Erinnerung

Walter Chmielewski: Mein Leben als Sohn des Teufels von Gusen

Inhalt:

Walter Chmielewskis Vater ist Kommandant des KZ Gusen, einer Außenstelle des KZ Mauthausen, eingestuft als Vernichtungslager. Der Horror ist dem Jungen allgegenwärtig. In den letzten Kriegstagen gerät der jugendliche Walter selbst an die Front, wird gefangengenommen… Der Autor erzählt in seiner Autobiografie vom grausamen Vater ebenso wie von der mitfühlenden Mutter, dem Großvater, einen Widerständler, den Kriegsgräuel und der folgenden Zeit des Friedens und Aufbaus bis heute. Die Schuld seines Vaters sollte ihn allerdings ein Leben lang verfolgen. (Klappentext)

Rezension:

Niemand kann etwas für die Vergangenheit einzelner Familienmitglieder, doch ist gut daran getan, dass manches nicht in Vergessenheit gerät. So ist es wichtig, dass Zeitzeugen Ereignisse dokumentieren, um sie so für die Nachwelt zu erhalten. Doch wie bewertet man so etwas, zumal literarisch, da jene, die dies niedergeschrieben haben, nicht unbefangen waren und die heute Lesenden ebenso automatisch eine Position beziehen? Ja, vielleicht beziehen müssen.

Walter Chmielewski ist solch ein Zeitzeuge, der seine Geschichte und die seines Vaters für die Nachwelt festgehalten hat. Für einige Dokumentationen und Zeitungen stand er für Interviews zur Verfügung, seine Erinnerungen an Kindheit und Jugend sind festgehalten, in diesem Buch. Und jene, an seinen Vater. Dieser machte im NS-Apparat Karriere, stieg schnell auf und wurde schließlich Leiter des Konzentrationslagers Gusen. Brutal, unberechenbar und unerbittlich. Welche Differenz zu der Vaterfigur, die der Junge nicht recht einordnen konnte, mit dem die Mutter, die sich mit den Jahren in der Beziehung immer unwohler fühlte, bald brach.

Der Autor erinnert sich an noch mehr, erzählt von seiner Kindheit und Jugend, seinem Leben als Erwachsener, bis hinein ins hohe Alter. Und davon, wie die Vergangenheit ihn trotz Erfolg, Gesundheit und persönlichen Glücks ihn immer wieder einholt.

Dies ist der interessantere Teil dieses sehr kompakten Werks, welcher an einigen Stellen sehr holprig wirkt. fast scheint es, als müssen die liebevoller Mutter, die das Unheil der Katastrophe bereits mit der Machtergreifung der Nazis kommen sieht, sowie die Großvaterfigur als Rechtfertigung für das unverständliche Handeln des Vaters herhalten. Und natürlich war auch das Kind Walter Chmielewski selbst nicht überzeugt vom NS-Regime. Geht das? Wo doch so viele Kinder und Jugendliche diese Ideologie nahezu ungefragt übernahmen, nicht dass sie eine Wahl gehabt hätten. Zumal, wenn man wie der Autor selbst ein Jahr unter der Knute der NAPOLA-Schule gestanden hat.

Das scheint alles sehr dünn und hätte hier einer ausführlicheren Erläuterung bedürft. Tatsächlich wirkt der Text wie eine versuchte Aufarbeitung der Familiengeschichte, bei der man dann lieber doch in ruhigere Fahrwasser sich bewegen möchte. Möglichst schnell. Hier hätte ein gutes Lektorat oder eine entsprechende Beratung Wunder gewirkt, so fällt eine an sich wertvoll festgehaltene Erinnerung literarisch ins Waser.

Die von mir erwähnten „ruhigen Fahrwasser“ hätte sich der Autor jedoch vollkommen sparen können. Sie machen die zweite Hälfte des Werks aus. Hier beschäftigt sich Walter Chmielewski nicht mehr mit der Geschichte seines Vaters, seiner eigenen oder die seiner Familie, was zum Titel und durch den Klappentext suggerierten Inhalt passen würde. Tatsächlich ist zu empfehlen, das Buch danach zur Seite zu legen und den Rest ungelesen zu lassen.

Anfangs scheint es, als hätte der Schreibende versucht anhand von Parallelen in unserer heutigen Gesellschaft zu erläutern, warum er heute unsere Demokratie und Freiheiten gefährdet sieht. Schnell ist dabei jedoch daraus eine Abrechnung geworden. Mit Land, Wirtschaft, Gesellschaft, der heutigen Zeit. Alles ist Mist. Alles läuft schief.

Dass es eben nicht so ist und neben vielen Dingen, die natürlich Diskussionen und Änderungen bedürfen, auch ganz viel existiert, was gut läuft, was funktioniert und was sich eben in den Jahren seit Kriegsende gewandelt hat, sieht er nicht. Will er nicht sehen. Davon abgesehen wäre das Stoff für ein eigenes separates Werk und gehört so nicht in eine Autobiografie oder den Versuch ein zeithistorisches Gedächtnis für die Nachwelt zu erschaffen.

Zurück zur Eingangsfrage. Wie bewertet man so etwas? Wie bewerte ich so etwas? Das Leben des Autors möchte ich nicht einordnen. Ich hoffe, er konnte mit dem Niederschreiben den grausamen Teil seiner Familiengeschichte irgendwie verarbeiten, möchte ihn auch gerne seine Unbeeindrucktheit (Gibt es dafür ein Wort?) gegenüber einer Ideologie abnehmen, sowie dass dies der Vater in seiner Familie, mit diesem Hintergrund so hingenommen hat.

Ein großer Schreiber ist an Chmielewski nicht verloren gegangen. Es fehlen Details, Übergänge. Zu kompakt ist der Text. Dieses Abrutschen ins Polemische im zweiten Teil, praktisch zwei Werke ungetrennt zu schreiben, ist zudem kein glücklicher Zug. Zu viele Punkte sind dort auch rein faktisch unausgegoren. Das ist noch sehr weit entfernt, vom literarischen Schund eines gewissen ehemaligen Berliner Politikers, aber schon zu viel des Schlechten.

Einfach schade.

Autor:

Walter Chmielweski wurde 1929 geboren und war Sohn des späteren KZ-Kommandanten Karl Chmielewski. Nach dem Krieg arbeitete er in verschiedenen Unternehmen und wurde mehrfach als Zeitzeuge interviewt. Der Kontakt zum Vater brach noch während des Krieges ab. Dies sind seine Erinnerungen.

