Deutschland

Yande Seck: Weiße Wolken

Inhalt:

Zwei Schwestern: Die eine arbeitet sich an sämtlichem Unrecht unserer Gegenwart ab, die andere am bürgerlichen Familienideal. Für die eine ist ihr Schwarzsein eine politische Kategorie, für die andere ihr Muttersein.

Dieo lebt mit ihrem Mann Simon und drei Söhnen in einem schönen Altbau im Frankfurter Nordend. Mit ihrem Therapeuten bespricht sie die Eskapaden ihrer exzentrischen Mutter und die ungerechte Verteilung von Mental Load in ihrer Beziehung. Derweil verzweifelt ihre jüngere Schwester zazie zunehmend an der rassistischen und sexistischen Gesellschaft. Ihre Wut trifft auch ihren Schwager Simon, der als mittelalter weißer Mann in der Techbranche für alles steht, was sie verachtet.

Als der Vater der Schwestern, ein eigensinniger Nietzsche-Fan, der vor über vierzig Jahren aus dem Senegal nach Deutschland kam, unerwartet stirbt, gerät das fragile Familiengefüge aus dem Gleichgewicht. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Im Spannungsfeld zahlreicher Themenbereiche bewegt sich der von der Autorin Yande Seck vorgelegte Debütroman „Weiße Wolken“, der beachtenswert versucht, verschiedenste Handlungsstränge miteinander zu verbinden. Doch, ist dies gelungen, zumal in einer solch kompakt gehaltenen Form?

Der Schreibstil ist zumindest schon mal eingängig und auch die Tonalität vor allem an den beiden, in der Erzählung, Raum einnehmenden Hauptfiguren eingepasst, die in ihrer ihnen eigenen Dynamik die Handlung vorantreiben und zugleich als Gegenparts zueinander dienen, die doch mehr miteinander verbindet.

In wechselnder Perspektive begleiten wir die Hauptprotagonisten, die sich in verschiedener Form an den Vorstellungen und Gedankengrenzen, zum einen der Gesellschaft, aber auch persönlicher Determinanten stoßen und dabei mehr und mehr unter Druck stehen.

Das beginnt bei der eigenen Familie, zieht sich weiter in verschiedener Ausprägung im beruflichen als auch öffentlichen Kontext, wobei auch das Geschwisterpaar selbst sehr verschieden zueinander ist. Die Nebenfiguren, von denen im Verlauf der Erzählung immer mehr auf das Tableau gebracht werden, bringen dabei eine ganz eigene Dynamik mit, die wiederum den Hauptfiguren ihre Ecken und Kanten geben.

Die Autorin scheut dabei nicht, mehrere Handlungsstränge und vielerlei gesellschaftliche Fragen im Spiegel ihrer Figuren zur Diskussion zu stellen, zudem in einer zugänglichen Tonalität, die dazu führt, dass man vielleicht nicht gleichwertig Sympathin für die Protagonistinnen entwickelt, jedoch ein gewisses Verständnis für Denken und Handeln, ohne dass dies auf Kosten des Leseflusses gehen würde.

Jedoch werden die einzelnen Stränge über die gesamte Strecke der Erzählungen nicht konsequent durchgehalten oder gar am Ende zusammengeführt. Bei Letzterem stellt sich das Gefühl ein, hierfür fehlte die Zeit, Dinge auszuformulieren. Vielleicht hätten es jedoch vorher auch ein paar hundert Seiten mehr sein können, um die Geschichte in all ihren Facetten abzurunden. Trotzdem natürlich sind die einzelnen Figuren greifbar und kann man sich die Schauplätze vorstellen, neben der Sprache eine der großen Stärken Yande Secks.

Die Schwächen der Erzählung sind dennoch sichtbar und kaum zu ignorieren. Ein paar Ausführungen mehr, auch die Ausgestaltung der einen oder anderen Nebenfigur hätte der Geschichte gut getan. Positiv daran, eine solche bietet sich an, fortgesetzt zu werden. Hier wäre ein Weiterschreiben wünschenswert, um genau dies auszugleichen. Wenn nicht, so darf man gespannt sein, wie sich das Schreiben der Autorin mit potenziell weiteren Roman entwickelt.

Der Roman ist eine Großstadterzählung, zugleich Familiengeschichte, die in der einen oder anderen Form mit all ihren Fragen zwischen den Figuren, durchaus vielen bekannt sein dürfte, zudem sehr viel Diskussionspotenzial bietet.

Yande Seck leistet damit gerade heute einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte und lässt überdies keinen Zweifel, welche Gedanken auch sie beschäftigen. In sofern darf man auf weitere Veröffentlichungen gespannt sein. Und vielleicht gelingt es dann, einerseits die Waage zwischen den Themen zu halten und auch Handlungsstränge nicht aus den Blick zu verlieren. Zu wünschen wäre es.

Autorin:

Yande Seck wurde 1986 in Heidelberg geboren und ist eine deutsche Schriftstellerin, Erziehungswissenschaftlerin und Kinderpsychotherapeutin. In Frankfurt promovierte sie zu Mutterschaft, Migration und Psychoanalyse und schoss dem 2015 eine Ausbildung zur Psychotherapeutin an, die sie 2019 abschloss. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in Offenbach. Seit 2019 ist sie zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonderpädagogik der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt tätig. Ihr erster Roman erschien 2024.

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Asmo Tear/Pjotr X: Tränenhaus

Inhalt:

Für den zwölfjährigen Dominik ist das Leben die Hölle. In der Schule wird er brutal gemobbt und seine Eltern benutzen ihn, um ihre Drogensucht zu finanzieren. Nur sein neuer Freund Piet hält zu ihm und gibt ihm neuen Lebensmut. Schließlich geraten die Dinge immer mehr außer Kontrolle und der Junge landet in einem Heim, wo er vom regen in die Traufe kommt.

