Leben

Michael A. Meyer: Leo Baeck – Rabbiner in bedrängter Zeit

Inhalt:

Rabbiner, Intellektueller, Liberaler und sprecher der jüdischen Gemeinde in dunkelsten Zeiten der Verfolgung: Leo Baeck gehört zu den faszinierendsten Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte. Michael A. Meyer lässt in seiner anschaulichen Biografie einen engagierten Denker lebendig werden, der hinter seiner Rolle als Ikone der deusch-jüdischen Geschichte zu verschwinden drohte. (Klappentext)

Rezension:

Oft genug kommen bei vielen namhaften Persönlichkeiten öffentliche Wirksamkeit und Privatleben nicht zur Deckung, Bei viel zu wenigen ist die Übereinstimmung zwischen Gesagten und letztendlichen Taten so groß, wie bei Leo Baeck.

Doch, wer war dieser Mann, der als oberster Repräsentant der organisierten deutsch-jüdischen Gemeinschaft nicht nur ein beeindruckendes Pensum an wissenschaftlichen Ausarbeitungen vorweisen konnte, auch Menschen jüdischen Glaubens half, unterzutauchen, zu emigireren oder wenigstens die Moral derer zu stärken und Nöte zu lesen, von denen, die keine andere Wahl hatten als in Deutschland zu bleiben?

Wie ist sein Wirken im Berlin der Nazi-Zeit, im Ghetto Theresienstadt und nach Kriegsende zwischen Amerika und London zu beurteilen und was bleibt von der Person Baecks in der heutigen Zeit? Der Historiker Michael A. Meyer begab sich auf Spurensuche. Dabei ist die vorliegende, sehr eindrucksvolle Biografie entstanden. Unter den zahlreichen Persönlichkeiten, deren Wirken heute teilweise fast vergessen ist, nimmt Leo Baeck eine Sonderstellung ein. An einzelne Abschnitte wird heute erinnert, doch wie ist der Rabbiner, der Wissenschaftler, der Denker und die Person in ihrer Gesamtheit zu beurteilen.

Was bleibt, wo heute das Leben und die Arbeit anderer intellektueller Größen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird und an was sollte erinnert werden, gerade bei Baeck, der es von Beginn an geschafft hatte, den unterschiedlichen Strömungen des jüdischen Glaubens eine Stimme zu geben und gerade in Zeiten akuter Bedrohung, zumal für das eigene Leben, zwischen den Stühlen auch seinen Gegnern die Stirn zu bieten.

Welche Diskussionen stieß er in seiner Glaubensgemeinschaft an. Was bedeutete die Person Baecks für die jüdische Gemeinden in Oppeln, Berlin und später in seiner Funktion im Ältestenrat im Ghetto Theresienstadt?

Die Tür öffnete sich und ein SS-Offizier trat ein. Es war Eichmann. Er war sichtlich betroffen, mich zu sehen. „Herr Baeck, Sie leben noch?“ Er sah mich sorgfältig an, als wenn er seinen Augen nicht traute, und fügte kalt hinzu: „Ich dachte, Sie wären tot.“ „Herr Eichmann, Sie scheinen ein zukünftiges Ereignis vorauszusagen.“ „Jetzt verstehe ich. Totgesagte leben länger, nicht wahr?“

Michael A. Meyer: Leo Baeck – Rabbiner in bedrängter Zeit

Michael A. Meyer ist ein Kenner der Schriften Leo Baecks, hat diese ausgewertet und nun in einer eindrucksvollen Biografie zusammengefasst. Erstmals werden Denken, wissenschaftliches und religiöses Arbeiten, sowie der Mensch Baeck gemeinsam bedrachtet und einer Wertung unterzogen, die nur respektvoll und voller Hochachtung vor dieser Person sein kann.

Dabei hält sich der Historiker strikt an die biografischen Stationen und stellt kompakt das Wirken Baecks anhand seiner Schriften dar, zeigt, wo dem rabbiner Grenzen gesetzt waren und welche zweifelhaften Entscheidungen er mitunter auch fällen musste.

Wie Leo Baeck selbst, ist der Historiker Meyer ein Mensch der leisen Töne, was der Biografie mehr als gut tut. Die einzelnen Ausschnitte aus Baecks Arbeiten sind nicht immer leicht zu lesen. Seicht ist etwas anderes. Hierauf muss man sich einlassen. Vorkenntnisse, insb. im Bereich der Strömungen innerhalb der jüdischen Religion, schaden nicht, aber auch sonst vermittelt dieses Werk, welches zu einer Standardlektüre avancieren könnte, viel Information und Wissen über den Menschen, den Gelehrten und Rabbiner Baeck und dessen Zeit.

Immer wieder im Wechsel werden wissenschaftliches Arbeiten, religiöses und gesellschaftliches Wirken beleuchtet und dem Wenigen gegenüber gestellt, was vom Privatmenschen Leo Baeck bekannt ist. Diese Schablonen, entstanden nach intensiver Rechercheleistung, so übereinander gelegt, ergeben ein beeindruckendes Bild, welches noch nach dem Lesen wirkt.

Autor:

Michael Albert Meyer wurde 1937 in Berlin geboren und ist ein US-amerikanischer Historiker der neuzeitlichen jüdischen Geschichte. Nachdem seine familie über spanien in die USA emigrierte wuchs er in Los Angeles auf und studierte an der University of California Geschichte. Am Hebrew Union College Cincinnaty (HUC) promoviererte er und lehrte ab 1964, wurde drei Jahre später Mitglied des HUC.

Zwischen 2000 und 2008 nahm er zudem regelmäßig Lehraufträge der Hebräischen Universität Jerusalem an. Meyer widmetee sich der Erforschung des Reformjudentums und der Herausgabe verschiedener Schriftebn u.a. Leo Baecks und von Joachim Prinz. Zudem ist er Mitherausgeber einer vierbändigen Deutsch-Jüdischen Geschichte. Von 1991 bis 2013 war er Präsident des Leo-Baeck-Instituts. Im Jahr 2001 erhielt er die Ehrendoktorwürde des Jewish Theological Seminary of America.

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Ulrich Woelk: Für ein Leben

Inhalt:

Als die Berliner Ärztin Niki kurz nach dem Mauerfall aufgrund einer Ferhldiagnose einem Patienten beinahe schweren Schaden zufügt, ahnt sie nicht, dass sie ihn einmal heiraten wird. Ebenfalls im krankenhaus lernt Niki, geboren in Afghanistan als Kind deutscher Hippies, die schillernde Lu kennen. Die Begegnung der zwei jungen Frauen hat Folgen, die sie niemals erwartet hätten… (Klappentext)

Rezension:

Ein Roman, eine Erzählung wie die Stadt selbst. Berlin ist ein Moloch, aber auch Sehnsuchtsort vieler, ist in der Stadt an der Spree doch die Welt zu Hause. Dazu kommt eine unglaubliche Wandlungsfähigkeit, die Toleranz der Einheimischen und eine Geschichte, die von Symbolen nicht hätte überladener sein können, als dies bis heute der Fall ist. Was liegt da näher als eine Geschichte, nein, mehrere, zu erzählen, wie man sie nur dort glaubwürdig ansiedeln kann? Ob das Konstrukt dann gelingt, ist eine andere Frage.

