Geschichte

Leipzig liest und findo liest mit – Messetag 4 und Fazit – 2019

Irgendwann ist die Luft raus und normalerweise ist das bei mir am vierten Messetag der Fall. Zu viele Eindrücke sammelt man auf der Buchmesse, zu viele Kilometer läuft man und zu viele Bücher wandern von den mobilen Kassierern zu mir in die Tasche. Gut, am letzten Punkt habe ich selbst Schuld, was kaufe ich auch Bücher, aber wenn sonst nichts ist? In diesem Jahr jedoch hatte ich auch am sonntag Lust und Muse, Lesungen zu besuchen. Ob’s am Wetter lag? Wer weiß?

Los ging es mit einer Gesprächsrunde über die Zensur zu DDR-Zeiten und die Zensur heute. Gemeinsamkeiten, Unterschiede und wie diese Entwicklung zu erklären ist. Brisantes Thema und hoch interessant, genau so wie die nächste Lesung, in der mal wieder über den Tellerrand geschaut wurde, was ja häufiger so war auf dieser Buchmesse.

Der Zu Klampen Verlag stellte mit seinem Autor Gerd Hankel ein Buch über die Verarbeitung des Völkermords in Ruanda 1994 vor, welcher auch 25 Jahre danach noch für große Widersprüche sorgt. Hier möchte ich jedoch nicht zu viel verraten, da ich dieses Buch zu gegebener Zeit noch rezensieren werde. Nur so viel, ich wusste von diesem zeithistorischen Geschehnis nichts, um so mehr beeindruckte mich die Lesung. Der PapyRossa Verlag stellte indes ein Buch über die Bewegung der Resistance, des antfaschistischen Widerstands in Frankreich vor. Nicht minder interessant.

Der Verleger zu Klampen stellt „Ruanda 1994. Vom Umgang mit den Völkermord“ vor.

Am 24. Mai zeigt der deutsch-französische Kultursender ARTE eine 24-Stunden-Reportage über Europa, genauer gesagt über die junge Generation, die nur diesen Kontinent ohne Grenzen und mit einer umspannenden Wähhrung kennt, mit all den Vor- und Nachteilen, die dies mit sich bringt. 47 Kamerateams begleiteten in 26 Ländern 60 Protagonisten und so wurde auf der Messe, die sich in den letzten jahren auch immer ein wenig politisch zeigte, diese Sendung vorgestellt, die etwa an „24 Stunden Berlin“ anknüpft, nach dem gleichen Konzept. Könnte spannend werden.

„24h Europa“, die Sendung wird am 24. Mai auf ARTE ausgestrahlt.

Danach ging es zu einer Lesung über einen Familienroman, der in Marseille spielt und von der Thematik her hätte ganz interessant werden können. Das ist ja eine Stadt, in der mehr Migranten als Franzosn leben und über eine dort lebende, aus verschiedenen Nationen zusammengewürfelte Familie geht es auch in diesem Roman, dessen Titel ich schon wieder vergessen habe. Da kann man sich vorstellen, wie „spannend“ die Lesung war. Irgendetwas ist ja immer.

Harald Jähner „Wolfszeit. deutschland und die Deutschen 1945-1955“

Beendet habe ich die Buchmesse für mich mit einem besuchten Interview eines der Preisträger auf der Leipziger Messe. Auf den ARD-Forum wurde das Sachbuch „Wolfszeit – Deutschland und die Deutschen 1945-1955“ vorgestellt und es war zum Ende des Tages dort noch einmal richtig voll. Hatte aber dennoch eine relativ gute Sicht auf das Geschehen. Das Buch ist zumindest vorgermerkt, sollte ich irgendwann einmal dazu kommen.

https://www.instagram.com/p/BvcCJmegNYH/

Und dann, Ende. Das war sie, die Leipziger Buchmesse 2019, bei der ich am Ende 18 Bücher schwerer runtergegangen bin, viele Menschen von Verlagen, viele autoren und viele Blogger, Literaturforen-Mitglieder und andere getroffen habe. Jedes einzelne Gespräch, auch wenn es manchmal nur ein zwei Minuten waren, hat mir spaß gemacht und ich freue mich auf das nächste Jahr. Das letzte Jahr war die Messe der Begegnungen, dieses Jahr war es für mich die Messe der Geschichten. Ist ja auch mal ganz schön. Ich hatte weniger Termine als in den letzten Jahren, habe mehrmals spontan etwas anderes gemacht, als ursprünglich geplant und war am Ende nicht so gestresst, wie z.B. im vergangenen Jahr. Das ist doch schon etwas.

Beeindruckt war ich von Tschechien als Gastland, welches sich auf wunderbare Art und Weise, ser vielfältig, präsentiert hat und mit zahlreichen Neu- und Erstübersetzungen aufwarten konnte. Ein Blick zu unseren Nachbarn lohnt und ich freue mich, mehr tschechische Autoren demnächst zu lesen. Einige Bücher liegen schon bereit.

https://www.instagram.com/p/BvZRl7GFmEN/

Demnächst kommen noch die Interviews, die ich auf der Messe geführt habe. Jetzt werde ich mich erst einmal durch den ganzen neuen Lesestoff durcharbeiten. Das gehört für mich zu den schönsten Nachwirkungen, bis es dann im nächsten jahr wieder heißt, Leipzig liest und findo liest mit.

Euer findo.

Der Beitrag enthält unbeauftragte Werbung. Fotos gehören dem Autoren und dürfen, wie auch der bericht nicht vervielfältigt oder sonst weitergegeben werden. Für externe Inhalte werden keine Haftungen übernommen.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Leipzig liest und findo liest mit – Messetag 4 und Fazit – 2019 Weiterlesen »

Maxim Leo: Wo wir zu Hause sind

Wo wir zu Hause sind Book Cover
Wo wir zu Hause sind Maxim Leo Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 14.02.2019 Seiten: 368 ISBN: 978-3-462-05081-3

Inhalt:

Wenn vier Menschen um einen Tisch sitzen, dann ist Maxim leos Berliner Familie schon fast vollständig versammelt. Die vielen anderen Leos, die in den 30er-Jahren vor den Nazis flohen, waren immer fern, über den ganzen Erdball verstreut. Zu ihnen macht er sich auf, nach England, Israel und Frnkreich, und erzählt ihre unglaublichen Geschichten.

Die von Hilde, der Schauspielerin, die in London zur Millionärin wurde. Die von Irmgard, der Jura-Studentin, die einen Kibbuz in den Golanhöhen gründete. Die von Ilse, der Gymnasiastin, die im französischen Untergrund überlebte. Und die ihrer Kinder und Enkelkinder, die jetzt nach Berlin zurückkehren, in die verlorene Heimat ihrer Vorfahren. (Klappentext)

Rezension:

In Interviews mit Schriftstellern fällt öfter der satz, am besten schreibe man über das, was man kennt. Doch, schon bei der eigenen Familiengeschichte wird es schwierig, ist sie doch etwas, was meist episodenhaft in den Köpfen einzelner Familienmitgleider herumgeistert und zumeist nicht tiefgehender erläutert wird. Wer wagt es schon, alte Wunden aufzureißen, genauer nachzufragen?