Doch Dominik sinnt auf Rache und erhält eines Tages durch ein Geschenk, das nicht aus der realen Welt stammen kann, die Möglichkeit zurückzuschlagen. Menschen in Dominiks Umfeld sterben… (Klappentext)

Rezension:

Die im expliziten Horror mit übernatürlichen Elementen versehene vorliegende Erzählung ist nichts für schwache Nerven. Hart an der Grenze zum Trash sind es hier immer wieder explizite Beschreibungen, die ein Kopfkino in Gang setzen und somit „Tränenhaus“ nicht nur zu einer schweren, gar zu einer beinahe qualvollen Lektüre machen.

Dabei bewegen sich die Autoren, die hier unter Pseudonym veröffentlicht haben, zunächst in einer Genre-Mischung aus Krimi und Thriller, wenn sie uns Lesende die Hauptfigur kennenlernen lassen, die Erschreckendes zu erleiden hat. Die Eltern, mehr als kaputt, benutzen den zwölfjährigen Dominik zur Finanzierung ihrer Drogensucht, auch in der Schule findet der Junge keine Ruhe. Rasant ist das Erzähltempo von Beginn, sowie die Stimmung ernüchternd ist.

Man leidet sofort mit der Hauptfigur, die man eigentlich nur aus dieser doch recht kompakt gehaltenen Erzählung herausziehen und in Sicherheit wiegen möchte. Dabei wird der Gutteil an Unmenschlichen nur durch das Kopfkino im Inneren bestimmt, was aber vollkommen ausreichen kann, um körperliche Reaktionen in Gang zu setzen. Mehr als einmal muss man die innerhalb eines Zeitraums von wenigen Monaten spielende Geschichte beiseite legen, um sie durchzustehen.

Zumindest, wenn man selbst menschliche Seiten hat. Davor warnen auch indirekt die Content-Warnung zu Beginn und das dem Roman angefügte Nachwort, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es nicht besser gewesen wäre, es als Vorwort abzudrucken.

Die in der deutschen Hansestadt Hamburg spielende Geschichte bringt wichtige Themen aufs Tableau und besticht durch ihre zwei Hauptprotagonisten, die man nur sympathisch finden kann. Ohne die, die ebenso wie alle anderen Figuren ihre Ecken und Kanten haben, würde man die Erzählung sonst nicht durchstehen, allem voran Dominik, der Unmenschliches erleiden muss, sich aber dank seines Freundes, auch in später seelischer Verbundenheit, lernt gegen seine Widerparts zur Wehr zu setzen.

Diese sind die verschiedenen Facetten des absolut menschlichen Bösen. Die Autoren bedienen hier ein klassisches Schwarz-Weiß-Schema, was aufgrund der Härte der Beschreibungen noch mal um so mehr seine Wirkung entfacht.

Beinahe allein aus Dominiks Perspektive erleben wir die Handlung. Zeitsprünge wie Rückblenden vervollständigen Hintergründe, auch teilweise sehr detaillierte Ortsbeschreibungen lassen Bilder vor dem inneren Auge entstehen, derer man sich nicht entziehen kann, obwohl man genau das die ganze Zeit möchte.

Ins Trashige kippt die Handlung, die ansonsten sehr viel daran setzt, schlimmste Kopfkino-Szenarien in Gang zu setzen, wenn übernatürliche Elemente vor allem gen Ende einen größeren Raum einnehmen. Das hätte es hier nicht gebraucht, außer man gesteht der Hauptfigur das Schlimmste was ihr angetan wurde, zu manifestieren und in kindlicher Phantasie umzukehren, was sprachlich und psychologisch eine tolle Umsetzung durch die Autoren wäre. Im schlechtesten Fall könnte es aber auch der einzige Ausweg aus einer Geschichte gewesen wäre, von der man nicht wusste, wie man sie sonst hätte beenden können.

Das Ende jedenfalls nimmt sehr viel von dem weg, was die Erzählung zu Dreiviertel ausmacht, was schade ist.

Wer die Content-Warnung zu Beginn und das Nachwort gelesen hat, weiß jedenfalls, worauf er sich einlässt, wenn man das ganze multipliziert. Für alle anderen wird die Erzählung kaum lesbar sein.

Autoren:

Asmodina Tear ist das Pseudonym einer Autorin., die 1985 in Helmstedt (Niedersachsen) geboren wurde. Nach einer Ausbildung im Verwaltungsdienst und dem Erlernen von drei asiatischen Sprachen, entschied sie sich endgültig für das Schreiben und verfasst sowohl Gedichte als auch Kurzgeschichten und Romane.

Pjotr X, ebenfalls ein Pseudonym, schreibt u. a. Horror mit Splatter-Elementen. Er wuchs zwischen Ruhrgebiet und Münsterland auf und studierte an der Universität Münster bevor er sich dem Schreiben widmete. Ein erstes Manuskript entstand in den 1990er Jahren, welches später veröffentlicht wurde. Weitere Geschichten folgten.

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Hans-Christian Dany: Schuld war mein Hobby

Inhalt:

Ein Düsseldorfer Galerist macht Hans-Christian Dany das Angebot, gegen einen Pauschalbetrag zwölf Texte zu schreiben, die online veröffentlicht werden sollen. Ohne Vorgabe von Thema oder Umfang. Der Auftrag mutiert zur literarischen Reise in den Zerfall einer Familie, der sich als Symptom für das Leben in einem kranken Land der Nachkriegsgeschichte erweist.

Dany schreibt über sein Erbe im juristischen und im übertragenen Sinne, über buchhalterische wie emotionale Forderungen und Verbindlichkeiten und über den eigenen (fast unglaublichen) Weg vom Künstler und Schriftsteller zum verschuldeten Firmenerben, Arbeitgeber und »Minusmillionär«. Die Reflexionen zwischen Kunst und großem Geld sind nicht nur autobiografische Essays, sondern auch Versuche einer eigenen Standortbestimmung im ausklingenden Neoliberalismus. Doch, was ist, wenn es sich, wie abzeichnet, bewahrheitet, dass der Galerist die versprochenen Honorare nicht zahlt? (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Am Rande des Abgrundes zwei Schritte voran, sieht sich der Sohn, als er mehr oder wenig gezwungen das beinahe bankrotte Familienunternehmen übernimmt, obwohl er ja eigentlich vom Schreiben leben wollte. Doch nun muss er Schulden jonglieren und Bilanzen lesen, die weit entfernt von rosig sind. Die Glanzzeiten des Aufstiegs sind da schon lange vorbei, hatte der Verfall auch schon zu Zeiten seiner Kindheit begonnen, doch, wer Schulden macht, mutiert zum Liebling der Banken. Die Rolle also, die er künftig spielen wird, ist schnell gefunden. Am Leben gehalten, durch den Künstler, der jetzt schreiben muss, um zu überleben.

