Joachim B. Schmidt: MoosflĂŒstern

Inhalt:
Im Juni 1949 brachte der Dampfer „Esja“ rund 200 Frauen aus Deutschland nach Island, wo sie sich als DienstmĂ€dchen auf Bauernhöfen verdingten. Darunter auch Heinrich Liebers Mutter, von der er immer geglaubt hatte, sie sei nach seiner Geburt gestorben. 40 Jahre spĂ€ter ist Heinrich Bauingenieur, verheiratet, doch sein Leben gerĂ€t auf einmal ins Wanken. Der sonst so korrekte Mann fasst einen ĂŒberstĂŒrzten Entschluss und reist nach Island, wo er sich auf die Suche nach seiner Herkunft macht. (Klappentext)
Rezension:
Ein Einsturz verĂ€ndert alles. Doch auch so, ohne den Zusammenbruch der Lagerhalle, den Heinrich ĂŒber seine Bauzeichnungen brĂŒtend, sich zunĂ€chst nicht erklĂ€ren kann, gerĂ€t sein Leben aus den Fugen, als seine Adoptiveltern ihn vom erst kĂŒrzlichen Tod der schon lĂ€nger verstorben geglaubten Mutter erzĂ€hlen. Zwei Tropfen, die das Fass zum Ăberlaufen, das Gedankenkarussel in Bewegung setzen und in Joachim B. Schmidts Roman „MoosflĂŒstern“ vom beschaulichen ZĂŒrich in die raue Landschaft Islands fĂŒhren.
In seiner ErzĂ€hlung folgen wir zwei HandlungsstrĂ€ngen auf unterschiedlichen Zeitebenen. In der Gegenwart folgen wir den von Selbstzweifeln und Unsicherheiten befangenen Hauptprotagonisten auf Spurensuche nach seiner Vergangenheit, sowie im Wechsel der jungen Anna, die sich kurz nach Kriegsende aus dem gebeutelten Europa auf dem Weg nach Island macht. Nach und nach fĂŒhren beide Handlungen zueinander, wenn auch der Rahmen unterschiedlicher gefasst nicht sein könnte. Joachim B. Schmidt erzĂ€hlt von Polartagen, die sich wie Wochen anfĂŒllen und von Jahren, die verstreichen.
Dabei liest sich „MoosflĂŒstern“ gleichermaĂen melancholisch wie leichtgĂ€ngig, was sowohl an den wenigen Hauptfiguren liegt, mit deren Ecken und Kanten man sich schnell identifizieren mag, als auch an kunstvollen Orts- und Landschaftsbeschreibungen, die einem ganz fĂŒr das Geschehen einnehmen vermögen. Das vollkommene Ausbleiben eines kompletten Antagonisten tut sein Ăbriges. Nein, beide Hauptfiguren stehen sich selbst im Weg und finden doch immer wieder auf die Spur zurĂŒck. Ăhnlichkeiten zueinander sind hier unverkennbar, wunderbar ausgestaltet durch den Autoren. Das macht es leicht, sich in die Protagonisten beider HandlungsstrĂ€nge hineinzuversetzen.
Mit seiner ErzĂ€hlung bringt Joachim B. Schmidt ein hierzulande kleines, jedoch fast vergessenes Kapitel Geschichte zum Vorschein und lĂ€sst sie einfĂŒhlsam lebendig werden. Die eine Protagonistin ist ihr ausgesetzt, der andere macht sich nach und nach ein Bild. In der rauen Landschaft setzt sich ein Puzzle zusammen, was Heinrich auch mit der eigenen Verantwortung fĂŒr sein Tun konfrontieren wird. Hier eröffnen sich feine Unterschiede, Risse, die Seite fĂŒr Seite feinsinnig herausgearbeitet werden.
Daraus ist ein in sich abgeschlossener Roman entstanden, der ohne groĂspurige Wendungen auskommt, jedoch auch keine LĂŒcken aufweist und trotzdem streckenweise spannend zu lesen ist. Genau im richtigen MaĂe, ohne alles in Eiskristalle gehĂŒllte Melancholie ersticken zu lassen, lĂ€sst der Autor Perspektiven und Beschreibungen wechseln. Zeile fĂŒr Zeile durchzieht den Text eine fast filmische Sprache, die beide HandlungsstrĂ€nge sehr plastisch wirken lassen. Ein wenig Kitsch wird sich hier und da dennoch erlaubt.
Weder zu heiter noch dĂŒster ist die ErzĂ€hlung, deren HintergrĂŒnde man gerne nachspĂŒren möchte. Das liegt nicht zuletzt an Joachim B. Schmidts der seine GesprĂ€che mit Menschen hat einflieĂen lassen, die die hier am Anfang stehende Ăberfahrt nach Island tatsĂ€chlich gemacht haben. Der Sprung ins kalte Fjordwasser ist hier gelungen.
Wer andere Werke des Autoren kennt, wie etwa „Kalmann“ oder „Tell“ wird hier erneut ĂŒberrascht werden, von seiner Vielseitigkeit des ErzĂ€hlens. Wieder liest es sich anders als das aus seiner Feder bekannte, wobei, dies sei auch erwĂ€hnt, der Eindruck leider nicht ganz so nachhaltig wirkt. Das jedoch ist Meckern auf hohem Niveau, ergibt allerhöchstens AbzĂŒge in der B-Note. Joachim B. Schmidts Figuren folgt man dann doch zu gerne.
Autor:
Joachim B. Schmidt ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller, der zunĂ€chst eine Ausbildung zum diplomierten Hochbauzeichner absolvierte. Mit einer Kurzgeschichte gewann er einen Schreibwettbewerb und veröffentlichte erstmals 2013 seinen ersten Roman. Als Journalist und Touristenquide arbeitet er in Reykjavik, Island, wohin er 2007 ausgewandert ist. Sein Roman âKalmannâ, dem weitere folgten, erschien 2020 bei Diogenes. Er ist ausgezeichnet mit dem Crime Cologne Award und dem Glauser Preis.
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