Frankreich

Wir haben die Helden so lange gern, so lange die Helden uns verzeihen, dass wir keine Helden sind.

Als Hitlers Wehrmacht Frankreich im Juni 1940 besiegt, finden sich Künstler und Intellektuelle, die aus Deutschland sich einst ins Exil geflüchtet hatten, plötzlich wieder in Gefahr, der sie glaubten, entronnen zu sein. Die Gestapo fahndet zu dieser Zeit nach Heinrich Mann, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden hatten. Uwe Wittstock erzählt in “Marseille 1940” die Geschichten ihrer Fluchten und die des Mannes, der sie ermöglichte. Varian Fry.

findosbuecher (fortan: NH): Am Anfang steht ein Schriftstellerkongress im Jahr 1935? Warum?

Uwe Wittstock (fortan UW): Ich habe mich für das Jahr 1935 interessiert, da Varian Fry in dieser Zeit zum ersten Mal in Deutschland war und dort diese Randale und Ausschreitungen auf dem Kurfürstendamm erlebte. Da war die Überlegung: Die Schriftsteller, die er später gerettet hat, was haben die eigentlich zu dieser Zeit gemacht? So kam ich auf lauter originelle Geschichten.

Das war der Tag, an dem die Ehefrau von Schuschnigg in Österreich beerdigt wurde. Es gibt aber auch das Tagebuch von Feuchtwanger. Da war vom Leben in der “traumhaften Villa in Sanary-sur-Mer mit Blick aufs Mittelmeer” die Rede, aber auch von diesem Schriftsteller-Kongress, wieder ein Treffen von Schriftstellern, und darüber habe mich genauer informiert und festgestellt, dass dort viele Diskussionen aufgebrochen sind.

Dort kam das Thema Victor Serge auf, der kommunistische Schriftsteller, der stalinfeindlich eingestellt war und der während des Kongresses zum Thema wurde, da er quasi schon in einer Art Gulag oder Lager saß. Ich wusste, dass Victor Serge später in der Villa Air Bel mit Varian Fry zusammenleben musste. An dieser Art von Beziehung konnte ich nicht vorbeigehen, das musste ich mit hineinbringen.

NH: Was war Varian Fry für ein Mensch?

UW: Das war kein einfacher Mensch. Fry war sicherlich ein schwieriger Charakter, jemand der mit einem hohen Idealismus versehen war, auch hohen Ansprüchen an sich selbst, aber diesen Idealismus auch von anderen Menschen erwartete. Das ist etwas für uns normale Menschen Unbehagliches.

Wir haben die Helden so lange gern, so lange die Helden uns verzeihen, dass wir keine Helden sind, dass wir in unserer normalen Alltagswelt leben wollen. Und das war in diesem Fall eben nicht so. Er hatte sehr hohe Ansprüche an seine Mitmenschen. Wenn die sagten, da mache ich nicht mit, waren die ihm unangenehm. Das hatte er sie spüren lassen.

NH: Er hat dann mit anderen zusammen die Rettung von Künstlern und Schriftstellern organisiert. Wie hat man ausgewählt, wer gerettet wird, wer außen vor bleiben muss?

UW: Varian Fry war vor allem begeistert von europäischer Avantgarde-Kunst. Er liebte Leute wie Andre Breton, den er später auch rettete, Heinrich Mann, Anna Seghers. Diese waren ihm alle bekannt. Er hatte in Harvard, wo er studiert hatte, eine Zeitschrift herausgegeben, in der er Texte dieser Menschen publiziert hatte. Nun erfuhr er in Amerika, dass viele von denen in Südfrankreich in Gefahr waren, von den Deutschen gefasst, in Konzentrationslager oder umgebracht zu werden.

Zusammen mit Freunden gründete Fry in New York eine Organisation, um Geld zu sammeln, diesen Leuten zu helfen. Dann ging es darum, welchen Intellektuellen, welchen Künstlern, welchen Schriftstellern und Schriftstellerinnen sollten wir helfen? Dafür wurden Menschen befragt, die sich in den verschiedenen Bereichen gut auskannten, in der Theaterwelt, in der Philosophie, in der Kunst, auch in den Naturwissenschaften. So wurden Listen erstellt, wer dringend gerettet werden musste.

Für die Literatur hatte diese Liste Thomas Mann aufgestellt, der natürlich Listen auch von anderen bekam, aber sich natürlich gut auskannte, da ihm viele Exilanten nach Amerika geschrieben und um Hilfe gebeten haben. Diese Leute wurden dann aufgelistet. Zusammen waren das schon über 200 Personen. Mit dieser Liste fuhr Varian Fry nach Marseille.