Wie wirken sich Entscheidungen, die einzelne Familienmitglieder Generationen zuvor getroffen haben, auf ihre Nachfahren aus und gibt es so etwas, wie ein kollektives Familiengedächtnis? Maxim Leo meint ja, und begibt sich auf Spurensuche quer über den Erdball zu den Wurzeln seiner Familie.

Die Geschichte seiner Familie ist vor allem in der beginnenden Verzweigung der 30er-Jahre die Geschichte von Frauen, denen besonderes abverlangt wurde in besonderen Zeiten. Der Autor führte Interviews mit den Nachfahren, Kindern und Enkeln und findet sich plötzlich wieder im Strudel der Geschehnisse, die die Familie quer über den Erdball verteilten und nur ein paar Leos in Berlin zurückließen. Die Stadt, in der alles ihren Anfang nahm.

Einfühlsam und emotional müssen die langen Gespräche gewesen sein, die Maxim Leo mit unzähligen Mitgliedern geführt haben muss und so spürt er minutiös seiner eigenen Vergangenheit nach oder dem, was heute noch nachwirkt. Das ist beeindruckend und macht nachdenklich, aber auch Lust, die eigene Familiengeschichte mal etwas näher zu betrachten, mal etwas tiefgehender zu hinterfragen.

Ungemein spannend beschreibt er die Besonderheit der Zeit, der seine Vorfahren ausgesetzt waren, aber auch, dass die drei Frauen, deren Kinder, Enkel und Urenkel, heute in Wien, Haifa, London und im ländlichen Frankreich zu Hause sind, nicht zum Opfer werden wollten, sondern für sich und ihre Nachkommen ums Überleben gekämpft haben.

Er vollzieht die Geschichte nach und die Erkenntnis, dass wir vielleicht weniger selbst entscheiden als in unserem kollektiven Gedächtnis festgelegt ist, folgt auf den Fuße. Bleibt die Frage, warum man jemand anderes Familiensagen sich zu Gemüte führen sollte? Ganz einfach, weil Familie eben das ist, was man sich nicht aussuchen kann, was bleibt und was wir zu dieser machen. Zudem ist es interessant zu erfahren, wie ähnlich und doch verschieden sich manche Biografien verhalten und dass eben nicht alles so „warm und selbstverständlich“ ist, wie es zunächst scheint.

Autor:

Maxim Leo wurde 1970 in Ost-Berlin geboren und ist ein deutscher Journalisst, Drehbuchautor und Schriftsteller. Nach einer Ausbildung zum Chemielaboranten holte er 1990 das Abitur nach und studierte zunächst Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, sowie in Paris. Er war Nachrichtenredakteur bei RTL und seit 1997 ist er zudem Redakteur bei der Berliner Zeitung.

2002 bekam er für seine Arbeit den Deutsch-Französischen Journalistenpreis, 2006 den Theodor-Wolff-Preis verliehen. Er ist Autor mehrerer Spaß-Bücher, sowie 2011 eines biografischen Werkes, wofür er 2011 den Europäischen Buchpreis erhielt. 2018 erschien mit „Wo wir zu Hause sind“ ein weiteres biografisches Buch. Leo schreibt Drehbücher für die Serie „Tatort“ und lebt mit seiner Familie in Berlin.

Maxim Leo: Wo wir zu Hause sind Weiterlesen »

Christian Hardinghaus: Die Spionin der Charite

Die Spionin der Charite Book Cover
Die Spionin der Charite Christian Hardinghaus Europaverlag Erschienen am: 08.02.2019 Seiten: 240 ISBN: 978-3-95890-237-4

Inhalt:

Lily Kolbe, ehemalige Sekretärin des weltbekannten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch zerreißt wütend die Zeitung, als erneut an das Hitler-Attentat und den Widerstand um Stauffenberg erinnert wird, die Welt aber nichts vom Widerstand einer kleinen Gruppe bekannt ist, die sich innerhalb der Berliner Charite zu Kriegszeiten gebildet hatte.

Die acht Mitglieder hatten sich geschworen, ihre Aktionen geheim zu halten, doch jetzt will Lily ihr Schweigen brechen. Sie wendet sich an Eddie Bauer, einem Journalisten, erzählt ihre Geschichte, und bringt damit einen Stein ins rollen, der die Geister der Vergangenheit weckt. Plötzlich wird Lily von längst vergessenen Feinden bedroht, auch der Journalist verhält sich merkwürdig. Wen kann sie noch trauen? (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Es liegt in der Natur der Sache, dass ich mich schwer tue, wenn historischer Stoff ins Fiktionale übersetzt wird und aus wahren Begebenheiten eine Geschichte gestrickt wird. Tatsächlich bin ich jetzt kein Fan von historischen Romanen, zumal, wenn ich die Hintergründe der wahren Begebenheit kenne.

In sofern war es ein Fehler, das Sachbuch zur Thematik zuerst gelesen zu haben und erst dann den Roman, dennoch liegt mit „Der Spionin der Charite“ von Christian Hardinghaus im Europaverlag nun ein würdiges Äquivalent zum Sachbuch vor, welches der gleiche Autor über den Chirurgen der Charite, Ferdinand Sauerbruch, geschrieben hat.

Der Handlungsort des Romans ist dann auch im Wesentlichen die berühmte Klinik selbst, doch zunächst geht es etwas weniger weit zurück in die Vergangenheit. Der Leser erlebt Lily Kolbe, als wiederholt über das Attentat des 20. Juli 1994 berichtet wird. Es ist Jahrestag des selben und die ehemalige Sekretärin des oben erwähnten Chirurgen ärgert sich darüber, dass niemand vom ebenso mutigen Widerstand der Mitarbeiter der Klinik weiß.

Natürlich selbst schuld, da sich die Mitglieder des kleinen „Donnerstagclub“ geschworen hatten, niemanden etwas von ihren Aktionen zu sagen, doch in Lily brodelt es. Sie beschließt, den Journalisten Eddie Bauer zu kontaktieren und ihm ihre Geschichte zu erzählen. Doch, die Vergangenheit holt sie schneller ein als ihr lieb ist. Bald weiß sie nicht mehr, wen sie noch trauen kann. Auch Bauer verhält sich zunehmend merkwürdig.

Dies ist das Grundgerüst der Geschichte, die in größeren Abständen zwischen den Zeiträumen und damit auch der Handlungsebene wechselt. Mehr sei zum Inhalt jedoch auch nicht verraten. In kurzweilig einschlägigen Kapiteln schreitet die Handlung voran. Erst langsam, dann mit zunehmenden Tempo. Die Hauptprotagonistin gewinnt mit zunehmender Seitenzahl an Tiefe. Wahrheit und fiktion wurden hier, Zeile für Zeile, gekonnt miteinander verwoben.