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Charlotte Schallie (Hrsg.): Aber ich lebe

Inhalt:

Emmie Abel überlebte als kleines Mädchen die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. David Schaffer entkam dem Genozid in Transnistrien, weil er sich nicht an die Regeln hielt. Die Brüder Nico und Rolf Kamp versteckten sich in den Niederlanden dreizehn Mal vor ihren Mördern. Zusammen mit den Überlebenden haben drei international bekannte Zeichner:innen deren Geschichten in Graphic Novels erzählt, die unvergesslich vor Augen führen, was der Holocaust für Kinder bedeutete – und nicht nur für sie. (Klappentext)

Rezension:

Immer weniger Zeitzeugen gibt es, die uns und vor allem den nachfolgenden Generationen erzählen können, wie es war, aufzuwachsen, inmitten des Holocausts, einem unvorstellbaren Terror ausgeliefert zu sein, in dem ein winziger Moment des Zögerns, eine falsche Entscheidung, ein unvorsichtiger Augenblick den Tod bedeuten konnte. Um so wichtiger ist es, deren Erinnerungen festzuhalten und sie so aufzubereiten, dass Interesse geweckt wird und die Geschichten der Erzählenden im Gedächtnis bleiben.

In einer Mischung aus Sachbuch und Graphic Novel versuchen dies mit „Aber ich lebe“ drei Illustratoren, die zusammen mit ihren Interview-Partnern deren Kindheit nachspüren und fangen mit unterschiedlichen Zeichenstilen sehr individuell deren und nicht zuletzt ihre eigenen Eindrücke ein, bevor am Ende der Streifzüge eine Nachbereitung in Textform eingefügt ist.

Zunächst Barbara Yelin, die die Geschichte von Emmie Arbel nachspürt. In düsteren und dunklen Farben erzählt sie die Geschichte des kleinen Mädchens, welches kaum alt genug ist, um zu begreifen und doch schon gelernt hat, zu überleben. Frohe Momente, sowie die heutige Zeit sind dagegen hell gehalten. Die Konturen verschwimmen, wenn Erinnerungen diffus werden, der Blick verliert sich in Details. Wie wirken Schrecken und Grauen der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter hinein?

But I live / Barbara Yelin über Emmie Arbel

Eine andere Facette beleuchtet Miriam Libicki. Sie erzählt die Geschichte von David Schaffer, der am anderen Ende Europas den Folgen des Holocausts entkam. Die Zeichnerin setzt auf klare Konturen, im Gegensatz zu Yelin, auch die Farben sind leuchtender, heller gehalten. Hier ist es der Hintergrund der an detailschärfe verliert, während die Figuren immer fassbar und bestimmt bleiben. Manche Zeichnungen wirken beinahe holzschnittartig, als würde man mit Puppen das Erlebte lebendig werden lassen. Im Gegensatz zur ersten Geschichte bindet sich Libicki nicht ein, um Kontrast und Wirkung zu schaffen.

Zuletzt, die Erinnerungen von Rolf und Nico Kamp, erzählt von Gilad Seliktar. Die Zeichnungen sind in bläulichen und gelblichen Tönen gehalten und wirken beinahe wie ältere Fotos. Auch dieser Stil weiß eine, nein eigentlich zwei, Geschichte eindrucksvoll in Szene zu setzen, wobei natürlich alle drei Geschichten auf ihre Art in Erinnerung bleiben werden.

„Aber ich lebe – Vier Kinder überleben den Holocaust“, nach den Erinnerungen von Emmie Arbel, David Schaffer, Nico Kamp und Rolf Kamp (Quelle: C. H. Beck)

Diese sind dann auch nicht zu werten. Erlebt ist erlebt, wobei die Konzentration auf einzelne Szenen liegt. Keine Geschichte ist mit der anderen zu vergleichen und doch haben sie alle etwas gemeinsam. Das Ziel der Mitwirkenden ist in jedem Fall erreicht, um so mehr noch als auch der Entstehungsprozess, das Zusammenfinden der Zeichnenden mit Machern und Zeitzeugen illustriert dargestellt wird und eine Nachbereitung in Textform die weitergehenden Biografien von David Schaffer, Nico und Rolf Kamp, sowie Emmie Arbel beleuchtet.

Hier ist das Kunststück gelungen, Geschichte für die Nachwelt modern aufzubereiten, nicht nur für Kinder und Jugendliche. Im Englischen gibt es wohl dazu auch begleitendes Unterrichtsmaterial. Mit der Konzentration der Illustrierenden auf einzelne Punkte der Erinnerungen der Zeitzeugen werden zudem bestimmte Aspekte herausgestellt, zudem ein schwieriges Thema niedrigschwellig und doch anspruchsvoll aufbereitet.

Diese Art, Geschichte zu erzählen, funktioniert wunderbar, wenn die Zeichnenden, wie hier, nicht den Menschen aus den Blick verlieren. So reiht sich „Aber ich lebe“ gut ein, zu den Büchern gegen das Vergessen. Wünschenswert wäre es, noch mehr Werke dieser Art zu schaffen.

Leseprobe des Verlags: hier klicken

Verantwortliche:

Charlotte Schallié ist Professorin an der University of Victoria in Kanada und unterrichtet sowohl Germanistik als auch Holocaust Studies. 1965 in Toronto, Kanada geboren, wuchs sie in der Schweiz auf und studierte zunächst Geschichte und Germanistik in Vancouver. Sie veröffentlichte mehrere Werke u. a. zur Schweizerischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg.

Barbara Yelin wurde 1977 in München geboren und ist eine deutsche Comic-Künstlerin. Sie studierte zunächst Illustration in Hamburg und zeichnete mehrere Comic-Geschichten, die in verschiedenen Zeitungen und Anthologien erschienen. 2012 erhielt sie eine Gastprofessor an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, 2013-2015 war sie Dozentin in Erlangen.

Miriam Libicki ist Autorin der Graphic Novel „Jobnik!“ über ihren Wehrdienst in Israel sowie zahlreicher Nonfiction Comics. Sie wurde 2017 mit dem Vine Award for Canadian Jewish Literature ausgezeichnet.

Gilad Seliktar illustriert Kinderbücher, zeichnet Comics und Illustrationen für verschiedene israelische Zeichnungen unnd wurde 2018 bei der Vergabe des Israel Museum Ben-Yitzhak Award ausgezeichnet. Er ist autor mehrerer Graphic Novels und lehrt in Jerusalem an der Bezalel Academy of Arts and Design.

