nicht scheut, auch unsere Sprache zu beleuchten, nicht zuletzt die unsere Gesellschaft tragenden und sichernden Institutionen. Das kann man alles sehr hochtrabend und ausführlich gestalten, oder kompakt und klar, wie es Kelly tut, die mit ihrem Essay einen wertvollen Debattenbeitrag liefert.

Ihre Argumentation ist in sich geschlossen, baut logisch aufeinander auf und ist nachvollziehbar, zeigt die Schwächen in der aktuell laufenden Diskussion, aber auch, zu wenige, gut funktionierende Ansätze, die von den staatlichen Institutionen zu wenig mitgetragen werden oder in die falsche Richtung zeigen, was z. B. Die Debatte um die Streichung des Begriffs „Rasse“ im Grundgesetz verdeutlicht.

Zu diesem Zeitpunkt muss es darum gehen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die tradierten rassistischen Vorstellungen, die mit „Rasse“ einhergehen, aufzulösen. Dazu muss der begonnene Protzess gesamtgesellschaftlich sichtbar gemacht und weitergetragen werden, was meines Erachtens nur durch Wissenschaft, Forschung und Bildung erzielt werden kann. Eine „rassistische Wende“ kann nur dann gelingen, wenn Black Studies institutionalisiert werden.

Natasha A. Kelly: Rassismus – Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen!

Es ist ein wichtiger Text, der hier vorgelegt wird und spätestens jetzt Anstoß für ein größeres Umdenken und Aufbrechen der Strukturen sein sollte, die Rassismus in unserer Gesellschaft befördern. Der darauf basierende Prozess wird schwieriger sein und länger dauern.

Weiterführende Links:

„Andere Hautfarbe, anderer Name – Sind in Deutschland alle gleich?“ – phoenix runde vom 09.06.20

Natasha A. Kelly über Kolonialismus, Rassismus & Afrodeutsche – Jung & Naiv: Folge 494

Natasha A. Kelly Twitter / Instagram / Homepage

Autorin:

Natasha A. Kelly wurde 1973 in London geboren und ist eine promovierte Kommunikations-soziologin mit den Forschungsschwerpunkten Kolonialismus und Feminismus, zudem wirkt sie auch als Kuratorin und Dozentin. Von 2010 an arbeitete sie mehrere Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin.

2018 feierte sie ihr Filmdebüt mit der Dokumentation „Millis Erwachen“. Kelly ist u. a. Gründungsmitglied des Black European Academic Network (BEAN), einer Plattform zur Förderung der Vernetzung und Verbreitung Schwarzer Europäischer Geschichte für Wissenschaftler. Mit ihrer Familie lebt sie in Berlin.

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Olli Jalonen: Die Himmelskugel

Inhalt:

Eine außergewöhnliche Geschichte über die Anfänge der Aufklärung – erzählt mit der Stimme des Jungen Angus, der von der abgelegenen Insel St. Helena auf abenteuerlichen Wegen nach London reist, um bei dem berühmten Sternenforscher Edmond Halley in die Lehre zu gehen und sich seinen Traum von Wissen zu erfüllen. (Klappentext)

Rezension:

Kaum ein Ort könnte abgelegener sein als St. Helena, diese Insel inmitten des Atlantiks zwischen Afrika und Südamerika, auf der Stand heute, ein paar tausend Menschen leben. Der finnische Autor Olli Jalonen nimmt uns mit, dorthin auf eine Zeitreise und einem großen Abenteuer, im Zeitalter des Beginns der Aufklärung, der Hinwendung zu den Wissenschaften und großer Namen.

Hauptprotagonist, aus dessen Sicht die gesamte Geschichte erzählt wird, ist der zu Beginn achtjährige Angus‘, dessen Faszination dem Sternenhimmel gilt, den er im Auftrag des Astronoms Edmond Halley beobachtet. Dessen Reise durch den Atlantik , um an verschiedenen Punkten der Erde die Position der Magnetnadel zu bestimmen, ist historisch verbürgt und Grundlage dieses historischen Romans, der im 17. Jahrhundert angesiedelt ist und sofort den Lesenden das schon damals beschwerliche Inselleben jener Zeit vor Augen führt. Zudem ist da die politische Gemengenlage, in der sich selbst dieser kleine englische Vorposten befand. Hier in Gestalt des gegenspielenden Protagonisten, eines nicht näher benannten Gouverneurs, der die Inselbewohner traktiert.