Anfänglich hatte er gedacht, er bliebe nur vier Wochen, um einige wichtige Menschen zu retten. Er wollte aber vor allem die Organisation aufbauen, die das übernimmt. Fry hatte dann erkannt, dass die Aufgabe zu groß war, aber auch, dass es gerade für ihn als Amerikaner möglich war, viele zu retten, da die Deutschen Amerikaner anfangs noch mit großem Respekt behandelten. So blieb er dann nicht einen, sondern dreizehn Monate geblieben, und rettete nicht 200, sondern fast 2.000 Menschen.

NH: Zunächst fand sich kein anderer, der das machen konnte oder wollte. Fry kommt in Marseille an. Was war das vor Ort für eine Situation?

UW: Im geteilten Frankreich war es so, dass auch in der unbesetzten Zone viele Deutsche, viele Wehrmachtsangehörige und andere unterwegs waren. Es gab z. B. die Kundt-Kommission, die in den Internierungslagern geschaut hat, was für Menschen dort interniert waren. Waren das reichsdeutsche Hitleranhänger, wurden diese befreit und nach Deutschland zurückgeschickt. Waren es aber Gegner, konnte die Kommission die Auslieferung vom Vichy-Regime verlangen und diese Menschen ins KZ verbringen.

Man hatte da sehr genau geschaut, aber es gab auch andere Gefahren für Juden, für Hitler-Feindliche. Oder für Dissidenten, die nicht die richtigen Papiere hatten, mit denen sie sich in Frankreich frei bewegen konnten, sodass sie wieder verhaftet und ins Lager geschickt wurden.

NH: Fry kannte die Situation in Frankreich vorher nicht. Wie fand er die Fluchtrouten? Wie hat er sichergestellt, dass diese funktionierten?

UW: Er konnte sich mit der Situation in Frankreich nicht auskennen, da der Waffenstillstand und die Teilung des Landes erst am 22. Juli vollzogen wurden. Nur zwei Monate später kam er in Marseille an. In der kurzen Zeit gab es keine gesicherten Informationen und auch die Situation in Frankreich hatte sich noch gar nicht geklärt. Fry ist in ein für ihn ziemlich “unbekanntes Gebiet” gefahren.

Das geteilte Frankreich im Juli 1940 (Foto: C. H. Beck)

Er setzte sich dort mit anderen in Verbindung, die ebenfalls versuchten, gefährdete Menschen herauszuholen oder ihnen wenigstens vor Ort zu helfen. Da gab es einen Gewerkschaftler namens Frank Bohn, ein deutschstämmiger Amerikaner, der sich für gewerkschaftlich organisierte und für die SPD-Leute stark verantwortlich fühlte.

Mit dem traf er sich, der hatte ihm gesagt: „mach das mit Schiffen“. Das scheiterte und so blieb nur der Weg über Land, zur spanischen Grenze. Von Frankreich nach Spanien, von dort aus nach Lissabon. Von dort fuhren Schiffe ab.

NH: Wie erfuhren die Exilanten und Flüchtenden von Fry?

Von einigen hatte er Adressen. An diese hatte er Briefe geschrieben, z. B. an Heinrich Mann. Nachdem er geschrieben hatte, sprach sich das innerhalb der Exilanten-Gemeinde blitzschnell herum.

NH: Marseille war aber schon zu diesem Zeitpunkt auch ein Schmelztiegel der Spione. Es gab Zensur, abgefangene Briefe. Warum ging es so lange gut, bei so vielen Menschen, die letztendlich davon wussten?

UW: Am Anfang war Varian Fry sicherlich sehr unvorsichtig gewesen, aber er hatet sehr bald Albert O. Hirschmann kennengelernt, einen Deutschen, der schon in Italien gegen Mussolini gekämpft hatte. Der hatte Erfahrung mit Untergrund-Arbeit und hat, sobald er mit Fry zusammenkam, das Schlimmste verhütet und darauf geachtet, dass der nicht zu unvorsichtig ist.

Varian Fry machte aber auch einen klugen Schachzug: Er hat eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet, die er ganz offiziell bei der Präfektur in Frankreich angemeldet hat, und ein Büro eröffnet, das sog. Centre Americain de Secours, welches die Aufgabe hatte, Geld- und Sachspenden zu verteilen, also Kleider, Lebensmittel.

Damit hatte er eine Fassade, mit der er rechtfertigen konnte, warum so viele Menschen zu ihm kamen. Hinter dieser Fassade hat er aber mit den Leuten, die gefährdet waren, vertraulich gesprochen und versucht, diese aus Frankreich herauszuholen. Auf welchem Wege auch immer.

NH: Es kam dort auch zu Situationen, dass an ihn “Bedingungen” gestellt wurden wie: „Ich geh nicht ohne den oder nur unter diesen Umständen“. Sind das Kurzschlussreaktionen gewesen?

