Familie

Joachim B. Schmidt: Kalmann

Inhalt:

Kalmann Odinsson ist der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn. Er hat alles im Griff. Kein Grund zur Sorge. Er ist ein waschechter Isländer, auch wenn sein Vater amerikaner war, und ein Original, das in den beinahe ausgestorbenen Dorf dafür sorgt, dass alles seinen Gang geht. er wuchs bei seinem Großvater auf, der ihm das Jagen beibrachte, wie man aus Grönlandhai den besten Gammelhai der Insel herstellt und auch sonst alles, was ein Mann im Leben wissen muss.

Was sich Kalmann am meisten wünscht, ist eine Frau, doch erst einmal muss er aus dem Schlamassel wieder herauskommen, in den er geraten ist, als er eines Winters eine Blutlache im Schnee entdeckte. Und wenn die Räder in Kalmanns Kopf auch manches Mal rückwärtslaufen, wendet er mit seiner naiven Weisheit alles zum Guten. Kein Grund zur Sorge. (Klappentext)

Rezension:

Island einmal nicht als Kulisse eines Thrillers oder faden Naturromans, entführt uns der auf der Insel lebende Schriftsteller Joachim B. Schmidt in das sterbende Dorf Raufarhöfn und hat dabei ein gesellschaftliches Porträt auf kleinsten Raum geschaffen.

Was Joanne K. Rowling in ihrem Roman “Ein plötzlicher Todesfall” ausufernd erzählt, beschreibt Schmidt fasst Schmidt hier in kompakter Form und versucht dabei die Eigenarten Islands und seiner Bewohner einzufangen.

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist Kalmann, Naturbursche und Isländer, nicht unbedingt ein Sympathieträger, aber auch nicht vollkommen anstößig, wie so viele protagonisten dieses kleinen Romans.

Der letzte Jäger des Grönlandhais, der traditionell erst von seinem Großvater, jetzt von ihm selbst, zu Gammelhai verarbeitet wird, ist eigensinnig und impulsiv, für manchen Gegenüber fast unberechenbar, sorgt jedoch mit seiner Art für einen gewissen Zusammenhalt oder aber wenigstens Zusammenspiel der bewohner des Ortes, zumal er in die unmittelbare Handlung praktisch hineinstolpert.

Landschaftliche Beschreibungen und die Überlegungen Kalmanns, die dieser über das unmittelbare Geschehen und der Dorfbewohner anstellt, sind die großen Stärken des Autoren. Diese tragen die Handlung und lassen mit fortschreitender Seitenzahl doch eine gewisse Spannung aufkommen, die jedoch an der einen oder anderen Stelle zu sehr ins Kitschige abtriftet.

Als lesende Person wird man so immer wieder aus der geschichte hinausgeworfen, um sich dann erneut einfinden zu müssen, zudem das diffuse “Krankheits”-Bild zwar vom Autoren gewollt ist, es die Sache jedoch nicht unbedingt besser macht.

Hier hätte ein wenig mehr konkretisierung, auch beschäftigung mit den Mischformen und Graustufen bestimmter medizinischer Sachen gut getan, wo doch die Grundidee für die Geschichte an sich trägt und dazu geneigt ist, übliche Erzählschemen zu durchbrechen. Vielleicht gelingt dies dem Autoren beim nächsten Roman noch ein wenig besser.

Autor:

Joachim B. Schmidt ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller, der zunächst eine Ausbildung zum diplomierten Hochbauzeichner absolvierte. Mit einer Kurzgeschichte gewann er einen Schreibwettbewerb und veröffentlichte erstmals 2013 seinen ersten Roman. Als Journalist und Touristenquide arbeitet er in Reykjavik, Island, wohin er 2007 ausgewandert ist. Sein Roman “Kalmann” erschien 2020 bei Diogenes.

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Norman Eisen: Der letzte Palast von Prag

Der letzte Palast von Prag Book Cover
Der letzte Palast von Prag Norman Eisen Verlag: Propyläen Erschienen am: 02.11.2020 Seiten: 589 ISBN: 978-3-549-07497-8 Übersetzer: Nikolaus de Palezieux

Inhalt:

Gebaut von einem jüdischen Industriellen aus böhmen; durch einen Wehrmachtsgeneral vor der Zerstörug bewahrt; schließlich von Shirley Temple und anderen US-Botschaftern mit neuen Glanz versehen – das ist die Geschichte des Petschek-Palais, eines der berühmtesten Gebäude der Stadt Prag. Norman Eisen erzählt mit viel Charme die spannende Geschichte dieses Hauses, das den ersten und Zweiten Weltkrieg ebenso überdauerte, wie die Ära des Kommunismus und den Prager Frühling und schließlich die Rückkehr der Demokratie erlebte. (Klappentext)

Rezension:

Vergleichsweise wenig Kriegsschäden hatte Prag nach dem ende des Zweiten Weltkrieges zu verzeichnen und so erzählen die Gebäude der tschechischen Hauptstadt noch heute viel von der Geschichte, die sie prägten.

Besonders bemerkenswert dabei sind natürlich die Brücken oder die Prager Burg, doch auch abseits dieser lassen sich einige Bauten entdecken, die die Historie wiederspiegeln. dazu gehören die für die tschechische Industriellenfamilie Petschek vom Architekten Max Spielman entworfenen in jedem Fall dazu. Das berühmteste Gebäude dient heute den ansässigen US-Botschafter als Residenz. Einer hat die Geschichte des Hauses ergründet.

Architekturgeschichte als Sachbuch kann zuweilen trocken sein, funktioniert am besten aus der Betrachtung ihrer Bewohner heraus und in diesem vorliegenden Werk nimmt sich Norman Eisen, Ex-Präsident Obamas’ Mann für Tschechien, die Zeit, diese minutiös zu beleuchten. In wie weit spiegelt dieses architektonisch viel geachtete Gebäude die Geschichte und Geschehnisse der Stadt wieder, und wie haben die Bewohner, vom Erbauer bis zur legendären US-Botschafterin Shirley Temple gewirkt, um eben jenes zu erhalten?