Sie erzählen die Geschichten von Emmie ArbelRolf und Nico Kamp, sowie David Schaffer.

Für externe Inhalte wird keine Haftung übernommen, diese gehören den Erstellern.

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J. M. G. Le Clezio: Bretonisches Lied

Inhalt:

Der französische Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clezio erinnert sich in zwei autobiografischen Erzählungen an seine Kinder- und Jugendzeit. An die urlaube mit der Familie in der Bretagne der 1950er-Jahre und an seine frühe Kindheit im besetzten Süden Frankreichs. (Klappentext)

Rezension:

Der französische Schriftsteller nähert sich den Orten seiner Kindheit, vermeidet dabei in Erinnerungen zu stöbern. Ihnen misstraut er, vermischen sie sich doch allzu oft mit Erzählten und dadurch als wahr Empfundenen, ohne wahrhaftig zu sein.

So stellt er zwei Episoden seines Lebens einander gegenüber, die nicht nur geografisch entgegengesetzt zu einander liegen. Le Clezios „Bretonisches Lied“ ist dann auch keine Kindheitsbiografie. Den Lesenden liegt mit diesem Werk eine Art romanhafte Geschichtsstunde vor, deren Sog man sich kaum zu entziehen weiß.

In umgekehrter Reihenfolge beschreibt der Autor zunächst sehr sachlich den Wandel einer Region, ohne nostalgisch daherzukommen. Der Blick für das Vergangene ist geschärft durch das, was die Jahre über hinzukam oder verschwandt. Bilder ungezähmter Natur, archarisch wirkender Landwirtschaft und einer Gegend werden heraufbeschworen, die den Anschluss an die Moderne erst noch finden wird, mit all den Vor- und Nachteilen. Der beschriebene Landstrich spielte erst in Le Clezios späteren Kinderjahren eine Rolle. Die heraufbeschworenen Bilder sind absoluter, haben festere Konturen als die nachgestellten des Krieges.

Damit gemeint ist die zweite Erzählung, die biografisch gesehen, der zunächst ausgeführten vorangestellt hätte sein müssen. Diese Umkehr bricht das gewohnte Schema, wie auch der Ort nicht gegensätzlicher sein könnte. Vom Norden folgt der Lesende dem Erzählenden, der vermeidet, sich zu erinnern, an etwas, was er nur unbewusst erlebt haben kann.

Die Betonung liegt auf die Stimmung der Erwachsenen, die sich auf die Empfindungen der Kinder wiederspiegelt. Diese kennen nichts anderes als den Zustand des Jetzt, wissen nicht, wie es anders hätte sein können, ein Leben ohne Krieg. Gefühle lässt Le Clezio hier nicht an sich heran, wirkt auch nicht kalt, nur nüchtern. Die Auswirkungen des Krieges zeigten sich erst später. Der Gegensatz der zwei Erzählungen, die von einander getrennt sind, aber doch nicht losgelöst betrachtet werden können, wirkt hier um so stärker.

Wörtliche Rede findet sich in beiden Texten kaum. Die gleichen eher einer Zustandsbeschreibung, einem betrachtenden Monolog. Der Autor betrachtet sein früheres Ich oder eher das um das frühere Ich herum Geschehene. Aus Kindersicht passiert nicht viel, die Wucht der Ereignisse wird dem Erzählenden erst später bewusst.

Das Nüchterne wirkt poetisch, stark in der Übersetzung. Wie viel präsenter muss erst der Originaltext drängen? Die Kompaktheit tut ihr übriges. Kein Wort ist zu viel, zu wenig. Es ist ja auch nur ein überschaubarer Zeitraum, der beschrieben wird. Für das Kind, was später den Nobelpreis erlangen wird, gibt es an diesem Punkt nur das Hier und Jetzt.

Der Erzählende ist Dreh- und Angelpunkt der eigenen Geschichte. Andere Figuren spielen kaum eine Rolle, sind zu vernachlässigen und doch immer präsent. Immer wieder gibt es Sprünge zwischen den Hier und Jetzt. Der Wechsel stört nicht. Lesend steht man neben den Protagonisten, ist dieser selbst. Landschaften, Häuser, beschriebene Orte sind beinahe greifbar. Es ist so, als wäre man dort, zu dieser Zeit.

In diesen Texten können sich viele verlieren. Die Sprache ist karg, wie zuweilen die Region und die beschriebenen Jahre. Das muss man jedoch mögen. Wer gerne gewöhnliche Erinnerungen, Biografien liest, für den ist das nichts. Auf die Form muss man sich einlassen, sie auf sich wirken lassen.

Ein französischer Film ohne Handlung, jedoch mit Aussage und ganz viel Inhalt. Nur eben zwischen Buchdeckeln. Das funktioniert hier wunderbar. Die Melancholie wird kleingehalten. Aus anderen Regionen hat man über diese Zeit schon viel lesen können. Nach meinem Empfinden ist unser Nachbarland hier unterrepräsentiert. Es ist zu hoffen, dass es künftig noch mehr solche Erzählungen geben wird. Le Clezio hat hier ein interessantes Puzzleteil gesetzt.

Autor:

Jean-Marie Gustave Le Clezio wurde 1940 in Nizza geboren und ist ein französisch-mauritischer Schriftsteller. Er hat beide Staatsbürgerschaften und studierte nach der Schule zunächst in Bristol und London, während er gleichzeitig Französisch unterrichtete. In Nizza begann er ein Studium der Philosophie und Literatur, beendete dies 1964 und arbeitete im Rahmen seines Militärdienstes als Entwicklungshelfer. 1963 veröffentlichte er eine erste Erzählung, der weitere folgten. Im Jahr 2008 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

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Hendrik Bolz: Nullerjahre

Inhalt:

Ein Plattenbauviertel in Stralsund um die Jahrtausendwende, der nordöstlichste Winkel Deutschlands. Eine Welt, die, obwohl das Land längst nicht mehr „DDR“ heißt, wenig mit dem zu tun hat, was im Westen als Normalität durchgeht. Lediglich das RTL-Nachmittagsprogramm, das im Hintergrund zu hören ist, deutet darauf hin: Es sind die selben Nullerjahre.