Hans-Christian Dany erzählt vom tiefen Fall einer Hamburger Kaufmannsfamilie, den berühmten Beispiel von Thomas Mann in ihrem Eifer gar nicht so unähnlich und doch kompakt in seinem Essay „Schuld war mein Hobby“. Dabei spürt er dem Kippen der wirtschaftlichen Stabilität hinein ins Ungewisse nach, welches wie ein Gleichnis auf die sich nach dem Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik lang anhaltende Krise wirkt, für die die Familie ein Beispiel von vielen ist.

Immer nah am Abgrund spürt der Autor den einzelnen Familienmitgliedern nach, dem Vater etwa, der den Betrieb schwerkrank übergeben muss, obwohl der jüngere Bruder dessen eigentlich dafür vorgesehen war, der jedoch selbst psychisch krank mit den eigenen inneren Dämonen zu kämpfen hat, der Mutter, nie wirklich in die Geschäfte ihres Mannes eingeweiht und der älteste Sohn darum kämpfend, eine bröckelnde Fassade aufrecht zu erhalten.

Was sind wir unseren Familien, Angehörigen, viel mehr uns selbst schuldig? Wie gehen wir mit vererbten Lasten physischer und psychischer Natur um? Was macht dies mit uns? Fragen, die nur ein jeder für sich selbst beantworten kann, da die Gesellschaft um uns herum, viel zu wenige Antworten dafür bereit hält. Diskussionsmaterial und Denkschrift zugleich, pendelt der Text entlang der Biografie und philosophischer Überlegungen, die durch das Beispiel greifbar werden.

Hoch spannend erzählt der Autor zugleich von einer spannungsgeladenen Beziehung zu Eltern und dem jüngeren Bruder und zeigt, was es mit uns macht, wenn wir die Last der Verantwortung schultern, ohne dem wirklich gewachsen zu sein, aber auch wie viele Berge Kampfes- und Überlebenswille zu versetzen vermag, ohne dass uns am Ende immer klar sein muss, wie wir Hindernisse überwunden haben. Stoff zum Nachdenken immerhin, manchmal etwas schwergängig, jedoch durchweg spannend, wenn man sich auf diese Mischung einlässt.

Autor:

Hans-Christian Dany wurde 1966 geboren und lebt als Künstler in Hamburg. Seine Texte erscheinen u. a. bei Edition Nautilus. Um vom Schreiben leben zu können, geht er wechselnden Tätigkeiten nach. Von einigen ist hier in diesem Essay die Rede.

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Werner Sonne: Israel und wir

Inhalt:

Werner Sonne war am 7. Oktober 2023 in Israel. Schon 50 Jahre zuvor hatte er als junger Reporter über den Jom-Kippur-Krieg berichtet – und nun wiederholte sich die Geschichte. In diesem Buch blickt der bekannte ARD-Journalist auf die hitzigen deutschen Debatten mit Israel. Zugleich erzählt er die Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen – von den schwierigen Anfängen unter Adenauer und Ben-Gurion bis zum Kauf des israelischen Raketenabwehrsystems Arrow 3 und der Frage, was die Formel von der Sicherheit Israels als „Staatsräson“ Deutschlands konkret bedeutet. So bietet dieses anschaulich geschriebene Buch Hintergründe, macht Argumente verständlich und liefert „food for thought“ für eine der drängendsten und umstrittensten Debatten der Gegenwart. (Klappentext)

Rezension:

Nicht erst seit dem terroristischen Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und den sich daran anschließenden neuen Gaza-Krieg wird in Deutschland intensiv über das Verhältnis zu Israel diskutiert. Während sich antisemitische Verfälle häufen, der Ton sich nicht nur in den sozialen Netzwerken verschärft, stellt sich die Politik dagegen mehrheitlich klar an die Seite Israels. Die Sicherheit des Landes sei Staatsräson, heißt es immer wieder, doch was bedeutet dies überhaupt? Wie weit geht Solidarität?

Sollte sie bedingungslos sein und kann sie das überhaupt, angesichts einer Regierung, der rechtsextreme Minister angehören, überdies in Anbetracht eines Konflikts der auch in Zukunft kaum aufzulösen sein wird? Der Journalist Werner Sonne, der bereits als junger Reporter aus Israel berichtete, untersucht unser Verhältnis zu Israel und stellt die Frage, was ist legitime Kritik und wo beginnt als Israelkritik verbrämter Antisemitismus.

Soweit das Grundgerüst dieses kompakt gehaltenen Sachbuchs, welches vom Ausgangspunkt der neuesten Entwicklungen einen Blick in die Geschichte wirft. Hier beginnend, nach dem Zweiten Weltkrieg, zeigt Werner Sonne, wie bereits die Gründer der Staaten, im Hintergrund an einer Zusammenarbeit werkelten, die bis in unsere heutige Zeit hinein wirkt.

Zunächst im Hintergrund geheim gehalten, ist die Kooperation beider Länder auf geheimdienstlichen und militärischen Gebiet heute sehr dicht und intensiv. Widerstände dagegen gab es anfangs auf beiden Seiten. In Israel protestierten zu Beginn nicht wenige auf politischer Seite und in der Bevölkerung gegen eine Zusammenarbeit mit den Deutschen, die unmenschliches Leid über fast alle Familien gebracht hatten. Wie konnte man da etwa verlangen, Uniformen für die im Aufbau befindliche neue deutsche Armee zu nähen, wo doch manche in den KZs einige Jahre zuvor gezwungen waren, für die SS dergleichen zu tun? Verbat es sich anderseits, im Anbetracht beider Geschichte, Rüstungsgüter wie U-Boote von den Deutschen zu beziehen?