Sämtliche Angelegenheiten der Erwachsenen sind voller Windungen und Schatten. Wenn man einen normalen Schatten sieht und woran er hängt, dass er zum Beispiel von einem Baum als Schatten des Baums auf die Erde geowrfen wird, dann weiß man Bescheid, aber wenn man nicht sieht, woran er hängt, weiß man nichts.

Olli Jalonen: Die Himmelskugel

Diese Ausgangslage benutzt Jalonen um eine Geschichte zu erzählen, so ausschweifend wie die Himmelsbeobachtungen Halley sebst. Die handlungstragenden Protagonisten sind sofort sympathisch, auch spürt man sofort die schwierige Lage, in der die Inselbewohner sich befinden, auch wenn nur grob die Auswirkungen beschrieben werden. Details gehen in der Melancholie des Schreibstils unter, Längen entstehen, durch die sich die Lesenden kämpfen müssen, gleichsam, auch führt der Klappentext in die Irre. Zumindest, was die Gründe für Angus‘ beschwerliche Reise angeht.

Der Handlungsstrang, der per Text verfolgt wird, wird dennoch stringent erzählt, leider nicht zu Ende, und zumindest die Hauptprotagonisten werden vielschichtig beschrieben, auch wenn so mancher Beweggrund für die handelnden Personen unerwähnt bleibt.

Alles ist anders als es daheim jemals war. Ich bin hier, inmitten von alldem. Ich bin Angus, und Angus ist ich, und Ich-der-Totholz-Angus ist auf dem Weg zu den verschneiten Bergen.

Olli Jalonen: Die Himmelskugel

Zudem ist es eine große Schwäche, dass sich nach Ende des Romans nicht die Mühe gemacht wurde, historische Hintergründe, Wahrheiten und Tatsächliches aufzuführen, was als Grundlage der Geschichte gedient hat und was zwangsläufig dazu erfunden werden musste. Diese Recherchearbeit obliegt allein den Lesenden, trotzdem reiht sich „Die Himmelskugel“ in die Reihe großer Expeditionsbücher ein, die bei dem Verlag erschienen sind, ohne den Vergleich mit diesen scheuen zu müssen.

Das melancholische Erzählen hemmt den Lesefluss, an einigen Stellen hätten es zudem ein paar Seiten weniger gebraucht und die fehlende Aufstellung am Ende sind die großen Kritikpunte, denen gut ausgestaltete Protagonisten gegenüber stehen, eine über weite Strecken tragende gute Grundidee, die von einer Welt im Wandel erzählt, von Mut und Vertrauen, großen Forschergeist.

Autor:

Olli Jalonen wurde 1954 geboren und ist ein finnischer Schriftsteller. Er studierte zunächst Sozial- und Literaturwissenschaften und promovierte 2006 an der Universität von Tampere. 1978 erschien sein Erstlingswerk, eine Novellensammlung, die ausgezeichnet wurde. 1990 erhielt er für sein Werk den Finlandia-Preis, 2018 zum zweiten Mal. Er zählt zu den bedeutendsten Autoren Finnlands. Seine Werke wurden in die skandinavischen Sprachen übersetzt, einige wenige in weitere. Neben Romanen schreibt er Hörspiele, Theaterstücke und führt Regie beim Fernsehen.

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Eddie Jaku: Der glücklichste Mensch der Welt

Inhalt:

„Mein lieber neuer Freund, meine liebe neue Freundin,

ich lebe jetzt schon ein Jahrhundert lang und weiß, was es heißt, dem Bösen ins Antlitz zu blicken. Ich habe die größten Übel der Menschheit gesehen, das Grauen der Todeslager, den Versuch der Nazis, mein Leben und mein ganzes Volk auszulöschen. Doch heute betrachte ich mich als den glücklichsten Menschen der Welt. In all meinen Jahren habe ich gelernt: Das Leben kann schön sein, wenn wir es schön machen. Ich will dir meine Geschichte erzählen.“

Eddie Jaku

(Klappentext)

Rezension:

Was macht es mit einem Menschen, wenn man ihn mehrmals durch die Hölle auf Erden schickt? Wenn dieser nicht weiß, ob er vor Schmerz, Hunger, Kälte, Grausamkeit und abgrundtiefer Gewalt den nächsten Tagen, den nächsten Abend erleben wird? Der Holocaust-Überlebende Eddie Yaku erzählt es uns.