UW: Wenn man z. B. von Familien ausgeht, ist es ziemlich klar, dass man zusammenbleiben möchte. Dann gibt es Solidarität und Loyalitäten, die man auch auf der Flucht nicht verletzt. Das ist das eine. Das andere, wir sprechen z. B. von Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding, der eine Fraktionsvorsitzender der SPD, der Andere Finanzminister zu Zeiten der Weimarer Republik, die waren europaweit bekannt.

Staatsmänner, die sich im ersten Moment darauf verlassen hatten, dass die Vichy-Regierung ihnen Sicherheit zusichert, was diese auch getan hatte, dass sie nicht ausgeliefert werden. Das war ein Fehler. Im Nachhinein sehen wir das ganz deutlich. Schon nach einem Dreivierteljahr hatte das Vichy-Regime sein Wort gebrochen und sie ausgeliefert. Unser Wissen ist vom Nachhinein. Im Nachhinein ist man immer klüger. Ich kann schon verstehen, dass jemand von diesem Rang bleibt, wenn jemand ihm einen besonderen Schutz gewährt.

NH: Auf der anderen Seite ergibt sich der Eindruck, dass viele Schriftsteller wie Heinrich Mann diese Rettungsaktion als selbstverständlich angesehen haben und dann gerät Varian Fry ins Abseits des Vergessens.

UW: Leute wie Mann sind Menschen des 19. Jahrhunderts gewesen. Im 19. Jahrhundert geboren. Die konnten sich nicht wirklich vorstellen, wie sehr sich die Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem im Zuge des Beginns des Nazi-Regimes verändert hatten, mit welcher Brutalität und Rücksichtslosigkeit da vorgegangen wurde. Man dachte sich, wenn man sich wie ein guter Bürger verhält, dann kann einem nichts passieren.

NH: Die konnten sich nicht vorstellen, dass eine deutsche Regierung zu solchen Maßnahmen greift?

UW: Unbedingt. In diesen v. a. juristischen Dingen waren die Schriftsteller naiv und kannten sich nicht aus. Es gab natürlich manche, die waren exzellent und haben die Dinge sehr gut vorausgeahnt. Im vorangegangenen “Februar 33” beschreibe ich etwa Joseph Roth, der bereits am Morgen als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, das Land verlässt. Hier kann ich nicht mehr leben. Das ist zu gefährlich.

NH: Beide Werke, sowohl “Marseille 1940” als auch “Februar 33” sind in einer kalenderartigen Form gehalten. Was bewirkt diese Form für die Brisanz?

Uwe Wittstock im Gespräch. (Foto: Privatarchiv)

UW: Wenn es zu solchen Umbrüchen kommt, wie im Februar 1933 oder in der Zeit um 1940, in der die Exilanten in Südfrankreich regelrecht gejagt wurden, dann passiert in solchen Situationen unglaublich viel gleichzeitig. Und wenn man das erzählen möchte, ich sehe mich bei diesen Büchern als Erzähler, dann braucht man ein Ordnungsinstrument, um dieses Chaos in irgendeiner Art und Weise zu ordnen. Das chronologische Prinzip ist da sehr naheliegend, da es sehr gut Kausalitäten erklärt. Was ist vorher passiert? Was passierte danach? Auf die eine folgt die nächste Aktion und so weiter.

Ein anderer Fakt ist der, wenn man von mehreren Perspektiven erzählt, nicht nur von einer. In “Februar 33” habe ich einen Tag erzählt, dann den nächsten, immer wieder mit Unterbrechungen. Wie sieht es jetzt bei Thomas Mann aus, am Schauplatz von Heinrich Mann oder Berthold Brecht? Bei “Marseille 1940” ist es ähnlich.

Da gibt es Ereignisse, die Folgen für die ganze Geschichte der Rettung der Exilanten haben, in New York, in Kalifornien, in Deutschland oder in Marseille.

Ich muss, wie mit einer Kamera da- und dorthin schwenken, um erzählen zu können, was dort zu dieser Zeit passierte. Damit wird die Sache auch spannender.

NH: Wie gleicht man verschiedene, auch verschwimmende Erinnerungen ab? Wie entscheidet man, was ist erzählenswert, wo sind “Rivalitäten”?

UW: Was ich mache in diesen Büchern ist keine Wissenschaft. Es geht darum, die Dinge zu erzählen, dadurch lebendig zu halten und anschaulich zu halten und ein großes Publikum für die Situation der Flüchtlinge in Südfrankreich zu interessieren.

Wenn man dies wissenschaftlich angeht, muss man versuchen, die historischen Tatsachen so genau wie möglich zu rekonstruieren, wobei immer sehr viele Unsicherheiten bleiben, bei denen man sagen muss, es kann sein, dass es so oder so passiert ist. Wenn Sie erzählen wollen, ist das außerordentlich schwierig. Ich richte mich nach den Erinnerungen der Betroffenen, die dabei waren, und halte mich daran und muss zugegeben, dass natürlich die Erinnerung nicht immer ganz stimmt, ein Unsicherheitselement, das ich hinnehmen muss.