Der Autor schaut nicht nur auf die militärische wie geheimdienstliche Zusammenarbeit. Werner Sonne zeigt, was die Sicherheitskooperation Israels mit Deutschland und umgekehrt in den ersten Jahren ausmachte und worin sie heute besteht, beleuchtet ein Verhältnis, welches von Beginn an besonderer Natur gewesen ist und weshalb dies wichtig ist, zu durchdenken, wenn wir über die heutige politische Lage zwischen beiden Ländern und in der Region selbst diskutieren. Hält so der Ausspruch von der Staatsräson Deutschlands gegenüber Israel noch stand?

Mit diesem sehr sachlich gehaltenen Werk zeigt Werner Sonne die historische Entwicklung einer besonderen Beziehung auf und gibt Denkanstöße und Material für Diskussionen. Er stellt sich dabei nicht auf eine Seite oder präsentiert vermeintliche Lösungen. Beim Lesen wird man nicht umhin kommen, an der einen oder anderen Stelle vielleicht einen anderen Standpunkt einzunehmen, doch wird man vielleicht einzelne Entscheidungen der Politik besser nachvollziehen können, warum sie so gefallen sind.

Wenn das erreicht ist und gewisse Denkanstöße damit gegeben sind, ist mit diesem Werk schon viel gewonnen und das ist mehr als man von einem historischen Beziehungsabriss als Diskussionsbeitrag erwarten darf.

Autor:

Werner Sonne wurde 1947 geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Seine journalistische Ausbildung begann er beim Kölner Stadt-Anzeiger, wo er sein Volontariat abschloss, anschließend arbeitete er bei der Nachrichtenagentur UPI und wechselte dann zum Hörfunk des Westdeutschen Rundfunks. Dort berichtete er als Korrespondent aus Bonn und Washington, bevor er 1981 zum Fernsehen wechselte. Nach verschiedenen Stationen arbeitete er als Auslandskorrespondent und Studioleiter, u. a. in Bonn, Washington und Warschau. 2004 wurde er Korrespondent beim ARD-Morgenmagazin. 2012 verabschiedete sich Sonne in den Ruhestand.

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Wolfgang Krüger: Serienmörder des Dritten Reiches 1933-1945

Inhalt:

Auch in der vermeintlich fast lückenlos überwachten Diktatur des Dritten Reiches konnten Serienmörder ihr Unwesen treiben. Nach umfangreichen Recherchen legt Wolfgang Krüger nun einen weiteren Band zu Mordfällen aus der Zeit des Dritten Reiches vor. Diesmal begibt er sich auf die Spur unheimlicher Serienmörder. Er beschreibt detailliert die Verbrechen des berüchtigten Münchner Triebtäters Eichhorn und des Berliner S-Bahn-Mörders Ogorzow.

Er zeichnet aber auch die Vorgehensweise der Dortmunder „Raubmord-GmbH“ nach, die Untaten eines Serienmörders am Rande des Schwarzwaldes, die erschütternden Morde eines Melkers, der 1940 innerhalb von drei Wochen die Mark Brandenburg, Magdeburg und das sudetendeutsche Eger heimsuchte, indem er vier kleine Mädchen an sich lockte, sie missbrauchte und tötete. Schließlich wird der polnische Serienmörder Wignaniec geschildert, der als Fremdarbeiter im westfälischen Osnabrück drei seiner Landsleute ermordete und beraubte. (Klappentext)

Rezension:

Selbst als der Staat sich zum größten aller Massenmörder avancierte, gab es sie, die dunklen Kapitel der klassischen Kriminalistik, die in der Form von Serienmördern die Bevölkerung in Atem hielt. Auch in der absoluten Diktatur konnten diese ihr Unwesen treiben, Behörden und Polizeiorgane narren, welches Menschenleben kostete und für ein dem Anspruch nach alles unter Kontrolle haben wollende Gebilde schlicht Gesichtsverlust bedeutete, würde man den oder die Täter nicht habhaft werden können.

So suchte man möglichst schnell und geräuschlos, teilweise mit Mitteln, wie sie nur in einer Diktatur zur Verfügung stehen konnten, auch den Serienmördern auf die Spur zu kommen, von denen im vorliegenden Werk der Autor Wolfgang Krüger erzählt, beginnend bei den ersten Taten bis hin zur Vollstreckung der gefällten Urteile.

Zunächst wird in dieser schaurigen Sammlung dieser düsteren Seite deutscher Kriminalgeschichte die Definition derer erläutert, die Hauptgegenstand der Betrachtung sind, bevor sich kapitelweise den einzelnen Tätern gewidmet wird. Der Fokus liegt hier auf männliche Serientäter, die jeder für sich eine erschütternde Mordserie zu verantworten haben.

Detailliert beschreibt der Autor sowohl die Vorgehensweise, etwa des Schwarzwälder Serienmörders Josef Schäfer als auch die Umstände, wie dieser und andere ihre Opfer auswählten und nach dem Leben trachteten. Dabei werden Tathergang und Vorgehensweise fast nüchtern detailliert beschrieben als auch, warum selbst in einer so lückenlosen und grausamen Diktatur wie dieser solch ein Morden möglich war.

Teilweise zu plastisch wird dies durch Bilder aus den kriminalistischen Ermittlungsakten, die auch in der Qualität von damals nichts für schwache Gemüter sind. Zeit zum Durchatmen bleibt dabei kaum, denn auch die Ermittlungsarbeit selbst bis zur Aburteilung sind in ihrer historischen Betrachtung sowohl interessant als auch erschreckend.

Wie gingen klassische Behörden damals vor und wann und warum machten sie sich die Organe des NS-Regimes zu Nutze. Hier wäre eine ausführlichere und zuweilen kritischere Betrachtung wünschenswert gewesen, auch über das Verhältnis der einzelnen Kapitel zueinander kann man diskutieren.