Intensiv in Tagebüchern, Memoiren recherchiert, erschließt sich hier ein gewaltiges Stück Geschichte, welche aufgedröselt wird, so wie man ein Gebäude erbaut. Eben von den Fundamenten an bis zur Dachspitze. Mit leichten Längen wird erzählt, wie kleinste Gesten Geschichte machten, immer beäugt von den Prager Bürgern, nicht selten in den Händen der Bewohner des Hauses.

So umfangreich wie manche Personenbiografie zeigen sich die Rechercheergebnisse des Autoren, dessen Liebe zum Detail zu strapazieren vermag, im letzten Moment jedoch das lesende Publikum wieder einfängt, spätestens dann, wenn die kleinen und oft größeren Dramen dargestellt werden. Das muss man jedoch mögen. Sonst ist dies ein lesenswertes Werk.

Autor:

Norman Eisen wurde 1960 geboren und ist ein US-amerikanischer Politiker und Diplomat. Er studierte an der Harvard Law School und wurde im jahr 2009 zum Special Counsel for Ethics and Gevernment Reform in the White House ernannt. Von 2011 bis 2015 war er Botschafter der USA in Prag, arbeitete danach als Kommentator für CNN und schreibt regelmäßig für große amerikanische Zeitungen.

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Claudia Sammer: Als hätten sie Land betreten

Als hätten sie Land betreten Book Cover
Als hätten sie Land betreten Claudia Sammer Erschienen am: 10.09.2020 braunmüller Verlag Seiten: 174 ISBN: 978-3-99200-285-6

Inhalt:

Die besondere freundschaft zwischen der jüdischen Veza und der nichtjüdischen Lotti in den 1930er-Jahren ist Ausgangspunkt einer Geschichte über sechs Frauen.

Über mehrere Generationen hinweg werden Lebensentwürfe skizziert, die geprägt sind von Abhängigkeit und Selbstständigkeit, vom Zweifeln und Sich-Finden, vom Glauben an eine höhere Macht und dem festhalten an der Erinnerung. erst nach ihrem Tod erfährt Lottis Familie von Vezas existenz und der gemeinsamen Zeit, eine Entdeckung, welche die Enkelin dazu ermutigt, neue Wege zu gehen. (Klappentext)

Rezension:

Entgegengesetzt den Vorstellungen ihrer Familien entwerfen sie vom jungen Alter an ihre Lebensentwürfe selbst, ecken an und kämpfen gegen Widerstände. Die liegen in der eigenen Verwandtschaft, sowie in der Zeit, der sie ausgesetzt sind, doch Veza und Lotti behaupten sich.

Das müssen sie, die eine um des Überlebens Willen, die andere, um unabhängig zu werden. Nur, die sie umgebenden Menschen wissen nicht davon, erfahren dies erst nach Jahrzehnten. Mehr gibt es auch zur Handlung nicht zu sagen. Es sei denn, man möchte zu viel verraten.

Die Schriftstellerin Claudia Sammer legt mit “Als hätten sie Land betreten” eine Novelle von sprachlicher Wucht vor, für die man sich Zeit nehmen muss. Zeit nehmen, poetische Sätze in sich aufzusaugen, die aneinandergereiht wie eine Perlenkette wirken, doch schwer zu fassen sind.

Oft genug muss man, möchte man innehalten, Sätze immer und immer wieder lesen. Unscheinbar dieser Band, so einnehmend der Text. Die Freundschaft als Dingsymbol, als Dreh- und Angelpunkt in all seinen Fascetten, Widersprüchen, die die kompakten Kapitel durchziehen, die einmal als Entschluss der Kindheit gefasst, ihre Protagonisten nicht wieder loslässt.

Und doch hat der Text seine Längen. Monotonie erstreckt sich über mehrere Kapitel, ein Spannungsbogen nur zu Beginn und zum Ende, dazwischen gefühlt Leere. Das ist schwierig bei der Kürze des Textes und kaum zu rechtfertigen.

Alleine, man muss in der richtigen Stimmung sein, so etwas zu lesen, damit die Erzählung ihre volle Wirkung entfalten kann. Dann funktioniert das auch, der Zwiespalt der Protagonisten in ihren Entscheidungen, die Entwicklung über den beschriebenen Zeitraum.

Die Novelle verleitet zum schnellen Lesen, wer dies tut, macht’s jedoch falsch. Langsam, häppchenweise sollte man den Text in sich aufnehmen. Dann funktioniert es auch. Und das ist die eigentliche Problematik. Nur, wer ahnt das schon mit den ersten gelesenen Zeilen?

Autorin:

Claudia Sammer wurde 1970 geboren und ist eine österreichische Schriftstellerin. Zunächst studierte sie Rechtswissenschaften und Literarisches Schreiben und arbeitete in Wien und Mailand. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie wieder in Graz. 2019 erschien ihr erster Roman.

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Anja Goerz: Wenn ich dich hole

Wenn ich dich hole Book Cover
Wenn ich dich hole Anja Goerz Erschienen am: 23.10.2020 dtv Seiten: 256 ISBN: 978-3423-21833-7

Inhalt: Ein abgelegenes Haus in Nordfriesland.

Ein Schneesturm, der jedes Vorankommen unmöglich macht.

Ein kleiner Junge in größter Gefahr.

Eine ganze Familie wird von den Schatten der Vergangenheit eingeholt.

(Klappentext)

Rezension:

Familiengeschichten funktionieren in Kriminalromanen sehr gut, zumal, wenn die schreibende Person, die Handlungsorte gut kennt und so eröffnet sich gleich mit den ersten Seiten von “Wenn ich dich hole”, ein atmospärischer Krimi, der uns Lesende in die Gefilde Nordfrieslands einführt. Handlungsort ist die winterlische Idylle eines kleinen Ortes, in dem sich bei beginnender Dunkelheit Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

Die Düsterheit der Handlung ist schon mit den ersten Zeilen zu spüren. Erzählt wird aus wechselnder Perspektive und mit Hilfe von Zeitsprüngen ein klassisches Familiendrama. Ein Geheimnis, ein sich darauf aufbauender, langsam hochschaukelnder Konflikt, vorangetrieben durch, leider, klischeehafte Figuren.