Das Problem ist, die Wissenschaft kennt all diese Dinge. Es ist ihr aber nie gelungen, ein größeres Publikum zu interessieren.

NH: Varian Fry ist bei uns nahezu unbekannt? Wie sieht es in Amerika, in Frankreich aus? Erinnert man sich da an seine Person?

UW: Fry ist in Deutschland viel zu wenig bekannt. Er hat ganz große Verdienste, es gibt aber in Deutschland keine Biografie über sein Leben, in der man sich wirklich intensiv mit seiner Person auseinandergesetzt hat. Das wollte ich unbedingt ändern. Das ist eben auch eine Folge davon, dass wir uns in diesen Dingen sehr stark auf wissenschaftliche Arbeitsweisen zurückgezogen haben. Die liefern aber auch keine völlige Zuverlässigkeit liefern, sondern sagen, „wir wissen es nicht ganz genau, sondern nur so ungefähr“, was dem entgegensteht, dies lebendig darzustellen.

Im Ausland ist das anders. Dort gibt es zwei Biografien über ihn. Da er als Amerikaner große Konflikte mit dem Außenministerium, dem State Departement, hatte, gab es auch eine Aktion des State Departments in den 2000er Jahren, in der er ausdrücklich gewürdigt und wo betont wurde, welch großartige Arbeit er geleistet hat. Der damalige Außenminister persönlich hat ihm posthum einen Orden verliehen.

NH: Was war das für ein Konflikt?

UW: Ein Spiel mehrerer Faktoren. Frys Organisation war eine Art NGO, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Das Außenministerium war nicht daran interessiert, sehr viele Flüchtlinge aufzunehmen. Etwas, was uns heute nicht ganz unbekannt ist. Die USA waren leider sehr vorsichtig, vor allem bei Juden. Auch in Amerika gab es antisemitische Strömungen zu der Zeit. Zum anderen wollte man keine politischen Intellektuellen, Theaterleute, Künstler im Land haben, da immer der Verdacht nahelag, das sie eigentlich Sozialisten oder Kommunisten seien.

Die wollte man definitiv nicht haben. Wer ein amerikanisches Visum haben wollte, musste die Frage beantworte „Waren oder sind Sie Mitglied einer kommunistischen Partei?“ Wer das bejahte, für den war Schluss. Der kam nicht ins Land. Nicht gefragt wurde „Waren oder sind Sie Mitglied einer faschistischen Partei?“ Komischerweise. Da gab es klare politische Vorbehalte und gegen diese hatte Varian Fry immer angekämpft und sich natürlich auch unbeliebt gemacht. Gegen stalinistische Kommunisten hatte auch Fry was. Gegenüber Sozialdemokraten und anderen war er sehr offen.

NH: Er hat die Liste auch sehr weit gefasst.

UW: Wenn er mit einer Liste von 200 Personen angekommen war und nachher fast 2.000 Menschen gerettet hatte, ist das wohl so. Als er in Marseille ankam waren ein paar Leute, die auf dieser Liste standen, bereits umgekommen, andere schon fort. Es gab Menschen, gerade französische Intellektuelle, von denen man in Amerika angenommen hatte, dass sie sehr gefährdet wären, die aber selbst die Gefahr nicht sehr hoch einschätzten. Ich bleibe in Frankreich. Ich möchte mein Land nicht verlassen.

Das Ende war ein eigentlich sehr bitteres. Schon Ende 1941 hatte die amerikanische Botschaft, da sie Frys Arbeit nicht haben wollte, ihm den Pass weggenommen. Ausweislos war er damit nicht mehr durch den Status, Amerikaner zu sein, geschützt. Der amerikanische Botschafter in Vichy-Frankreich, hat Fry signalisiert, dass er nicht protestieren würde, wenn dieses Regime ihn verhaftet.

Marseille 1940/1941 (Foto: C. H. Beck)

Daraufhin wurde Fry vom Präfekten in Marseille vorgeladen, um ihn mitzuteilen, dass Fry verhaftet und so untergebracht werden würde, dass er nicht mehr für seine Organisation arbeiten könne.

Das war natürlich ein endgültiges Signal. Fry hat versucht, das noch vier Wochen zu verzögern, aber dann musste er das Land verlassen.

NH: Varian Fry als besonderer Mensch nur für besondere Zeiten?

UW: Er war schwierig in Bezug auf Autoritäten. Er war kein Gruppenmensch, aber offensichtlich ein genialer Teamchef. Die Größe, in Marseille innerhalb von ein bis zwei Wochen ein so großartiges Team aufzubauen, mit Menschen, die idealistisch waren, um andere außer Landes zu bringen, das muss man erstmal machen.