Eddie Yaku wurde 1920 als Abraham Salomon Jakubowicz in Leipzig geboren und begann erst im hohen Alter seine bewegende geschichte zu erzählen. Hundert Jahre nach seiner Geburt hat er sie zu Papier gebracht und nun liegt sie in übersetzter Form vor, in dem Land, welches ihn einst jedwedes Recht zum Leben absprach.

Doch Jaku hegt keinen Groll, sondern blickt positiv auf das Leben. Bemerkenswert bei all dem, was er durchmachen und erleiden musste. Er erzählt von der Machtergreifung der Nazis in Deutschland ebenso, vom Verstecktwerden und Verstecktsein, von Lüge und Verrat, dem Ausgeliefertsein in der Hölle auf Erden, aber auch vom kleinen Glück, welches half, den Willen zum Überleben zu bewahren.

Wenn du heute die Gelegenheit dazu hast, bitte, geh nach Hause und sag deiner Mutter, wie sehr du sie liebst. Tu es für deine Mutter. Und tu es für deinen neuen Freund Eddie, der es seiner Mutter nicht mehr sagen kann.

Eddie Jaku: Der glücklichste Mensch der Welt

Holocaust-Biografien gibt es inzwischen viele zu lesen. Wichtige Zeitzeugen-Berichte sind dies, die, so sie noch nicht geschrieben sind, festgehalten werden müssen. In ein paar Jahren schon, sind die Erzählenden nicht mehr, doch wird man diese Dokumente in Zukunft benötigen, um zu erinnern und nicht zu vergessen.

Eddie Yakus Bericht ist dabei eines der positiveren, die man sich erlesen kann. So viel Einfühlsamkeit, auch Fragen erwartet man kaum beim Lesen. Unterteilt ist die Biografie in Maximen, die ihm im jeweiligen Lebensabschnitt geholfen haben, sich zu orientieren und zu überleben.

Alleine dies ist schon sehr besonders, zudem die direkte Ansprache. Fast wirkt es so, als säße man dem Autoren gegenüber und würde einem Vortrag über dessen Leben lauschen. Alles wird plastisch, die kleinen und großen Momente des Grauens, aber auch des Glücks. Es ist die Biografie eines besonderen Menschen, der sich nie besonders nahm, ein Dokument, welches mahnt, ohne mahnend zu wirken.

Ein beeindruckender Mensch. Auch dessen Geschichte sollte nicht vergessen werden.

Den Anfang macht dieser Bericht.

Autor:

Eddie Yaku wurde 1920 in Leipzig als Abraham Salomon Jakubowicz geboren und machte eine Ausbildung zum Feinmechaniker, bevor er 1938 von den Nazis in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurde. Nach Flucht und Versteck in den Niederlanden und Belgien wurden er und seine Familie nach Auschwitz deportiert, seine Familie ermordet. 1950 wanderte er nach Australien aus, wo er seit dem lebte. Er gründete zusammen mit anderen Überlebenden das Sidney Jewish Museum.

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Jule Paul: Taschen voller Sand

Inhalt:

Endlich wieder Zeit für die Familie, denkt Johann, Mitte 60 und beruflich erfolgreich als Anwalt tätig. Wie in den Jahren zuvor geht es mit der Familie nach Österreich. Was als glückliche Ferienzeit beginnt, entwickelt sich von Tag zu Tag problematischer. Ausgelöst durch eine zufällige Begegnung mit einem 11-jährigen Jungen, beginnt er über das eigene Leben nachzudenken. Der Ansturm der Erinnerungen wird mächtiger, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit intensiver. Warum ist er der Mittelmäßigkeit seines Alltags nicht entflohen? Warum holt ihn gerade jetzt die eigene Mutlosigkeit ein? Auch mit Mitte 60 muss es nicht zu spät sein. (angepasster Klappentext)

Rezension:

Ja, was soll ich sagen? Ich habe mich wieder einmal auf ein literarisches Gebiet begeben, mit dem ich mich nach wie vor schwer tue. Nur, weil ich beratungsresistent gegenüber meinen eigenen bisher gemachten Erfahrungen bin, die ich damit schon gemacht habe und weil es zufällig in meiner Buchhandlung erhältlich war. Ich habe mit „Taschen voller Sand“von Jule Paul tatsächlich ein Selfpublishing-Werk gelesen.