Erzählt wird die Geschichte zweier Frauen, deren Leben sich zu Wendezeiten kreuzen, als aus zwei Städten wieder eine werden soll, sowie auch die Protagonistinnen zunächst umeinander kreisen und schließlich zueinander finden. Doch, genau wie der Schauplatz, hält auch das Leben beider Geheimnisse der Vergangenheit und Überraschungen in der Zukunft bereit, was bei beiden schon mit jeweils problembehafteten Familiensituationen beginnt, die Auswirkungen auf das restliche Leben von Niki und Lu haben werden.

Dabei zeichnet der Autor ein sehr vielschichtiges Bild seiner Hauptfiguren und einer Stadt im Wandel, die sie so sonderbar ist, wie die Menschen, die dort leben. Die restlichen Protagonisten bleiben dabei vergleichsweise blass.

„Für ein Leben“ ist viel. Viel zu viel, möchte man meinen. Woelk bringt hier nicht nur eine Zeitenwende ins Spiel, auch die Geschichte zweier Frauen und ihrer Familien, Gender und Diversity, das Leben im Westen der Stadt zu Zeiten der Teilung, spirituelle Suchen nach den Sinn des Lebens, gewürzt mit Einblicken ins alternative Szenenleben.

Wer bei so vielen Handlungssträngen noch den Überblick behalten kann, verdient Hochachtung. Der Autor scheint, wie Berlin selbst, nicht wirklich zu wissen, wohin er mit seinen Figuren möchte. allzu oft werden Handlungsstränge nicht genug ausgeführt, viel zu wenig wurde gestrafft und die Zusammenführung der Handlungen wirkt an manchen Stellen zu gewollt. So funktioniert das leider nicht. Der Schreibstil lässt zwar keine größeren Längen zu, wer jedoch z. B. „Der Sommer meiner Mutter“ von ihm gelesen hat, sollte nicht mit der gleichen Erwartungshaltung an dieser Erzählung herangehen. Das funktioniert nicht.

Autor:

Ulrich Woelk wurde 1960 in Bonn geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Von 1980-1987 an, studierte er physik und Philosophie an der Universität Tübingen. Er arbeitete bis 1995 an der Technischen Universität Berlin, sowie in Göttingen als Astrophysiker. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1990. 1991 promovierte er über Weiße Zwerge in engen Doppelsternsystemen. Seit 1995 lebt Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Er schreibt Theaterstücke, Romane und Hörspiele. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.

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Janina Hecht: In diesen Sommern

Inhalt:

Behutsam tastet sich Teresa an ihre Kindheit und Jugend heran, ihr Blick in die Vergangenheit ist vorsichtig geworden. erste unsichere Versuche auf dem Fahrrad an der Seite des Vaters, lange Urlaubstage im Pool mit dem Bruder, Blumenkästen bepflanzen mit der Mutter in der heißen sommersonne.

Doch die unbeschwerten Momente werden immer wieder eingetrübt von Augenblicken der Zerrüttung, von Gefühlen der Hilflosigkeit und Angst. Da schwelt etwas Unausgesprochenes in dieser Familie – alle scheinen machtlos den Launen des Vaters ausgeliefert zu sein, Situationen beginnen gefährlich zu entgleisen. (Inhaltsangabe des Verlags)

Rezension:

Warum sich Erinnerungen vermischen, gute die weniger schönen manchmal überdecken, doch schlechte nicht ganz vergessen werden können, kann sich Teresa nicht erklären. Spielt dies überhaupt eine Rolle, wenn man den Ausgang einer Geschichte kennt? Wie wichtig ist es, nicht nur die gegenteiligen Seiten zu betrachten, sondern auch die Zwischentöne? Janina Hecht beschreibt in ihrem Debüt die Geschichte einer Familie, der sich diese Fragen stellen.

„Manchmal würde ich gerne einer Version meines Vaters vertrauen. Eine Antwort haben auf die Frage, wer er war. Ich lege die Ereignisse wie Schichten aus Transparentpapier und versuche zu erkennen, was durchscheint.

Janina Hecht: In diesen Sommern

Das Zitat beschreibt übrigens sehr gut den Aufbau des Romans.

Die ersten Gedanken an die Kindheit werden beherrscht von schönen Gedanken. Das gemeinsame Bepflanzen von Blumenkästen mit der Mutter, der Vater, der der Tochter das Fahrradfahren lehrt. Das Kind saugt dies alles auf und beobachtet ihre Umgebung, die Eltern und den zwei Jahr jüngeren Bruder. Doch schon zu Beginn mischen sich ernstere Momente unter, die das Schulkind zunächst nicht einordnen kann, doch mit den Jahren werden die Ausfälle des Vaters häufiger. Die Angst verhindert da noch das Auseinanderbrechen.

„Ich merke, wie ich manchmal Momente gegeneinander abwäge. Und mich frage, ob man das überhaupt tun darf. Ob man Szenen ausstreichen kann, die nicht ins Bild passen und für Unruhe sorgen.“

Janina Hecht: In diesen Sommern

Aus Sicht von Teresa wird sehr leise eine Geschichte erzählt, die unscheinbar daherkommt und zunächst nur Andeutungen macht, die ähnlich den beschriebenen Ereignissen immer mehr an Konturen gewinnt, je näher diese der erzählenden jungen Erwachsenen liegen. Nur langsam schält sich das Problem des Vaters heraus und rückt in den Vordergrund. Ein jeder der Anderen muss damit umgehen und tut dies auf eigene Weise. Schnell wird klar, so wie es nicht für alles eine Erklärung gibt, ist die Lösung niemals einfach.

Kompakt erzählt Janina Hecht eine Geschichte, wie sie in ähnlicher Form wohl in vielen Familien vorkommt. Dicht folgen die Kapitel aufeinander. Zwischentöne werden nach und nach durch klare Schilderungen ersetzt. Wer das dann liest, sollte das passende Nervenkostüm besitzen. Es ist ein Roman, bei dem ernsthaft über den Sinn einer Spoilerwarnung diskutiert werden kann.

