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Stephan Orth: Couchsurfing 6 – Couchsurfing in der Ukraine

Inhalt:
Stephan Orth hat den Krieg Russlands gegen die Ukraine von Beginn an intensiv miterlebt. Durch seine ukrainische Freundin Julija verbindet ihn ein besonderes Band mit dem Land. Wie sieht der Alltag der Menschen aus, die geblieben sind, was lässt sie durchhalten? Und was hat das alles mit uns zu tun? Mit diesen Fragen reist er Tausende Kilometer zwischen Kyjiw und Kramatorsk, zwischen Charkiw und den Karpaten. Er wohnt bei den Einheimischen, ist beeindruckt von ihrem Mut. Und liefert uns einen packenden Bericht über das Leben im Ausnahmezustand, die Macht starker Geschichten und eine große Liebe. (Klappentext)

Rezension:
Die Form des Reisens bestimmt den Zugang zu den Menschen vor Ort. Beim Couchsurfing ist die Ebene eine ganz persönliche. Den geschützten Raum eines Hotels, eines Rückzugsortes gibt es nicht, ist man doch immer bei Einheimischen zu Gast. Der Journalist Stephan Orth nutzt dies, um Länder zu erkunden, die ganz andere Bedingungen, etwa aufgrund ihrer politischen Systeme, aufweisen, als wir diese aus West- und Mitteleuropa kennen. Ohne die Machthabenden, deren Meinung man nicht unbedingt teilt, zu unterstützen. Wie sieht dies jedoch aus, wenn diese Unternehmung noch eine weitere persönliche Ebene bekommt? Nicht nur dies möchte Stephan Orth erfahren, als er von der ukrainischen Hauptstadt aus das Land im Krieg erkundet.

Die ungewöhnliche Reisereportage beginnt zunächst mit einer philosophischen Frage. Darf man ein Land im Krieg überhaupt bereisen? Was macht es mit den Menschen dort, die womöglich traumatisiert sind und sich drängenderen Herausforderungen stellen müssen, als einem Journalisten Unterkunft zu gewähren, von dessen Wirken sie vielleicht nicht unmittelbar, vielleicht überhaupt nicht profitieren werden? Ist es zu vertreten, gegenüber Freunden und Familie, gegenüber sich selbst, sich selbst in Gefahr zu bringen, sich dorthin zu begeben, wo man die Kontrolle komplett aus der Hand geben muss? Und wurde nicht eh alles schon beobachtet, erzählt und aufgeschrieben? Und wie beginnt man überhaupt einen Text mit solcherlei Brisanz?

Der Autor nimmt zunächst die KI zu Hilfe. ChatGPT ist ja schließlich in aller Munde. Im literarischen Bereich wird über die Nutzung geradezu heftig diskutiert. Und scheitert dann am Eingangstext, humorvoll und mit zwinkernden Auge. Also doch der Feldversuch? Kontakte werden über die Couchsurfing-Plattform geknüpft, angeschrieben. Wenn die KI keinen ordentlichen Text zustande bringt, stellt sich ja wieder die Frage, darf, kann, soll man das? Rückmeldungen aus der Ukraine sind da positiv und die Koffer schnell gepackt. Zudem lebt doch die Freundin in der ukrainischen Hauptstadt. Einen Rückzugsort gäbe es also. Doch, was ist ein Rückzugsort der ebenso wie alle anderen Orte im Land zur Zielscheibe werden könnte?

Und so bereist Stephan Orth von dort aus sternenförmig das Land und trifft ständig auf Gegensätze. Innerhalb einer Stadt ist es da möglich, irgendwo Rotwein zu trinken, während einige Viertel weiter, Lücken zwischen Plattenbauten klaffen. Resultate und Mahnmale des letzten Raketenangriffs. Wie gehen die Menschen mit diesem Wechselbad um? Mit Verlust, der unterschwelligen Anspannung? Welche Unterschiede ergeben sich da im Osten zum Westen des Landes, von Nord nach Süd? Der Autor fragt nach und entdeckt Durchhaltewillen, Lebensfreude, Verlust und Hoffnung, Menschen, die sich engagieren, die Pläne und Träume haben oder einfach nur kämpfen, da sie schlicht keine andere Wahl haben.

Wie prägt dies das Bild der Ukrainer im Land? Was dringt davon nach außen? Was müssen vor allem wir uns vergegenwärtigen, wenn wir über den Krieg, Waffenlieferungen oder die Aufnahme von Flüchtlingen sprechen? In seiner Reisereportagae fängt Stephan Orth diese Fragen ein und stellt einzelne Punkte heraus, woraus sich neue Fragen ergeben? Schnell wird klar, der Konflikt ist so komplex wie vielschichtig. Wenn er zum Beispiel nach den Reaktionen der Menschen hierzulande gefragt wird oder er sich die Kommunikation mit seinen Kontakten aus Russland in Erinnerung ruft, wenn also Linien des Konflikts plötzlich in der eigenen WhatsApp-Liste zu Tage treten.