Selfpublishing krankt meines Erachtens oft genug daran, dass zwar die Schreibenden schnell zu einer Veröffentlichung kommen, jedoch an den falschen Ecken und Enden gespart wird. Vor allem das Lektorat bleibt dabei oft auf der Strecke, von der Suche nach Logikfehlern einmal ganz abgesehen. der Hintergedanke, dass es schon Gründe haben wird, warum eine Geschichte keinen Verlag findet, schwebt als Gedanke immer mit. Bei mir. Hier haben wir jedoch eine Erzählung vorliegen, die ohne großartiges World-Building auskommt, Protagonisten als Dreh- und Angelpunkt beinhaltet, wie wir sie alle aus dem realen Leben kennen und eine geschichte, wie sie so oder ähnlich tatsächlich passieren kann.

Hauptprotagonist ist Johann, Mitte sechszig, ein erfolgreicher Anwalt, der den Urlaub mit seiner Familie, wie in jedem Jahr, in der österreichischen Bergwelt zwischen Wanderungen und Hotelpool verbringen möchte. Seine Frau, Tochter und der farblose Schwiegersohn mögen diese berechenbaren Ferien, wenigstens aber seinem Enkel möchte Johann aus der Gleichförmigkeit ziehen und eine gemeinsame Basis schaffen, wozu es außerhalb des Urlaubs bisher nicht genug Gelegenheit gegeben hatte. Dabei treffen beide auf dem elfjährigen Lasse, der allein durch seine Anwesenheit alle Gewissheiten des gestandenen Mannes zum Einsturz bringt. Johann beginnt sein Leben zu überdenken. Welche Schlüsse wird er ziehen?

Die Hauptfigur ist fascettenreich gestaltet, dazu im Kontrast stehend, die anderen Protagonisten beinahe farb- und kontrastlos. Diese Gegensätze wirken zu Teilen sehr gewollt, zum anderen wie der Mehltau eines Vorabendfilms des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. das muss man mögen, wenn man sich auf diese Erzählung einlässt, kann sich dann zurücklehnen und berieseln lassen. Die Sympathien liegen von Beginn an bei nur wenigen Personen, die den vorhersehbaren Handlungsstrang tragen.

Das ist nicht schlecht geschrieben, ein Lektorat hat diese Geschichte wohl gesehen, dennoch möchte man einige Figuren gerne gewaltsam aus ihrer gleichförmigkeit herausnehmen und schütteln. Sehr schön, dass sich die Autorin hier für eine kompakte Erzählweise entschieden hat und einem halb offenen Ende, um nicht noch einen sehr kitschigen Schluss verfassen zu müssen. Diese Zurücknahme tut gut. Ansonsten ist die Melancholie der vepassten Chancen die bestimmende Thematik. Weiter passiert nicht viel. Eine Erzählung wie ein kleines Bergdorf. Überschaubare Gipfel, große unerreichbare Berge. Betulichkeit. Man erwartet nichts. Das bekommt man.

Autorin:

Jule Paul wurde 1961 geboren und arbeitete als Kellnerin, Buchhändlerin und Sekretärin, bevor sie Rechtswissenschaften studierte. Heute arbeitet sie als Juristin in Berlin.

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Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Inhalt:

Wie fühlt sich ein junger, lebenshungriger Mann in Belarus? Eine hochaktuelle Geschichte über die Sehnsucht nach Freiheit. Eigentlich sollte Fransisk Cello üben fürs Konservatorium, doch lieber genießt er das Leben in Minsk. Auf dem Weg zu einem Rockkonzert verunfallt er schwer und fällt ins Koma. Alle, seine Eltern, seine Freundin, die Ärzte, geben ihn auf. Nur seine Großmutter ist überzeugt, dass er eines Tages wieder die Augen öffnen wird. Und nach einem Jahrzehnt geschieht das auch. Aber Zisk erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint. (Klappentext)

Rezension:

Immer mehr Menschen drängen Richtung U-Bahn-Schacht, als ein Unwetter über sie hereinbricht und schieben die anderen vor sich her. Schutz suchen sie. Immer enger wird es im Tunnel, immer weniger Luft bekommen jene, die sich schon im Inneren befinden. Noch, als der Schacht voll ist, bewegen sich die Massen, die ersten werden niedergetrampelt, förmlich zerquetscht. Am Ende des Tages wird es unzählige Verletzte geben und zu viele Tote. Auch der jugendliche Cello-Schüler Franzisk ist unter den Opfern und wird darauf hin zehn Jahre lang im Koma liegen. Als er wieder erwacht, ist die Welt eine andere und doch stehengeblieben.