Die Wendung zum Ende hin ist logisch, erfolgt aber gefühlt etwas zu abrupt. Das funktioniert, wenn man das Sachbuch „Ferdinand Sauerbruch und die Charite – Operationen gegen Hitler“ noch nicht gelesen und sich allgemein mit der Geschichte zu wenig beschäftigt hat. Anderenfalls verliert sich ein wenig die Wirkung, die der Autor erzielen wollte.

Hier hätten der Geschichte noch zwanzig bis fünfzig Seiten mehr gut getan, um die Lücke zu füllen, was aber durchaus anders sein kann, wenn man zuerst dieses Werk und dann das Sachbuch liest. Diesen kleinen Abstrich muss ich hier machen, kann jedoch ansonsten eine Empfehlung aussprechen für die, die gerne neuzeithistorische Romane lesen und etwas über ein wenig bekannteres Kapitel der deutschen Geschichte erfahren bzw. sich erst einmal da herantasten möchten. Es funktioniert.

Autor:

Christian Hardinghaus wurde 1978 in Osnabrück geboren und ist ein deutscher Historiker, Schriftsteller und Fachjournalist. Nach seinem Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft (Film und TV) promovierte er an der Universität Osnabrück im Bereich Propaganda- und Antisemitismusforschung.

Im gleichen Jahr absolvierte er den Lehrgang Fachjournalismus an der Freien Journalismusschule. 2016 erwarb er zudem den Abschluss für das gymnasiale Lehramt in den Fächern Deutsch und Geschichte. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane. Hardinghaus lebt in Osnabrück.

Christian Hardinghaus: Die Spionin der Charite Weiterlesen »

Masha Gessen/Misha Friedmann: Vergessen

Vergessen Book Cover
Vergessen Masha Gessen/Misha Friedmann dtv Erschienen am: 28.02.2019 Seiten: 160 ISBN: 978-3-423-28172-0

Inhalt:

In Kolyma, im Osten Sibiriens, leben Menschen, die die Geschichte vergessen zu haben scheint. Unter stalin als Zwangsarbeiter in die Uranminen deportiert, konnten sie sich dei Heimreise nach der Freilassung nicht leisten und leben bis heute neben den verfallenden Ruinen des Massenmords. Die preisgekrönte Journalistin Masha Gessen und der Fotograf Misha Friedman sind auf der Suche nach den Spuren des Gulag nach Russland gereist.

Sie haben die letzten Überlebenden und Angehörige der Opfer in Kolyma getroffen, haben in der Strafkolonie Perm aufgespürt, was heute noch vom System der Unterdrückung zu finden ist, und waren in den Todeswäldern Kareliens. mit den Mitteln des genau beobachtenden Journalismus und der Schwarzweißfotografie halten Gessen und Friedman fest, was im heutigen Russland, dem Putin ein Bild von Macht und Herrlichkeit verordnet hat, keinen Platz findet. „Vergessen“ ist ein Mahnmal der Erinnerung an den Archipel Gulag. (Klappentext)

Rezension:

Vergleichsweise schmal kommt dieser Band daher und präsentiert sich als Coffe Table Book, mit seinen schönen, jedoch sehr erdrückenden Schwarzweisfotografien. Doch, anders als die Wohlfühlbücher mancher Kataloge, erzählen die Bilder und dazugehörigen Texte die Geschichte von Verzweiflung und Leid, der in der Stalinzeit Verurteilten und in die verbannung geschickten Bevölkerung.

Jeden konnte es treffen, ob Parteimitglied, einfacher Angestellter, Bauer, ganz egal. Die Schätzungen der Opferzahlen reichen von Hunderttausenden bis hin zu Millionen. Viele verschwanden in den Lagern Sibiriens. Kolyma, ein Schreckens(w)ort.

Als der Nachfolger des „Stählernen“, Chruschtschow, die Verbrechen öffentlich machte, viele Häftlinge, längst nicht alle amnestierte, standen diese vor dem nichts. Viele konnten nicht mehr in ihre alte Heimat zurück. Sie blieben dort, wo sie waren. Ihre Nachfahren leben zum Teil heute noch dort.

Die Journalistin Masha Gessen und der Fotograf haben sich aufgemacht, in die Wälder Kareliens und in den sibierischen Osten des Landes, stießen auf Überreste des Schreckes und den Versuch, Erinnerung zu wahren und zu interpretieren.

Wie gedenkt man den Opfern der Stalinzeit im heutigen Russland, welchen Umgang pflegt man mit den taten und warum fällt eine Aufarbeitung dessen, was geschah, so schwer? Mit den Blick für’s Wesentliche besuchten die beiden Autoren Nachfahren der Verbannten und Menschen, die die offizielle Politik Russlands übernommen haben und so die Gedinkrichtung des Landes bestimmen.

Ein Gang durch einen Park gestürzter Skulpturen gehört ebenso dazu, wie eine Lagerstätte, die zum Süpielplatz mit historischen Kolorit für Putins Nationalisten avancierte.

Was bleibt übrig und welcher Umgang mit Geschichte ist der Richtige? Wie Gedenken in einem Land, in der es zu viele Täter gab, die Opfer waren und umgekehrt? Der Eindruck eines eigenwilligen und bezeichnenden Geschichtsverständnisses, gekoppelt mit den Schicksal der Menschen, auf deren Rücken ein Konflikt um die historische Wahrhaftigkeit ausgefochten wird.

Der Leser bleibt indes ratlos zurück. Für ihr Werk haben Gessen und Friedman den Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung 2019 bekommen, und werfen damit mehr Fragen auf, als sie beantworten können. Immerhin wird das Blickfeld ungemein erweitert. Aber, ob das ausreicht?

Autoren:

Masha Gessen wurde 1967 in Moskau geboren und emigrierte Anfang der 1980er Jahre mit ihren Eltern in die USA. Nach Ende der Sowjetunion berichtete sie als Journalistin aus der russischen Hauptstadt und gilt als eine der Stimmen der Opposition gegen Wladimir Putin.

Ihre Biografie über ihn war ein internationaler Bestseller. Sie bekam den National Book Award verliehen und den Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung (2019). Sie lebt mit Frau und zwei Kindern in New York City und schreibt für The New Yorker und The New York Times.

Misha Friedman wurde 1977 geboren, auf den Gebiet der heutigen Republik Moldau. Auch er emigirerte, studierte zunächst Wirtschaft und Internationale Beziehungen in Großbritannien und den USA. On seiner Arbeit als Fotograf beschäftigt er sich mit der Ukraine und Russland, mit Korruption und Patriotismus.

