Nachkriegszeit

Bernd Fischerauer: Burli

Burli Book Cover
Burli Bernd Fischerauer Verlag: Picus Erschienen am: 27.02.2017 Seiten: 287 ISBN: 978-3-7117-2046-7

Inhalt:

Adolf, genannt Burli, erlebt in den Jahren des Wirtschaftswunders nicht nur erste erotische Freuden, er steht auch knapp davor, die Nazi-Vergangenheit seines Vaters, des biederen Keksvertreters, aufzudecken. Ein spannender Schelmenroman, der heftig am Mythos der Stunde Null kratzt. (Klappentext)

Rezension:

Verantwortlich sind wir dafür nicht, aber Verantwortung tragen wir dafür. Dieser Satz könnte Arbeitstitel für diesen Roman gewesen sein und so tauchen wir in die Geschichte eines Teenagers ein, der ein gut gehütetes Geheimnis aufdeckt.

Eigentlich könnte Adolf, von allem zu seinem Überdruss Burli genannt, in den Tag hineinleben. Der Dreizehnjährige brilliert in der Schule, schreibt Artikel für die Jugendseite der städtischen Zeitung und macht bei Schultheaterproben mit, um seiner Angebeteten näher zu sein.

Zudem macht der Pubertierende erste erotische Abenteuer und auch sonst ist das Leben in Graz und Umgebung schön. Wenn man einmal von den Eltern absieht, die streng seine kleine Schwester und ihn züchtigen, und den alten Zeiten nachtrauern.

Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders, die Nachkriegszeit in Österreich. Doch, Burli bekommt eines Tages ein Foto zu Gesicht, welches sein Leben verändern und die heile Welt seiner Familie zum Einsturz bringen wird.

Der österreichische Schriftsteller Bernd Fischerauer hat kurz vor seinem Tode mit „Burli“ einen wichtigen Roman herausgebracht, den es unbedingt zu beachten gilt. Die Verarbeitung der verdrängten Vergangenheit, sein Lebensthema, findet hier ihren Abschluss und so sticht die Erzählung in Wunden, die Ewiggestrige nur allzu gerne verschlossen sehen.

In dichter Folge drängen sich kurzweilige Kapitel aneinander, die aus Perspektive eines Nicht-mehr-Kindes-aber-auch-noch-nicht-Erwachsenen, die Misere aufzeigen, in deren Konflikt sich mehrere Generationen direkt nach den Zweiten Weltkrieg befanden.

Zum einen die Elterngeneration, die sich oft genug auf die Befehlsgewalt gerufen und von allem nichts gewusst haben will, zum anderen die Kinder und Juigendlichen, die die grausamen auswirkungen nicht mehr bewusst erlebt, aber das Handeln ihrer Eltern in Frage gestellt hatten.

Diesen Spagat aufzuzeigen, mit Hilfe des sympathischen Protagonisten Burli, ist Fischerauer überaus gelungen.

Eine Lösung bietet der Autor freilich nicht. Am Ende bleiben Schmerz und Scherben, und die Erkenntnis, dass die einst so angebeteten Erwachsenen auch nur Menschen sind, die Fehler machen. In diesem Falle sind sie unverzeihlich.

Fischerauer stellt die Selbstinszenierung der Kriegsgeneration gegen die Unschuld der nachfolgenden, die zurecht hinterfragt. Auch wenn’s weh tut. Wer hat was wann im Krieg getan und warum? Wer stand auf welcher Seite und wer hat aus begangenen Fehlern gelernt?

Fragen, für die man mancherorts ausgegrenzt und als Nestbeschmutzer beschimpft wurde, die aber viel zu wenig gestellt wurden. Alleine, dass es in diesem Roman Burli tut, ist eine Wohltat. Durchsetzt mit viel Humor wird die ernste Handlung aufgelockert, nicht zuletzt die Beschreibungen der amorösen Abenteuer tun ihr übriges, um den Lesern ein Schmunzeln ins Gesicht zu zaubern. Teenager sind doch zu jeder Zeit dann doch irgendwie gleich.

Der beschriebene Umbruch vom Kind zum Jugendlichen, zum werdenden Schriftsteller, hat Fischerauer in Form seines Protagonisten unglaublich nahbar beschrieben. Jede Zeile einfühlsam, die Spannung wird nur langsam aufgebaut, hält sich aber über die ganze Erzählung.