Während die großen Brüder mit Glatze und Bomberjacke den Ton angeben, die Eltern mit eigenen Sorgen beschäftigt sind, stellen sich Hendrik und seine Freunde zwei Herausforderungen: Wie vertreiben sie sich die Zeit – und wie bekommen sie möglichst nicht auf die Fresse? Die Lösung findet sich: hart werden, stumpf werden. Die Mittel auch: Kraftsport, Drogen, Rap. (Klappentext)

Rezension:

Nach der großen Euphorie folgt zunächst die Ernüchterung. Arbeitsplätze brechen weg, wo blühende Landschaften versprochen wurden und so verlieren Hendriks Eltern und die seiner Freunde im Plattenbauviertel Knieper West den Anschluss an die Nachwendegesellschaft, während sich die Kinder und Jugendlichen ihren Platz erkämpfen. Der Weg bis ins Erwachsenenalter hinein ist steinig und voller Hindernisse. Da sind die im Viertel bekannten Schlägertypen noch das geringste Übel, immer öfter jedoch auch große Idole, denen es nachzueifern gilt, möchte man selbst nicht am unteren Ende der Rangordnung stehen. Oder am Boden liegen.

Hendrik Bolz‘ biografischer Roman nimmt uns mit durch seine Kindheit und Jugend im Plattenbauviertel, in welchem sich zunächst die Probleme häufen, aber auch die Heranwachsenden ihren Weg erst finden müssen, bevor das Leben in geregelten Bahnen verlaufen kann. Bis dahin wird viel ausprobiert und so befindet sich des Autoren alter Ego hin und hergerissen zwischen Verlockungen, den ältere Jugendliche ihm aufzeigen, bis zu Versuchen, sich durchzusetzen und zwischen Richtig und Falsch zu unterschieden.

Erzählt wird dies in derber Sprache, kurze prägnante Sätze wechseln mit wirren Gedankengängen, Rückblenden und Vorausschauen. Das ist nicht leicht zu lesen, zumal, wenn man vielleicht in der gleichen Zeit, aber in einem etwas anderen Rahmen aufgewachsen ist. Wer etwas behüteter seine Kindheit und Jugend verbracht hat, wird nur bestimmte Dinge nachvollziehen können, denen sich der Protagonist ausgesetzt sieht, teilweise von der einen oder anderen Episode wirklich abgestoßen sein.

Den ersten Alkoholrausch, die erste Prügelei mag man vielleicht noch nachempfinden. Die Gewaltexzesse, die Null-Bock-Mentalität und Perspektivlosigkeit sind dem jugendlichen Ich des Schreibers der Rezension (Mir!) dagegen unbekannt. Vielleicht hatte ich diese damals nur bei anderen aus den Augenwinkeln heraus registriert.

Doch, der Protagonist beweist nicht nur Anpassungs- sondern auch eine gewisse Wandlungsfähigkeit, mausert sich. Das ist bereits zu Beginn klar, anderenfalls wäre die Lektüre stellenweise kaum zu ertragen und man hätte nichts weniger als eine zeitlich nähere Variante der „Kinder vom Bahnhof Zoo“. Wer möchte schon so etwas nochmals lesen?

Im gleichen Genre ist es jedoch angesiedelt. Die Bestsellerliste sagt Sachbuch, Elemente sind jedoch auch aus den Bereichen Biografie oder Roman zu finden. Die Wahrheit liegt da wohl irgendwo in der Mitte, ebenso wie es mehrere Wege der Generation Nullerjahre gibt. Hendrik Bolz beschreibt nur (s)eine Variante von vielen.

Autor:

Hendrik Bolz wurde1988 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Rapper. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Stralsund und zog nach dem Abitur nach Berlin, wo er u. a. ein Praktikum bei einem Online-Portal absolvierte und nebenbei die Musik für sich entdeckte. Ein erstes Album erschien 2011, zwei Jahre später die erste EP. 2022 erschien sein erstes literarisches Werk.

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Sid Jacobson/Ernie Colon: Das Leben der Anne Frank – Eine Biografie

Inhalt:

Menschen in aller Welt kennen Anne Frank, die 1929 als Kind jüdischer Eltern in Deutschland geboren wurde und später mit ihrer Familie vor dem Terror der nationalsozialisten in die Niederlande emigrierte, wo sie sich schließlich über zwei Jahre in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckte. Dort schrieb sie ihr bewegendes Tagebuch. Heute ist Anne Frank ein Symbol für Millionen von Juden geworden, die der rassistischen Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.

In Zusammenarbeit mit dem Anne Frank Haus in Amsterdam verfassten Ernie Colon und Sid Jacobson diese umfassende Biografie. In Form einer Graphic Novel. Beginnend bei der Heirat der Eltern bis hin zu Annes tragischen Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

(geänderter Klappentext)

Rezension:

Ihre Aufzeichnungen sind ein Symbol dessen, welches Potenzial der Welt durch das menschenverachtende und todbringende Wirken der Nationalsozialisten in Deutschland und den von ihnen im Zweiten Weltkrieg besetzten Ländern, entrissen wurde. Welche Chancen hätten sich Anne und so vielen anderen Kindern und Jugendlichen ergeben, wären sie unter normalen Umständen aufgewachsen und nicht einer zerstörerischen Vernichtungsmaschinerie zum Opfer gefallen?

Anne Franks Tagebuch gibt uns Einblick in die Seele einer Jugendlichen, die versteckt vor den Häschern der Nazis, in einem Amsterdamer Hinterhaus ausharren musste, so viele Hoffnungen und Träume hegte, aber auch Ängste ausstehen musste, bis das Schicksal auf’s Grausamste zuschlug. Ihr Leben endete kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

So viel zur Geschichte. Diese ist bekannt, nicht zuletzt durch verschiedene Versionen ihres Tagebuchs, welches 1947 erstmals in den Niederlanden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Verfilmungen folgten, inzwischen auch sekundärlektüre, die sich mit den Helfern etwa beschäftigt, Anne Franks Freundschaften aus Kindertagen oder den Verrat, den die Untergetauchten zum Opfer fielen. Auch dieses Werk reiht sich da ein, eine Graphic Novel, die die Zeit des Verstecktwerdens verbildlicht.

Da stellt sich natürlich zunächst die Frage, darf man das? Reicht nicht das Tagebuch in seiner ursprünglichen Form? Muss immer noch ein Medium genutzt werden, wo doch der Text des Mädchens, mit dem Wissen um ihr Schicksal, schon hart genug zu lesen ist? Kann eine Verbildlichung die Gefühle, das Denken der Portraitierten überhaupt annähernd und ausreichend transportieren? Muss das sein? Wie sehr kann man komprimieren, herausstellen und verdeutlichen, was schon zu lesen kaum zu fassen ist?