Der Textauszug, den der Verlag in der Erstauflage statt des Klappentextes druckt, dürfte dies verdeutlichen, gibt jedoch auch einen guten Eindruck vom Erzählstil wieder, der nicht viele Worte benötigt, Geschehen unausgesprochen lassen kann. Trotzdem entstehen sofort Bilder, die nicht so schnell loslassen.

„Mein Vater, wie er ganz ruhig den Tag beginnt, nicht ausgeglichen, aber stabil. Nie schrie er am Beginn des Tages, er ging mit vorsichtigen Schritten, manchmal etwas Weiches in seinem Gesicht. Als hätte sich erst danach etwas verändert, als führten erst der Mittag und der Nachmittag in eine andere Richtung, und an jedem Morgen hätte es die Möglichkeit zu einem anderen Verlauf der Geschichte gegeben, die ich schreibe.“

Janina Hecht: In diesen Sommern

Autorin:

Janina Hecht wurde 1983 geboren und ist eine deutsche Lektorin und Schriftstellerin. Sie studierte zunächst Psychologie, später Neuere deutsche Literatur und Linguistik, arbeitete in verschiedenen Positionen bei Verlagen. Im Goethe-Institut in Tunis absolvierte sie ein Praktikum. „In diesen Sommern“ ist ihr Debütroman.

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Hwang Sok-yong: Vertraute Welt

Inhalt:

Am Rand der südkoreanischen Metropole Seoul liegt die „Blumeninsel“, eine gigantische Müllhalde, Lebensgrundlage und Wohnstätte einer Kolonie von Habenichtsen und Ausgestoßenen, die dort ihre Claims abgesteckt haben. Unentwegt durchkämmen sie den frischen Abfall der boomenden Stadt nach Verwertbaren. hier landet der 13-jährige Glupschaug zusammen mit seiner Mutter, nachdem sein Vater von der regierung in ein „Umerziehungslager“ gesteckt wurde.

Es ist kein tiefer Fall, denn sie kommen aus den wuchernden Slums der Mega-City, wo seine Mutter Straßenhändlerin ist. Glupschaug hat die Schule abgebrochen und geht seiner Mutter zur Hand, für die sich ein in der Hackordnung weit oben stehender Müllhaldenbewohner interessiert. Dieser „Baron“ ist Glupschaug unsympathisch, eine verhasste Stiefvaterfigur. Mit Glatzfleck, dem Sohn des Barons, freundet er sich jedoch rasch an. Glatzfleck nimmt ihn mit auf seine Abenteuergänge und eröffnet ihm eine geheimnisvolle Welt jenseits der gewaltigen Müllberge. (Klappentext)

Rezension:

Das Leben in Millionenstädten ist ein unaufhörlicher Verdrängungswettbewerb, der täglich Existenzen scheitern lässt. Wie Gegenstände, die sich überholt haben oder nicht mehr gebraucht werden, werden auch die Menschen sehr schnell aussortiert, an den Rand gedrängt. In einigen Ländern greift dann ein soziales Netz, welches die schlimmsten Auswirkungen abfedert.

Vielerorts gibt es das jedoch nicht. So finden sich auch der 13-jährige Glupschaug und seine Mutter am Rande einer Mülldeponie wieder, auf der sie fortan leben sollen. Der einzige Platz, der ihnen in der Mega-City Seoul noch bleibt. Glupschaug muss mit der neuen Situation zurechtkommen, denn die Deponie verzeiht nichts, doch findet er schnell Anschluss in dieser eigentümlichen Welt.

In seinem Roman „Vertraute Welt“ verdeutlicht der südkoreanische Schriftsteller Hwang Sok-yong die Schattenseiten des Erfolgs seines Landes. „Tigerstaat“ nennt man Südkorea zuweilen, dass in Sachen Technologie Spitzenpositionen einnimmt, doch rau ist zu den Menschen, die diesen Fortschritt schaffen.

Wer nicht aufpasst, bleibt zurück, der Fall ist mitunter tief und so nimmt der Autor uns mit zu jenen, die damit nicht mithalten können. All jenen Vergessenen, die die Gesellschaft wie gerade weggeworfene Gegenstände behandelt, gibt er eine Stimme.

Von Beginn an begleiten wir den sehr sympathischen Hauptprotagonisten, einen Jungen, der in dieser rauen Umgebung zu schnell erwachsen werden muss und doch immer wieder an grenzen stößt, die aufzeigen, dass er eben doch nur ein Kind, ein Jugendlicher ist. Wir durchstreifen mit ihm eine eigentümliche welt, die hwang Sok-yong uns sehr plastisch vor Augen führt. . Fast ist es, als würde man den Müll in seiner gaballten Form vor sich sehen, spüren, wie sich Gerüche von Vergangenem in Kleidung und Haut festsetzen, während Gase einen metallischen Geschmack auf der Zunge hinterlassen.

Glupschaug lebte nun schon länger als einen Monat auf der Blumeninsel. Seine Mutter hatte ihm gleich am Anfang einreden wollen, dies sei eben auch nur ein Ort wie viele anderer, wo Menschen hausten. Doch er ließ sich nichts vormachen. Es war ein Mishaufen. Hier landeten Sachen, die man weggeworfen hatte. Verbraucht, nicht mehr interessant, kaputt. Und auch die Menschen, die hier lebten, waren von der Stadt aussortierte und entsorgte Existenzen.

hwang Sok-yong: Vertraute Welt

Viele Worte verliert er dabei nicht, dafür um so härtere. Trotzdem blitzen hin und wieder kleine Momente des Glücks auf, die es auch dort gibt. Sonst würde man die Erzählung kaum durchhalten. Die Figuren sind klar gezeichnet, haben alle ihre Geheimnisse, Ecken und Kanten, auch die Welt des Slums, der ein reales Vorbild nahe dem berühmten Stadtteil Gangnam hat, wird sehr kompakt geschildert. Hart und kompromisslos schildert er diese Leben, immer aus Sicht Glupschaugs.

Für die Entwicklung des Hauptprotagonisten und jenen, die ihn direkt umgeben, gibt Sok-yong dagegen Raum. Wir begleiten Glupschaug, der auf diesen Spitznamen stolz ist, da ehrlich errungen, durch die Müllberge, Hütten aus Wellblech und Pappe Mit jeder voranschreitender Zeile spüren wir die sich heranschleichende Katastrophe, in dieser dennoch irgendwie heilen Welt, wenn man davon sprechen kann.

Der Autor übt Kritik, wie in seinem Leben schon so oft, und legt den Finger in die Wunde. Die Härte der asiatischen Gesellschaft zu den sozial Schwachen wird ebenso dargestellt, wie die Wegwerfmentalität unserer Wohlstandsgesellschaft. Welchen Preis lassen wir die unteren Schichten für unser Leben zahlen? Was wird aus uns, wenn wir selbst aussortiert werden, wie der Müll um uns herum?