Für seine Arbeit erhielt er u.a, den Preis des Pulitzer Center on Crisis Reporting. Friedman lebt ebenfalls mit seiner Familie in New York City, arbeitet für diverse Zeitungen und Zeitschriften. In Deutschland erschienen seine Arbeiten u.a. in der Zeitschrift Der Spiegel.

Masha Gessen/Misha Friedmann: Vergessen Weiterlesen »

Christian Hardinghaus: Ferdinand Sauerbruch und die Charite

Ferdinand Sauerbruch und die Charite Book Cover
Ferdinand Sauerbruch und die Charite Christian Hardinghaus Europaverlag Erschienen am: 08.02.2019 Seiten: 234 ISBN: 978-3-95890-236-7

Inhalt:

Ungeachtet seiner medizinischen Verdienste zählt Ferdinand Sauerbruch zu den umstrittensten Ärzten des letzten Jahrhunderts. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte ein fast heroisches Bild des Menschen und Mediziners, der ab 1928 als Professor für Chirugie an der Berliner Charite arbeitete. Dafür gesorgt hat er teilwesie selbst, doch seit Beginn unseres Jahrhunderts wird der Blick zunehmend kritischer.

Sympathie, ja sogar Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten, wirft man dem Chirugen vor. Christian Hardinghaus begab sich auf Spurensuche und recherchierte. Herausgekommen dabei ist die erste umfassende Biografie dieses Arztes. Quellen belegen seinen Einsatz für Juden und andere politisch Verfolgte und Sauerbruchs Unterstützung des Widerstands gegen Hitler. Der Mediziner Ferdinand Sauerbruch muss neu bewertet werden. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Das berühmteste und bekannteste Krankenhaus Deutschlands, die Charite, hat eine lange und wechselhafte Geschichte vorzuweisen, die immer wieder auch medizinische Standards setzte und bedeutende Ärzte und Forscher hervorbrachte. Zu den Bekannteren unter ihnen gehört nicht zuletzt Ferdinand Sauerbruch, der in den 1930er Jahren dort als Chirug arbeitete und dessen Ruf ihn vorauseilte.

Doch, war er wirklich der „Halbgott in Weiß“, als der er in einer mit Hilfe eines Ghostwriters geschriebenen Biografie dargestellt wurde oder eher ein Kollaborateur der Nazis, wie ihn spätere Berichte nannten? Der Journalist und Autor Christian Sauerbruch begab sich auf Spurensuche. Herausgekommen dabei ist eine umfassende, alle Aspekte beleuchtende, Biografie.

Der Autor beginnt bewusst nicht mit der Geschichte Sauerbruchs selbst, sondern stellt zunächst in Kurzform die des Krankenhauses vor, was erklärt, warum die Charite später die Bedeutung erlangen konnte, die sie noch heute inne hat. Erst dann widmet sich Hardinghaus den Privat- und Berufsmenschen Sauerbruch und beschreibt, gestützt auf Tagebücher, niedergeschriebene Augenzeugenberichte und Archivmaterial, minutiös den Aufstieg und Werdegang eines Schülers zum Studenten, bis hin zum später bedeutenden Arzt.

Seine Genialität, die ihm half, medizinische Unterdruckkammern zu entwickeln, mit denen erstmals Operationen am offenen Brustkorb möglich wurden, wird ebenso beleuchtet, wie die eigene Entwicklung von protesen für Geschädigte des Ersten Weltkrieges, aber auch außergewöhnliche medizinische maßnahmen, die landesweit Aufsehen erregten.

Der Autor geht dabei sehr tief ins Detail und beleuchtet diese, wie auch die persönliche, etwas schwierigere Seite eines Mannes, den später vor allem in drei Punkten seines Lebens Anschuldigungen treffen sollten, die den Ruf des Mediziners auseinander nahmen.

Doch, was ist an den Kritikpunkten dran, auch dies verliert der Autor nicht aus den Blick. Jeder einzelne wird beleuchtet, Hintergründe erklärt und im Spiegel des Zeitgeschehens und dem, was wir heute wissen, beleuchtet.

Herausgekommen ist eine lesenswerte und vor allem kurzweilige Biografie, die ein differenziertes Bild auf einen Mediziner ermöglicht, dessen Wirken auch in Kriegszeiten weit über die Grenzen Deutschlands Beachtung fand, ihn und die direkt mit ihn in Kontakt Gestandenen schützten und vor allem ein Stück Berliner Personengeschichte, die nicht vergessen werden sollte.

Anhand von Augenzeugenberichten, Tagebucheinträgen und Archivmaterial, aufgelockert durch Fotografien und Skizzen, etwa medizinischer Apparaturen, ist ein bedeutendes Stück Medizingeschichte zu lesen. Selbst für medizinische Laien.

Der Schreibstil von Hardinghaus packt wie in einem Roman, nur dass mit „Ferdinand Sauerbruch und die Charite“ fast ein literarisches Sachbuch vorliegt. Wobei das Sachbuch eindeutig überwiegt. Die Recherchearbeit merkt man dabei auf jeder einzelnen Seite, das wirkliche Interesse, die Person zu ergründen, ebenso.

Der Autor zeigt einen Mann zwischen Berufsethos, Anpassung und Widerstandsgeist, Genie und Wahnsinn und einen besonderen Menschen in besonderer Zeit, der sich für nicht besonders hielt, seiner Wirkung aber bewusst war. Skalpell bitte.

Autor:

Christian Hardinghaus wurde 1978 in Osnabrück geboren und ist ein deutscher Historiker, Schriftsteller und Fachjournalist. Nach seinem Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft (Film und TV) promovierte er an der Universität Osnabrück im Bereich Propaganda- und Antisemitismusforschung.

Im gleichen Jahr absolvierte er den Lehrgang Fachjournalismus an der Freien Journalismusschule. 2016 erwarb er zudem den Abschluss für das gymnasiale Lehramt in den Fächern Deutsch und Geschichte. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane. Hardinghaus lebt in Osnabrück.

Christian Hardinghaus: Ferdinand Sauerbruch und die Charite Weiterlesen »

Constanze John: 40 Tage Georgien

40 Tage Georgien Book Cover
40 Tage Georgien Reisebericht Mairdumont Taschenbuch Seiten: 441 ISBN: 978-3-7701-8293-0

Inhalt:
„Italien des Ostens“. „Balkon Europas“. Die Kaukasus-Republik Georgien hat sich seit ihrer Unabhängigkeit 1991 viele Namen gemacht. Doch welches Land verbirgt sich dahinter? Und welche verborgenenen Reize hält es für Reisende bereit? Constanze John erkunden Georgien von seiner Hauptstadt Tiflis aus in alle Himmelsrichtungen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder auch mal zu Fuß. Sie reist zu Klöstern und Kathedralen, sucht das Gespräch mit alteingesessenen Einheimischen und Schulklassen. Eine faszinierende Reise auf der Suche nach der Seele Georgiens. (Klappentext)

Rezension:

Wir sind Gäste in dieser Welt der Minute,

Wir vergehen, und die Nächsten bleiben hier.