Die Zeichner Ernie Colon und Sid Jacobson haben diese Fragen für sich beantwortet und in jahrelanger Kleinarbeit dieses sehr sensible Projekt umgesetzt. Unterstützt durch das Anne Frank Haus in Amsterdam haben sie verdichtet einzelne Episoden, die die Jugendliche anne Frank in ihrem Tagebuch beschrieb zu einem Gesamtwerk grafisch aufbereitet, welches geeignet ist, neben Text und Verfilmungen zu wirken, nicht minder beeindruckend.

Die Farbgebung ist blass, doch wirkt sie gerade zu Beginn fröhlich, um dann kontrastreich in dunklere Töne zu wechseln. Schließlich war auch das Versteck von Annes Familie und ihren Freunden dunkel und beengt. Die Autoren haben dabei ihr Hauptaugenmerk zunächst allgemein auf das Familienleben, gelegt, danach nur noch aus der Perspektive von anne selbst erzählt, ihre inneren Konflikte, kleine Freuden und Hoffnungsschimmer jedoch ebenso dargestellt. Die Linienführung erinnert an alte Fotografien.

Wer das Tagebuch gelesen hat oder wem der Stoff in reiner Textform zu schwer erscheint, für den ist die Graphic Novel durchaus eine Variante, sich Zugang zur Thematik zu verschaffen. Die gefühle, die beim Lesen aufkommen, werden auch hier hervorgerufen, vielleicht sogar noch mehr, da natürlich einzelne Episoden, die Anne so ausführlich beschrieben hat, verdichtet werden mussten. Als Ergänzung zum tagebuch hat diese Graphic Novel somit in jedem Fall ihre Berechtigung und lohnt einer näheren Betrachtung.

Autoren:

Sid Jacobson wurde 1929 geboren und ist ein US-amerikanischer Comic-Zeichner. Zunächst war er Chefredakteur bei Harvey Comics und schuf verschiedene Figuren, u. a. Richie Rich oder Casper, danach arbeitete er für marvel Comics, ebenfalls als Chefredakteur. 2010 erschien seine grafische Biografie zu Anne Frank, zuvor über den Terroranschlag 9/11 und Amerikas Krieg gegen den Terror.

Ernie Colon wurde 1931 geboren und ist ein US-amerikanischer Zeichner, arbeitete ebenfalls zunächst für Harvey Comics, anschließend für DC Comuics und Marvel.

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Andreas Moster: Kleine Paläste

Inhalt:

Mehr als dreißig Jahre haben sich die früheren Nachbarskinder Hanno Holtz und Susanne Dreyer nicht gesehen. Als jugendlicher verließ Hanno die heimatliche Kleinstadt urplötzlich, nun ist er zurückgekehrt, um sich nach dem Tod der Mutter um den Vater zu kümmern. Unsicher streift er durch eine Welt, die im näher und fremder nicht sein könnte. Susanne sieht ihm dabei zu.

Seit Jahrzehnten hat sie das Haus der Familie Holtz nicht aus den Augen gelassen. Als sie Hanno ihre hilfe anbietet, treffen Erinnerungen an ein Fest im Sommer 1986 aufeinander. Niemand blieb damals unversehrt – und niemand kann nun verhindern, dass immer mehr Licht durch die Risse der kleinen Paläste dringt. (Klappentext)

Rezension:

Das Haus herausgeputzt, den Sohn vor versammelter Nachbarschaft dazu angetrieben, sein Instrumentenspiel vorzuführen. Schiefe Töne, schiefe Blicke. Des Nachbarsmädchens und der Nachbarn, jene Gemeinschaft, die sich allesamt näher sind als sie glauben und doch wie Geier einander umkreisen. Nur keine Schwäche zeigen. Nur die Fassade wahren. Keinen Blick dahinter zulassen.

Der Übersetzer und Schriftsteller Andreas Moster hat sie geschrieben, diese Erzählung, die nach und nach unter die Haut geht, niemanden unberührt lässt. Es ist ein leiser Roman, zumindest zu Beginn beinahe unscheinbar. Langsam ist das Erzähltempo, doch schon die ersten Kapitel fordern die Lesenden heraus.

Perspektiven wechseln ebenso abrupt, wie Zeitebenen, ohne dass dies besonders gekennzeichnet wäre. Nur in der Draufsicht bemerkt man, wer wen beobachtet. Erinnerungen werden aus der Sicht der Protagonisten, alles kreist um die beiden Hauptfiguren, die nach und nach das Puzzle der Vergangenheit freisetzen, klarer.

Dieser Gesellschaftsroman zeigt die typische Dynamik einer Kleinstadt auf, in der alle einander zu kennen glauben und doch, einmal aufgedeckt, nichts mehr ist, wie es mal war. Die Fallhöhe der Protagonisten, in die der Autor mit immer schnelleren wechseln, die jedoch allesamt nachvollziehbar bleiben, ist unglaublich hoch.

Die Lesenden beobachten, was über Jahrzehnte zwischen den beiden Hauptfiguren unausgesprochen bleibt. Als würde man direkt in deren Umgebung sein und einem Konflikt beiwohnen, der nur sie etwas angeht. Hölzern, fast linkisch, scheu begegnen sie sich zunächst und spielen sich ein. Ein Team wider Willen und doch willens. Mit inneren ungelöst aufgestauten Konflikten.

Sprachlich ist das so unscheinbar ausgearbeitet, dass einzelne Sätze einem mit einer Wucht überfallen, die man nicht erwartet, die einem nachdenklich werden lassen. Was wäre, wenn Unaussprechliches in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geschehen würde?

Was würde passieren? Wie würden Verhältnisse sich neu ordnen? Welche Bindungen wären nicht mehr zu kitten? Was wäre für immer zerstört? Wie hätte man eingreifen, bestimmte Dinge verhindern können? Große Fragen, die Protagonisten beginnen zu Beginn der Geschichte die Verarbeitung.

Jeder Handgriff am pflegebedürftigen Vater Hannos, jeder Handgriff am renovierungsbedürftigen Elternhaus steht symbolisch dafür. Der leise Schrei, der hätte laut sein sollen, aber nie die Chance dazu hatte, so zu werden. Andreas Moster ist das Kunststück gelungen, dies auf Papier zu bringen.