Autor:

Hwang Sok-yong wurde 1943 in Xinjing, damaliges Mandschukou, heute zu China gehörig, geboren und ist ein südkoreabnischer Autor, der schon als Schüler Erzählungen schrieb. Er schloss ein Philosophiestudium ab und kehrte 1969 aus dem Vietnamkrieg zurück, engagierte sich später aktiv in der Demokratiebewegung der 1970er und 80er Jahre. In den 1970er Jahren entstanden seine ersten Romane, die sich mit der Frage der Arbeiterbewegung und der Teilung Koreas beschäftigten.

1985 formulierte er ein Manifest für die Demokratiebwegung in Korea. Nach Teilnahme an einem Treffen von Schriftstellern in Nordkorea lebte er für mehrere Jahre abwechselnd in Berlin und New York, wurde nach seiner Rückkehr nach Südkorea wegen seiner Besuche im Nachbarland zu sieben Jahren Haft verurteilt. 1998 wurde er begnadigt und zum südkoreanischen Kulturbotschafter für Nordkorea ernannt. Seine Werke wurden mehrfach übersetzt, teilweise verfilmt und ausgezeichnet.

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Sir Walter Scott: Chrystal Croftangrys Geschichte

Inhalt:

Chrystal Croftangry versucht am Ende seines Lebens es zum Schriftsteller zu bringen, nachdem er einst reich, dann verarmt, sich aus dieser Armut mühsam herausgekämpft hat. Er berichtet von Freud und Leid des Erzählens, von der Begeisterung der Welt der Stoffe und Geschichten. Hoffen und Bangen eines angehenden Schriftstellers, verbunden mit Witz und Ironie. Sir Walter Scott schuf mit den Protagonisten seinen alten Ego und setzte sich und seinem Leben mit diesem Werk selbst ein Denkmal. (abgewandelte Inhaltsangabe)

Rezension:

Bis auf wenige Werke ist das Schaffen Walter Scotts hierzulande fast vergessen. Nur wenige würden einem spontan einfallen und das auch nur, wer sich wirklich intensiv auseinandersetzt. „Ivanhoe“ vielleicht, könnte als erste Erzählung genannt werden, danach aber wird es schon schwierig. Im englischsprachigen Raum mag das anders aussehen, was aber als gesichert gelten kann, dass der zu seinen Lebzeiten durchaus auch hier bekannte Schriftsteller das Bild Schottlands in der Welt geprägt hat und bei Gelehrten wie Goethe Anklang fand.

Als einer der Begründer des historischen Romans schuf er Vorlagen, die noch heute Grundlage für zahlreiche Theaterstücke, Opern und Filme sind, aber vor allem zahlreiche Werke, die eng mit der Geschichte Englands und Schottlands verbunden sind. Auch seinem Leben und Werken setzte er ein Denkmal in Erzählform. Dieses liegt nun, neu übersetzt von Michael Klein, vor.

Hauptprotagonist ist der verarmte Adel Chrystal Croftangry, der das Vermögen seiner altehrwürdigen Familie durchgebracht hat und sich nur langsam, mit Hilfe einiger Weniger, aus den Sumpf ziehen kann, mit ein wenig Glück wieder Fuß fasst und dann beginnt Erzählstoff zu sammeln, mit dem Ziel ein eigenes Buch zu veröffentlichen. Nebenbei erzählt er selbst im Verlauf der Handlung aus seinem Leben, so dass wir hier ein Roman in Roman in Roman lesen dürfen. Zahlreiche Anspielungen auf die schottische Geschichte inbegriffen.

Ebene Eins ist die Rahmenhandlung, in der Walter Scott sich mit dem Hauptprotagonisten eine Figur alten Egos schuf und so diese praktisch im Autoren selbst übergeht, Ebene Zwei ist die Einbindung und Abwandlung schottischer Geschichte und Legenden, die widerum selbst eigenständig gelesen werden können und wen das noch nicht zu chaotisch wirkt, kann nebenbei auch über die Tragik Walter Scotts etwas erfahren, die in seinen letzten Schaffensjahren ihren Höhepunkt fand.

Das ist viel zu viel, zumindest für die heutige Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne kaum mehr in den Raum zwischen Wand und Tapete passt. Unterschiedliche Erzähltempo und Stile fügen sich nicht zu einem harmonischen Ganzen, abrupte Übergänge erschweren das Lesen. Kaum zu glauben, dass das damals funktioniert hat.

Über manche Literatur legt sich mit der Zeit jedoch zurecht ein Mantel des Vergessens. Vielleicht ist dieses Werk eher als Beispiel für das Studium der Geschichte englischer Literatur geeignet, denn als Historien-Schmöker funktioniert es nicht. Zu viele Themen werden auf so wenigen Seiten aufgegriffen, kaum ausgeführt, zudem wirkt die Ausschmückung der tatsächlichen Geschichte doch sehr gewollt.

Positiv ist genau eine Erzählung innerhalb der Erzählung hervorzuheben. Das reicht nicht.

Autor:

Walter Scott wurde 1771 in Edinbirgh geboren und war ein schottischer Schriftsteller, Dichter, Verleger und Literaturkritiker und gilt als traditioneller Begründer des Geschichtsromans. Viele seiner Werke dienen bis heute als Grundlage für Schauspiele, Opern und Filme. er prägte das Bild der öffentlichen Wahrnehmung Schottland und war einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit.. Er starb 1832 in Abbotsford.

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Alice Piciocchi/Andrea Angeli: Kiribati

Inhalt:

Die kleine Inselwelt Kiribati – 1777 von James Cook zwischen Australien und Hawaii entdeckt – versinkt infolge des Klimawandels allmählich im weiten Blau des Pazifischen Ozeans. Mit einem reich illustrierten Reisetagebuch wollen Alice Piciocchi und Andrea Angeli diese Welt ein Stück weit bewahren.

Hier sind Familien seit Generationen zu Hause, werden alte Traditionen gelebt und sind magische Rituale genauso Teil des alltags wie Satellitenfernsehen und das Internet. Das Buch erzählt von einer Reise ans andere Ende der Welt, ist ein buntes Mosaik aus Anekdoten und Erlebnissen, aufwendig gestalteten Karten, Zeichnungen und Infografiken. Ein Buch, das unsere Sehnsucht weckt und die Hoffnung, dass dieser besondere Ort auch zukünftig bestehen bleibt. (Klappentext)

Rezension:

Mehrere Atolle entlang der Datumsgrenze, die bis zu ihrer Verschiebung den Tag in zwei Teile teilte, bilden eines der letzten Paradiese dieser Erde. Noch leben dort, auf den Inseln des Südseestaates Kiribati, Menschen. Die Frage ist nur, wie lange noch? Die Welt, die einst James Cook entdeckte, zuvor jedoch bereits tausende Jahre besiedelt war, wird untergehen. Für die Umsiedlung der Bevölkerung gibt es bereits einen Plan der dortigen Regierung.