Viele von diesen Menschen, die für ihn gearbeitet haben, sind nach dem Zweiten Weltkrieg in wichtige Positionen gekommen. Das war kein Zufall. Er hatte einen Blick gehabt für begabte Leute und da hat er wunderbar gearbeitet. Ein schwieriger Mensch mit ganz außergewöhnlicher Begabung. Diese dreizehn Monate waren die Sternstunde seines Lebens.

NH: Vielen Dank für das Gespräch.

UW: Vielen Dank.

Leseprobe des Verlags: Hier klicken.

Wir danken Uwe Wittstock und C. H. Beck für die Gelegenheit, das Interview zu führen. Wie immer der Hinweis, dass das Interview Eigentum des Autoren, des Bloggers und des Verlages ist und nicht vervielfältigt, kopiert oder anderweitig verbreitet werden darf. Cover-Fotos werden nach Vorgaben des Verlags verwendet, Fotos des Autoren sind auf der Messe entstanden und gehören dem Fotografen. Das Interview erfolgte ohne Gewinnerzielungsabsicht.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Wir haben die Helden so lange gern, so lange die Helden uns verzeihen, dass wir keine Helden sind. Read More »

Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur

Inhalt:
Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. (Klappentext)

Rezension:

In letzter Minute hat Heinrich Mann es geschafft, die Grenze ohne Aufsehen zu überqueren, Teil des kulturellen Exodus’, der das Deutsche Reich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, erfasste. Auch andere, die sich politisch mit Werk und Worten gegen die neuen Machthaber positionierten, mussten fliehen. Viele Intellektuelle und Schriftsteller fanden sich darauf hin in Frankreich wieder.

Doch auch hier holt der Krieg jene, die sich in Sicherheit glaubten, ein. 1940 ist Frankreich besiegt, zerstückelt. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, Leib und Leben zu riskieren, sich außer Reichweite der Häscher zu bringen. In der unbesetzten Zone wird die Stadt Marseille zum Schicksalsort, an dem sich alles entscheidet.

Nach seinem Werk “Februar 33 – Der Winter der Literatur” nimmt sich der Autor Uwe Wittstock nun erneut einen kulturellen Wendepunkt an, der der Erzählung des Exodus des intellektuellen Lebens nach der Machtergreifung Hitlers in nichts nachsteht. Spannend, erzählt er die Geschichte derer, die sich versuchen, in Sicherheit vor den Zugriff der Nazis zu bringen, und derer, die dies ermöglichen. Biografien werden verwoben, wie Wege, die sich kreuzen. Ausgangspunkte sind ein Schriftsteller-Kongress im Exil, die Beobachtung ausbrechender Gewalt, Tatendrang und unermüdliche Hilfsbereitschaft.

Im Mittelpunkt der Journalist Varian Fry, der es mit seinen Mitstreitern schafft, in aller Kürze ein kleines aber effektives Netzwerk aufzubauen, in Frankreich später selbst die Fäden in den Händen halten muss, welche nicht nur durch das dortige Vichy-Regime unter Druck geraten. Akribisch folgen wir seinen Spuren und derer, denen er die Flucht verhilft.

Alma Mahler Werfel und Franz Werfel, Heinrich Mann, Anna Seghers und viele andere werden so gerettet. Fry und seine Unterstützer werden für einen entscheidenden Moment der Geschichte zu besonderen Menschen in einer besonderen Zeit.

Wie bereits in seinem vorangegangenen Werk werden die dicht gedrängten Ereignisse in Tagebuchform aufgefächert, welche das Drängen, die Eile und nicht selten die Ungewissheiten der Akteure herausstellt, deren Schicksale sich von einem auf dem anderen Tage ändern konnte.

Wieder sind es ausgewählte Personen, deren Wege hier beschrieben werden, stellvertretend für viele, die zwangsweise namenlos bleiben müssen, da wir zu wenig wissen, um von ihnen zu erzählen. Gleich zu Beginn wird dies vom Autoren selbst herausgestellt, dem der Spagat gelungen ist, ein zweites Mal ein literarisches, zudem in unseren Zeiten hoch nachdenklich machendes, Sachbuch zu schaffen.

Anhand von Tagebuchaufzeichnungen, nach dem Krieg niedergeschriebenen Erinnerungen oder Briefen, auf denen sich eine puzzleartige Recherche, die auch nach Marseille selbst führte, stützt, ist damit ein kulturelles Portrait entstanden. Kurzbiografien am Ende des Buches geben über das weitere Schicksal Aufschluss. Aufgelockert wird die Lektüre durch Kartenmaterial in den Innenseiten und zahlreichen Abbildungen, welche im Zusammenspiel diese Tage lebendig werden lassen.

