Wahrheit

Sasha Filipenko: Der Schatten einer offenen Tür

Inhalt:
Die gottverlassene Provinzstadt Ostrog wird von einer Suizidserie von Jugendlichen im Waisenhaus erschüttert. Kommissar Alexander Koslow aus Moskau soll die Ermittlungen in die Hand nehmen, doch die örtliche Polizei hat ihre eigenen Theorien. Als Petja, ein Sonderling mit einem Herzen für die Natur, verhaftet wird, glaubt Koslow nicht an dessen Schuld. Aber warum geriet Pietja damals derart außer sich, als der Bürgermeister von Ostrog den Heimkindern einen Griechenland-Urlaub spendieren wollte? Ein philosophischer Kriminalroman aus Russland, inspiriert von einer wahren Geschichte. (Klappentext)

Rezension:
Wenn Sasha Filipenko schreibt, werden große Themen aufgemacht und so erzählt er unter der Schicht einer spannenden Ermittlergeschichte in „Der Schatten einer offenen Tür“ von Korruption und Willkür, sowie der Perspektivlosigkeit der russischen Provinz, die brutal auf das Leben der Menschen dort einwirkt. Der Roman, der von der Struktur einem schwermütigen Choral gleicht, lässt sich dabei erstaunlich leichtgängig lesen, nur um einem dann mit der Vielschichtigkeit seiner Protagonisten zu konfrontieren.

Eine Suizidserie erschreckt die russische Provinzstadt, in der es wenig gibt, um die Tristesse zu überdecken. Vor allem für die Heimkinder dort scheint es keine Zukunft zu geben, doch zieht der dicht aufeinanderfolgende Freitod der Jugendlichen die Aufmerksamkeit der Medien des Landes auf sich, so weit, dass sich Moskau zum Eingreifen gezwungen sieht.

Der Ermittler Alexander Koslow wird nach Ostrog geschickt, um mit seinem Assistenten die hießige Polizei zu unterstützen, was dort nicht auf Gegenliebe stößt, denn er war schon einmal dort. Koslow weiß, wer dabei ist, Staub aufzuwirbeln wird nicht gerne gesehen, zudem auch er mit privaten Problemen zu kämpfen hat, die seinen Spürsinn zu unterminieren drohen.

So viel zum rasant geschriebenen Roman, der wieder einmal typisch für Filipenko einen ganz eigenen Erzählstil aufweist. Aus der Sicht von Koslow erschließen wir uns das Örtchen und ihre Bewohner, ein Spiegel der untersten Schichten der russischen Gesellschaft, die bereits von Geburt an für das Leben gezeichnet ist. Die Darstellung des Kontrastes gelingt dabei alleine durch die Darstellung des Ermittelnden aus der glänzenden Metropole, der jedoch selbst nicht ganz unkompliziert ist, andererseits die der Figuren, die das Städtchen bevölkern. Alle hier, so wird schnell klar, haben ihr Päckchen zu tragen. Diese Zeichnung gelingt dem Autor mit wenig Worten.

Erzählt wird die Geschichte, die einen Handlungszeitraum von nur wenigen Tagen in einer dichten Abfolge kompakter Kapitel. Nicht einmal die Hauptfigur selbst gelingt es dabei über die gesamte Strecke alle Sympathien auf sich zu vereinen. Bis zum Ende spielt der Autor mit allen Schattierungen. Der Protagonist ist wehleidig, versingt in Selbstmitleid. Charaktereigenschaften, die einer durchgehenden und gezielten Ermittlung abträglich sind. Gut gezeichnet ist die sensationsheischende Journalie, die abwartend in der Bar der Stadt, offenbar die einzige Attraktion der Stadt, Langeweile in Wodka ertränkt.

Neben Koslow ist vor allem die Darstellung von Petja hervorzuheben, der von Geburt an rein von seinen Charakterzügen aneckt und auch als Erwachsener sich nicht in ein System pressen lässt. Wie geht eine autoritäre Gesellschaft, wie die russische, mit solchen Menschen um, eine der Fragen, deren brutale Beantwortung Filipenko nicht lange schuldig bleibt. Später verbinden sich diese beiden Handlungsstränge, vor einer trostlosen Kulisse, die beinahe filmisch beschrieben wird. Dieses Zusammenspiel ist eine Stärke Filipenkos, wegen der man diese Geschichte gerne lesen wird.

Allerdings darf man dabei nicht von vornherein in melancholischer Stimmung sein. Die bekommt man Zeile für Zeile serviert, allerdings ohne, dass es ins kitischige Fahrwasser gerät. Wenn man von einer oder zwei Szenen absieht. Der Perspektivwechsel zwischen Koslow und Petja tut der Erzählung dabei gut. Unterbrochen durch Protokolle, mit deren Hilfe die Ermittelnden versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen. Einige Punkte bleiben dabei offen, müssen die Lesenden selbst denken.

Wer halb offene Enden mag, wird damit auch zufrieden aus der Gesichte hinausgehen, zudem gewisse Themen auch nur teilweise angedeutet werden. Diesen Stil muss man mögen. Filipenko beherrscht jedoch die Balance, von dem, was unerwähnt bleiben kann, was ausgesprochen werden muss. Kein Wort ist hier zu viel oder zu wenig. In seinem Roman erzählt der Autor von Willkür und Korruption, Gewalt seelischer und physischer Natur und einen Aspekt der russischen Gesellschaft, der traumatisiert. Diese Mischung macht den Roman zu etwas sehr Besonderen.