Wenn man dem Autor etwas ankreiden möchte, und das ist Meckern auf ziemlich hohen Niveau, ist es, dass er die Geschichte nicht zu Ende geschrieben hat.

Tatsächlich ist das Ende nicht harmonisch (im Sinne von stilistisch rund und schlüssig). Ansonsten aber ist „Burli“ eine wunderbare Erzählung über das Ende der Kindheit, die erste Liebe, Fehlleitungen der Eltern, einer Gesellschaft im Umbruch, dem Hinterfragen der Vergangenheit und ein Spiegelbild der österreichischen Nachkriegszeit.

Im Hinblick auf das Heute wäre es vielleicht wünschenswert, hätte es mehr Burlis dieser Art gegeben.

Autor:

Bernd Fischerauer wurde 1953 in Graz geboren und war ein österreichischer Regisseur, Schauspieeler, Drehbuch- und Romanautor. Der zuletzt in München lebende Autor studierte nach dem Abitur in Graz und beendete dies mit der Regieklasse, 1965. 1968 begann er mit ersten Inszenierungen, die er ab 1969 am Wiener Volkstheater fortsetzte.

In den 1970er Jahren schrieb er zunehmend Drehbücher für’s Fernsehen und arbeitete ab 1971/72 als Regisseur. 1982 inszenierte er den Film „Blut und Ehre – Jugend unter Hitler“. Für seine Arbeit erhielt er mehrere Auszeichnungen und Nominierungen, darunter der Adolf-Grimme-Preis.

2017 erschienen zwei Bücher von ihm, „Burli“ darunter ist sein erster Roman gewesen. Fischerauer starb 2017 in München, wo er zuletzt lebte.

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Hermann Schulz: Warum wir Günter umbringen wollten

Warum wir Günter umbringen wollten Book Cover
Warum wir Günter umbringen wollten Hermann Schulz Aladin Erschienen am: 23.08.2013 Seiten: 156 ISBN: 978-3-8489-2017-4 Illustrationen: Maria Luisa Witte

Inhalt:

März 1947, in einer Zeit zwischen Krieg ud Frieden. Freddy und seine Freunde stromern an den Nachmittagen durch die Wiesen, rüber zum Moor, Günter immer im Schlepptau. Aber Günter ist irgendwie anders, der tickt nicht richtig, sagen sie. Sie machen sich über ihn lustig, quälen ihn.

Dann bekommen sie Angst, Günter könnte sie bei den Erwachsenen verpfeifen – und fassen einen ungeheuren Plan. (Klappentext)

Rezension:

Irgendwo im ländlichen Osten des kriegszerstörten Deutschlands stromert eine Bande von Jungen durch das Unterholz. Gebeutelt vom vergangenen Krieg, durchleben sie in ihrem Dorf und den Feldern und Wäldern der Umgebung ihre Abenteuer, wenn sie nicht bei der Ernte oder dem Versorgen der noch übrig gebliebenen Tiere mithelfen müssen.

Keiner kümmert sich um sie. Die Tage fließen zäh dahin. Freddy, etwa 10 Jahre alt, ist einer von ihnen. Es wird sein letzter Sommer werden, bevor er wieder zu seinen Eltern in die Stadt zurück muss. Die Zeit vergeht schneller als ihm lieb ist. Doch, bis dahin bahnt sich eine ungeheure Katastrophe an.

Die Jungen haben Günter im Schlepptau, ein Gleichaltriger aus der Nachbarschaft. Durch schlimme Erlebnisse kriegsgeschädigt und zurückgeblieben, ist er in der Rangordnung der Jungen-Bande ganz unten. Sie quälen und demütigen ihn.

Günter sagt den Erwachsenen nichts, die nur die Auswirkungen der Schikanen bemerken. Doch, den Jungen ist klar, Günter muss verschwinden, spurlos, bevor er zu reden beginnt. Alle Jungs, einschließlich Freddy, stehen vor einer schwierigen Entscheidung.

Bis auf den gleich ins Auge springenden Titel hat dieser Roman nicht nur eine spannende Geschichte, sndern auch wunderbare Illustratioen, auf die es sich lohnt, zuerst einzugehen.

Sie lockern ein schwer im Magen liegendes Thema auf, welches wahrscheinlich der Zielgruppe sonst nur schwer vermittelbar gewesen wäre.