Natürlich ist es vor allem der Quellenlage geschuldet, wenn man, in diesem Falle einer Mordserie knapp 60, einer anderen gerade mal fünf Seiten widmen kann, doch sollte man letztere dann überhaupt zur Sprache bringen? Diese kann schon alleine aufgrund des Seitenverhältnisses nicht die gleiche Wirkung auf die Lesenden entfalten, wie andere ausführlichere Schilderungen oder man hätte dieses Kapitel in der Reihenfolge anders sortieren müssen.

Auch ein Rahmen, z. B. durch ein Nachwort fehlt hier, in dem man voran gebrachte Kritikpunkte hätte erläutern können, was die aufgearbeitete Thematik, obwohl interessant, etwas unrund wirken lässt. Trotzdem, für historisch Interessierte eröffnen sich mit der Lektüre sicherlich einige eher unbekannte Aspekte. Und da ist dieses Sachbuch sicherlich eine Ergänzung.

Autor:

Wolfgang Krüger ist Psychotherapeut in eigener Praxis. Ihn beschäftigt seit Jahrzehnten, wie unsre Seele die Gesundheit stärkt. Außerdem publizierte er erfolgreiche Bücher über die Liebe, Treue, Sexualität, Freundschaften, Eifersucht, Geld, Humor , Selbstachtung und Großeltern.

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Sabine Böhne-Di Leo: Die Erfindung der Bundesrepublik

Inhalt:

Im Sommer 1948 beauftragen US-Amerikaner, Briten und Franzosen die westdeutschen Politiker, eine Verfassung zu schreiben. Monate leidenschaftlicher Diskussionen beginnen. Während die Abgeordneten in Bonn um das Grundgesetz ringen, wollen die Sowjets mit der Berlin-Blockade die Gründung des westdeutschen Staates verhindern. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. (Klappentext)

Rezension:

1948. In London ringen die westlichen Siegermächte und die Benelux-Staaten darum, Grundlagen für die Beteiligung eines demokratischen Deutschlands an die Völkergemeinschaft zu schaffen, woraus nach zähen Diskussionen die sogenannten Frankfurter Dokumente hervorgehen. Eine Verfassung sollen die Deutschen schaffen, für einen zu gründenden Weststaat. Jenen, die die Grundlagen erarbeiten sollen, steckt das Nazi-Regime noch in den Knochen, zudem ziehen dunkle Wolken vom Osten her auf. Die Sowjets riegeln Westberlin ab. Die Überreste der in Trümmern liegenden Stadt können sich nur mit Hilfe der Amerikaner am Leben erhalten, die eine Luftbrücke errichten, um die Berliner Bevölkerung zu versorgen.

Politikern wie Adenauer ist klar, das Gegengewicht in Form eines westdeutschen Staates muss schnell geschaffen werden, zudem, ein zweites Weimar muss um jeden Preis vermieden werden. So ringen bald in Bonn, der Stadt am Rhein, 61 Väter und vier Mütter um eine Verfassung, die nicht so heißen soll. Noch gibt es Hoffnung. Den Weg zu einem einheitlichen Deutschland befürchten sich manche damit zu verbauen. Leidenschaftliche Diskussionen um die Zukunft Deutschlands beginnen. Die Journalistin Sabine Böhne-Di Leo erzählt von diesen Tagen.

„Die Erfindung der Bundesrepublik“ erzählt als hoch informatives Sachbuch sehr kompakt über ein Lehrstück von Demokratiegeschichte, die erstmals auf deutschen Boden einigermaßen beständig und von Dauer sein sollte. Dabei folgt die Autorin den Geschehnissen verschiedener Schauplätze, zum einem das Ringen zwischen den Großmächten, die einst im Krieg als Verbündete, sich langsam mit ihren weltanschaulichen Systemen diametral gegenüberstehen sahen, zum anderen, in Bonn, jene Landespolitiker, die nun die Grundlagen für das künftige Zusammenleben in Deutschland erarbeiten sollten.

Ereignisse, die gegenseitig Sand im Getriebe bilden und doch zu Reaktionen auffordern, zeigt die Autorin um welche Fragen gestritten wurden, schon damals ersichtlich, sich für die Zukunft herausschälende politische Konkurrenten. Aber auch die Strukturen des künftigen Deutschlands stehen zur Diskussion, von der Frage, ob die Todesstrafe beibehalten soll und ob die Gleichberechtigung der Frauen ins künftige Verfassungsdokument gehört oder doch separat geregelt werden muss. Kurzweilig schildert die Autorin die Lust am Meinungsstreit, das Zuspielen von Bällen, aber auch, wie kurz vor knapp gelang, was ein Jahr später in die Gründung der Bundesrepublik münden würde.

Was in heutiger Zeit wieder bedroht ist, gelang damals unter Vorlage verschiedener schon in der Welt vorhandenen Verfassungen mit ganz eigenen Komponenten. Immer wieder wird bei der Lektüre deutlich, wo damals, noch unwissend ob der künftigen Geschehnisse, Stellschrauben geschaffen wurden, um derer wir in vielen Ländern beneidet werden. Sabine Böhne-Di Leo macht deutlich, die Geschichte unseres Landes hätte auch anderes beginnen und damit auch verlaufen können, wenn die Vorzeichen nur ein wenig anders gesetzt worden wären. Ein Glücksfall, dass es so gekommen ist. Die Lektüre zeigt, die Geschichte seiner Entstehung ist so spannend, wie das Grundgesetz selbst.

Autorin:

Sabine Böhne-Die Leo wurde 1959 in Bochum geboren und ist eine deutsche Journalistin und Hochschulprofessorin. Sie studierte zunächst Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an den Universitäten Münster und Perugia und schloss das Studium 1985 ab. Nebenher arbeitete sie als staatlich geprüfte Italienisch-Übersetzerin für Polizei und Justiz. Nach journalistischen Anfängen bei der Münsterschen Zeitung, arbeitete sie im Journalistenbüro Kontur, sowie in Hamburg als freie Autorin für Zeitschriften und Magazine. 2009 wurde sie mit dem Deutschen Preis für Naturjournalismus ausgezeichnet, zudem wurde sie Professorin für den Studiengang Ressortjournalismus in Ansbach. Daneben baute sie eine Lehrredaktion auf und leitete diese zwölf Jahre lang.