Die dörfliche Zusammensetzung ist gut dargestellt. Auch die Dynamik innerhalb einer kleinen, oberflächlich zusammenhaltenden Gemeinschaft ist fassbar, die mit zunehmender Anzahl der kurzweiligen Kapitel ihre Risse offenbahrt. Die Beschränkung auf wenige Hauptprotagonisten ist hier sehr gelungen, für die Kürze der Geschichte jedoch auch notwendig. Dazu ein wenig norddeutsches Platt. Fertig ist der wohlig-schaurige Provinzkrimi.

Die Kapitel vermögen das Lesepublikum bei Stange zu halten, jedoch vermag der kaum unerträglich werdende Nervenkitzel, der sonst in diesem Genre zu finden ist, kaum aufkommen. Die Autorin hat hier eine sehr ruhige Art, eine Geschichte zu erzählen, an den Tag gelegt, leider mit den zeitlichen Rückblicken der Gedankenwelt einer der Protagonisten sehr schnell die Auflösung verraten. Anja Goertz hat sich hier leider selbst gespoilert, was selbst unerfahrenen Krimi-LeserInnen ins Auge stechen dürfte.

Der Verlag ordnet die Geschichte, deren Ende durchaus eine Fortsetzung zulässt, als Thriller ein. Kriminalroman wäre wahrscheinlich das passendere Genre. Dennoch, wer gerne norddeutsch angehauchte Krimis liest, sich von manchem Klischee nicht stören lässt, für den der Weg zum Ziel, nicht die Auflösung selbst wichtig ist, der findet hier Lesestoff, wenn er auch den Spannungsbogen, nun ja, nicht überspannt.

Autorin:

Anja Goertz wurde 1968 in Niebüll geboren und ist eine deutsche Hörfunkmoderatorin und Autoin. Nach ihrer Arbeit als Fotografin begann sie 1989 ein Praktikum bei Radio Schleswig-Holstein, arbeitete als Reporterin und Moderatorin für verschiedene Rundfunkformate. 1994 wechselte sie zu N-Joy, vier Jahre später zu Sat1.

Später erarbeitete sie Content für verschiedene Radiosender. Parallel ist Goertz als Sachbuch- und Romanautorin tätig. 2011 erschien ihr Debütroman, 2014 ihr Sachbuch “Der Osten ist ein Gefühl”. “Wenn ich dich hole”, ist ihr Krimi-Debüt.

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Antoine Leiris: Danach, das Leben

Danach, das Leben Book Cover
Danach, das Leben Antoine Leiris S. Fischer Erschienen am: 07.10.2020 Seiten: 192 ISBN: 978-3-10-397044-9 Übersetzerin: Doris Heinemann

Inhalt:

Fünf Jahre nach dem Tod seiner Frau im Pariser Bataclan erzählt Antoine Leiris, wie er ins Leben zurückfand. Für seinen Sohn und gemeinsam mit ihm.

Eines Morgens, ein Jahr danach: Antoine packt die Schätze, die ihm von Helene geblieben sind, in schwarze Säcke. Zusammen mit dem kleinen Melvil trägt er sie nach unten, um sie den Müllmännern zu übergeben. Keine Tränen – Melvil ist stolz, seinem Vater zu helfen. Für Antoine ein Akt der Befreiung, des Loslassens, ein Schritt zurück ins Leben.

Einer von vielen. So zieht sich der Schmerz Stück für Stück zurück, mit jedem Jahr, das vergeht. Doch obwohl die Trauer verblasst, wird Helene ihn nie verlassen. Sie bleibt wie ein guter Geist, die Erinnerung an eine einzigartige Liebe. Er aber ist ein anderer geworden. Ein liebender Vater, der wieder gelernt hat, unbeschwert mit seinem Sohn zu lachen. Gemeinsam sind sie stark, besiegen die Dunkelheit. Ein wahrhaftiges Buch über Trauer, die Liebe und das Leben. (Klappentext)

Rezension:

Plötzlich schien Frankreich für einem Moment still zu stehen. Unzählige Terroranschläge hatte es bereits in Europa gegeben. Am 13. November 2015 wurde die quirlige Stadt an der Seine mitten ins Herz getroffen. Terroristen töteten im Bataclan-Theater 89 Menschen. Unzählige weitere mussten in den umliegenden Cafes udn Restaurants sterben. Mit einem Mal wurden Menschen aus dem Leben gerissen, Familien zerstört. Auch Antoine Leiris’ Glück endete schlagartig, als seine Frau dabei ums Leben kam.

Der Journalist und junge Familienvater tut das, was er am besten kann, schreibt sich seine Trauer von der Seele. Entstanden ist der Text “Meinen Hass bekommt ihr nicht”, später daraus ein Theaterstück. Doch, kann es danach weitergehen? Zuerst nur unmerklich, dann mit immer größeren Schritten findet Leiris ins Leben zurück und beginnt vom Neuen. Für sich. Für seinen kleinen Sohn.

Zu Beginn liest er sich schleppend, der Text, der als Prosa daherkommt und dennoch als Sachbuch vermarktet wird. Literarisches Sachbuch ist das eher, diese Trauerarbeit in Schriftform. Man merkt den Text die anfängliche Schwere an, wenn sich Tage ziehen und sich jede noch so kleine Tätigkeit schwer anfüllt. Immer wieder schweifen die Gedanken des Autors zurück, an das was war.

Durchbrochen nur von den Launen, dem Lachen, dem Weinen seines kleinen Sohnes. Verbindungsglied zu einem vergangenen Leben, gleichsam Dreh- und Angelpunkt des Textes. Um Melvil dreht sich alles, muss sich drehen. Für den kleinen Sohn muss es weitergehen, darf der Vater nicht aufgeben und muss sich wieder ins Leben zurückfinden.

Hart zu lesen. Starker Tobak ist das, Zeile für Zeile. Doch, die harte Schale wird aufgebrochen. Immer sensibler werden die beschriebenen Momente. Der Blick des Trauernden, die Perspektive des Autoren beginnt die Vergangenheit zu nehmen und auf das Zukünftige zu fixieren. Förmlich spürt man es beim Lesen, wie das Schreiben leichter von der Hand ging, mit zunehmender Seitenzahl.