Autor:

Andreas Moster wurde 1975 in der Pfalz geboren und ist ein deutscher Übersetzer und Schriftsteller. Zunächst studierte er Englische Philologie, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitete danach als freier Übersetzer. 2017 erschien sein erster Roman „Wir leben hier, seit wir geboren sind“. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.

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Janina Hecht: In diesen Sommern

Inhalt:

Behutsam tastet sich Teresa an ihre Kindheit und Jugend heran, ihr Blick in die Vergangenheit ist vorsichtig geworden. erste unsichere Versuche auf dem Fahrrad an der Seite des Vaters, lange Urlaubstage im Pool mit dem Bruder, Blumenkästen bepflanzen mit der Mutter in der heißen sommersonne.

Doch die unbeschwerten Momente werden immer wieder eingetrübt von Augenblicken der Zerrüttung, von Gefühlen der Hilflosigkeit und Angst. Da schwelt etwas Unausgesprochenes in dieser Familie – alle scheinen machtlos den Launen des Vaters ausgeliefert zu sein, Situationen beginnen gefährlich zu entgleisen. (Inhaltsangabe des Verlags)

Rezension:

Warum sich Erinnerungen vermischen, gute die weniger schönen manchmal überdecken, doch schlechte nicht ganz vergessen werden können, kann sich Teresa nicht erklären. Spielt dies überhaupt eine Rolle, wenn man den Ausgang einer Geschichte kennt? Wie wichtig ist es, nicht nur die gegenteiligen Seiten zu betrachten, sondern auch die Zwischentöne? Janina Hecht beschreibt in ihrem Debüt die Geschichte einer Familie, der sich diese Fragen stellen.

„Manchmal würde ich gerne einer Version meines Vaters vertrauen. Eine Antwort haben auf die Frage, wer er war. Ich lege die Ereignisse wie Schichten aus Transparentpapier und versuche zu erkennen, was durchscheint.

Janina Hecht: In diesen Sommern

Das Zitat beschreibt übrigens sehr gut den Aufbau des Romans.

Die ersten Gedanken an die Kindheit werden beherrscht von schönen Gedanken. Das gemeinsame Bepflanzen von Blumenkästen mit der Mutter, der Vater, der der Tochter das Fahrradfahren lehrt. Das Kind saugt dies alles auf und beobachtet ihre Umgebung, die Eltern und den zwei Jahr jüngeren Bruder. Doch schon zu Beginn mischen sich ernstere Momente unter, die das Schulkind zunächst nicht einordnen kann, doch mit den Jahren werden die Ausfälle des Vaters häufiger. Die Angst verhindert da noch das Auseinanderbrechen.

„Ich merke, wie ich manchmal Momente gegeneinander abwäge. Und mich frage, ob man das überhaupt tun darf. Ob man Szenen ausstreichen kann, die nicht ins Bild passen und für Unruhe sorgen.“

Janina Hecht: In diesen Sommern

Aus Sicht von Teresa wird sehr leise eine Geschichte erzählt, die unscheinbar daherkommt und zunächst nur Andeutungen macht, die ähnlich den beschriebenen Ereignissen immer mehr an Konturen gewinnt, je näher diese der erzählenden jungen Erwachsenen liegen. Nur langsam schält sich das Problem des Vaters heraus und rückt in den Vordergrund. Ein jeder der Anderen muss damit umgehen und tut dies auf eigene Weise. Schnell wird klar, so wie es nicht für alles eine Erklärung gibt, ist die Lösung niemals einfach.

Kompakt erzählt Janina Hecht eine Geschichte, wie sie in ähnlicher Form wohl in vielen Familien vorkommt. Dicht folgen die Kapitel aufeinander. Zwischentöne werden nach und nach durch klare Schilderungen ersetzt. Wer das dann liest, sollte das passende Nervenkostüm besitzen. Es ist ein Roman, bei dem ernsthaft über den Sinn einer Spoilerwarnung diskutiert werden kann.

Der Textauszug, den der Verlag in der Erstauflage statt des Klappentextes druckt, dürfte dies verdeutlichen, gibt jedoch auch einen guten Eindruck vom Erzählstil wieder, der nicht viele Worte benötigt, Geschehen unausgesprochen lassen kann. Trotzdem entstehen sofort Bilder, die nicht so schnell loslassen.

„Mein Vater, wie er ganz ruhig den Tag beginnt, nicht ausgeglichen, aber stabil. Nie schrie er am Beginn des Tages, er ging mit vorsichtigen Schritten, manchmal etwas Weiches in seinem Gesicht. Als hätte sich erst danach etwas verändert, als führten erst der Mittag und der Nachmittag in eine andere Richtung, und an jedem Morgen hätte es die Möglichkeit zu einem anderen Verlauf der Geschichte gegeben, die ich schreibe.“

Janina Hecht: In diesen Sommern

Autorin:

Janina Hecht wurde 1983 geboren und ist eine deutsche Lektorin und Schriftstellerin. Sie studierte zunächst Psychologie, später Neuere deutsche Literatur und Linguistik, arbeitete in verschiedenen Positionen bei Verlagen. Im Goethe-Institut in Tunis absolvierte sie ein Praktikum. „In diesen Sommern“ ist ihr Debütroman.

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Michael Wolffsohn: Wir waren Glückskinder – trotz allem

Inhalt:

Thea Saalheimer ist siebzehn, als sie mit ihrer Familie vor dem Naziterror nach Tel Aviv flieht. Dort verliebt sie sich in Max Wolffsohn und baut mit ihm ein neues Leben auf. Fünfzehn Jahre später kehren die beiden mit ihrem Sohn Michael ins Nachkriegsdeutschland zurück. Wie erlebten Thea und ihre Familie den Nationalsozialismus und die Emigration in ein Land, das ihnen in jeder Hinsicht fremd war? Wie kam es, dass sie ins Land der Täter zurückzogen? (Klappentext)

Rezension:

Als im Jahr 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen, realisierte kaum jemand die von ihnen ausgehenden Gefahren. Geheimnisse daraus indes, hatten sie gemacht. Von Anfang an waren deren Ziele klar. Von Beginn an, wirkten sie darauf hin. Warum jedoch, realisierten allzu viele die Zeichen erst, als es längst zu spät war?