Erwähnen muss man auch unbedingt die Übersetzungskunst Ruth Altenhofers, die hier sicher ihren Gutteil dazu beigetragen hat.

Der in vierunzwanzig „Gesängen“ erzählte Roman zeigt wieder einmal, dass Filipenko unabhängig von der gewählten Tonalität ein großartiger Erzähler ist, der das Niveau seiner Geschichten halten kann. Nicht nur deshalb ist „Der Schatten einer offenen Tür“ lesenswert.

Autor:
Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. Er wurde in über 15 Sprachen übersetzt und studierte nach der Schule zunächst an der Europäischen Humanistischen Universität Minsk und ging anschließend 2004 nach St. Petersburg. Dort schloss er das Studium der Literatur ab und arbeitete für verschiednee unabhängige russische Fernsehsender.

In Belarus ist sein Werk teilweise verboten, zudem er in Opposition zum herrschenden Machtapperat um Lukaschenka steht, sich mit den in seinem Geburtsland stattfindenden Protesten 2020-2021 solidarisierte. Mit seiner Familie lebt er inzwischen im Schweizer Exil. Filipenko schreibt seine Texte weiterhin auf Russisch.

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Michael Tsokos: Schwimmen Tote immer oben?

Inhalt:
Ist das Erwürgen eine schnelle und effektive Mordmethode? Wie kann man einen Tierbiss von einem Menschenbiss unterscheiden? Können Leichen explodieren? Fernsehkrimis haben einfache Antworten auf diese Fragen.

Doch meist sind es Klischees, die bedient werden – die Realität sieht anders aus. Keiner weiß das besser als Michael Tsokos, Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner. Er nimmt die bizarrsten Irrtümer in unseren Fernsehkrimis aufs Korn und informiert unterhaltsam und spannend über die Mittel und Methoden der Rechtsmedizin. (Klappentext)

Rezension:
Irgendwo läuft immer ein „Tatort“ und auch sonst erfreuen sich die Fernsehkrimis anhaltender Beliebtheit. In der Sicherheitszone des eigenen Wohnzimmers lässt es sich halt angenehm gruseln, das Mitraten, wer ist eigentlich der Täter, macht auch Spaß und Ablenkung vom Alltag ist es ohnehin. Doch leider ist diese mit allerhand Klischees bedeckt. Wie arbeiten Rechtsmediziner wirklich?

Welche Unterschiede gibt es im Beruf der Rechtsmediziner zu deren Pendants im Fernsehen, und schwimmen Tote tatsächlich immer oben? Michael Tsokos legt nach und klärt in der Fortsetzung zu „Sind Tote immer leichenblass?“ über weitere Irrtümer auf, die im Zusammenhang mit Fernsehkrimis bei vielen Zuschauern entstanden sein dürften.

Unterhaltsam, in kurzweiligen Kapiteln, werden Fragestellungen auf’s Korn genommen und Tsokos, der sich für dieses Buch die allabendlichen Tatortsendungen vorgenommen hat, beschreibt den Alltag und den Wahrheitsgehalt hinter dem, was uns das Fernsehen suggeriert. Findet man wirklich bei Ertrunkenen immer Wasser in den Lungen? Haben nur starke Raucher schwarze Lungen? Knabbern Hunde und Katzen ihre ehemaligen Herrchen an oder verhungern sie lieber?

Aus dem langjährigen Erfahrungsschatz, unter Zuhilfenahme ihm bekannter und auf dem Tisch gelandeter Fälle beschreibt Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner den Unterschied zwischen Wahrheit und Fiktion. Man bekommt jedoch auch eine Ahnung, warum in Krimis der rechtsmedizinische Bereich anders dargestellt wird. Schließlich möchte Tsokos den Spaß am gepflegten Wohnzimmergrusel nicht nehmen, sondern nur das Sichtfeld seiner Leser erweitern.

Das gelingt mit Charme und durch die Auflockerung wunderbarer Illustrationen, die die einzelnen Kapitel ergänzen. Witzig umgesetzt von Christoph Keller unterstreichen sie die Ausführungen des Autoren, der zeigt, was Rechtsmedizin heute kann, wohin sie zukünftig führen wird und was eben nicht möglich ist.

Auch dies ganz interessant. Wenn also das nächste Mal im näheren Umfeld Scheintote wieder auferstehen, Leichen explodieren oder Würgmerkmale untersucht werden, weiß der geneigte Leser dies einzuordnen. Oder man beschäftigt sich dann doch lieber mit True Crime, anstatt leinwandflimmender Verbrechen.

Autor:
Michael Tsokos wurde 1967 in Kiel geboren und ist ein deutscher Rechtsmediziner und Professor an der Charite in Berlin. Er leitet seit 2007 das dortige Institut für Rechtsmedzin, gleichzeitig das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berrlin-Moabit. Zudem ist er Leiter der Gewaltschutzambulanz der Charite.

1998-99 nahm er an der Exhuminierung und Identifizierung von Leichen aus Massengräbern des Bosnienkrieges und im Kosovo teil, 2004-05 war er im Auftrag des Bundeskriminalamtes zur Identifizierung der Tsunami-Opfer in Thailand täig. Er ist Autor mehrerer Fachzeitschriften, populärer Sachbücher und Mitautor mehrerer Thriller. Seit 2014 ist er Botschafter des Deutschen Kindervereins. Tsokos lebt mit seiner Familie in Berlin.

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