Was wir miteinander tun,

all diese freundlichen und angenehmen Dinge –

das ist es doch, wofür wir leben, oder?

Was, außer dem, werden sie mit in unsere Gräber legen?

Nur drei Meter Leinwand, nur“

Zutisopeli oder Die Minutenwelt

Zitat „Zutisopeli oder Die Minutenwelt“, abgedruckt in C. John: „40 Tage Armenien“.

Georgien ist die wahrhafte Minutenwelt. Nicht zuletzt deswegen kennt fast jeder Georgier dieses kleine Gedicht, welches die Geisteshaltung der Menschen spiegelt, die dort leben. Georgien, dass ist ein kleines Land an der Grenze zwischen Europa und Asien, das zweite offiziell christliche der Welt. Es ist die Heimat guten Weines, ja, vieler Weine, einer großen Kultur, aber auch Geburtsland Stalins und ort schwelender Konflikte.

Das kleine gebeutetelte Land zu entdecken, Künstlern, Schriftstellern und den Menschen nachspüren, die dort leben, dies hat sich Constanze John zur Aufgabe gemacht, als sie das Land, welches viele kirchen und Klöster, aber auch eine dramatische Landschaft vorzuweisen hat. Herausgekommen dabei ist ein Reisebericht über die Seele Georgiens.

Wie schon im Bericht zuvor, über Armenien, begegnet die Autorin den Menschen, die sie trifft, voller Neugier und Sympathie und berichtet von einer Vielfalt, die man so als Leser nicht erwartet, wenn man überhaupt schon eine Vorstellung von diesem kleinen Land hatte. Diese Gedanken kann man dann auch gleich wieder über Bord werfen. Vierzig Tage lässt sich Constanze John mal in die eine, mal in die andere Richtung treiben. Zufälle und Verabredungen bestimmen den Weg, auf dem sie der „Minutenwelt“ auf die Spur kommen möchte.

Mit literarischen Geist und Gespür für die Menschen trifft sie auf Künstler, Schriftsteller, Weinbauern, die versuchen, in den von Konflikten gebeutelten Land ihr Auskommen zu finden, lässt sich von den Auswirkungen des schwelenden Konfliktes mit Russland erzählen, aber auch von großen und kleinen Erfolgen, und den Umgang mit Georgiens jüngerer Geschichte. So vielfältig der Reisebericht, fast literarisch die Erzählweise, so sachlich nimmt sie Ideen und Eindrücke auf und schafft so ein komplexes Bild, welches ein Land im Wandel zeigt.

Gerade, wenn man mit georgischer Literatur nicht besonders vertraut ist, bietet der Bericht einen interessanten Ansatz, das Land zu entdecken. Die Autorin erzählt von Dichtung und Autoren großer Romane, von Künstlern, die diesem kleinen unbedeutenden Land Achtung verschaffen, von den Alten, die von der Geschichte gebeutelt sind und den jungen Menschen, die ihr Glück suchen.

Der Blick auf dramatische Bergdörfer fehlt nicht, ebenso wenig wie die Betrachtung quicklebendiger und wandlungsfähiger Städte. Wer in Georgien zu Gast ist, wird freundlich aufgenommen und verliebt sich sofort, wenn auch meist erst auf den zweiten Blick.

Streckenweise etwas anstrengend zu lesen, ergibt sich dennoch ein interessantes Bild, welches man so von Georgien nicht hatte und der Wunsch, eben dies selbst zu entdecken, schält sich heraus. Die Autorin schafft es hier, wie auch zuletzt in „40 Tage Armenien“, dass man praktisch als nebenstehende Figur mit ihr dieses Land bereist, mal mit ernsten Blick, dann wieder mit großem Humor. Mehr gibt es dabei nicht zu sagen, es ist eben ein Reisebericht. Jedoch einer, der besonderen Sorte. So besonders, wie Georgien selbst.

Autorin:

Constanze John wurde 1959 in Leipzig geboren und ist eine deutsche Schriftstellerin. Sie studierte nach der Schule Germanistik, Geschichte und Pädagogik an der Universität zu Leipzig, lebte zeitweilig in Rostock und absolvierte ein Fernstudium am Literaturinstitut Leipzig von 1984-1987. Seit 1998 ist sie freiberufliche Schriftstellerin, veröffentlichte jedoch seit 1987 Gedichte, sowie ein Werk über Sagen der Region Zwickau.

Seit 2012 leitet die Autorin die Schreibwerkstatt für Kinder und Jugendliche im Haus des Buches Leipzig. Für Deutschlandfunk und Deutschlandradio erarbietete sie mehrere Reisereportagen. Mehrere Auslandsreisen bildeten die Grundlage für ihre Veröffentlichungen im DuMont-Reiseverlag über Armenien und Georgien. Die Autorin wurde mehrfach ausgezeichnet.

Constanze John: 40 Tage Georgien Weiterlesen »

Constanze John: 40 Tage Armenien

40 Tage Armenien Book Cover
40 Tage Armenien Reisebericht Mairdumont Taschenbuch Seiten: 376 ISBN: 978-3-7701-8298-5

Inhalt:
Die preisgekrönte Autorin Constanze John gibt Einblicke in die Gesellschaft, Mythologie und Geschichte des heutigen Armenien. Trampend von Kloster zu Kloster oder mit Bus, Marschrutka und Taxi zu archäologischen Grabungsstätten, zyklopischen Festungsanlagen und ins vulkanisch geprägte Hochland. Eine Reise in eines der ältesten christlichen Länder der Welt, das Land der Steine, an der Grenze zwischen Christentum und Islam, zwischen Europa und Asien. (Klappentext)

Rezension:
Reiseberichte lese ich persönlich zwar gerne, fasse sie aber mehr als kritisch mit den Fingerspitzen an. Das liegt an meiner Berufswahl und der nahezu täglichen Konfrontation mit den deutschen Blick, der am liebsten in die Ferne schweift, aber im Grunde Deutschland in Kleinformat in seinem Hotelzimmer haben möchte. Das funktioniert nicht einmal im nahen europäischen Ausland. Wie sieht es dann mit einer uns hierzulande geradezu unbekannten Region aus?

Über Armenien weiß der Durchschnittsdeutsche wahrscheinlich so gut wie nichts. Unseren mitteleuropäischen Nachbarn wird es kaum anders ergehen, warum also dorthin reisen? Constanze John hat sich aufgemacht, um Land und Menschen zu entdecken, die sich einem erst auf den zweiten oder dritten Blick erschließen, einem dann jedoch in ihre Herzen schließen. Quer durch’s Land reist sie mit den unterschiedlichsten Verkehrsmitteln durch das „Land der Steine“ und nimmt sich 40 Tage Zeit den Menschen Armeniens zu begegnen.