Warum erkannten nur wenige die Zeichen der Zeit und schafften es, rechtzeitig zu fliehen? Der Autor Michael Wolffsohn versucht eine Erklärung zu finden und nimmt dabei die Geschichte seiner Familie auf.

Wem das bekannt vorkommt, der hat Recht. Schon einmal hat sich der Historiker damit beschäftigt. In „Deutschjüdische Glückskinder – Eine Weltgeschichte meiner Familie“ hat er diese bereits vor einigen Jahren aufgearbeitet. Ausführlicher und detaillierter, jedoch gefühlt neutraler. Diese Variante hier ist kompakter, liest sich schneller und von der Tonalität gleicht es einem Buch für ältere Kinder oder einem für jüngere Jugendliche, um diese an diese Thematik heranzuführen und mit entsprechenden Fragestellungen zu konfrontieren, ist auch so entsprechend angedacht.

Der Autor gleichsam Erzähler und Beobachter führt die Lesenden entlang der wechselhaften Geschichte seiner Familie. Wie erlebten seine Großeltern den Umbruch, der alles veränderte, die beginnende und immer deutlich zu Tage tretende Ausgrenzung? Wie schwer fiel es der Familie den Entschluss zu fassen, alles Bekannte zurückzulassen, trotz der Gefahren, die immer sichtbarer wurden?

Weshalb entschlossen sich die Wolffsohns zu den, nur wenige Jahre nach dem Krieg, für viele Juden unbegreiflichen Schritt, wieder nach Deutschland zurückzukehren? Fragen, die sich wie die Perlen einer Kette aneinanderreihen und komplexer Antworten bedürfen. Fragen, mit denen der Schreibende die jungen Lesenden dazu bringen möchte, selbst Fragen zu stellen, die Dilemma zu erkennen, vor denen seine Familie stand, auf dass der heute wieder deutlich werdende Hass keine Chance bekommt, ein neues 1933 zu weden.

Das Werk selbst, kann als Einführung in die Geschichte genutzt werden, ist so aufbereitet auch durchaus als Unterrichtslektüre denkbar. Für ältere Leser empfiehlt sich die komplexere Variante für Erwachsene. Für sie könnte alleine der Erzählstil etwas angestrengt wirken, zumal das Jugendbuch nicht ganz so detailreich wird. In der entsprechenden Altersgruppe gelesen, ist es dennoch gut vorstellbar.

Autor:

Michael Wolffsohn wurde 1947 geboren und ist ein deutscher Historiker und Publizist. In Tel Aviv geboren, kehrte er mit seiner Familie 1954 nach Deutschland zurück, aus dem diese einst im Zuge des Holocausts fliehen musste. Nach der Schule studierte er Politikwissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte in Berlin, Tel Aviv und den USA, nahm später Stellen an verschiedenen Universitäten an. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet Internationaler Beziehungen, der deutschen und jüdischen Geschichte, sowie der historischen Demoskopie. In der Bundeswehruniversität Münschen begründete er 1991 die Forschungsstelle Deutsch-Jüdische Zeitgeschichte. Er wurde mehrfach ausgezeichnet. Wolffsohn ist Ehrenmitglied im Verein Deutsche Sprache.

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Antoine Leiris: Danach, das Leben

Danach, das Leben Book Cover
Danach, das Leben Antoine Leiris S. Fischer Erschienen am: 07.10.2020 Seiten: 192 ISBN: 978-3-10-397044-9 Übersetzerin: Doris Heinemann

Inhalt:

Fünf Jahre nach dem Tod seiner Frau im Pariser Bataclan erzählt Antoine Leiris, wie er ins Leben zurückfand. Für seinen Sohn und gemeinsam mit ihm.

Eines Morgens, ein Jahr danach: Antoine packt die Schätze, die ihm von Helene geblieben sind, in schwarze Säcke. Zusammen mit dem kleinen Melvil trägt er sie nach unten, um sie den Müllmännern zu übergeben. Keine Tränen – Melvil ist stolz, seinem Vater zu helfen. Für Antoine ein Akt der Befreiung, des Loslassens, ein Schritt zurück ins Leben.

Einer von vielen. So zieht sich der Schmerz Stück für Stück zurück, mit jedem Jahr, das vergeht. Doch obwohl die Trauer verblasst, wird Helene ihn nie verlassen. Sie bleibt wie ein guter Geist, die Erinnerung an eine einzigartige Liebe. Er aber ist ein anderer geworden. Ein liebender Vater, der wieder gelernt hat, unbeschwert mit seinem Sohn zu lachen. Gemeinsam sind sie stark, besiegen die Dunkelheit. Ein wahrhaftiges Buch über Trauer, die Liebe und das Leben. (Klappentext)

Rezension:

Plötzlich schien Frankreich für einem Moment still zu stehen. Unzählige Terroranschläge hatte es bereits in Europa gegeben. Am 13. November 2015 wurde die quirlige Stadt an der Seine mitten ins Herz getroffen. Terroristen töteten im Bataclan-Theater 89 Menschen. Unzählige weitere mussten in den umliegenden Cafes udn Restaurants sterben. Mit einem Mal wurden Menschen aus dem Leben gerissen, Familien zerstört. Auch Antoine Leiris‘ Glück endete schlagartig, als seine Frau dabei ums Leben kam.

Der Journalist und junge Familienvater tut das, was er am besten kann, schreibt sich seine Trauer von der Seele. Entstanden ist der Text „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, später daraus ein Theaterstück. Doch, kann es danach weitergehen? Zuerst nur unmerklich, dann mit immer größeren Schritten findet Leiris ins Leben zurück und beginnt vom Neuen. Für sich. Für seinen kleinen Sohn.

Zu Beginn liest er sich schleppend, der Text, der als Prosa daherkommt und dennoch als Sachbuch vermarktet wird. Literarisches Sachbuch ist das eher, diese Trauerarbeit in Schriftform. Man merkt den Text die anfängliche Schwere an, wenn sich Tage ziehen und sich jede noch so kleine Tätigkeit schwer anfüllt. Immer wieder schweifen die Gedanken des Autors zurück, an das was war.

Durchbrochen nur von den Launen, dem Lachen, dem Weinen seines kleinen Sohnes. Verbindungsglied zu einem vergangenen Leben, gleichsam Dreh- und Angelpunkt des Textes. Um Melvil dreht sich alles, muss sich drehen. Für den kleinen Sohn muss es weitergehen, darf der Vater nicht aufgeben und muss sich wieder ins Leben zurückfinden.