Kiribati – Eine Inselwelt versinkt im Meer (Andrea Angeli)

Doch, wie leben die Menschen dort auf den Inseln, von denen keine eine höhere erhebung hat als fünf Meter über den Meeresspiegel? Mit welchen Problemen haben sie bereits heute zu kämpfen? Was bedeutet es, isoliert und doch verbunden zu sein? Die Autorinnen Alice Piciocchi und Andrea Angeli haben eine Reise um den halben Erdball unternommen, um dies zu ergründen. Herausgekommen dabei ist ein besonderer Bericht über eine entschwindende Welt.

Der besteht aus Elemeneten verschiedener Genre. Beinahe Graphic Novel, nicht ganz Lexikon mit Elementen einer statistischen Sammlung, natürlich Reisebericht findet alle Lesenden etwas, was sie faszinieren wird. Kapitelweise werden die unterschiedlichen Fascetten des Insellebens beleuchtet, aufgelockert durch großflächige Grafiken und liebevollen Zeichnungen. Jeder beobachtung, jedem Atoll setzen die Autorinnen damit ein Denkmal und schaffen es, ohne mahnenden Zeigefinger zu beschreiben, was wir zu verlieren drohen, wenn wir nicht aufpassen.

Dabei befinden sich Piciocchi und Angeli nicht permament im Krisenmodus. Viel Zeit haben sich die beiden genommen, wenn es um die Traditionen, Flora und Faune etwa geht. Neben den Problemen wird vor allem die Schönheit und Verletzlichkeit Kiribatis in den Vordergrund gestellt. Ein Glossar der wichtigsten begriffe ergänzt dieses Werk, zudem ein Zeitstrahl um die historische Komponente. Vielleicht ist dieses Buch so, wie der Inselstaat selbst. Vielfältig, geheimnisvoll und einzigartig.

Vom Gestalterischen hat das Werk ebenso viel Wert, wie von den Informationen her, die man diesem entnehmen kann. Fortwährend kann man das lesen, ebenso umblättern, zurück schauen, innehalten, überfliegen. Zeit wird auf den Inseln Kiribatis in gewissen sinne mit anderen Maßstäben gemessen. Gleiches gilt für dieses Buch.

Autorinnen:

Andrea Angeli wurde 1984 in Brescia geboren und ist ein italienischer architekt. Seit Studium absolvierte er in Mailand, bevor er über verschiedene Stationen schließlich im Verlagswesen landete. Im Zeichnen entdeckte er das Konstruieren von Geschichten.

Alice Piciocchi wurde 1985 in Mailand geboren und studierte zunächst Industriedesign, bevor sie zu Architektur und Design verschiedene Forschungsarbeiten verfasste. Schon früh entwickelte sie eine Begeisterung für Landkarten und studierte schließlich Geografie. Ihre Beiträge erscheinen regeömäßig in diversen italienischen Zeitungen und Magazinen

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Bernhard Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Inhalt:

Ihr letzter Schultag fällt auf den 20. Juli. Am Vortag hat die Deutsche Aktion mit ihrem charismatischen jungen Führer bei der Landtagswahl 37 Prozent bekommen. Im Leistungskurs Geschichte entbrennt unter den Abitureienten und ihrem Lehrer eine hitzige Diskussion. Das Attentat auf Hitler kam am 20. Juli 1944 viel zu spät. Es hätte am 20. Juli 1931 begangen werden müssen. Was ist daraus zu lernen? (Klappentext)

Rezension:

Es gibt durchaus Schreibende im deutschsprachigen Raum, die ein gewisses Gespür für literarische Stoffe haben, wenn sie vor einem liegen, um diese zu etwas Großem, kaum Fassbaren verweben können. Ferdinand von Schirach ist so jemand, der eine tagesaktuelle Frage aufgreift, daraus ein Bühnenstück entwickelt hat, welches zugleich verfilmt wurde und für hohe Aufmerksamkeit und eine um sich greifende debatte gesorgt hatte. Nun zieht der andere große Literat, der ebenso historische mit aktuellen Fragen verbinden kann, nach und stellt seine Leserschaft und später sicher auch Theaterpublikum vor eine Denkaufgabe.

Wenn man es gewusst hätte… Aber es war noch weit weg. Das Strafrecht und das Völkerrecht erlauben kein präventives Zuschlagen. Und der Mut… wenn das Furchtbare weit weg ist, wenn man es zwar schon weiß, aber noch nicht spürt… hat man den Mut zum Handeln nicht erst, wenn man das Furchtbare vor sich hat?

Bernhard Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Was wäre wenn? Was wäre, hätte man schon 1931 das versucht, was später mehrfach und schließlich 1944 als letztes Zeichen gesehen wurde, nämlich Hitler zu ermorden, der so viel Leid über die Welt gebracht hatte und Unzählige ermorden ließ? Was wäre, hätte man schon früh den Zeichen der Zeit Glauben geschenkt? Was wäre, wenn man die Nationalsozialisten schon damals ernst genommen und daraus Konsequenzen gezogen hätte?

Oder, anders gefragt, wie wäre eine solche Aktion, wie die der Widerständler vom 20. Juli 1944 zu bewerten, gäbe es heute eine ähnliche Situation, in der ein Mann, eine Partei, mit derart düsteren Vorzeichen kurz vor Ergreifung der Mechanismen der Macht stünde? Wäre dann sozusagen ein Präventivschlag gerechtfertigt? Moralisch und überhaupt? Auch, wenn man gar nicht genau benennen könnte, ob die Ziele dieses Mannes, dieser Partei, bis in letzter Konsequenz vollzogen werden würden?

Hättest du den Mut gehabt? Den Mut zu wissen, dass es geschehen muss? Dass es jetzt geschehen muss, damit Jahre später… Und dann den Mut, es zu tun?

Bernahrd Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Der Schriftsteller Bernhard Schlink stellt diese Fragen, seinen Protagonisten, die er in der Form eines Bühnenstücks in Diskussion treten lässt und zieht die Zuhörer, hier bei der vorliegenden Skriptform seine Leserschaft mit hinein ins Gedankenexperiment. Automatisch positioniert man sich, kann gar nicht anders, sieht die Widersprüche, in die sich die Figuren verwickeln.