Leise kommen die Romane von Filipenko daher, um die Lesenden dann in einem Strudel von Gefühlen zu werfen, dem man sich kaum entziehen kann. Dies ist so, auch im zweiten Roman aus der Feder des belarussischen Schriftstellers Sasha Filipenko, der es auch hier versteht, seine Leserschaft mitzureißen. Er erzählt von Belarus damals und heute, von Trostlosigkeit und Tristesse, von der Hoffnungslosig- und Müdigkeit der Menschen und dem Glauben daran, was wäre, wenn doch noch das Unmögliche geschieht.

„… Verzeihen Sie, wenn ich unhöflich bin, aber Sie sind schon ein wenig mühsam, das ist, verdammt nochmal das Leben. Ihr Enkel ist tot! Tot, verstehen Sie? Finden Sie sich damit ab. Er ist tot. Wenn Ihnen dieses Wort nicht in den Kopf hineingeht, dann vielleicht >krepiert<. Es ist aus mit ihm. Er ist gestorben. Das Gehirn ihres Enkels wird nie wieder funktionieren, nie, hören Sie mich?“ „Wissen Sie was, Herr Doktor? Lecken Sie mich am Arsch!“

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Dabei ist der Hauptteil des Romans sehr düster gehalten. Nur ganz wenige positiv besetzte Protagonisten begegnen hier vielen Unsympathen, denen man im realen Leben lieber ausweichen sollte. Wer in die Geschichte um Franzisk eingesogen wird, muss das über sehr weite Strecken aushalten können, wird immer nur kurz mit wenigen Funken Hoffnung für die Figuren entlohnt. Filipenko, der auf Russisch im Nachbarland über die Stadt seiner Kindheit schreibt, greift hier die brodelnde Stimmung seiner Heimat auf, beschreibt diese aus der Sicht des Ausgewanderten, des Entfernten und doch ganz nahen Beobachters.

Bevor er seine Leserschaft ins kalte Wasser einer Stadt wirft, deren Obere der dort lebenden Bevölkerung längst das Herz herausgerissen haben, stimmt er seine Leser im Vorwort darauf ein. Die Übersetzerin Ruth Altenhofer ordnet, sortiert und erklärt im Nachwort, wie viel Sasha Filipenko eigentlich an Themen gelungen ist, auch zwischen den Zeilen zu verarbeiten, egal ob dies geschichtliche und politische Ereignisse in Belarus betrifft oder die jenigen, die grausame Paten standen, für die Geschehnisse des Romans.

Die Angst floss aus seinem Körper ins Haus. Die Angst war in seiner Wohnung und in der Wohnung gegenüber, hier, überall, in der ganzen Stadt.

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Der Autor zeigt einem lebenshungrigen Protagonisten, der aus dem Alltag herausgerissen und umgeworfen wurde, aber auch, dass es sich lohnt, für sich selbst zu kämpfen, übertragen, dass vielleicht auch der Kampf der jungen Menschen in Belarus für eine Zukunft ihres Landes, für Freiheit und Demokratie, eines Tages Früchte tragen wird. Gäbe es das Nachwort nicht, müsste man vieles davon zwischen den Zeilen lesen, dort wird es denen, die das nicht können, erklärt.

Die Grundstimmung der Erzählung macht das fortlaufend geschriebene Werk nicht gerade zu einer einfachen Lektüre, zumal diese einem nachdenklich und bedrückt zurücklassen wird. Filipenko beeindruckt und legt im Gegensatz zu seinem Debüt, welches vergleichsweise leise daherkam, noch einmal eine Schippe drauf. Großartig ist das, gleichsam ein Cellospiel in Worten.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. In seiner Wahlheimat St. Petersburg studierte er nach einer abgebrochenen Musikausbildung Literatur und widmete sich der journalistischen Arbeit, war Drehbuch-Autor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator.