Es gibt nur diese eine Perspektive, andere umgebende Menschen werden beobachtet. Deren Leben dreht sich ja auch weiter. Der Sohn noch zu klein, um zu ahnen, dass auch ihn das alles betrifft. Bleibt nur die Frage, warum jemand anderes das lesen soll, lesen möchte? Einen solch persönlichen Text, der alles frei legt. Beinahe zu viel des Gutem?

Lesbar für all jene, die selbst etwas zu verarbeiten haben oder hatten, die versuchen, einen unbegreiflichen Schicksalsschlag irgendwie zu fassen, sich für sich selbst oder für andere wieder aufrappeln wollen, müssen. Dann funktioniert dieses kleine Werk, in dem viel Großes Steckt wunderbar. Alle anderen Lesenden ist “Danach, das Leben” nur mit Vorsicht zu empfehlen.

Wer möchte sich schon freiwillig von melancholischer Schwere, zumindest zu Beginn, erdrücken lassen?

Autor:

Antoine Leiris wurde 1981 geboren und ist ein französischer Journalist. Zunächst arbeitete er für den Radiosender France Info, bevor er 2014 kündigte, um einen Roman zu schreiben.

Stattdessen veröffentlichte ernach dem Tod seiner Frau, die bei dem Anschlag auf den Pariser Bataclan ums Leben kam, seinen Text “Meinen Hass bekommt ihr nicht”, der zu einem Theaterstück verarbeitet wurde. Seit 2018 arbeitet er als Redenschreiber für die Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Mit seinem Sohn lebt Leiris in Paris.

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Esther Safran Foer: Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind

Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind Book Cover
Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind Esther Safran Foer Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 05.11.2020 Seiten: 288 ISBN: 978-3-462-05222-0 Übersetzer: Tobias Schnettler

Inhalt:

Esther Safran Foer, die Mutter des Bestsellerautors Jonathan Safran Foer, begibt sich auf die Suche nach der Geschichte ihrer Familie, die in der schrecklichen Dunkelheit des Nationalsozialismus begraben wurde.

Nur mit einem Schwarz-Weiß-Foto und einer handgezeichneten Karte reist sie zusammen mit ihrem Sohn in die heutige Ukraine, um das Schtetl zu finden, in dem sich ihr Vater während des Krieges versteckt hatte. Ein Buch gegen das Vergessen und ein kleiner Triumph über den Faschismus.

Rezension:

Kaum eine Familie lebt ohne sie, diesen Anekdoten, denen man sich kaum entziehen kann. Diesen Ereignissen, die immer wieder zur Sprache kommen und so zur Wahrheit eines jeden einzelnen Familienmitgliedes werden, auch wenn dieses das Erzählte selbst nicht erlebt hat.

Es gibt aber auch die andere Form, die unausgesprochenen Ereignisse, Weichenstellungen, Schicksalsschläge, die kaum erzählt werden, nur beiläufig erwähnt oder in ganz besonderen Momenten in Worte gefasst werden.

Etwas, worüber nur selten in Ausnahmefällen gesprochen wird. Einem solchen Moment wohnt Esther Safran Foer bei, als ihre Mutter von der Vergangenheit ihres Mannes beiläufig erzählt. Darauf beginnt eine jahrelange Suche und das Aufbrechen der finstersten Jahre ihrer Familiengeschichte.

Es ist die Geschichte einer Familie, die man vielleicht nicht lesen würde, wenn nicht die Schreibende selbst Mutter eines erfolgreichen Autoren wäre, doch Esther Safran Foer nimmt sich beim Beschreiben dieser, ihres Vaters und ihrer Mutter, bewusst zurück. Die Autorin hält sich an Fakten, lässt die Emotionen dieser Bewältigungsarbeit behutsam einfließen und herausgekommen ist ein liebevolles erschütterndes Porträt.

Wie viel Leid, wie viel Ruhelosigkeit vermag eine junge Familie zu ertragen? Welchen unbewussten Einfluss hat die Geschichte auf das Schreiben ihrer Söhne und ist Verarbeitung ein generationsübergreifender Prozess, der nie beendet werden kann? Diese und andere Fragen stellt man sich unwillkürlich beim Lesen der Zeilen.

Sehr dicht, sehr schnell, fast gedrängt beschreibt die Autorin das Zusammenführen der Puzzleteile, die sie schließlich in das Land ihrer Vorfahren führt, um diesen nahe zu sein und einen, wie auch immer gearteten Abschluss zu finden.

Es ist ein Streifzug durch die Geschichte der Foers, der fiktionalisiert im Roman “Alles ist erleuchtet” des einen Sohnes begann, sich über die Jahre immer wieder durch das Leben von Esther Safran Foer zieht. Wie ein Detektiv, der lose Fäden findet und zusammenfügen muss, beschreibt sie, wie eine Antwort zu unzähligen neuen Fragen führt, wie ihre Mutter eigentlich mit der Vergangenheit abschließen wollte, doch diese für die Tochter fast zur Obsession wurde.

Wie viel kann eine Familie ertragen? Wie groß müssen Abstände zum Unaussprechlichen sein, um weiterleben zu können? geht das überhaupt? wie groß ist der Einfluss, auf das, was nachfolgt, aquf das Leben weiterer Generationen?

Die Biografie einer Suche nach Antworten, fast so literarisch wie die Schreibarbeit von Jonathan Safran Foer selbst, erschütternd jedoch, wie so vieles, was in den Wirren der Zeit des Zweiten Weltkrieges geschehen ist, als die Nazis weite Teile Europas in Schutt und Asche legten, Millionen Menschen ermordeten, nicht zuletzt derer jüdischen Glaubens, wie Teile der Familie Safran, denen mit “Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind” ein Denkmal gesetzt wurde.

Vielleicht kann diese Familienbiografie, die sich eine Episode herausgreift, zum Anlass genommen werden, einmal selbst in der Vergangenheit der eigenen Familie nachzuforschen? Um Klarheit zu schaffen, aber auch offene Fragen zu beantworten und andere aufzuwerfen.

Autorin:

Esther Safran Foer wurde 1946 in Lodz geboren und ist eine US-amerikanische Autorin und ehemalige Geschäftsführerin eines jüdischen Kulturzentrums. Nach dem Holocaust und einige Jahre in einem DP-Lager in Deutschland wanderte die Familie nach Amerika aus.