Anfangs scheint die Fragestellung einfach zu beantworten sein, nach und nach schält sich die Komplexität und das moralische Dilemma heraus. Man ahnt, was in den Köpfen Stauffenbergs oder Goerdelers vorgegangen sein muss, um so shcwerer die Frage auf ein Szenario zu übertragen, was vielleicht nicht eintreten wird, vielleicht aber doch.

Der Autor überlässt es uns, das Urteil zu fällen, gibt uns keine Lösungsmöglichkeiten in die Hände, wobei man genau weiß, worauf Schlink abzielt. Er erhebt jedoch keinen moralischen Zeigefinger, zeigt nur Gedankengänge auf, denen man kaum entkommt. Immer schärfer wird die Tonalität zwischen den Protagonisten, immer schneller und abrupter werden die Wechsel.

Als ich im Krankenhaus war, hatte ich eine Freundin, wir lagen im selben Zimmer. Sie wusste, dass sie sterben würde, und wollte die Bilanz ihres Lebens ziehen. Aber sie belog sich nur immer wieder neu. Ein paar Selbstvorwürfe machen noch keine Lebensbilanz.

Sie sieht den Alten an.

Eine Bilanz wird auf einen Stichtag gezogen, und der Stichtag des Lebens ist der Tod. Nach dem Tod können nur andere die Bilanz ziehen.

Bernhard Schlink: 20. Juli – Ein Zeitstück

Wer liest, steht neben den Figuren, befürwortet und verwirft Positionen. Einfach zu lesen ist es vielleicht, einfach zu Durchdenken keinesfalls. Bernhard Schlink hat hier ein Stück geschrieben, welches unbedingt herausfordert. Welches vielleicht wichtig wird. Welches nachwirkt und länger beschäftigt, nachdem die letzte Seite zugegschlagen ist.

Autor:

Bernhard Schlink wurde 1944 geboren und ist ein deutscher Jurist, ehemaliger Hochschullehrer und Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Jura in Heidelberg und Berlin, bevor er an verschiedenen Universitäten als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Nach einem Stipendium in Kalifornien promovierte er 1975 in Heidelberg, wurde 1981 in Freiburg im Breisgau habilitiert.

Von 1982-1991 war er Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn, darauf folgen Stationen wie Frankfurt/Main und Berlin. 1987 wurde er Richter am Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfallen, arbeitet in den Wendejahren am Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR mit. Später war er Mitglied u.a. der Vereinigung für Verfassungsgeschichte.

Sein schriftstellerischer Weg begann 1987, der ihm verschiedene Auszeichnungen einbrachte, zunächst mit Kriminalromanen. Im Jahr 1995 erschien sein erster Nicht-Kriminalroman „Der Vorleser“, der zu einem vielbeachteten Bestseller avancierte, später verfilmt wurde. Weitere Werke folgten. 2009 schenkte er seine literarischen Manunskripte und Korrespondenzen dem Literaturarchiv Marbach. Schlink ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und erhielt 1998 den Hans-Fallada-Preis. Im Jahr 2000 folgte die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft, 2004 das Bundesverdienstkreuz, 1. Klasse. Mehrere seiner Werke wurden verfilmt.

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Ernst Peter Fischer/Detlev Ganten: Die Idee des Humanen

Inhalt:

Das moderne Verständnis von Gesundheit verdankt viel dem medizinischen Denken von Rudolf Virchow und Hermann von Helmholtz. Ihr 200ster Geburtstag im Jahre 2021 gibt die Gelegenheit, die großartige Geschichte der beiden zu erzählen. Ihre historische Leistung wird heute von der neuen Berliner Schule und von vielen Wissenschaftlern auf der ganzen Welt wie Emmanuelle Charpentier und Christian Drosten fortgeführt, damit die Idee des Humanen auch künftig Früchte trägt. (Klappentext)

Rezension:

Als man Berlin ein erstes Pesthaus errichtet, welches schon wenig später „Charite“ genannt werden wird, ahnt noch niemand, dass in diesem Gebäude, später einer Gruppe von Häusern, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte geschrieben wird. Fortwährend. Große Namen prägen diese Institution, die bald Gelehrte von Weltruf anziehen wird. Ferdinand Sauerbruch, Emil von Behring, Paul Ehrlich und Robert Koch, viel später noch Forschende wie Christian Drosten oder Emmanuelle Charpentier.

Woran liegt das? Was macht die Charite von Beginn an zu solch etwas Besonderen? Dazu lohnt ein Blick in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als diese die Wirkungsstätte zweier Mediziner war, deren Grundverständnis von Medizin und Gesundheit diese spezielle Berliner Einrichtung bis heute prägt.

Die Autoren sind vom Fach, wissen wovon sie schreiben und erzählen ein spannendes Stück Wissenschaftsgeschichte, holen dabei weit aus und werfen einen Blick zurück. Detailliert erläutern sie die Ausgangssituation und das Innovative, welches man bis heute gerade nicht hier vermuten würde, dennoch findet.

Dabei zeigen sie auf, welche Entscheidungen der einstigen preußischen Herrscher den Weg der Charite begünstigten und wie philosophische Prägungen die dort Tätigen lenkten. Medizingeschichte lässt sich spannend erzählen. Gerade ein solches Haus, in dem viele große Persönlichkeiten wirkten, bietet dabei viel Projektionsfläche. An Biografien sich entlang hangelnd, kann man das wissenschaftliche und ärztliche Wirken bestaunen, die Faszination förmlich mit den Händen greifen.

Hans Peter Fischer und Detlev Ganten indes haben diese Chance verstreichen lassen. Im Gegensatz zu etwa Christian Hardinghaus, der anhand von Personen Geschichte spannend zu erzählen weiß, konzentrieren sich die beiden hier auf die Entwicklung eines philosophischen Grundgerüsts, was nur ergiebig ist, wenn man sich auf diesen Fokus von Beginn an einstellt. Der Klappentext suggeriert Medizingeschichte und keinen Aufsatz philosophischer Fragen.

Zumindest nicht hauptsächlich. Dazu kommt eine Aneinanderreihung spröder Formulierungen, die den Text streckenweise nur schwer lesbar erscheinen lassen. Nur gegen Ende wird es dem ähnlich, was man wohl unter einem populärwissenschaftlichen Sachbuch versteht. Bis zu diesem Punkt dürften die meisten LeserInnen jedoch kaum finden.

Immer dort stark ist die Lektüre, wo sich die Autoren auf die Tätigkeit der beiden im Titel genannten Personen konzentrieren und die medizinische Ethik außen vor lassen. Unterschiedlicher, so merkt man schnell, hätten die Ansätze von Virchow und von von Helmholtz kaum sein können und doch waren sie folgerichtig. Die daraus entstandene Dynamik prägt bis heute die Arbeit an der, heute auf mehrere Standorte verteilte Institution und nicht zuletzt das Bild der Charite nach Außen.