Streifzüge durch die Geschichte nimmt sie ebenso auf, wie sie zahlreiche Legenden Armeniens sammelt und den besonderen Bedingungen nachspürt, die Armenien so einzigartig machen. Spielball der großen Nachbarstaaten, das Drama um den Völkermord 1915 sitzt immernoch tief im Bewusstsein, sowie den geologischen Gegebenheiten und schwierigen poltischen wie wirtschaftlichen Sackgassen, in der sich die meisten Armenier befinden. Dieses Gebräu ist empfindlich, trotzdem ist der Optimismus und der Glaube an die Zukunft des Landes ungebrochen.

In kurzweiligen und abwechslungsreichen Kapiteln begleiten wir die Autorin durch ein überraschend vielschichtiges Land, welches mit als ältestes christliches Gebiet gelten darf und entdecken, wie ein Brot zum Nationalsymbol avanciert, Literatur gelebt wird und der Blick ins Positve trotz zahlreicher Rückschläge gelingen kann. Die Autorin zeigt sich dabei nicht unkritisch, jedoch mit genauer Beobachtungsgabe und fast ist es so, als würde man selbst die Kloster oder einen armenischen Markt betreten, über Literatur und Archäologie mit den Einheimischen diskutieren und die vielseitige Landschaft bestaunen.

Man erfährt viel, nimmt wie die Autorin die Freundlichkeit und das Wissen der Menschen um ihr Land auf, bekommt gerade zu Lust, dieses Land zu entdecken. Landkarten zu Beginn eines jeden kapitels dienen der Orientierung, gleichzeitig das Quellenverzeichnis mit ergänzenden Literaturhinweisen, etwa auf Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, welches die traurige Seite der Geschichte Armeniens im Gedächtnis der Menschen konserviert hat.

Dieser Reisebericht ist kein neutraler Reiseführer, sondern eine Ermunterung, auf die Menschen zuzugehen, die dort leben. So und nicht anders sollte man dies lesen und vielleicht als eines der nächsten Reiseziele Armenien ins Auge fassen. Es wäre kein Fehler.

Autorin:
Constanze John wurde 1959 in Leipzig geboren und ist eine deutsche Schriftstellerin. Sie studierte nach der Schule Germanistik, Geschichte und Pädagogik an der Universität zu Leipzig, lebte zeitweilig in Rostock und absolvierte ein Fernstudium am Literaturinstitut Leipzig von 1984-1987. Seit 1998 ist sie freiberufliche Schriftstellerin, veröffentlichte jedoch seit 1987 Gedichte, sowie ein Werk über Sagen der Region Zwickau.

Seit 2012 leitet die Autorin die Schreibwerkstatt für Kinder und Jugendliche im Haus des Buches Leipzig. Für Deutschlandfunk und Deutschlandradio erarbietete sie mehrere Reisereportagen. Mehrere Auslandsreisen bildeten die Grundlage für ihre Veröffentlichungen im DuMont-Reiseverlag über Armenien und Georgien. Die Autorin wurde mehrfach ausgezeichnet.

Constanze John: 40 Tage Armenien Weiterlesen »

Gerald Durrell: Korfu 1 – Meine Familie und andere Tiere

Meine Familie und andere Tiere Book Cover
Meine Familie und andere Tiere Gerald Durrell Rezensionsexemplar/Biografie Piper Verlag Hardcover Seiten: 399 ISBN: 978-3-492-05917-6

Inhalt:

Gerald Durrell erinnert sich an seine wundervoll sorglose Kindheit. Und erweckt sie in diesem witzig sinnlichen Familienroman noch einmal zum Leben. Britischer Humor trifft auf griechische Kauzigkeit, kindliche Beobachtungslust auf tierische Mitbewohner und die flirrende Atmosphäre der Insel. Selten durfte man sich bei großer Literatur so herrlich amüsieren. Geralds liebenswerte Familie und die unverstellt charmanten Korfioten machen diesen englischen Klassiker in neuer Übersetzung zu einer wahren Wiederentdeckung. (Klappentext)

Reihenfolge der Bücher:

Gerald Durrell: Korfu 1 – Meine Familie und andere Tiere

Gerald Durrell: Korfu 2 – Vögel, Viecher und Verwandte

Gerald Durrell: Korfu 3 – Im Garten der Götter

[Einklappen]

Rezension:

Klappentexte wecken Erwartungen und der zum Roman „Meine Familie und andere Tiere“ vorliegende stapelt nicht gerade tief. Entsprechend skeptisch geht man als Leser an die Lektüre heran, gleichwohl man mit aller Ehrlichkeit konsultieren muss, dass Fanmilienleben doch genau so, und nicht anders ist oder zumindest so sein sollte. Chaotisch, impulsiv, verquer, sonderbar und ereignisreich. Der Zoologe Gerald Durrell, der an sich nur über die Tier- und Pflanzenwelt der griechischen Insel Korfu schreiben wollte, nimmt den Leser mit auf eine Reise, zum Sehnsuchtsort seiner Kindheit.

Mit den Durrells, deren Geschichte, besonders eben das Leben auf der Insel im Mittelmeer, betreits mehrfach verfilmt wurde, begibt sich der Leser nach Korfu und hinein, in ein großes Abentuer, dessen chaotische Auswirkungen nicht nur Gerald und dessen Familie in ihren Bann ziehen. Britischer ordnungssinn trifft auf familiäres Chaos und auf mediterrane Gelassenheit, so dass zwangsläufig urkomische Situationen entstehen lassen. Die Charaktere, durch die Beobachtungsgabe des Autoren mit den Blick des Familienmitglieds intensiv und sehr detailliert gezeichnet, nehmen den Leser sofort für sich ein, wobei an sich nicht viel passiert.

Tatsächlich ist der Handlungsverlauf eher ruhig, wenn man eben vom Zusammenspiel der Personen und deren Auswirkungen mal absieht, aber aus Sicht des Kindes Gerald „Gerry“ Durrells passiert eben doch eine ganze Menge. Mit der Lust am Beobachten lässt uns der Autor an den Beginnen seiner zoologischen Interessen teilhaben, aber auch die Beschreibungen der Menschen um ihn herum sind mehr als amüsant. Zwar wünscht man sich manche Ausführungen noch genauer, bleiben einige Figuren vergleichsweise blass, dennoch fliegen die Seiten nur so dahin, ohne dass man allzu viel vermisst.

Britischen Humor sollte man allerdings mögen. wer damit nichts anfangen kann und den Zugang nur schwer findet, ist mit diesen Roman falsch bedient. Für alle anderen erweckt Durrell die Sehnsucht, diese gleichsam chaotische wie liebenswerte Insel und ihre Bewohner, tierisch und menschlich, zu entdecken und sich einmal näher mit den Leben und Wirken der Durrells zu beschäftigen, die nicht nur einen, in der Fachwelt, hoch akzeptierten Zoologen hervorgebracht haben, sondern auch einen Schriftsteller, einer der älteren Brüder Gerald Durrells, der mehrmals haarscharf am Nobelpreis für Literatur vorbei geschrammt ist. Die Grundlagen dafür liegen auf Korfu.