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Petra Reski: Als ich einmal in den Canal Grande fiel

Inhalt:

Der Fischer, der Opernarien schmettert. Der Conte, der gegen die Gondelserenaden kämpft. Der Gemüsehändler, der inmitten von Touristenströmen um seine Existenz bangt. Petra Reski kennt sie noch, die alten Venezianer und die Geheimnisse dieser Stadt, sie zeichnet ein wehmütiges Bild von Venedig, dessen Ausverkauf an den reinen Kommerz beschlossene Sache zu sein scheint. Ihr Buch ist ein leidenschaftlicher Erfahrungsbericht aus dem Sehnsuchtsort Venedig – der fasznierendsten Stadt der Welt. (Klappentext)

Rezension:

„Siamo solo quattro gatti.“, wir sind nur noch vier Katzen, raunen sich die Alteingesessenen mitunter zu, wenn sie sich begegnen. Immer weniger gibt es von ihnen, in der Lagunenstadt Venedig, in der das Leben immer teurer wird, traditionsreiche Geschäfte zugunsten der Touristenmassen verschwinden. In einem Schaufenster einer Apotheke wird die stets sinkende Einwohnerzahl angezeigt. Nie werden es mehr.

Da, um die Ecke, wurde wieder eine Wohnung aufgegeben, um es in ein Airbnb zu verwandeln, die Stadtoberen verscherbeln derweil Palazzo um Palazzo oder versenken Milionen von Euro in zweifelhaften Bauprojekten. Es ist ein bitterer Blick auf eine Stadt, die dem Untergang geweiht scheint, den die Journalistin und Autorin Petra Reski hier aufzeigt, eine, die sich 1989 für eine Reportage nach Venedig kam, sich verliebte und blieb.

Sie kennt sie noch, die Gemüsehändler, die Handwerker, die Gondolieri, die Fischer, die von der Politik auf das Festland verdrängt werden. Tourismus als Allheilmittel, die bröckelnden Bauten als Fassade, die alten Einwohner, sie stören dabei nur. Die Autorin nimmt ihre Leserschaft mit, durchstreift enge Gassen und Kanäle, fällt dabei auch schon mal ins Wasser. Sie erzählt von ihren Lieben, die Lagune selbst und dem Venezianer, der die Geschichte der Stadt in jedem Holzbalken, in jeder Fliese sieht, und von den Problemen, die kein Tourist sehen kann. Für den ist Venedig längst das Disneyland Italiens.

Bei aller Liebe herrscht der journalistisch kritische Blick vor. Reski beschreibt alle Fascetten des Lebens in der Lagunenstadt und ihre Annäherung an ihre Bewohner. Viele Aspekte werden aufgeführt, Bauprojekte gezeigt und vor allem geschildert, wie Venedig über Jahrzehnte, erst schleichend, dann immer schneller, dem Kommerz zum Opfer gefallen ist. Nach der Lektüre wird man kaum mehr dorthin reisen können, zumindest nicht ohne Bedenken oder anderen Blick als der Otto-Normal-Tourist. Es ist ein melancholischer, verletzlicher Zustandsbericht, der hier vorliegt. Von Kapitel zu Kapitel streifen wir durch Kanäle, Straßenzüge, Plätze und Stadtviertel und begegnen venezianischen Originalen und allen, die sich dafür halten.

Das alte Venedig ist arg bedroht. Plätze, fernab der Touristenmassen gibt es nicht mehr. Restaurants und Bars, die die traditionellen Gerichte der Venezianer anbieten, passen sich dem Massengeschmack an oder müssen schließen. Die Politik macht ihren Bürgern das Leben schwer und zwingt sie in Trabantenstädte. Die letzten Venezianer kämpfen einen fast aussichtslosen Kampf voller Hürden. Petra Reski gibt ihnen eine Stimme und erzählt davon.

Autorin:

Petra Reski wurde 1958 geboren und ist eine deutsche Journalistin und Autorin. Nach ihrem Studium der Romanistik und Sozialwissenschaften in Trier, Münster und Paris besuchte sie die Henri-Nanneen-Schule und begann 1988 als Redakteurin im Auslandsresort des Magazin Stern zu arbeiten. Seit 1991 lebt sie in Venedig und schreibt für deutschsprachige Magazine. Über die Mafia schrieb sie mehrere Reportagen, vor allem aber Romane, um juristischen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Emma-Journalistinnen-Preis 2010.