Auch hier hat man, wie in “Februar 33” erneut das Gefühl, allen Personen so nahe zu sein, als würde man daneben stehen, gegen alle Widrigkeiten Fluchten zu organisieren oder zu bestreiten. Diese Chronologie geht unter die Haut, mit einem sogar noch etwas flüssiger wirkenden Schreibstil als beim Vorgänger. Ein Buch über Menschlichkeit und Mut, über unwägbare Faktoren und Sekunden, die über Gelingen oder Scheitern entschieden.

Eine unbedingte Leseempfehlung.

Autor:

Uwe Wittstock wurde 1955 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Zunächst arbeitete er als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 der Literaturredaktion angehörte, danach wirkte er als Lektor beim S. Fischer Verlag.

Zur gleichen Zeit war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. Im Jahr 2000 wurde er stellvertretender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, zwei Jahre später Kulturkorrespondent in Frankfurt/Main. Bis 2017 arbeitete er als Literaturchef des Magazins Focus. Zu seinen Werken zählen mehrere Sachbücher. 1989 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Journalismus.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur Read More »

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Inhalt:

Mit der ersten großen Liebe ist für uns oft ein Duft verbunden. Für Feurat Alani sind der Duft und der Geschmack von köstlichem Aprikoseneis, das er als Kind in Bagdad gekostet hat, für immer mit dem Irak verbunden. In 1000 Tweets berichtet er von dieser ersten Reise in das Herkunftsland seiner Familie und von den späteren Reisen als erwachsener Journalist, vom Krieg und dem Wandel, den dieser im Traumland seiner Kindheit bewirkt hat. Wir begleiten den Autor bei der Entdeckung eines orientalischen Landes voller unbekannter Düfte, aber auch bei seiner Trauer um das, was später unwiederbringlich verloren ging. Die berührenden und scharfsichtigen Beobachtungen des Kindes und des jungen Erwachsenen hat Léonard Cohen mit seinen Zeichnungen eindrücklich illustriert. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

In Mansour halten wir an einer Eisdiele. Ich koste von dem besten Eis, dass ich je gegessen habe. Aprikose. Der Duft von Bagdad.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Gerade als der Iran-Irak-Krieg vorbei ist, lernt Feurat im Alter von neun Jahren die Heimat seines Vaters kennen. Das Land wirkt anders als in den Medienberichten, modern und offen. Die einfachen Leute fahren VW Passat. Melonen werden am Fluss eingegraben, um sie abends gekühlt essen zu können. Doch das Gesicht Saddam Husseins bestimmt den Irak. Seinen Namen sollen sie nicht laut aussprechen. Als seine kleine Schwester es dennoch tut, kennt Feurat fortan nun auch den Duft der Diktatur.

Im Irak herrscht Lebenslust, zumindest damals, trotz bereits vorhandener Einschränkungen. Vor dem Embargo leben die Menschen gut, doch das Glück der Menschen, schon damals Spielball der Gegensätze, wird im Laufe der Jahre zerrinnen. Bis nichts mehr davon übrig ist. Über die Jahre wirft der Autor, zunächst mit den Augen des Kindes, später als junger Journalist, immer wieder einen Blick auf dieses Land, welches wir kaum fassen können. Doch wie der Irak, so stet Feurat Alani selbst stets unter Spannung zwischen den Welten. Als Iraker und Franzose. Seine Beobachtungen hat er nun zusammengestellt. In Form einer Tweet-Sammlung. Ergänzt durch minimalistische Zeichnungen entstand so das Portrait seine Autobiografie, ein Blick auf die jüngere Geschichte eines Landes, eine Graphic Novel und ein Zustandsbericht, der einem den Atem stocken lässt.

Als Ziad und ich uns an diesem Tag trennen, gehe ich mit einem Gefühl der Scham. Mir wird alles geschenkt. Und ihnen alles genommen.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

In dieser Kombination ist das Werk “Der Geschmack von Aprikoseneis” ungewöhnlich einprägsam. Kurz und prägnant sind die Sätze, den Möglichkeiten der Social Media Plattform Twitter nachempfunden. Momentaufnahmen, die sich stapeln und fließend ineinander übergehen. Sie zeigen den Wandel eines Landes, zugleich die Veränderung des Blickwinkels. Der des Kindes weicht dem jungen Erwachsenen, der dokumentieren, festhalten und der Welt von der irakischen Wirklichkeit berichtigen möchte.

Das Gefühl, nie am richtigen Ort zu sein. Unrechtmäßigkeit. Schuld. Ich möchte meine Erlebnisse im Irak vergessen, aber sie lassen mir keine Ruhe.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Zeichnungen, die beinahe wie Scherenschnitte wirken und dennoch die Strahlkraft von Fotos besitzen, unterstreichen den Text, ohne überhand zu nehmen. Sie prägen sich ein. Lesend nimmt man die beobachtende Position ein und verliert sich in diesem Strudel der Emotionen. Das funktioniert in dieser Kombination ebenso, wie dies der Tatsache geschuldet ist, dass Seitenzahlen völlig fehlen, was den unmerklichen und doch schnellen Wandel verdeutlicht, bis zum Zusammenbruch einer Gesellschaft.