Im vorliegenden Sachbuch kommt dies alles zur Sprache. Nichts wird ausgespart, zudem diesmal auch die persönliche Komponente von Freundschaft und Beziehung hinzu kommt. Das ergibt ein vielschichtig komplexes Puzzle. Immer wieder werden Gegensätze herausgestellt, um zu zeigen, dass eben nichts so einfach ist, wie uns dies aus- und inländische Populisten weißmachen möchten, dass der größte Fehler jedoch ist, nichts zu tun. Dieser andere Blickwinkel ist erhellend.

Kurzweilig in klaren Sätzen weiß Stephan Orth Geschichten zu erzählen, ohne dass dies eine voyeuristische Komponente hätte. Vielmehr einfühlsam versucht der Journalist zu ergründen, worin die Ukrainer ihren Mut und Durchhaltewillen nehmen. Durchsetzt immer wieder mit Fotos, einen großen Farbbildteil und, wie in seinen anderen Reportage-Büchern auch, mit einer stilisierten Landeskarte, ist so eine lesenswerte Reportage von einem Land im Ausnahmezustand entstanden. Alle sollten sie lesen.

Autor:
Stephan Orth wurde 1979 in Münster geboren und ist ein deutscher Journalist und Autor. Zunächst studierte er Anglistik, Wirtschaftswissenschaften in Wuppertal, anschließend Journalismus in Brisbane, Australien. Von 2007-2008 absolvierte er ein Volontariat bei Spiegel Online und arbeitete anschließend als Redakteur. 2012 begab er sich auf eine Inlandeis-Expedition nach Grönland und veröffentlichte 2015 seinen Reisebericht „Couchsurfing im Iran“. Seit 2016 ist er freiberuflicher Autor. Stephan Orth lebt in Hamburg.

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Stephan Orth: Couchsurfing 1 – Couchsurfing im Iran

Inhalt:

Es ist offiziell verboten. Trotzdem reist Stephan Orth als Couchsurfer kreuz und quer durch den Iran, schläft auf Dutzenden von Perserteppichen, erlebt irrwitzige Abenteuer – und lernt dabei ein Land kennen, das so gar nicht zum Bild des Schurkenstaates passt. Denn die Iraner sind nicht nur Weltmeister in Sachen Gastfreundschaft, sondern auch darin, den Mullahs ein Schnippchen zu schlagen. (Klappentext)

Rezension:

In der westlichen Welt weiß man kaum mehr über den Iran als das, was die Hauptnachrichten berichten. Der Streit um die Nutzung von Kernenergie, das theokratisch-strenge Regime der Mullahs, Menschenrechtsverletzungen und das verbissene Durchsetzen streng religiös-bergündeter Vorschriften. Andere Themen kommen kaum bis gar nicht zur Sprache. Und so hat sich Stephan Orth aufgemacht in ein Land voller unbekannter Faktoren und muss gleich bei der ankunft am Flughafen erste Vorurteile revidieren. Er lässt sich auf die Menschen des Landes ein, fernab der Politik, die doch immer wieder in das Leben der Bevölkerung eingreift. Hinterverschlossenen Türen aber können die Iraner sie selbst sein. Und das ganz anders als es auf den ersten Blick scheint.

Mit „Couchsurfing im Iran“ hat der Autor hier keinen politischen Lagebericht geschrieben, sondern eine vielschichtige Sammlung der Eindrücke der Menschen in diesem Land. Stephan Orth zeigt auf, was selbst in einem Land möglich ist, welches von einer brutalen menschenverachtenden Diktatur beherrscht wird und wie die Bevölkerung sich wehrt. Momentan noch passiv im Privaten, doch Orth zeigt auf, dass die Vorstellungen der Iraner irgendwann dafür sorgen können, dass sich die Situation zu ihren Gunsten ändert. Der Anfang ist bereits gemacht, in winzigen Schritten.

Stephan Orth beschreibt das Leben der Menschen dort, ihren Alltag, ihre Vorstellungen und Ideen, Gedanken und die kleinen Rebellionen des Alltags, wenn sich eine Gruppe junger Iraner ewa zu Fesselspielen trifft oder Polizisten bestochen werden, damit keine Razzia der Sittenwächter wärend einer Hochzeitsfeier stattfindet, wenn Studenten von Amerika träumen oder das Kopftuch wie zufällig ein Stück verrutscht.

Es ist hier ein wunderbar positives Buch, was für ein unscheinbares düsteres Land Interesse wecken vermag. Fernab der nüchternen politischen Berichte. Der Iran ist ein relativ junges Land, die Mehrheit der Bevölkerung ist unter 40 Jahre alt und wartet nur auf eine sichere Chance aus den Zwängen und Vorgaben auszubrechen und ihr Leben und Land zu verändern. Orth zeigt, dass die Veränderung in den Köpfen bei vielen schon längst begonnen hat. Im gesamten Iran. Ein Buch über Vorurteile, die in sich zusammenfallen, ein Buch über Kontraste und vor allem über die Menschen, ihr Leben und ihre Träume.

Autor:

Stephan Orth wurde 1979 geboren und arbeitet als Redakteur im Reiseressort bei Spiegel Online. Seit 2003 ist er bereits als Couchsurfer unterwegs, hatte Besucher aus aller Welt und traf Gastgeber in mehr als dreißig Ländern. Orth ist Autor mehrerer Bücher und Reisereportagen, die mehrfach mit dem Columbus-Preis ausgezeichnet wurden.

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