Sie studierte Politikwissenschaften und arbeitete 1972 für den Präsidentschaftskandidaten George McGovern und gründete 2002 eine PR-Agentur. Von 2007 bis 2016 leitete sie das jüdische Kulturzentrum “Sixth & I Historic Synagogue”.

2020 schrieb Foer ihre Suche nach der ersten Frau ihres Vaters und dessen Tochter nieder, die beide im Holocaust umkamen. Ihre Söhne sind der Schriftsteller Jonathan Safran Foer und die Journalisten Franklin und Joshua Foer.

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Wiebke von Carolsfeld: Das Haus in der Claremont Street

Das Haus in der Claremont Street Book Cover
Das Haus in der Claremont Street Wiebke von Carolsfeld Kiepenheuer & Witsch Erschienen am: 10.09.2020 Seiten: 361 ISBN: 978-3-462-05475-0 Übersetzerin: Dorothee Merkel

Inhalt:

Wie überlebt man das Undenkbare? Tom weigert sich zu sprechen, nachdem seine Eltern auf brutale Weise sterben.

Seine unfreiwillig kinderlose Tante Sonya nimmt ihn auf, kommt aber nicht an den traumatisierten Jungen heran. Bald ist Tom gezwungen, erneut umzuziehen, diesmal in die Claremont Street in der Innenstadt von Toronto, in der ihm seine liebenswert-chaotische Tante Rose und sein Weltenbummler-Onkel Will ein Zuhause geben.

Mit der Zeit wird Toms Schweigen zu einer mächtigen Präsenz, die es dieser zerrütteten Familie ermöglichst, einander zum ersten Mal wirklich zu hören. Ein Roman darüber, wie mit viel Humor und Liebe selbst aus den schlimmstmöglichen Umständen etwas Positives erwachsen kann. (Inhaltsangabe Verlag)

Rezension:

“Wir sterben.” Mit letzter Kraft sind es diese Worte, die dem kleinen Hauptprotagonisten über die Lippen kommen. Dann lange nichts. Tatsächlich ist dieses Debüt, welches mit einem lauten Knall beginnt, ein zutiefst mitfühlendes, auch verstörendes Porträt, eine ansonsten ruhige, dafür um so düstere Erzählung, die nun aus der Feder Wiebke von Carolsfelds vorgelegt wird.

Hauptprotagonist und Mittelpunkt der Geschichte ist ein kleiner Junge, der unschuldiger nicht sein könnte und auf dessen kleinen Schultern nun die Last liegt, eines der schlimmsten Vorkommnisse innerhalb von Familien erlebt zu haben. Zuerst ist der Schmerz da. Sehr viel später wird die Trauer folgen, doch Tom schweigt zunächst, lässt niemanden an sich heran. Warum denn auch? Ist doch eh alles vorbei.

Tom packte sich eine Tonscherbe, die von der Wand abgeprallt und direkt neben seinem Fuß gelandet war. Mama hatte diese Tasse geformt, hatte seinen Namen in den feuchten Ton geschrieben. Aber Tom konnte sich nicht mehr an die Konturen ihrer Hände erinnern. Angewidert schloss Tom seine Finger zur Faust und genoss den Schmerz, den der scharfe Splitter ihn bereitete. Je fester er drückte, je tiefer der Schnitt, desto besser.

Wiebke von Carolsfeld “Das Haus in der Claremont Street”

Herzzerreisend lesen sich die Zeilen, in klarer einnehmender Sprache geschrieben, um diese chaotische Familie, deren Zuhause in glücklichen Tagen ein liebevolles wäre, doch nun versucht jeder Protagonisten das Unbegreifbare zu fassen. Nichts ist schwarz oder weiß in diesem Roman, mit jeder Zeile gleitet man tiefer in die Seelenleben der handelnden Personen, die wechselhaft sympathisch agieren, doch innerhalb des erzählten Schicksallschlags völlig logisch, manchmal kopflos.

Wechselhaft ist die Perspektive, über ein Jahr begleiten wir Tom und das, was von der Familie übrig geblieben ist. Wie trauern wir? Wie gehen wir mit der Trauer anderer Menschen um? Wie können wir einander beistehen, nahe sein, wo wir doch vielleicht selbst Halt brauchen? Ist es möglich, einander zu verstehen? Zu begreifen? Heilt die Zeit alle Wunden?

Tom streckte seine Hand aus, um näher an die rot glühenden Kohlen zu kommen. Er würde die Hand nicht zurückziehen, er würde es schaffen, den Kurs zu halten und diese Sache hier zu Ende zu bringen, die er angefangen hatte.

Wiebke von Carolsfeld “Das Haus in der Claremont Street”

Fragen werden aufgeworfen, in diesem relativ kompakten Roman, die nicht einfach zu beantworten sind. Sofern dies überhaupt möglich ist. daran entlang hangelt sich die Autorin und lässt ihre Protagonisten einen langen steinigen Weg gehen, der für jeden von ihnen unterschiedliche Fallstricke bereithält.

Mehr oder weniger geschickt, meistern diese das Bevorstehende, um das Zurückliegende zu begreifen. Der Lesende wird in die Handlung hineingezogen. Klare Sprache, in einem ruhigen und der Thematik angemessenen düsteren Handlungsrahmen.

Kleine Momente des Glücks blitzen auf. Mit Witz treten sie an der Oberfläche, um zunächst so schnell zu verschwinden, wie sie gekommen sind. Die Zeit bringt es mit sich, dass sie zahlreicher werden. Wird es ihnen am Ende gelingen, eine Art Abschluss zu schaffen?

Eine Erzählung über Trauer, Auseinandergehen und Zusammenhalt, Hilfe und Verarbeitung, darüber, was Familie wirklich bedeuten kann. Schon alleine deshalb ist Wiebke von Carolsfelds Roman einer der ganz großen, die es verdient haben, bekannter zu werden.

Kinder sind am Anfang eines solchen Weges die Schwächsten, können jedoch, wenn alle Umstände günstig liegen, am stärksten aus einem solchen Schlag hervorgehen. Die Autorin zeigt das mit sehr viel Einfühlungsvermögen, so dass ich einen allzu kitschigen Absatz gegen Ende gern überlesen habe. Unbedingt lesenswert.