Immer ist Feurat Alani Beobachter und Akteur zugleich, nebenan der Schauplätze und mittendrin. Einzelne Nadelstiche summieren sich, werden zu hörbaren Explosionen, einer Platzwunde, einer versuchten Entführung. Einschläge werden fassbar, kommen immer näher, bis es auch die Familie des Autoren zerreißt. Diktaturen kennen keine Gnade. Chaos erst Recht nicht. Dreizeiler in Absätzen prägen das Bild. Nur Ausschnitte hält der Betrachtende fest und doch das wichtige. Platz für Nebensächlichkeiten bleibt da nicht. Zunehmend müssen auch die Menschen sich damit beschäftigen, zu überleben. Bald ist das die einzige Tätigkeit.

Ein trauriger Anblick. Einer der Insassen liegt auf dem Boden. Die Rettungskräfte sind da. Der Sommer beginnt mit einem Toten. Das gefällt mir nicht.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis

Aufgrund der ungewöhnlichen Erzählstruktur, ergänzt durch eine Chronologie der Ereignisse ist diese Biografie einer Person, eines Landes, einprägsam und verdeutlicht zugleich, wie schnell etwas Intaktes, auch wenn die Oberfläche bereits von Beginn an Risse aufweist, in die Brüche gehen kann. Wer ein Gefühl dafür erlangen möchte, wird dieses Werk mit Gewinn lesen können. Mit mehr Spannung als ein Roman das könnte. Jeder Tweet ist eine Tür. Die mehrteilige Serie “Fremde Heimat Irak“, die bei Arte zu finden und im gleichen grafischen Stil gehalten ist, sei ebenfalls ans Herz gelegt.

Autor:

Feurat Alani wurde als Sohn irakischer Eltern in Paris geboren. In Bagdad hat er als Korrespondent für die Sender I-Tele und Le Point gearbeitet. Er war auch regelmäßiger Mitarbeiter von Le Monde diplomatique und Geo, bevor er seine eigene Produktionsfirma gründete. Sein Dokumentarfilm Irak: les enfants sacrifi és de Fallujah (2011) wurde auf mehreren Festivals prämiert.

Illustrator:
Léonard Cohen ist Absolvent der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs de Paris. Im Jahr 2010 wurde sein Abschlussfilm Plato auf vielen Festivals gezeigt und gewann mehrere Preise, darunter jenen für den besten Studenten-Kurzfilm und den Preis der Junior-Jury auf dem renommierten Internationalen Trickfilmfestival von Annecy. Cohen arbeitet freiberuflich und entwickelt vor allem Animationsprojekte.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Feurat Alani: Der Geschmack von Aprikoseneis Read More »

Ina Conzen: Pablo Picasso

Inhalt:
Pablo Picasso (1881-1973) gehört zu den bedeutensten Künstlern des 20. jahrhunderts. Fantasievoll und experiementierfreudig hinterließ er ein atemberaubend umfangreiches OEuvre in nahezu allen Medien. Bis heute fasziniert die stilistische Wandelbarkeit seiner Werke, aber auch deren spannende Verankerung in Picassos Biografie. Souverän und kenntnisreich zeichnet Ina Conzen im vorliegenden Band Leben und Werk dieses Ausnahmekünstlers nach. (Klappentext)

Rezension:

Reduziert auf Schwarz-, Weiß- und Grautöne wirkt das Wandbild nur auf den ersten Blick als eine wirre Kombinationen aus Formen und Symbolen, doch erschließt es sich nach und nach den Betrachtenden. Es symbolisiert die Schrecken des Krieges und gilt bis heute als bedeutenstes Werk des spanischen Künstlers Pablo Picasso. “Guernica”, welches dieser im Auftrag für die Weltausstellung 1937 unter den Eindrücken des Spanischen Bürgerkriegs anfertigte, ist heute in Madrid zu sehen, doch nicht nur dieses Werk ist im kollektiven Gedächtnis geblieben. Die Konservatorin und Autorin Ina Conzen hat sich auf Spurensuche begegeben. Entstanden ist dabei ein mehr als eindrucksvolles Porträt.

Wer mit relativ wenig Aufwand kompaktes Überblickwissen erlangen möchte ist mit Bänden der vorliegenden Reihe gut bedient. Das gilt für viele Themen, eben auch für die Kunst und so reiht sich nun dieses Bändchen mit ein, in welchem ein bedeutender Ausnahmekünstler beleuchtet wird. Diese Formulierung aus dem Klappentext darf man ruhig wörtlich nehmen, wenn gleich sich die Autorin sehr nüchtern der Biografie und dem Werk Picassos nähert. Sie verfolgt die Spuren dessen, der als Porträtmaler began und später die Grenzen des Künstlerischen Schritt für Schritt erweiterte, sich mitunter selbst zum Objekt seiner Betrachtung machte, von dessen Kindheit an. So gelingt ein eindrucksvoller Rundumblick.

