Inhalt:
Maria Luisa ist jung, intelligent, eigensinnig, eine gute Schülerin, die auch später konsequent ihren eigenen Weg verfolgt. Doch sie ist dick. Hoffnungslos dick. Dieser Umstand überlagert und beschädigt alles: ihre sozialen Kontakte, ihr Gefühlsleben, ihren Wirklichkeitsbezug. Neben ihrer dominanten Freundin Toni – schlank, schön, umschwärmt – ist sie „das Monster“, „der Blauwal“. Im Studium lernt sie David kennen, der ihren Körper begehrt, sich für ihr Aussehen schämt und schließlich die Beziehung beendet. Von den eigenen Eltern fühlt sie sich eingeschränkt, dennoch werden sie ihr nach deren Tod fehlen. Als Erwachsene fasst Maria Luisa den Entschluss, ihren Magen operativ verkleinern zu lassen. (abgeänderter Klappentext)
Rezension:
Melancholie und Wehmut ist den Portugiesen eigen. Diese Gefühle schwingen in sämtlichen Zeilen des Romans „Die Dicke“ aus der Feder der Autorin Isabela Figueiredo mit, die in ihren Text so viele erzählerische Spielarten vereint, dass alle etwas daraus ziehen können. Tatsächlich ist dies ein Gesellschaftsroman, ein Text über und gegen Mobbing, gegen Perfektionismus und pro Nonkonformität. Es ist eine Geschichte von Selbstfindung, gegen das Stromlinienförmige, aus der Rolle der Außenseiterin, die sich behaupten und entdecken muss.
Erzählt wird sie aus der Sicht der jungen Maria Luisa, die zielstrebig ihren Weg zu gehen versucht, im Schatten der Eltern, später im Internat, im Berufsleben und Privatem jedoch auch immer den Blicken der anderen ausgesetzt sind. Das einzige Manko, Übergewicht, über das andere nicht hinwegsehen können, dieses kommentieren. Die Protagonistin härtet nach außen ab, um innerlich an den Blicken und Bemerkungen fast zu zerbrechen, um später dann selbst einen Schlusstrich zu setzen. Bis dahin ist der Weg steinig, voller Hindernisse. Eine Achterbahn der Gefühle ohnehin.
Sterben wäre vielleicht gar nicht so schwierig, wenn wir nicht Mitleid hätten mit uns selbst und mit dem, was wir zurücklassen, aber das Sterben zu überleben, dem wir lebend beiwohnen, das auf unseren Schultern lastet, erfordert Kaltblütigkeit und Mut.
Isabela Figueiredo: Die Dicke
Immer ist die Protagonistin zwar umgeben von anderen, doch steht sie im Zentrum der Erzählung, die gleich zu Beginn das Körperliche betont. Andere Figuren werden kaum fassbar, in jedem Falle mit Ecken und Kanten, wenn auch Maria Luisa nicht weniger schwierig wirkt. Es ist kompliziert, so könnte der nicht genannte Untertitel lauten. Wer vermeintliche Makel besitzt, für den stimmt das wahrscheinlich, doch sind diese Charaktere nicht dazu angetan, den Lesenden die Lektüre zu erleichtern. Es ist ein drückender Roman, zu Teilen sehr angestrengt. Wer nicht perfekt ist, leidet. Und wer liest, der leidet mit.
Die Erzählperspektive bleibt die gesamte Länge über unverändert, nur der Standpunkt der Protagonistin ändert sich. Gefühlswelten schwanken wie der Boden unter den Füßen oder die Wirkung der Einrichtungen einzelner Zimmer einer Wohnung. So ist der Roman dann auch unterteilt. Für die Protagonistin ist zunächst vor allem das Essen von zentraler Bedeutung und so stehen die Kapitel „Eßzimmer und Küche“ auch im Mittelpunkt der Geschichte, die nach den Räumen einer Wohnung unterteilt ist.
Wer sieht den Schreibfehler? Ja, die Übersetzung orientiert sich nicht an der geübten Rechtschreibung. Jedes „daß“ sticht heraus und stößt unangenehm auf. Darüber ärgert man sich mehr als über manche Eigenheit der Protagonistin. Solche Formalitäten lenken ab von der interessanten Gestaltung des inneren Konflikts, den auschweifenden Gedankengängen, die ansonsten so sprachlich schön formuliert sind.
Das geht einfach nicht in einem heute veröffentlichten Roman, zumal wenn selbst ältere Texte für Neuauflagen konsequent der gültigen Rechtschreibung angepasst werden. Es soll ja schließlich lesbar bleiben. Mit ganz viel guten Willen kann man damit der Übersetzerin unterstellen, dass sie genau das Konforme der Protagonistin zeigen wollte. Die sprachlichen Formulierungen wären dazu jedoch vollkommen ausreichend gewesen.
Der Roman hat das Tempo der Melancholie mit der ihr eigenen Längen, die immer in den Formulierungen von Gedankengängen als innere Monologe entstehen. Darin verliert man sich jedoch, so dass diese nicht weiter störend sind. Das sind die Momente, wo die Figur besonders nahbar wirkt, Höhepunkte der Erzählung. Höhepunkte anderer Natur gibt es übrigens schon innerhalb der ersten fünfzig Seiten, ohne dass das viel zur Geschichte beiträgt. Wer es nötig hat.
Trotzdem lässt die Erzählung die Lesenden nicht los, spielt mit den Gefühlen, wie die Autorin mit den Gefühlen der Protagonistin spielt. Wie begegnen wir Menschen, die fortwährend uns an unsere Makel erinnern und aufmerksam machen? Wie viel Beachtung schenken wir Bemerkungen, die uns verletzen? Was macht das mit uns? Und wie schauen wir selbst auf Makel der anderen, zumal in Zeiten, wo alles und jeder perfekt zu sein hat, wie uns die Mehrheit der Gesellschaft weißmachen möchte.Diese Fragestellungen bestimmen seit jeher den Alltag der Menschen. Gehen wir den Weg der Protagonistin oder nehmen wir einen anderen? Nicht nur wer Isabela Figueiredos „Die Dicke“ gelesen hat, sollte sich diese Fragen stellen.
Autorin:
Isabela Figueiredo wurde 1963 in Mosambik geboren und ist eine portugiesische Schriftstellerin und Journalistin. Seit ihrem zwölften Lebensjahr lebt sie in Portugal und studierte Portugiesische Sprache und Literatur, bevor sie als Journalistin und Lehrerin tätig wurde. 1983 erschienen erste Texte von ihr, 1988 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. In ihren Werken setzt sie sich mit Körper und Rassismus auseinander, zudem hinterfragt sie immer wieder den portugiesischen Kolonialismus.