Die Begeisterung und Faszination dafür, die Ernst Peter Fischer und Detlev Ganten vermitteln wollten, kommt dabei nur spärlich rüber. Im Gegenteil, was davon vorhanden ist, wird durch philosophische Erläuterungen förmlich übertüncht. In der Medizin würde man wohl von einem Kunstfehler sprechen. Nichts anderem.

Autoren:

Ernst Peter Fischer wurde 1947 in Wuppertal geboren und ist ein deutscher Wissenschaftshistoriker und Publizist. Zunächst studierte er in Köln Mathematik, Physik und Biologie und promovierte 1977 am California Institute of Technology. 1987 habilitierte er in Knstanz und unterreichtete dort Wissenschaftsgeschichte, sowie später an der Universität Heidelberg.

Er schreibt für verschiedene zeitungen und Zeitschriften und ist Mitglied im PEN-Club Liechtenstein. Fischer arbietet u. a. für die Stiftung -Forum für Verantwortung und als Mitherausgeber von „Mensch und Kosmos“ (2004) und „Die Zukunft Erde“ (2006).

Detlev Ganten wurde 1941 in Lüneburg geboren und ist ein deutscher Pharmakologe. Von 1973 bis 1991 war er Professor am Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg und von 1997 bis 2001 Vorsitzender der Helmholtz Gemeinschaft Deutscher Forschungszentrum. 2004 war er Gründungsdirektor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin und von 2004 bis 2008 Vorsitzender des Stiftungsrates der Charite, seit 2016 dessen Ehrenvorsitzender.

Seine Forschungsgebiete liegen vor allem im Bereich der Blutdruckregulation und der Ursachen des Bluthochdrucks. Er beteiligte sich an der Entwicklung von Konzepten zur Evolutionären Medizin, in Verbindung von Gesundheit und Krankheit und forschte zu der Evolution der Gene zur Herzkreislaufregulation.

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Nick Reimer/Toralf Staud: Deutschland 2050 – Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird

Inhalt:

Aprikosen aus Hamburg, öffentliche Kühlräume für Berlin. Steppenlandschaft in Brandenburg, Tigermückenplagen im Rheinland. Starkregen und Sturzfluten, Waldsterben, ausgetrocknete Seen. Der Klimawandel wird Deutschland schon bis 2050 tiefgreifend verändern. Was genau uns erwartet, beschreibt dieses Buch auf der Basis neuester Forschungserkenntnisse. (Klappentext)

Rezension:

In den letzten Jahren haben sich extreme Wetterwechsel die Klinke in die Hand gegeben. Örtlich begrenzt versinken Orte in einem Jahr für kurze Zeit im Schneechaos, während anderswo die Bewohner mit heftigen Regenfällen und Überschwemmungen zu kämpfen haben. Wieder andernorts fehlt Wasser in der Landwirtschaft und müssen die Menschen mit Hitzewellen zurecht kommen. Der Klimawandel ist keine abstrakte Bedrohung mehr. Er findet längst statt.

Nur, was bedeutet dies konkret für unser Leben. Die Journalisten und Autoren Toralf Straud und Nick Reimer haben recherchiert, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengetragen und mit Experten verschiedener Fachgebiete gesprochen. Herausgekommen dabei ist ein Blick in eine nicht all zu ferne Zukunft.

Zunächst, in diesem Sachbuch geht es nicht darum, wie Klimaschutz betrieben werden kann, also wie sich z.B. der Ausstoß von Treibhausgasen verringern lässt und hebt sich damit wohltuend von anderen vergleichbaren Werken ab. Auch wird sich nicht primär auf Ursachenforschung begeben. Hier liegt die Konzentration ganz konkret auf die Frage, wie unser Leben unter sich wandelnden Bedingungen gestaltet, wenn wir heute mit ein wenig oder viel mehr Klimaschutz beginnen würden, so dass sich die Erwärmung der Erde auf ein paar Grad begrenzen lassen würde und was dies für uns in Deutschland bedeutet.

Es wird ein Blick in die Zukunft gewährt, der als gesichert gelten darf. Da klimatische Veränderungen mit Verzögerungen ob der Ursachen auftreten, ist der Wandel, der auf uns zukommt, schon längst menschengemacht.

Hier beginnen die Autoren mit eiem Szenario, welches unser Leben im Jahr 2050 zeigt. Feingliedrig schildern Staud und Reimer, wie sich unser Leben in den Städten wandeln wird, mit welchen Problemen wir auf dem Land zu kämpfen haben werden, was die Änderungen für den Wald vor unserer Haustür etwa bedeuten, für Transportwege oder für die Landwirtschaft. Unaufgeregt übersetzen sie Studien verschiedenster Seiten, auch von Unternehmen, denen man jetzt kaum Öko-Affinität nachsagen dürfte, in ein verständliches Gesamtbild und zeigen die ersten Anzeichen auf, die uns schon heute begegnen.

Dass viele Tier- und Pflanzenarten im Regenwald oder in den Korallenriffen Fischarten durch menschliche Eingriffe und dem Klimawandel dezimiert und teilweise ausgerottet werden, bevor überhaupt die Chance bestand, sie zu entdecken, ist landläufig bekannt. Wie sieht es mit dem Überleben aber von einheimischen Insekten, den Bienen und Hummeln etwa, aus oder Vogelarten, wie den Kuckuck?

Kann ruhig aufgeklickt werden. Spoiler nur, wegen der Lesbarkeit des Haupttextes. Das Beispiel Kuckuck näher ausgeführt:

Spoiler

Der Kuckuck legt seine Eier in fremde Nester und lässt diese von den Wirtsvögeln ausbrüten. Das Küken wirft die Eier der Wirtseltern aus dem Nest und bleibt als einziges übrig. Nun ist der Kuckuck ein Zugvogel, der sich jedoch bislang nicht an die verändernden Vegetationsperioden hierzulande anpassen konnte. Hier bleiben immer häufiger Forstperioden aus, das Nahrungsangebot ändert sich. Viele Vogelarten brüten früher.

Wenn der Kuckuck aus Afrika zurückkommt, sind die meisten seiner Wirtstiere schon mit der Aufzucht ihrer Jungen beschäftigt. Dem Kuckuck fehlt die Möglichkeit, seine Eier dazu zu legen. Eine beliebige Auswahl hat dieser aber nicht, da er seine Eier nur zu der Vogelart legt, bei der er selbst aufgezogen wurde (und somit sichergestellt wird, dass die Eifarbe ungefähr gleich ist). In Folge geht die Anzahl der Kuckucks stetig zurück.