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Katajun Amirpur: Khomeini – Der Revolutionär des Islams

Inhalt:

Kein anderer Revolutionär hat die islamische Welt so sehr verändert wie Ruhollah Musavi Khomeini (1902-1989). Die bekannte Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur entdeckt in dieser ersten umfassenden Khomeini-Biografie in deutscher Sprache einen im Westen weitgehend unbekannten Gelehrten, Dichter und Mystiker und erklärt, wie es dem charismatischen Asketen gelang, den Islam zu politisieren und den übermächtigen Westen in Angst und Schrecken zu versetzen. (Klappentext)

Rezension:

Wie einst ihre Großeltern stimmen die jungen Menschen heute mit den Füßen ab, nur in eine andere Richtung. Die meisten von ihnen verlassen den Iran, suchen ihr Glück im von der Regierung verteufelten Westen oder in der privaten Isolation. Selten ist die Differenz zwischen öffentlichem und Privatleben größer als im ehemaligen Persien.

Im Jahr 1979 begann die „Herrschaft der Rechtsgelehrten“, wie die Theokratie in einigen dortigen Schriften genannt wird, nach einer Revolution, die die Befreiung von Korruption und Willkür des Schah-Regimes versprach, doch nur ein Übel durch ein anders ersetzte. Kopf dieser Bewegung war ein charismatischer islamischer Gelehrter namens Khomeini.

Eine Figur, die heute noch dem Westen Rätsel aufgibt, Angst und Schrecken macht, um dessen Erbe in der iranischen Führungsebene bis heute gerungen wird.

Die Kölner Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur beleuchtet das Leben des Theologen, Mystikers, Denkers und ewigen Revolutionsführers und Machtmenschen, der selbst nach seinem Tod das einstige Persien fest im Griff hat. Für eine Biografie ist das Werk, welches Khomeini, im deutschsprachigen Raum erstmals so ausführlich, beleuchtet, dennoch kompakt.

Beginnend von der Kindheit und Jugend Khomeinis an, zeigt die Autorin die erstaunliche Vielfältigkeit dieser Person auf, aber auch welche Schlüsselmomente und Weichenstellungen das Denken Khomeinis prägten und verhärteten. Amirpur zeigt, wo religiöse Richtlinien das Handeln dieses Theologen und Politikers prägten, wo Pragmatismus die Oberhand behalten musste.

Ausführlich erläutert sie den Wandel der persischen Gesellschaft und auch die Änderungen im politischen Weg Khomeinis, aber auch die verschiedenen religiösen Strömungen, die den Iran prägten, was nicht einfach zu lesen ist und einige Längen zwangsläufig mit sich bringt, zumal wer sich mit Religion bisher nur oberflächlich beschäftigt hat.

Hier versucht Amirpur ein komplexes Gesamtbild verständlich zu erläutern. Ein Begriffsglossar und eine Zeittafel unterstützen dies. Ohne geschichtliche Vorkenntnisse oder zumindest Ahnung der Kenntnisse über verschiedene Strömungen des Islams, ist die Lektüre schwierig.

Doch die Wissenschaftlerin bringt auch unbekanntere Anekdoten aus dem Leben Khomeinis zur Sprache, die die Person begreifbarer machen, auch der Blick der Enkelgeneration, auf das Erbe ihres Großvaters ist beeindruckend. Alleine dafür lohnt sich der Versuch einer Lektüre. Die Zukunft des Irans indes ist kompliziert. Folgerichtig, wenn man sich die Biografie dieses Mannes anschaut.

Autorin:

Katajun Amirpur wurde 1971 in Köln geboren und ist eine deutsch-iranische Journalistin udn Islamwissenschaftlerin. Zunächst studierte sie Politologie in Bon und schiitische Theologie in Teheran.

Nach verschiedenen Positionen, u.a. an der Freien Universität Berlin, der Hochschule für Philosophie in München war Sie Assistenzprofessorin für Moderne Islamische Welt an der Universität Zürich und Herausgeberin der Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik.

2011 nahm sie den Lehrstuhl für Islamische Studien an der Universität Hamburg an, 2018 den für iran und schia-bezogene Studien an der Universität Köln. In Hamburg ist Amirpur Stellvertretende Direktorin der Akademie der Weltreligionen. Die Autorin, die zudem für diverse Zeitungen und Magazine schreibt, ist verheiratet mit dem Schriftsteller Navid Kermani.

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