Autorin:

Wiebke von Carolsfeld wurde 1966 in Deutschland geboren und lebt als Filmeditorin, Regisseurin und Drehbuchautorin in Montreal. Als Cutterin gewann sie zahlreiche Preise und gibt zahlreiche Kurse über das Drehbuchschreiben, Filmemachen und den kreativen Prozess. 2002 wurde sie für den besten Schnitt für den Genie Award nominiert. Im Verlag Kiepenheuer & Witsch machte sie zuvor eine Ausbildung zur Verlagskauffrau. Dies ist ihr erster Roman.

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Jens Steiner: Ameisen unterm Brennglas

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Ameisen unterm Brennglas Jens Steiner Arche Verlag Erschienen am: 21.08.2020 Seiten: 240 ISBN: 978-3-7160-2790-5

Inhalt:

Eine Serie von Gewaltakten erschüttert die Schweiz: Ein unbekanntes Paar steckt ein Haus in Brand, schießt auf eine Raststätte, nimmt eine Geisel. Die Medien schreiben den Taten sogleich verschiedenste terroristische Hintergründe zu.

Auch die Bevölkerung versucht, sich einen Reim auf die Vorkommnisse zu machen, unter ihnen: Frühpensionär Toni Manfredi, Mittelschichtsvater Martin Boll und die alleinerziehende Mutter Regina Novotny. Sie alle wünschen sich Halt und Stabilität, doch ihre Welt gerät immer mehr aus den Fugen. Darauf reagieren sie mit Resignation – oder mit lautstarker Entrüstung und Aggression. (Klappentext)

Rezension:

Das brennende Haus zuerst, dann der Überfall auf den Fressbalken? Was mag da noch kommen? Könnte ja alles nur Zufall sein, aber man macht sich schon so seine Gedanken. Die kleine Stadt inmitten der Schweiz ist in jedem Fall in Aufruhr.

Ein jeder versucht, Erklärungen zu finden und geht mit der Situation anders um. Darin verwickelt ist man ja irgendwie auch, schließlich lebt man hier. Doch, was ist nur mit dieser Gesellschaft los? Jens Steiners Roman als Portrait unserer Gesellschaft hält uns LeserInnen den Spiegel vor.

Ameisen, die wir alle auf den Planeten leben, vermögen wir als Einzelne kaum etwas zu bewegen oder zu verändern, wirken jedoch als Gesamtheit dann doch. Nicht nur leider im Guten, sondern vielmehr auch im Schlechten und das beginnt schon bei den Erklärungsversuchen von Ereignissen und den Umgang mit diesen.

Stellvertretend für die Gesamtheit stellt der Autor dies an seiner Auswahl von Protagonisten dar, die allesamt unabhängig von einander agieren, deren Handlungen sich hin und wieder kreuzen, gegenseitig beeinflussen. fein gezeichnet sind sie, diese Charaktere, aus deren Sicht abschnittsweise die Geschichte erzählt wird.

Gemeinsam haben sie nur, die Region in der sie leben, ansonsten wirken sie in diesem Szenario zwar mittendrin, doch irgendwie verloren.

… Ein Abenteuer ist wie ein Fangnetz, da kommst du nicht mehr so schnell raus. Wie Donald Duck, der wieder mal in der Patsche sitzt, zappelst und tobst du, aber das nützt dir gar nichts. Musst eben mitmachen bei dem Abenteuer. Vielleicht ist das deine Mission. Hast nie gewusst, was deine Mission ist. Bitte schön, jetzt hast du eine. Mitmachen und alles sehen. Jedes Abenteuer braucht einen, der alles sieht und in seinem Gedächtnis behält.

Jens Steiner: Ameisen unterm Brennglas

Die Zeitspanne der Handlung ist etwas weniger als eine Woche, entsprechend verdichtet ist die Erzählweise, sehr erstaunlich, wenn man die Vielzahl der Protagonisten betrachtet. Die sind so gewählt, dass jede/r Leser/in seine Identifikationsfigur findet, egal welchen Alters und welcher Lebenssituation zugetan.

Der kleine durch die Gegend streunende Junge, wie das sich sorgende Oberhaupt, welcher sich sowohl in der Familie als auch im Büro zunehmend an den Rand gedrängt fühlt, die mit ihren angehäuften Ehrenämtern überforderte Mutter, wie der nur noch auf den Tod wartende Pensionär. Sie alle kreisen um sich selbst, sowie um die Ereignisse, denen sie sich ausgesetzt fühlen, denen sie nichts entgegenzusetzen haben.

Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, der man mit Resignation oder Wut begegnet. Die gegensätzlichen Charaktere reagieren entgegen ihrer Gewohnheiten oder stellen sich auf die veränderten Gegebenheiten ein. Überwiegend still wird die Geschichte aus der Feder Jens Steiners erzählt, unspannend ist das dennoch nicht. Gedankensprünge der Protagonisten bringen Bewegung in die Geschichte und verhindern langwierige Stellen.

Überraschungen gibt es nur mehr gegen Ende der Geschichte, auch manche Lücken im Handlungsverlauf, die sich jedoch logisch einfügen ins Ganze. Hier ist weniger mehr. Auch die Anzahl der Seiten ist begrenzt. Es zeigt sich, ein guter Roman muss kein Wälzer sein.

Jetzt ist er nur noch müde. Er will nicht mehr abhauen. Außerdem, was bringt es? Er macht ja sowie so alles falsch. Ist immer zur falschen Zeit am falschen Ort. Mama hat schon recht, dass sie ihm nachspioniert. Würde er auch machen, wenn er seine Mutter wäre. Hohlkopf. Volldödel. Hein Blöd.

Braucht man sich nicht zu wundern, wenn man am Schluss in diesem trüben Rübezahl-Landstrich landet. Trübezahl. Trüb und kahl. Müd und fahl.

Jens Steiner: Ameisen unterm Brennglas

Bildlich tauchen die Schauplätze vor den Augen der Lesenden auf. Jens Steiner vermag es, kurzweilig Orte und Situationen zu beschreiben, so dass man sie förmlich greifen kann. Ein Juwel im Bücherregal, ein Roman als Psychogramm der von außen ruhig wirkenden Schweizer Gesellschaft. Vom Autoren sollte noch mehr gelesen werden, unbedingt. Mit dieser verdichteten Erzählung kann man ja den Anfang machen. Der lohnt sich in jedem Falle.