Tatsächlich kann man sich durch die Aquarellzeichnungen förmlich in diese Welt der Jungen, deren ganzer Kosmos aus dem Dorfleben und die Natur, um sie herum, besteht, hineindenken und erlebt zugleich eine spannende Geschichte, wie sie sich tatsächlich zugetragen haben könnte.

Hermann Schulz beschreibt die Leiden der Dorfbevölkerung nach dem Krieg, die sowohl mit Versorgungsmabngel, mehr noch mit dem Flüchtlingsstrom zurechtkommen mussten, der nach dem Krieg die Bilder bestimmte, auch Kriegsheimkehrer und Gefangenschaft sind Thematiken, die hier in dem Kinderbuch sanft eingeführt werden. Das macht der Autor praktisch in Nebensätzen.

Im Vordergrund aber steht ein spannender Krimi, für Jungen und auch sonst geschrieben. Die Protagonisten bleiben dabei nicht farblos, sondern werden, für ein Kinderbuch unglaublich gut, detailreich herausgearbeitet.

Insbesondere Freddy und Günter, anfangs die zwei Gegenpole, gewinnen dadurch an Sympathie und nähern sich im Laufe der Geschichte einander an.

Starke, nicht einseitige Kinder- oder besser gesagt frühe Jugendliteratur, mit einer Ernstnahme der Protagonisten ohne erhobenen Zeigefinger, hat man selten. Hier kann man sie finden, und das gerade mit einem so sensiblen Thema als Hintergrund.

Der Autor beschäftigt sich mit den Nachwirkungen des Krieges in allen Facetten, mit Vorurteilen und ihren Konsequenten, die heute, natürlich in anderer Form, auch noch eine Rolle spielen.

Vielleicht die große Stärke der Geschichte, dass sie in ihren Fragen immer noch brandaktuell ist. Wie sehen wir andere Menschen, vor allem, wenn sie nicht der Norm entsrpechen? Wie gehen wir miteinander um?

Welche Entscheidungen wollen wir treffen? Bequeme oder schwierige, die sich jedoch auf lange Sicht als richtig darstellen? Welche Konsequenzen sind wir bereit, für unsere Taten in Kauf zu nehmen? Können wir schlechte Beschlüsse, einmal gefasst, trotzdem aufhalten oder ändern?

Diese Fragen, ohne erhobenen Zeigefinger zu stellen, ist die große Stärke von Hermann Schulz‘ Roman. Eine Geschichte, die sich unbedingt zu lesen lohnt.

Autor:

Hermann Schulz wurde 1938 in Nkalinzi, Tansania geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und ehemaliger Verleger. Als Sohn eines deutschen Missionars in Ostafrika, wuchs er in Deutschland auf und machte nach der Schule eine Lehre im Buchhandel.

Zudem arebietete er im Bergbau, übernahm jedoch als Nachfolger des späteren Bundespräsidenten Johannes Rau den Peter Hammer Verlag in Wuppertal, dem er von 1967 bis 2001 angehörte. Ab 1998 erschienen seine ersten Romane, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde.

Er ist Mitarbeiter der Zeitschrift AMOS und engagiert sich im Bereich Literatur und Internationaler Verständigung. Er ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

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Ralf Rothmann: Junges Licht

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Junges Licht Ralf Rothmann Suhrkamp Erschienen am: 27.02.2006 Seiten: 237 ISBN: 978-3-518-45754-2

Inhalt:

Ralf Rothmann erzählt in der ihm eigenen, eindringlichen Sprache von den letzten Wochen der Kindheit, ihren leisen Schrecken und dem erhellenden Trost: »Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.« (Klappentext)

Rezension:

Julian, von allen Juli genannt („Hau ab, Juli. Wir haben August.“), erlebt den letzten Sommer der Kindheit im Ruhrgebiet, in einer kleinen Arbeitersiedlung nahe der Zeche, wo sein Vater und andereKohle abbauen und ans Tageslicht befördern.

So schwer und anstrengend, wie die körperliche Arbeit der Bergleute ist, erlebt der Junge die Tage, die er wenig mit Freunden, oft alleine, verbringt. Merkt, wie seine Kindheit immer schneller ihm entrinnt und ihn in die Welt der Jugendlichen und Erwachsenen treibt.