Der Autor unterlässt es, zu erzählen, wie die Familie sich auf Korfu über Wasser gehalten hat, gibt jedoch interessante Einblicke in ein Leben, welches in vielerlei Sicht heute nicht mehr so hätte stattfinden können. Um so faszinierender der Werdegang des Autoren und Zoologen, dessen Erlebnisse mit Tieren und Menschen nicht nur ein Schmunzeln hervorrufen dürften. Diese Erzählung ist positiv und lebensbejahend, sollte auch nur unter diesen Gesichtspunkt gelesen werden. Für Tierhalter, Naturfreunde, Mittelmeer-Liebhaber und Familienmenschen eine unbedingte Empfehlung.

Autor:

Gerald Durrell wurde 1925 in Indien geboren und war ein britischer Autodidakt und Zoologe. 1935 wanderte seine Familie nach Korfu aus, wo Durrell einen Teil seiner Kindheit verbrachte, musste jedoch unter den Eindruck des Krieges 1939 nach England übersiedeln. Er arbeitete zunächst als Tierpfleger und Tierfänger, unternahm später mehrere Expeditionen, u.a. mach Mexiko und Madagaskar.

Durrell arbeite für mehrere Fernsehsender and Dokumentationen und schrieb Bücher über Tiere und Zoohaltung. 1959 gründete er einen eigenen Zoo, 1980 eine Mini-Universität, die bis heute in Techniken zur Bewahrung von Tierarten ausbildet. Er starb 1995 auf Jersey.

Gerald Durrell: Korfu 1 – Meine Familie und andere Tiere Weiterlesen »

Bettina Röhl: „Die RAF hat Euch lieb“

"Die RAF hat Euch lieb" Book Cover
„Die RAF hat Euch lieb“ Sachbuch Hardcover Erschienen am: 10.04.2018 Seiten: 639 ISBN: 978-3-4532-0150-7

Inhalt: Bettina Röhl über den Paradigmenwechsel 68, die Gründung der RAF und den Mythos um ihre Mutter Ulrike Meinhof.

Brauchte die Bundesrepublik die Revolte von 68? Die APO-Bewegung und ihre „Speerspitze“, die RAF, sind die wohl meist beschriebenen Themen der neueren politischen Geschichte des Landes. Anhand bisher unbekannter Fakten und Dokumente und der Stimmen neuer Zeitzeugen erzählt die Autorin, die als Kind die Gründung der RAF hautnah miterlebte, die scheinbar bekannte Geschichte noch einmal neu. Bettina Röhl liefert eine durchrecherchierte Erzählung und eine umfassende Analyse, die den Urknall von 68 fühlbar macht. (Klappentext)

Rezension:

Geschichte wird immer dann lebendig, wenn sie von Zeitzeugen spannend und mit viel Hintergrundwissen erzählt wird. Die Autorin Bettina Röhl hat diese Kenntnisse und vertiefte sie zudem durch eigene Recherche, sammelte Schriftstücke und befragte Zeitzeugen, die das, was sie erlebte, verifizieren und aus einer anderen Perspektive erzählen können.

Herausgekommen ist ein umfassendes Portrait einer der umstrittensten und zugleich sagenumwobenden Personen der jüngeren deutschen Geschichte. Der Werdegang und die Radikalisierung Ulrike Meinhofs.

Die linke Journalistin, die sich von der APO-Bewegung und Rudi Dutschke angezogen fühlt, radikalisierte sich, wie einige andere auch und beschloss auf den Worten, welche zeitlebens ihre stärkste Waffe bleiben sollten, Taten folgen zu lassen, die die Ziele der Bewegung ad absurdum führten. Ihre Tochter Bettina Röhl erzählt Meinhofs Werdegang, der zugleich Auf- wie Abstieg ist und analysiert haarscharf die 68er Bewegung, nimmt sie wahrharftig auseinander, bevor sie ebenso unerbittlich und ohne rosa Brille ihre Mutter von so manchen Sockel stößt.

Unterlegt mit der anwaltlichen Korrespondenz der Meinhof mit ihren Anwälten, sowie Interviews mit ehemaligen Weggefährten geht sie dem auf den Grund, warum ihre Mutter in den Terrorismus abglitt und den Irrweg nicht mehr klar sah.

Die Autorin argumentiert sachlich, zeigt jedoch immer wieder auch die Perspektive der Wahrnehmung in ihrer Kindheit und stellt beides, ihr Erleben und das ihrer Mutter gegenüber, ergänzt durch Zeitzeugenberichte und Interviews, sowie Briefwechsel. Mehr braucht Bettina Röhl nicht, um neben Butz Peters‘ „Tödlicher Irrtum“ oder etwa Stefan Austs „Der Baader Meinhof Komplex“ bestehen zu können, und zudem neue interessante Einblicke zu liefern.

Nichts verklärend, immer sachlich trennt sie die Wahrnehmung des Kindes Bettina Röhl mit den Geschehnissen und schrecklichen Auswirkungen der Taten der 68er Bewegung, insbesondere der Ereignisse um Ulrike Meinhof selbst und schafft damit eine neue Perspektive, die zu wichtig ist, um sie unter den Tisch fallen zu lassen.

Jenseits aller verklärender, auf sensationsheischender Sicht ausstehender Literatur geht die Autorin wohltuend sachlich und argumentativ genau mit der Thematik um, so dass man nicht umhin kommt, Röhl zu lesen, um Meinhof zu fassen. Der Versuch zu verstehen mag nicht jeden gelingen, aber den Blick zu schärfen schafft die Autorin unbedingt.

Autorin:

Bettina Röhl wurde 1962 in Hamburg geboren und ist eine deutsche Journalistin und Autorin. Ihre Eltern sind der Verleger klaus Rainer Röhl und die spätere Terroristin der RAF Ulrike Meinhof. Röhl wuchs zunächst bei ihren Eltern, später nach der Trennung der Eltern bei ihrer Mutter auf, bis diese in den Untergrund abtauchte.

Nachdem Röhl in ein Flüchtlingslager nach Sizilien entführt wurde, mit dem Ziel den Vater das Sorge- und Zugriffsrecht zu entziehen, wurden Röhl und ihre Schwester durch einen RAF-Aussteiger und den Journalisten Stefan Aust befreit. 1982 legte sie das Abitur ab und studierte Geschichte und Germanstik. Seit dem arbeitet sie für verschiedene Zeitschriften und Magazine.