Autor:

Jens Steiner wurde 1975 in Zürich geboren und ist ein Schweizer Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft eben dort und in Genf, bevor er als Lehrer und Lektor arbeitete. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und für den Deutschen Buchpreis nominiert. Den Schweizer Buchpreis erhielt er 2013.

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James Baldwin: Nach der Flut das Feuer

Nach der Flut das Feuer Book Cover
Nach der Flut das Feuer James Baldwin dtv Erschienen: 19.06.2020 (Neuauflage) Seiten: 128 ISBN: 978-3-423-14736-1 Übersetzerin: Miriam Mandelkow

Inhalt:

James Baldwin ist 10 Jahre alt, als er zum ersten Mal Opfer weißer Polizeigewalt wurde. 30 Jahre später, 1963, brach “Nach der Flut das Feuer” – “The Fire Next Time” – wie ein Inferno über die amerikanische Gesellschaft herein und wurde sofort zum Bestseller.

Baldwin rief dazu auf, dem rassistischen Albtraum, der die Weißen ebenso plage wie die Schwarzen, gemeinsam ein Ende zu machen. Ein Ruf, der heute wieder sein ganzes provokatives Potenzial entlädt. (Inhaltsangabe des Verlags)

Rezension:

Überall wird sie inzwischen wieder geführt, diese Debatte um die Gleichheit aller Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion oder Sexualität, nachdem vielerorts geglaubt wurde, dass rassistische Auswüchse der Vergangenheit angehören. Dem ist nicht so. Bilder, rund um den Globus, beweisen es. Gewalt gegen Minderheiten allerorts greift zuweilen um sich und wird immer aggressiver und brutaler offensichtlich.

Doch, auch heute gibt es die jenigen, die sich dem entgegenstellen und auch die Texte von vor Jahrzehnten, die wieder aktuell werden und zur Diskussion stehen. Ganz vorne dabei, James Baldwins Essays und Romane, in denen sich der in New York geborene Schriftsteller für die Gleichheit aller einsetzte und damit zu einem Sprachrohr der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wurde.

Seine erste Veröffentlichung “The Fire Next Time”, der weitere folgten, besaß innerhalb Amerikas schon damals genug Sprengkraft, um die Massen aufhorchen zu lassen. heute ist dies wieder der Fall.

Was ist eigentlich Rassismus, wo beginnt solcher und welche Auswirkungen hat dies eigentlich, auf die jenigen, die unter ihn leiden, aber auch auf jene, die ihn entfesseln und tragen? Baldwin legt Zeile um Zeile eine komplexe Problematik frei, die man kaum erfassen kann, der auch keine Rezension eines solchen Textes nur annähernd gerecht wird.

Ich glaube, dass die Menschen besser sein können als angenommen, und ich glaube, dass Menschen besser sein können, als sie sind.

James Baldwin: Nach der Flut das Feuer.

In Baldwins Text wird der Wille, etwas zum Positiven zu bewegen, deutlich. Zeile für Zeile deutet er auf das Negative, macht jedoch auch klar, an das Positive, den Willen des Menschen zur Veränderung zu glauben. In klaren Worten drückt er aus, was damals war, was heute unter anderen Vorzeichen immer noch ist und welche Wurzeln der Rassismus der Weißen in Amerika hat.

Seine eigenen Erinnerung an erlebte Ungerechtigkeit hat er ebenso eingearbeitet, wie die Großen der jüngeren amerikanischen Geschichte, die Baldwin erlebte. Welche Rolle spielt Religion, welche Hautfarbe und warum ist das so? Wie können wir dies überwinden? Baldwin stellt Fragen, die immer neue aufwerfen.

Den Lesenden muss klar werden, dass es einfache Antworten nicht geben kann, nicht geben wird, sondern an diesen Stellschrauben immer wieder gedreht und die Debatte lebendig gehalten werden muss.

Doch solange wir im Westen der Hautfarbe eine solche Bedeutung beimessen, machen wir es der Masse unmöglich, sich nach irgendwelchen anderen Kriterien zusammenzuschließen. Hauptfarbe ist keine menschliche oder persönliche Realität; sie ist eine politische Realität.

James Baldwin: Nach der Flut das Feuer.

Der Autor appelliert daran, nachzudenken, hinzuschauen, sich der eigenen Vorurteile bewusst zu werden und zu hinterfragen. Wie schaffen wir es, eine andere Gesellschaft zu werden, in der Determinanten wie Hautfarbe und Religion keine Rolle spielen, wenn auch aus letzterer vor allem Baldwin seine Kraft zieht, etwas ungewohnt für europäische Lesende. Was kann ein jeder tun?

Fragen, die bis heute brandaktuell bleiben. James Baldwin reiht seine Gedanken wie Perlen einer Kette aneinander und zwingt die Leser sich der rauen Wirklichkeit zu stellen. Zugleich verdeutlicht er, dass Hass nicht die Lösung sein kann, egal von welcher Seite man diese Debatte führt, sondern Liebe und Verständnis für einander.

Baldwin ist voller Wut, jedoch auch voller Zuversicht, beschreibt Geschichtsverläufe und legte frei, was lange verborgen blieb, nach seinem Tod zu lange in Vergessenheit geriet und heute wieder hervorgeholt wird.

Was Weiße über Schwarze nicht wissen, offenbart also genau und unerbittlich ihr Unwissen über sich selbst.

James Baldwin: Nach der Flut das Feuer.

Fast jede Seite ist gekennzeichnet vom Willen zur Veränderung, nicht nur für die Benachteiligten, Ausgegrenzten, sondern für alle Menschen, vor allem in Amerika, natürlich mit den Blick über den Tellerrand weltweit. Baldwin beschreibt die Schwierigkeiten einer Gesellschaft, von der wir lange geglaubt haben, sie überwunden zu haben.

Jüngste Vorfälle von rassistischer Gewalt diesseits und jenseits des großen Teiches zeigen das Gegenteil. Und so gilt weiterhin ein Zitat Baldwins, nicht Bestandteil dieses Textes, welcher sich lohnt zu lesen:

Wie ich euch nenne, sagt nichts über euch aus oder nur ganz selten; wie ich euch nenne, sagt aber alles über mich.