Er sieht ihren Zwiespalt, ihre Scheinheiligkeiten, Schwierigkeiten und ihre Verlockungen, hier im Rahmen des Nachbarmädchens Marusha. Und immer wieder steht er zwischen den Stühlen, wenn er mal wieder unverschuldet in das eine oder andere Missgeschick und schließlich unter Mamas Kochlöffel gerät oder als intelligenter und künstlerisch begabter Außenseiter von seinen Freunden misstrauisch beäugt wird.

Der Zwölfjährige schlägt sich durch, nimmt alles Positive aus und schafft es, dem grauen Alltag immer wieder auch positive Seiten abzugewinnen. Der letzte Sommer der Kindheit ist ein ganz besonderer.

Sprachlich einfach geschrieben und doch sehr eindrucksvoll präsentiert Ralf Rothmann die Geschichte eines seiner bisher jüngsten Protagonisten im Rahmen seiner „Ruhrgebietsromane“, die man ruhig als eigenes Genre betrachten darf. Die Stimmung im Zechengebiet gut getroffen, nimmt man dem Autoren die Erlebnisse des Jungen ab und taucht damit auch in ein Stück deutscher Geschichte ein, die eine nicht ganz unbedeutende Rolle für dieses damals noch junge Land gespielt hat.

Die Zeilen fließen nur so dahin, der junge Protagonist ist sympathisch, sowie auch die meisten ihm umgebenden Figuren, wenn man von der psychisch angeschlagenen Mutter absieht, die ihre Kinder mit den Kochlöffel züchtigt.

Doch, insgesamt lässt der Roman den Leser nicht wirklich zufrieden zurück. Zwar ist der Abschluss der Geschichte schön, eine „runde Sache“ ist er dennoch nicht. Ein Abschlusskapitel fehlt gefühlsmäßig, was natürlich darauf hindeuten kann, dass die Reihe noch nicht abgeschlossen ist aber unabhängig davon kann man die „Ruhrgebietsromane“ wohl einzeln lesen, ohne die Vorgänger zu kennen.

So ist es zumindest hier der Fall und da tut es der eigentlich sehr guten Geschichte eben nicht gut, keinen Abschluss zu haben. Zwar kann man mit dem Ende leben aber das Tüpfelchen auf dem I, das letzte abgebaute stück Kohle, um in den Sphären des Romans zu bleiben, fehlt. Ralf Rothmanns „Junges Licht“ ist in meinen Augen unspektakulär, wobei das natürlich zu den meisten aller Kindheitssommer passt. Lesenswert ja, leider aber kein großer Wurf, der er hätte werden können.

Autor:

Ralf Rothmann wurde 1953 in Schleswig geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Nach Volks- und einem Besuch einer Handelsschule machte er zunächst eine Lehre als Maurer und nahm danach verschiedene Jobs an, bevor er sich 1976 in Berlin niederließ.

Dort veröffentlichte er 1984 einen Lyrik-Band. Dafür erhielt er 1986 ein Stipendium für Literatur. Sein erster Roman erschien 1991. Er lebt heute als freier Autor in Berlin, verarbeitete seine Kindheit in den sog. „Ruhrgebietsromanen“, die allesamt eine autobiografische Färbung aufweisen und erhielt zahlreiche Preise dafür. Sein Roman „Junges Licht“ wurde 2016 verfilmt.

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Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene

Der Verlorene Book Cover
Der Verlorene Roman Suhrkamp Taschenbuch Seiten: 175 ISBN: 978-3-518-39561-5

Inhalt:

Hans-Ulrich Treichels Erzählung handelt von einer Familie, an deren Leben nichts außergewöhnlich scheint: Der Flucht aus den Ostgebieten im letzten Kriegsjahr folgt der erfolgreiche Aufbau einer neuen Existenz in den Zeiten des Wirtschaftswunders. Doch es gibt für sie nur ein einziges, alles beherrschendes Thema: die Suche nach dem auf dem Treck verlorengegangenen Erstgeborenen, nach Arnold.