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Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister

Inhalt:

Die stolze bäuerliche Landwirtschaft mit Viehmärkten, Selbstversorgung und harter Knochenarbeit ist im Laufe der Sechzigerjahre im rasanten Tempo und doch ganz leise verschwunden. Der Historiker Ewald Frie erzählt am Beispiel seiner Familie von diesem stillen Abschied. Sein glänzend geschriebenes Buch verwebt meisterhaft die eigenen Erfahrungen mit zeitgeschichtlichen Zusammenhängen und lässt so den großen Umbruch auf dem Land lebendig werden. (Klappentext)

Rezension:

Die Geschichte der Bundesrepublik wird zumeist von den Städten heraus beschrieben mit dem allseits bekannten Zeitstrahl, anhand dessen man sich orientieren kann, wogegen die Erzählung vom Höfesterben ein Narrativ bedient, welches lohnt, auseinandergenommen und neu erzählt, damit neu eingeordnet zu werden.

Ewald Frie und seine Geschwister haben den stillen Wandel einer Gesellschaftsform, die zunächst noch prägend den ländlichen Raum gestaltet hat und schließlich mit all den traditionellen Elementen verschwand, erlebt, gelebt und mitgestaltet. Am Beispiel seiner Familie zeigt der Historiker mit seinem Sachbuch Umbrüche als nahtlose Übergänge, in dem Verschwinden auch das sich Eröffnen von Chancen bedeutet hat, vor allem für die jüngeren unter den Geschwistern.

In „Ein Hof mit elf Geschwistern“ verbindet er Archivarbeit mit Interviews, die er in seiner Familie geführt hat, oral history, und zeigt dabei die Verschiebung von Wahrnehmung innerhalb einer Generation. Am Anfang wurde da die traditionelle Landwirtschaft noch als wirkliche Zukunftsperspektive wahrgenommen, schon alleine aufgrund der großen Anzahl von Geschwistern wegen, nur wenige Jahre später strebten die Kinder von Bernhard Frie anderen Lebenszielen nach. Der Hof von mittlerer Größe konnte perspektivisch nicht mehr zum Lebensunterhalt aller beitragen.

Ungeschönt, ohne Nostalgie, doch voller Empathie ist innerhalb der gewählten Erzählform ein bemerkenswerter Text entstanden, der nicht nur Wolke II zu Ehren gereicht, sondern eine wichtige Ergänzung zu all den Geschichten der Bundesrepublik darstellt. Auch eben das ist passiert.

Der Historiker beschreibt die Veränderungen der Sichtweisen von außen, jedoch vor allem von innen und damit noch viel mehr, geht es auch um die Rolle des Katholizismus im ländlichen Raum, Bildungschancen und Eroberungen von Spielräumen für sich selbst, immer auch unterstützt von den eigenen Eltern, die zunehmend die neuen Welten nicht mehr zur Gänze verstehen konnten, aber so weit wie möglich ihre Kinder bestärkten den ihren eigenen Platz darin zu finden.

Zumindest für die Frie-Geschwister, so geht es aus der Lektüre hervor, die zunächst die Perspektive des Vaters, dann der Mutter, eingerahmt von der Vor- und Nachgeschichte, beschreibt, kann der Wandel nicht nur als Abgesang, sondern auch als durchaus Erfolgsgeschichte gelten. Wie einst die Kuh des Vaters, die eine DLG-Ausstellung gewann.

Zurecht mit dem deutschen Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet, hat da Ewald Frie, diese Perspektive eingenommen, ein Unentschieden für sich herausgeholt.#

Ewald Fries Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Sachbuchpreises 2023:

(Quelle: Deutscher Sachbuchpreis)

Autor:

Ewald Frie wurde 1962 in Nottuln geboren und ist ein deutscher Historiker. Als Sohn einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland aufgewachsen, studierte er zunächst Katholische Theologie und Geschichte an der Universität Münster, bevor er von 1985 bis 1987 als Museumsführer arbeitete. Danach legte er 1988 seinen Magister ab und war 1989 bis 1991 Volontär am Institut für westfälische Regionalgeschichte Münster.

Er promovierte 1992 und habilitierte schließlich nach verschiedenen Stationen im Jahr 2001. In Tübingen ist er Professor für Neuere Geschichte und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Frie ist Verfasser und Herausgeber verschiedener Werke. 2023 gewann er den Deutschen Sachbuchpreis.

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Manfred Kühn: Kant – Eine Biographie

Inhalt:
Heinrich Heine hat gespottet, von Immanuel Kant könne niemand eine Lebensgeschichte schreiben, denn Kant habe weder ein Leben noch eine Geschichte gehabt. In seiner mittlerweile zum Klassiker avancierten Biographie des größten deutschen Philosophen räumt Manfred Kühn mit der Legende von Kants ereignislosem Professorenleben gründlich auf. Er zeichnet das Bild eines eleganten und geistreichen Gentlemans, der eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben seiner Heimatstadt Königsberg spielte. (Klappentext)

Rezension:
Im Wesentlichen auf drei Biografien, geschrieben von drei Herren, die Kant zu unterschiedlichen Zeitpunkten seines Lebens gekannt haben, stützt sich unser Wissen um den vielschichtigen Philosophen aus Königsberg, geschrieben, auf eine bestimmte Deutung aufgelegt, sind sie jede für sich nur Puzzleteile, die sich vor allem auf die Person und Ansichten in ihren letzten Lebensjahren bezieht, doch wie haben sich Kants Sichtweisen auf die Rolle des Menschen, seinen Wirkungsgrad im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Religion entwickelt?

Der amerikanische Philosoph Manfred Kühn wirft, um diese Fragen zu beantworten, mit dieser Biografie einen neuen Blick auf das Werden Kants, dessen jungen Jahre, um die Entwicklung der Kantschen Philosophie nachzuverfolgen und schafft so ein differenziertes Bild dessen Lebens, seinem Denken und seiner Zeit.