[Einklappen]

Welche Probleme bringen immer häufigere Wetterwechsel der Extreme in den Städten mit sich? Wird es auch in Deutschland Probleme mit dem Grundwasserhaushalt geben? Wie wird unser Wald in ein paar Jahren aussehen? Was bedeutet es für unsere Wirtschaft, Handelswege und Energieversorgung, wenn selbst große Flüsse immer weniger Wasser führen und sich die Fließgeschwindigkeit verringert? Die Autoren reihen diese und andere Fragen gleichsam einer Perlenkette aneinander und zeigen, wie bereits heute in verschiedenen Bereichen versucht wird, zu reagieren.

Nick Reimer und Toralf Staud werten dabei nicht, die Sprache wirkt zwar eindringlich, meist jedoch sehr nüchtern. Sie zeigen, warum es uns Menschen schwerfällt, in längerfristigen Zeiträumen Konsequenzen zu überdenken und warum für viele der Klimawandel zumindest noch für Deutschland kein großes Problem zu sein scheint, es jedoch dringend auf die Agenda gehört. Denn, so viel wird klar, einige der Konsequenzen werden unvermeidlich auf uns zukommen, die anderen können wir nur versuchen, abzumildern.

Es braucht solch eine nüchterne Beschreibung, wenn es darum gehen soll, Grundlage für Diskussionen und Verständnis zu schaffen, vor allem aber auch, da nicht alle Zeit, Muße und wissenschaftliche Kompetenz besitzen, um wissenschaftliche Studien in konkret formuliertes zu übersetzen. Die Autoren haben sich die Zeit genommen. Der Anhang ist eine öffentlich zugängliche und beeindruckende, unterstützende Auflistung von Quellen.

Wer sich dieses Buch zur Hand nimmt, wird danach mit anderen Augen durch den heimischen Wald gehen, durch angelegte Parks und Gärten, vielleicht auch die Dach- oder Kellerwohnung seines Wohnhauses anders betrachten. Ein nicht mit dem erhobenen Zeigefinger geschriebener Antrieb, dass wir uns ändern, ist das. Nicht mehr, nicht weniger.

Autoren:

Nick Reimer wurde 1966 geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Während der Wende 1989/90 gründete er in Freiberg die erste überregionale Umweltzeitschrift der DDR und war Mitbegründer des Neuen Forums Mittelsachsens. Nach Abschluss seines Studiums begann er 1993 ein Volontariat bei der Berliner Zeitung, arbeitete ab 1996 für die Morgenpst und 1998 als Korrespondent der taz.

Von 2000-2011 war er als Wirtschaftsredakteur für die Themen Klima und Energie zuständig und arbeitete zusätzlich für andere Medien als freier Journalist. Er erhielt, gemeinsam mit Toralf Staud, den Otto-Brenner-Preis, 2012, in der Kategorie Medienprojekte. 2014 hatte er einen Lehrauftrag für Nachhaltigkeit und Journalismus an der Universität Lüneburg.

Toralf Staud wurde 1972 geboren und ist ein freier Journalist und Buchautor. Zunächsst war er bei der Altmark Zeitung tätig, studierte dann von 1991 bis 1998 Journalistik und Philosophie in Leipzig und Edinburgh.

Währenddessen arbeitete er für die zeitung Die Zeit und diverse Medien, schließlich von 1998 an als Polit-Redakteur für Die Zeit in Hamburg und Berlin. Seine Themen sind hauptsächlich der Klimawandel und die extremen Rechten. Für seine Recherche über die staatliche Reaktion auf Gwalt in Flüchtlingsunterkünfte würde er 2016 gemeinsam mit Kollegen mit dem Reporterpreis, in der Kategorie Datenjournalismus, ausgezeichnet.

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Billie Eilish: Billie Eilish

Inhalt:

Die legendäre Musikerin Billie Eilish gewährt in diesem wunderschön und ausgiebig bilderten Buch einen intimen Einblick in ihr Leben – sowohl auf als auch abseits der Bühne. Jedes einzelne Foto wurde von Billie selbst sorgfältig ausgewählt und angeordnet und greift für sie persönlich bedeutsame Momente auf. Abgerundet durch eine Einleitung und Bildunterschriften lässt uns Billie an ihren Gedanken zu der abenteuerlichen Reise, die sie bis jetzt bestritten hat, teilhaben. (Klappentext)

Rezension:

Was soll man hierzu sagen? Fan-Bücher gehören zum Merchandise, der eine Art Nähe und Verbundenheit suggerieren soll, die so nicht vorhanden ist, doch natürlich funktioniert das. Warum auch nicht? Ist nicht jede Person BewundererIn für etwas oder irgendwen und saugt man von Idolen nicht jeden Schnipsel an, wie auch immer gearteten, Informationen auf?

Die Sängerin Billie Eilish macht daher alles richtig und gibt ihren Fans nun mit diesem gleichsalm als Fotoalbum konzipierten Buch Einblick in ihr Leben, welches sie ansonsten unter Verschluss hält. Sie selbst ist es gewesen, so im von ihr selbst geschriebenen Vorwort, die die Bilder ausgewählt hat, die ihren Weg von der Geburt, über Kindheit bis hin zu Proben aufzeigen, für eine Tournee, die pandemiebedingt nicht stattfinden sollte.

Billie Eilish bestimmt damit die Wahrnehmung über sich selbst, genau so, wie ihre Social Media Kanäle durchdacht und Konzerte durchgeplant sind. Kontrastreiche Fotos zeigen mal ruhige und bewegende Momente, eine unglaubliche Serie von Fuß- und Knöchelverletzungen. Das ist toll anzusehen und sicherlich ein wertvoller Schatz in jeder Sammlung von Fan-Devotionalien und hat sicherlich seine Berechtigung.

Andere werden eh nicht dazu greifen. Berechnend oder nicht, die Zusammenstellung gefällt und gewährt mehr Einblick, als sie Stars sonst zulassen, was sicherlich auch der Welt der Social Media geschultet ist, in der die Sängerin aufgewachsen ist. Wie sehr muss man sich heute als KünstlerIn im Gespräch halten, wie sehr die Berichterstattung über sich kontrollieren? Diese Fragen darf man durchaus stellen. Solche Bücher geben eine Ahnung, wie eine Antwort ausfallen könnte.

Autorin:
Billie Eilish (eigentlich: Billie Eilish Pirate Baird O’Connell) wurde 2001 in Los Angeles geboren und ist eine US-amerikanische Singer-Songwriterin, die Mitglied eines Kinder- und Jugendchores war und 2015 ihre erste Debütsingle veröffentlichte. 2019 kletterte ihr Album auf Platz 1 der Charts. Bei den Grammy-Awards gewann sie 2020 in allen Hauptkategorien.

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