»Arnold ist nicht tot. Er ist auch nicht verhungert«. Das erfährt der kleine Bruder und Ich-Erzähler eines Tages von seinen Eltern: »Jetzt begann ich zu begreifen, daß Arnold, der untote Bruder, die Hauptrolle in der Familie spielte und mir die Nebenrolle zugewiesen hatte.« In derVorstellung des Jungen wird das, was der Eltern größter Wunsch ist, zum Alptraum: daß der Verlorene gefunden wird. (Verlagstext)

Rezension:

Es ist ein äußerlich unscheinbarer Roman, der es in sich hat. Trotz oder gerade wegen seiner wenigen Seiten. Der Inhalt, derart komprimiert, ist Familienroman, Psychogramm und Gesellschaftsreport einer ganzen Generation. Der Familie geht es gut im Wirtschaftswunderland. Der Vater führt einen kleinen Familienbetrieb, hat Erfolg, expandiert und baut aus.

Immer neue Autos werden angeschafft. Man ist ja wieder wer. Die Mutter hält ihrem Mann den Rücken frei und der Sohn schlägt sich so durch. Ganz normal. Doch, auf der Familie liegt der schwere Schatten der Geschichte. Auf der Flucht aus den ehemaligen deutschen Gebieten ging einst der Erstgeborene verloren.

Der Nachfolger, der ihm praktisch nur vom Hörensagen und zahlreichen Fotos kennt (er selbst ist immer nur bruchstückenhaft zu sehen), leidet unter den Schwermut und der Trauer der Eltern über den Verlust.

Und fühlt die Gefahr der Verdrängung. Zum Glück, so denkt der Junge, ist Arnold eben verschollen. Er selbst, der die Geschichte aus seiner Sicht erzählt, bleibt bis zur letzten Seite namenlos. Er fühlt sich auch nicht ernstgenommen, unbeachtetes Kind. Doch, sein schlimmster Alptraum scheint wahr zu werden als eine Chance sich für die Eltern eröffnet, dass der Junge wieder gefunden wird.

Der Junge steht mit dem Rücken zur Wand, fühlt sich durch das Phantom „Bruder“ verdrängt, verloren in der Familie sowie so. Und so lässt er nur widerwillig die Tests über sich ergehen, die helfen sollen zu bestimmen, ob das Kind 2307 tatsächlich Sohn der Eltern ist oder eben nicht. Und freut sich über jedes Ergebnis, welches die Eltern immer mehr von ihrem Ziel der Zusammenführung der Familie entfernt.

Hans-Ulrich Treichel hat hier einen wunderbaren Roman geschrieben, der das Lebensgefühl der Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland gut beschreibt, Erfolg im Wirtschaftswunder mit Trauer und Unsicherheit verschmischt als Folge des Zweiten Weltkrieges. Flucht und Vertreibung, das Auseinanderreißen von Familien und dem Wanken zwischen Hoffnung und Verlust.

Man fühlt regelrecht mit dem Jungen, freut sich, wenn er sich freut, bangt mit ihm, auch der Vater und später der örtliche Polizist Rudolph dienen als Identifikationsfiguren, die Mutter, die aus einer 0-Komma-Wahrscheinlichkeit für sich eine absolute Wahrscheinlichkeit macht, ist streckenweise einfach nur nervig und trotziger als der angehende Pubertierende, der die Situation reeller einschätzt.

Der flüssige Schreibstil macht dennoch die gesamte Geschichte sehr gut lesbar. Man kann sich das alles vorstellen und nachvollziehen, bekommt ein Gefühl für die Zeitepoche, welche sich besonders am Bild des Vaters orientiert.

Und im Nachhinein, ich habe den dazugehörigen Film „Der verlorene Bruder“ zuerst gesehen und bin dadurch erst auf das Buch gekommen, gehört es zu einem der wenigen Bücher, die sehr gut verfilmt wurden. Nicht zuletzt durch die grandiose Darstellung des Jungen durch den Kinder-Darsteller Noah Kraus.

Der weicht zwar etwas von der Selbst-Beschreibung der Romanfigur ab, macht den Protagonisten aber noch greifbarer. Für Buch und für Film eine ausdrückliche Empfehlung.

Autor:

Hans-Ulrich Treichel wurde 1952 in Versmold/Westfalen geboren und lebte dort bis 1986. Nach dem Abitur studierte er an der Freien Universität Berlin Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften und promovierte 1983.

Seit 1995 lehrt er am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Bekannt wurde Treichel durch seinen Roman „Der Verlorene“ in dem er eigene Kindheitserinnerungen verarbeitete. Hans-Ulrich Treichel ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

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