Hart zu lesen. Starker Tobak ist das, Zeile für Zeile. Doch, die harte Schale wird aufgebrochen. Immer sensibler werden die beschriebenen Momente. Der Blick des Trauernden, die Perspektive des Autoren beginnt die Vergangenheit zu nehmen und auf das Zukünftige zu fixieren. Förmlich spürt man es beim Lesen, wie das Schreiben leichter von der Hand ging, mit zunehmender Seitenzahl.

Es gibt nur diese eine Perspektive, andere umgebende Menschen werden beobachtet. Deren Leben dreht sich ja auch weiter. Der Sohn noch zu klein, um zu ahnen, dass auch ihn das alles betrifft. Bleibt nur die Frage, warum jemand anderes das lesen soll, lesen möchte? Einen solch persönlichen Text, der alles frei legt. Beinahe zu viel des Gutem?

Lesbar für all jene, die selbst etwas zu verarbeiten haben oder hatten, die versuchen, einen unbegreiflichen Schicksalsschlag irgendwie zu fassen, sich für sich selbst oder für andere wieder aufrappeln wollen, müssen. Dann funktioniert dieses kleine Werk, in dem viel Großes Steckt wunderbar. Alle anderen Lesenden ist „Danach, das Leben“ nur mit Vorsicht zu empfehlen.

Wer möchte sich schon freiwillig von melancholischer Schwere, zumindest zu Beginn, erdrücken lassen?

Autor:

Antoine Leiris wurde 1981 geboren und ist ein französischer Journalist. Zunächst arbeitete er für den Radiosender France Info, bevor er 2014 kündigte, um einen Roman zu schreiben.

Stattdessen veröffentlichte ernach dem Tod seiner Frau, die bei dem Anschlag auf den Pariser Bataclan ums Leben kam, seinen Text „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, der zu einem Theaterstück verarbeitet wurde. Seit 2018 arbeitet er als Redenschreiber für die Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Mit seinem Sohn lebt Leiris in Paris.

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Bo Svernström: Carl Edson 2 – Spiele

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Spiele Carl Edson – 2 Rezensionsexemplar/Thriller Rowohlt Taschenbuch Seiten: 608
ISBN: 978-3-499-27630-9
Übersetzerin: Ulla Ackermann

Inhalt:

Robert Lindström hütet ein Geheimnis: In einem Wutanfall tötete er seinen besten Freund. Aber war es wirklich so? Als Elfjähriger des Mordes beschuldigt, wurde er aufgrund seines Alters nie verurteilt. Als Erwachsener lebt er zurückgezogen. Bis ihn Lexa kontaktiert. Sie ist Journalistin und schreibt ein Buch über den Fall.

Ihre Theorie: Robert ist unschuldig. Zur gleichen Zeit wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Im gleichen Stockholmer Vorort, in dem Robert aufwuchs. Und in dem er mit Lexa den Ereignissen von damals nachgeht. Zufall? Hauptkommissar Carl Edson von der Reichsmordkommission leitet die Ermittlungen, und seltsame Zwischenfälle führen ihn immer näher an die Wahrheit über Robert. (Klappentext)

Bücher der Reihe

Bo Svernström: Carl Edson 1 – Opfer

Bo Svernström: Carl Edson 2 – Spiele

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Rezension:

Skandinavische Krimis versinken entweder in ihrem melancholisch anmutenden Mehltau oder funktionieren. Grautöne gibt es dazwischen nur selten. Dem Schweden Bo Svernströms ist mit seinem Nachfolge-Band um Kriminalhauptkommissar Carl Edson jedoch ein solches Werk gelungen. Vielschichtig und zunächst in Teilen etwas zu komplex ist die Geschichte gezeichnet, die den Fokus auf den zweiten Hauptprotagonisten anfangs legt, dessen eigene Vergangenheit zum Dreh- und Angelpunkt wird.

Nur, Robert Lindström kann sich schlechterdings an diese fast nicht erinnern, doch eine aufgefundene Kinderleiche wird für ihm und die Journalistin Lexa zum Anlass, diese noch einmal nachzuspüren. Nicht wissend, welche Geister der Vergangenheit sie wachrufen.

Vielschichtig sind die Protagonisten der ermittelnden Seite gezeichnet, die sich hier aufgliedert in die üblichen Kommissare, die jedoch auch unterschiedliche Parts in den Rollenverhältnissen besetzen, sowie Robert und Lexa, die irgendwo zwischen diesen und der anderen, zunächst nicht näher definierten Seite stehen.

Verkompliziert wird dies durch per Kapitel abgegrenzte Zeitsprünge und Erzählperspektivwechsel, in die man sich Lesende/r erst einmal hineinfinden muss. Das ist gewöhnungsbedürftig, lässt diverse Längen entstehen und funktioniert erst mit zunehmender Seitenzahl.

Der Band lässt sich als Einzelband lesen. Lücken bemerkt man nicht, so sie vorhanden sind, wenn man den Vorgänger „Opfer“ nicht kennt. Positiv hervorzuheben ist , dass Bo Svernström ohne phantastisch anmutende Wendungen auskommt und trotzdem den Fall so auflösen lässt, wie man es kaum auf der Rechnung hat.

Selbst geübte Krimileser dürften damit über die Runden kommen, einmal nicht mit Schema F konfrontiert zu werden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden ebenso glaubwürdig dargestellt, wie die Motive der Protagonisten, wenn auch der Autor bewusst Lücken lässt. Das Kopfkino darf mitspielen. Blutig wird das ganze nur im Auge des Betrachters, fast nicht in den Textzeilen selbst.

Der Fokus liegt hier auf der Psyche und in den gesellschaftlichen Verhältnissen, einmal jedoch nicht skandinavische Ermittler als seelische Fracks serviert zu bekommen, ist eine Wohltat. Trotz der Längen, die dennoch vorhanden sind, ein gut zu lesender Krimi, mit Tendenz zum Positiven. Man darf also gespannt sein, ob und wie sich diese Reihe in der Feder des Autoren noch entwickelt.

Autor:

Bo Svernström, Jahrgang 1964, promovierte in schwedischer Literatur und arbeitete jahrelang als Journalist für Aftonbladet, eine der größten schwedischen Zeitungen. «Opfer» ist sein Debütroman, der in elf Ländern bisher erscheint. Der Autor lebt mit seiner Familie in Stockholm.

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