James Baldwin, 1963, Rede vor Schülern einer amerikanische High School.

Es ist ein beeindruckender Text. Selten war das Gefühl so groß, einem Werk in der Rezension nicht gerecht werden zu können, obwohl ich mir so viele wichtige Stellen markiert habe. Oder, gerade deswegen?

Autor:

James Arthur Baldwin wurde 1924 in Harlem, New York City geboren und war ein US-amerikanischer Schriftsteller. Nach seinem Schulabschluss machte sich Baldwin als Essayist und Rezesent einen Namen und setzte sich mit seinen Texten für Gleichberechtigung, unabhängig von Hautfarbe, Sexualität und Religion ein. 1953 veröffentlichte er in Paris seinen ersten Roman. Immer wieder engagierte sich Baldwin zudem in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, schrieb zahlreiche Gedichte und Theaterstücke. Baldwin starb 1987 in Südfrankreich.

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Ulrike Ulrich: Während wir feiern

Während wir feiern Book Cover
Während wir feiern Ulrike Ulrich Piper/Berlin Verlag Erschienen am: 06.07.2020 Seiten: 272 ISBN: 978-3-8270-1408-5

Inhalt:

Ein einziger Tag. Symbolisch aufgeladen. Während die einen feiern, kämpfen andere um die Existenz. In ihrem kaleidoskopartig aufgebauten Roman erzählt Ulrike Ulrich klug, anspielungsreich und mit großem Witz von dem, was hier und jetzt passiert, und davon wie auch kleine Entscheidungen unsere Leben und die der anderen beeinflussen. (Klappentext)

Rezension:

Wie in jedem Jahr feiert die deutsche Sängerin Alexa am Abend des Schweizer Nationalfeiertages ihren Geburtstag mit einer Dachparty, leider noch ohne Einbürgerungsbescheid. Doch, in diesem Jahr scheinen sich die Ereignisse schon vorher zusammen zu brauen und schließlich zu überschlagen.

So beginnt der zunächst ruhig erscheinende Roman, der quasi einer Zustandsbeschreibung der in die Schweiz Eingewanderten gleicht und das nicht zu knapp. Einwanderung, Einbürgerung, Heimat ist das große Thema, Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Ulrike Ulrich legt mit klaren Worten den Finger in die Wunde der Diskussion, zeigt die Ungleichbehandlung verschiedener Suchender auf und verwebt die Handlungsstränge bis hin zu einem großen Finale.

Sprachlich fein gearbeitet, wechseln sich schnelle stakkatohafte Sätze mit langsamen beschaulichen Abschnitten ab, die im Perspektivwechsel die Geschichte um Alexa und ihres Bekanntenkreises erzählen. Die Hauptprotagonisten sind vielschichtig ausgearbeitet, mit all ihren Grautönen und Problemen, die nicht zu kurz abgehandelt werden und doch die Lesenden nicht über Gebühr strapazieren.

Aufhänger dabei ist das traditionelle Guggisberglied, ein Schweizer Volkslied, welches das Thema des sich stetig drehenden Mühlrads zum Ausdruck bringt, welches sich wiederum auf die einzelnen Handlungsstränge übertragen lässt.

Interpretation des Guggisberglieds von Stephan Eichner.

Eigentlich hat er am meisten Angst davor, dass es wächst, wenn er davon spricht. Dass es größer wird. Und es könnte gut sein, dass sie es größer machen wird. Dass ihr Blick, ihre Fragen, ihre Art, damit umzugehen, dazu beitragen werden, dass er es nicht mehr kontrollieren kann. Und was dann?

Aus Ulrike Ulrich “Während wir feiern”, Berlin Verlag, 272 Seiten, ISBN: 978-3-8270-1408-5.

Der Roman selbst ist durch Absätze und Leerzeilen, Perspektivwechsel gegliedert, lässt sich so auch ohne Kapiteleinteilung leicht in kurze Abschnitte gliedern und leicht lesen. Zwar wechseln sich schnell und langsam zu lesende Abschnitte ab, dies passt jedoch zu den jeweilig erzählenden Protagonisten. Deren Handlungsstränge bauen logisch aufeinander auf, laufen erst getrennt und werden nach und nach verknüpft.

Ulrike Ulrich lässt Welten und Sichtweisen aufeinander prallen, zeigt, wie unsere Entscheidungen das Leben anderer Personen beeinflusst und dass jede Feier zu einem “Tanz auf den Vulkan” werden kann, zumal man die Gedanken der Hauptprotagonistin ganz leicht auf die Autorin selbst übertragen kann. Ähnlicher Hintergrund, Migrationsgeschichte, Sozialisierung.

Der Erzählstil lässt dies vermuten, auch ihre gegenteiligen Ansichten zu den rechten Rändern der Gesellschaft, die es auch in der Schweiz mit ihrer direkten Demokratie gibt. So ist dieser Roman ein Stück Literatur, welches die Frage in den Mittelpunkt stellt, welche Entscheidungen wir treffen wollen und warum, mit der Aufforderung den Einfluss dieser auf andere Leben zu überdenken und zu hinterfragen.

Wer nicht so weit denkt, findet dabei immer noch eine schöne, lesenswerte Geschichte, im heutigen Zürich spielend. Und das soll ja nicht unansehlich sein.

Autorin:

Ulrike Ulrich wurde 1968 in Düsseldorf geboren und ist eine schweizerisch-deutsche Schriftstellerin. Zunächst studierte sie Germanistik, Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaft, bevor sie im Bereich Kommunikationslinguistik arbeitete. Nach Aufenthalt in Wien, lebt sie seit 2004 in Zürich. Sie schreibt Prosa, Lyrik, Drehbücher, Kolumnen und Hörspiele, ist zudem als Herausgeberin für Anthologien tätig.

Die Autorin, die 2004 ihr erstes Buch veröffentlichte, ist Mitglied des Schriftstellerverbandes “Autorinnen und Autoren der Schweiz”, sowie des Deutschschweizer PEN-Zentrums. Ulrichs Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit den Walter-Serner-Preis im Jahr 2010.

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