Bevor der Lebensweg Kants verfolgt und detailliert geschildert wird, ist eine Personenübersicht dem sehr ausführlich gehaltenen Text vorangestellt, in dem die einzelnen Protagonisten, die einst die Wege des Königsberger Philosophen kreuzten, vorgestellt und in ihrer Beziehung zu diesem eingeordnet werden. Erst danach erfolgt eine Erklärung Manfred Kühns zu dessen Herangehensweise in seiner Betrachtung, die philosophische Theorien und Werke in Bezug setzt zu Kants Lebensabschnitten, in denen sie entstanden und schließlich veröffentlicht wurden.

Die philosophischen Überlegungen sind dabei stilistisch hervorgehoben, werden überdies auch ausführlich erklärt, ebenso wie Meinungsstreite und Auseinandersetzungen der damaligen Zeit. Diese Vorgehensweise führt zu einer sehr komplexen Art von Biografie, die zwar erhellend, dennoch nicht immer leichtgängig zu lesen ist. Das war zwar eines der Ziele Kühns, wobei dieses schnell an seine Grenzen gerät, wie selbst der Autor in seinem vorangestellten Prolog zugeben muss. Konzentration und vielleicht der eine oder andere Notizzettel sind also erforderlich, um Immanuel Kants Überlegungen Folge leisten zu können und Längen in der Lektüre zu überstehen.

Außerhalb der durchaus nüchternen Theorie hat es Kühn geschaffen, einen großen Denker aufleben zu lassen. Das historische Königsberg, seine gesellschaftlichen Strukturen und sein Gefüge innerhalb Preußens werden sehr anschaulich dargestellt, sowie die Auseinandersetzungen mit Kants Werken zu dessen Lebzeiten, schon für die Zeitgenossen von nicht ganz einfacher Natur. Hier ist dem Autoren eine sehr facettenreiche Schilderung gelungen, die viele Darstellungen Kants und die seiner Gegenüber zu einander neu in Beziehung setzt und einordnet.

Gänzlich unvertraut mit Kant sollte man nicht an die Lektüre dieser Biografie herangehen. Vorwissen ist zwar nicht unbedingt notwendig, aber vom Vorteil, um besonders komplexe, daher verschachtelte Textstrecken verfolgen zu können, derer man sonst geneigt ist, diese zu überfliegen. Das Werk Kühns soll zwar populärwissenschaftlich sein, geht jedoch einen Schritt weiter und ist eher geeignet, von Fachkundigen gelesen zu werden. Zuletzt rundet ein Zeitstrahl, ein ausführliches bibliografisches und Anmerkungsverzeichnis diese Biografie ab.

Autor:
Manfred Kühn ist em. Professor für Philosophie an der Boston University. Zuvor lehrte er an der Purdue University, USA, sowie in Marburg. Neben vielen Arbeiten über Kant, beschäftigte er sich mit Hume und Payne, die Aufklärung in Schottland, Frankreich und Deutschland, u. a. mit Johann Gottlieb Fichte.

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Kurt Tallert: Spur und Abweg

Inhalt:
Schon als Schüler muss Kurt Tallert erfahren: Was für weite Teile seiner Generation Schulbuchvergangenheit ist, ist für ihn lebendig, die Geschichte seines Vaters. Eines Vaters, der als „Halbjude“ von den Nazis verfolgt wird, der nach der Befreiung in Deutschland bleibt, Journalist wird und Mitglied des Bundestags. Und der doch ein Leben lang seinen Platz sucht. In „Spur und Abweg“ trifft Vergangenheit auf Gegenwart, Überliefertes auf Verdrängtes, Erlebtes auf Erinnertes, erzählt Kurt Tallert die Geschichte seines Vaters – und seine eigene. Ein Stück Gegenwartsliteratur, in dem die Scherben eines Lebens zu einem Spiegel der Gesellschaft zusammengelegt werden. (Klappentext)

Rezension:

Wie das Unfassbare begreifen? Diese Frage stellt sich Kurt Tallert und versucht die Geschichte seiner Familie, vor allem die seines Vaters, der viel zu früh verstarb, zu durchdringen und diese in Beziehung zu seinem eigenen Leben zu stellen, dessen Wahrnehmung schon in der Kindheit so ganz anders ist als die Gleichaltriger. An den brutalen Folgen der Nazi-Herrschaft leidend, vergeblich um Wiedergutmachung, Entschädigung kämpfend, geht die Vaterfigur zu Grunde als der Autor noch in der letzten Phase seiner Kindheit steckt, schon da hat die Spurensuche Tallerts nach dem Warum begonnen. Der Autor erzählt von ihr, tief in die Familiengeschichte eintauchend, um mehr über sie, nicht zuletzt auch über sich selbst zu erfahren. Kann dies gelingen?

Es ist eine besondere Art von Familien- oder Personenbiografie, die mit „Spur und Abweg“ hier vorliegt, die zugleich beinahe philosophisch die Frage nach der Verarbeitung vererbter Traumata aufgreift. Wissenschaftlich nachgewiesen, dass diese über mehrere Generationen hinweg unser Handeln und Leben beeinflussen können, weiß auch der Schreibende um diesen Fakt, möchte tiefgehender Ursachenforschung betreiben und begibt sich anhand von Dokumenten und Ortsbegehungen über die Jahre hinweg immer wieder in Konfrontation, nicht zuletzt zu sich selbst. Das Bild des Vaters, den er als Kind beinahe nur gebrochen kannte, bekommt dabei immer neue Facetten, Konturen, die eigentlich Klarheit bringen müssten, stattdessen immer mehr Fragen aufwerfen.

Das Puzzle, dessen Teile aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen oder Buchenwald-Besuchen bestehen entfaltet seine Wirkung, auf den Autoren selbst, der seine Erfahrungen in Bezug zu den Beobachtungen setzt, die er macht, wenn er seine Mitmenschen betrachtet. warum reagiert der Klassenkamerad während des Besuchs der Gedenkstätte anders als er, warum schießen Touristen später Selfies am Deportationsgleis, wo einst Familienmitglieder in ein ungewisses Schicksal blickten? Teile werden zusammengesetzt, allmählich wird die Familiengeschichte greifbar, der Autor gewinnt Sicherheit und wird zugleich unsicherer.