Bettina Röhl: „Die RAF hat Euch lieb“ Weiterlesen »

Andre Francois-Poncet: Botschafter in Berlin 1931-1938 (1)

Botschafter in Berlin 1931-1938 Book Cover
Botschafter in Berlin 1931-1938 Andre Francois-Poncet
Buchserie: Teil 1
Europaverlag Erschienen am: 21.09.2018 (Neuauflage) Hardcover ISBN: 978-3-95890-224-4

Inhalt:

Andre Francois-Poncet war seinerzeit der dienstälteste und erfahrenste Diplomat und Botschafter im Deutschen Reich, der den Aufstieg der Nazis in Berlin beobachtete und für sein Land analysierte.

Von 1931 an schrieb er regelmäßig Telegramme und schickte Berichte an das französische Außenministerium, konferierte mit Nazi-Größen und stellt im ersten Teil seiner Erinnerungen dar, wie Rechtstaatlichkeit und Demokratie unterwandert und ausgehölt wurden, wie der politische Quereinsteiger Hitler zum mächtigsten Mann werden sollte, der Europa und die Welt in den Abgrund stürzte.

Von der Machtergreifung bis zum letzten Aufbäumen des Friedens, der Konferenz von München, skizziert Francois-Poncet die deutsche Politik der 1930er Jahre. ihre Wirkung im Inneren und auf das Ausland. (eigene Inhaltsangabe)

Bücher der Reihe:

Andre Francois-Poncet: Botschafter in Berlin 1931-1938 (1)

Andre Francois-Poncet: Von Versailles bis Potsdam (2)

Andre Francois-Poncet: Tagebuch eines Gefangenen (3)

[Einklappen]

Rezension:
Von vielen Seiten ist sie bereits beschrieben worden und wird auch immer noch beleuchtet werden, die deutsche Geschichte in wundersamen aber grausamen Zeiten.

Grausam, weil nur wenige Zeitgenossen ernstnahmen, was ihre Schlächter laut verkündeten, einige hießen die Vorhaben sogar gut, wundersam, weil sich nicht wenige die Augen rieben ob der neuen Töne, die im Regierungsviertel Berlins der 1930er Jahre herrschten. Dies nun sind die neu aufgelegten Erinnerungen des wohl erfahrensten Diplomaten jener Zeit, des französischen Botschafters Andre Fracois-Poncet 1931-1938.

Neu verlegt im Europaverlag öffnen sich dem Leser die Türen des diplomatischen Parketts und er erfährt, welche Hürden die Politik des Auslands im Umgang mit den neuen Machthabern des Deutschen Reiches zu nehmen hatten, woran sie schließlich scheitern sollten.

Zwei Jahre nach Kriegsende in Frankreich erstmals erschienen, ein wenig später auch dort, was von Deutschland übrig geblieben war, erzählt Francois-Poncet, wie er erstaunt die Erosion der Rechtstaatlichkeit und demokratie zur Kenntnis nehmen musste und welche Schwierigkeiten sich ergaben, erkannten die neuen Machthaber gültige Verträge nur scheinbar an, nutzten Hintertürchen und spielten mit falschen Karten, um In- und Ausland immer wieder vor vollendete Tatsachen zu stellen, die in den Abgrund führen sollten.

Detailliert schildert der ehemalige Botschafter Begegnungen mit Nazi-größen von Göring bis Hitler, beschreibt die brodelnde Stimmung auf den Straßen Berlins und die Vorgänge des Notenaustausches zwischen den Alliierten des Ersten Weltkrieges, die nicht an einem Strang zogen und somit die Tore öffneten, für das politsche Va banque Spiel, welches die Nazis auszureizen wussten.

Pointiert beschreibt der Autor die Entmachtung der Weimarer Demokratie, die Vorgänge zur Machtsicherung um den Röhm-Putsch und schildert, welch politische Hektik dem Austritt deutschlands aus den Völkerbund oder dem Ende von Locarno voraus gingen.

Bishin zum letzten Aufbäumen, der Münchener Konferenz, gelingt so ein Blick hinter die Kulissen und abseits des Geschichtsunterricht bekommt der Leser ein Gefühl dafür, wie aufwendig und fragil es war, mit den Nazis Politik zu machen, die dann doch nicht halten sollte.

Im Gegensatz zu seinen privaten Erinnerungen „Tagebuch eines Gefangenen“, die später veröffentlicht wurden, ist hier der Ton lt. des Herausgebers Thomas Gayda sehr diplomatisch gehalten, eben so, wie Francois-Poncet die Mehrheit der Deutschen, deren Kultur er schätzte, verstand.

Um so größer wirkt die Erschütterung, die der Autor durchblicken lässt, resultierend aus unerhörten Ereignissen in unerhörten Tagen. Dem kann man sich als Leser kaum entziehen. Die Sogwirkung solcher Zeitzeugenberichte ist einfach zu groß und gerade darin liegt der Wert des Berichts, zumal hier eben mal eine ganz andere Draufsicht, die französische, als die bekanntere Sicht deutscher Zeitzeugen oder die amerikanischer und britischer Historiker, zum Tragen kommt.

Das funktioniert auch heute noch. Ja, vielleicht sogar besonders gut, wo sich wieder eine Partei in Deutschland anschickt, demokratische und rechtstaatliche Werte auszuhöhlen.

Francois-Poncet hätte die Parallelen mit Sicherheit gesehen und davor gewarnt und so ist „Botschafter in Berlin 1931-1938“ ein hoch politisches und aktuelles Dokument, welches ernstgenommen werden muss. Zu viel steht auf den Spiel.

Ein gut lesbarer und erschütternder Bericht, über das, was damals niemand wahrhaben wollte, auch im benachbarten Ausland nicht und eine Analyse dessen, wie schnell die demokratischen Fundamente von Weimar unter den willfährigen Händen der Nazis und ihrer Gönner zerbröselten, die später die Deutschen mitsamt ihrer neuen Führungsriege in den Abgrund stürzen sollten.

Der Diplomat Andre Francois-Poncet, der später wieder an die Deutschen glauben und einer der ersten befürworter einer Verständigung nach dem Krieg gewesen ist, beschreibt klar die internen und von außen sichtbaren Vorgänge und setzte sich ein Denk- und den Deutschen ein Mahnmal.

Es bleibt diesen überlassen, es heute wieder anzunehmen. Europas und Deutschlands Frieden wäre es zu wünschen.

Autor:
Andre Francois-Poncet wurde 1887 in Frankreich geboren und war Germanist, Politiker und Diplomat, französischer Botschafter in Berlin und später in Rom. Nach dem Krieg begleitete er den Posten des französischen Hohen Kommissars in Deutschland von 1949-1955.

Er wurde 1943 von den Deutschen verhaftet. Nach der Befreiung begleitete er verschiedene diplomatische Posten und fungierte als Präsident des Französischen Roten Kreuzes 1955-1967, ab 1960 als Präsident des Rats der Europäischen Bewegung. Er starb 1978 in Paris.

Andre Francois-Poncet: Botschafter in Berlin 1931-1938 (1) Weiterlesen »