„Spur und Abweg“ ist die Art von Verarbeitungsliteratur, der Versuch zu verstehen, die man mit einer gewissen Konzentration konsumieren muss, nichts für schwache Nerven oder jene, die sich nicht auf philosophische Betrachtungen einlassen wollen. Dem Autor verschaffen sie einen Abstand, der die Betrachtung erst möglich macht, lesend begibt man sich auf Spuren eines Prozesses, der mehrere Leben reichen wird. Was machen die Erfahrungen vorangegangener Generationen mit uns, zudem wenn deren Leid von Gesellschaft und Politik nie wirklich anerkannt waren, wenn Protagonisten zwischen den Stühlen stehen und das Zugehörigkeitsgefühl zwangsläufig diffus bleiben muss?

Was macht es mit uns, wenn Identität verloren geht? Am Beispiel seines Vaters und nicht zuletzt sich selbst, erzählt Kurt Tallert davon. Gerade in heutiger Zeit wichtige Lektüre.

Autor:

Kurt Tallert wurde 1986 in Bad Honnef geboren und studierte Germanistik und Hispanistik in Aachen und Santiago de Chile. Unter den Künstlernamen „Retrogott“ prägt er als DJ, Rapper und Produzent, die deutsche Hip-Hop-Szene und veröffentlichte zahlreiche Alben. Dies ist sein schriftstellerisches Debüt.

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C. Bernd Sucher: Unsichere Heimat

Inhalt:

Ungefähr 95000 Menschen in Deutschland gehören heute einer jüdischen Gemeinde an. Bei einer Gesamtbevölkerung von 83 Millionen ist das eine verschwindend geringe Zahl. Und doch steht diese Gruppe immer wieder im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Wegen der Shoah, antisemitischer Ausschreitungen, der israelischen Politik. In diesem Buch untersucht C. Bernd Sucher, wie es um die deutschen Jüdinnen und Juden steht. Dafür beleuchtet er sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart und sucht in zahlreichen Gesprächen eine Antwort auf die Frage: haben Juden in diesem Staat eine Zukunft – oder nicht? (Klappentext)

Rezension:
Während der Bundespräsident in seinen Reden, wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen in der Politik, jene, die es hören wollen, beschwört, dass jüdisches Leben zu Deutschland gehöre und für dieses unermessliches Glück bedeute, werden antisemitische Ausschreitungen vom lauten Aufschrei der Medien ebenso regelmäßig begleitet, wie die Mehrheit der Bevölkerung dazu schweigt, wenn sie auch nicht offensichtlich aggressiv Synagogenmauern beschmieren oder Juden und Jüdinnen auf offener Straße beschimpfen. Antisemitische Gedanken, so bescheinigen es Untersuchungen und Umfragen, sind in Deutschland tief verwurzelt und bilden das Grundrauschen dieser unsicheren Heimat.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang Erinnerungskultur? Wie sieht diese aus und wie wird sie von den Juden und Jüdinnen hierzulande wahrgenommen? Und wo zeigt sich Judentum in Deutschland heute? Wie funktioniert das Erinnern heute und was müsste an dessen Stelle treten, wenn man es anders haben möchte? Was müsste sich ändern, damit Menschen in Deutschland nicht mehr auf gepackten Koffern sitzen, wie es noch lange nach Kriegsende der Fall wahr und heute teilweise wieder ist? Der Autor C. Bernd Sucher hat diese und andere Fragen gestellt und sich auf Spurensuche begeben.

Jede optimistische Formulierung verbietet sich, taucht man ein in die Materie und so verwundert der Titel dieses reportagehaften Sachbuchs nicht, welches sich mit der Perspektive jüdischen Lebens seit Kriegsende beschäftigt und an diesem Punkt anzusetzen beginnt. Was waren dies für Menschen, die sich zum Unverständnis anderer jüdischen Glaubens dazu entschieden, in Deutschland zu bleiben, im „Land der Mörder“, im Gegensatz zu jenen, die auswanderten? Wie setzte sich diese Gruppe zusammen, welches Spektrum an Meinungen und auch Varianten jüdischen Glaubens gab es zu Anfang, welche Auswirkungen hat dies auf das Empfinden von Leben in Deutschland heute?

Der Autor fragt nach bei Charlotte Knoblauch, der Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, ebenso wie bei der Autorin Deborah Feldman und anderen, mit den unterschiedlichsten Hintergründen, um ein Gesamtbild aufzuzeigen, der inneren Empfindungen und ihrer Zerrissenheit? Das zeigt sich im Draufblick auf Varianten des Erinnerns, ebenso wie im Alltagsleben und dessen Strukturen. Der Gegenwart wird hier viel Raum eingeräumt, wo wir uns sonst fast nur auf die Vergangenheit konzentrieren. Dies ist die große Stärke des vorliegenden Sachbuchs, diese Perspektive, die zu selten in Betracht gezogen wird. Das Fundament des Werks, die Interviews stehen am Ende der Lektüre dann noch einmal separat für sich.

Die Änderung des Blickwinkels macht die Lektüre sehr besonders, auch wenn sie teilweise etwas trocken daherkommt. Wichtig ist sie dennoch, gerade heute. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Autor:

C. Bernd Sucher wurde 1949 geboren und ist ein deutscher Theaterkritiker, Autor und Hochschullehrer. Zunächst studierte er Germanistik, Theaterwissenschaft und Romanistik und war anschließend von 1978 bis 1980 Kulturredakteur der Schwäbischen Zeitung, bevor er dann zur Süddeutschen Zeitung wechselte, wo er der erste Theaterkritiker wurde. Danach arbeitete er als freier Autor und Kritiker für verschiedene Zeitungen und Magazine.

Seit 1989 unterrichtete er an der Deutschen Journalistenschule in München und am Institut für Theaterwissenschaft der dortigen Universität. Danach folgten verschiedenen Stationen in In- und Ausland. Er ist Mitglied verschiedener Jurys, sowie des PEN-Clubs seit 1999, sowie seit 2018 Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Er hat mehrere Schriften und Romane veröffentlicht.

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