Nicht immer ist das zugänglich. Zwar lockern hier mehrere Bildteile den Text auf, doch sollte man sich zuweilen schon auskennen mit verschiedenen Stilrichtungen der Kunst, die Laien zunächst kaum etwas sagen werden. Was ist das besondere an dem Punkt, wenn Picasso den Bereich des Gegenständlichen verlässt, um ins Surrealistische und Kubistische zu wechseln, um dann später wieder sich einer anderen Form des Gegenständlichen zu widmen? Diesen Zugang muss man sich selbst zusammenrecherchieren. Nicht an jeder Stelle ist hier ein Text für Laien gelungen, wenn man auch mit mehr Wissen aus der lektüre herausgeht, als man eingestiegen ist.

Die Autorin hangelt sich entlang der Perioden künstlerischen Schaffens Picassos, welcher dankenswert die Interpretationen gleich mitgeliefert hat, zuweilen für seine Zeitgenossen unverständlich, die teilweise fassungslos der Tatsache ins Auge sehen mussten, dass für scheinbar einfache Pinselstriche Millionen hingeblättert wurden. Schon zu Lebzeiten war der Künstler mehr als erfolgreich.

Im Privaten unruhig, blieb auch Picassos Kunst immer in Entwicklung. Auch mit den damaligen neuen Medien, der Fotografie, des Films experimentierte er ausgiebig. Auch diesen Aspekt seines Schaffens analysiert die Autorin mit Kennerblick, zeigt jedoch auch, dass Picasso nicht nur von Pinsel, Farbe oder Modellierung etwas verstand, sondern auch von Selbstvermarktung. Alle Aspekte werden in kompakter Form zueinander ins Verhältnis gesetzt, woraus sich ein Gesamtbild für die Lesenden ergibt, welches dazu einlädt die Werke Picassos einmal näher zu betrachten, sich damit zu beschäftigen. Ina Conzen lässt dabei jedoch nicht auch die Widersprüchlichkeiten der Charakterzüge Picassos außer Acht, gibt sich zuweilen kritisch, doch immer auch fasziniert von der Künstlernatur, die für jene, die mit ihm zu tun hatten, nicht immer ganz einfach gewesen sein muss.

Vielleicht ist genau dieser Band nicht unbedingt geeignet, in Leben und Werk Pablo Picassos einzusteigen. Zuvor sollte man zumindest einige von der Anschauung her kennen und vielleicht eine Idee der Grundzüge verschiedener künstlerischer Stile besitzen. Dann kann man sich dieser Lektüre annehmen und sie mit Gewinn sich zu Gemüte führen. Vorher wird man jedoch mehr als einmal über bestimmte Begrifflichkeiten stolpern. Später jedoch ergibt sich ein anderer Blick und dann erschließt sich auch die nüchterne faszination Ina Conzens für Pablo Picasso, der nicht nur mit “Guernica” ein Werk für die Historie geschaffen hat.

Autorin:

Ina Conzen war bis 2021 Hauptkonservatorin für Kunst der Klassischen Moderne an der Staatsgalerie Stuttgart.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Ina Conzen: Pablo Picasso Read More »

Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller

Inhalt:

Wohl nie waren so viele berühmte Schriftsteller und Reporterinnen aus aller Welt unter einem Dach versammelt wie in Nürnberg 1946. John Dos Passos und Erika Mann, Erich Kästner und Martha Gellhorn, Willy Brandt und Markus Wolf: Sie kamen, um zu berichten – von den Gräueln des Krieges und des Holocaust, die dort vor Gericht verhandelt wurden. Sie wohnten und schrieben auf Schloss Faber-Castell, diskutierten, tanzten, verzweifelten, tranken. Uwe Neumahr erzählt ihre Geschichte in seinem aufregenden und bewegenden Buch. (Klappentext)

Rezension:

In den Abgrund blickend, saß die Welt 1946 in Nürnberg zu Gericht, wo die noch Lebenden der ehemaligen NS-Führungsriege sich verantworten mussten, für die Auswirkungen ihrer Politik und Entscheidungen, die zum Krieg führten und in die Verbrechen des Holocausts mündeten. Das Unfassbare in Worte fassen, eine Sprache dafür zu finden und der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, oblag den zahlreichen Journalisten und Schriftstellern, die den Prozessen beiwohnten, gänzlich oder zeitweise.

Im Gerichtssaal den einstigen Tätern gegenüber sitzend, danach im von den Alliierten eingerichteten Presse-Quartier auf Schloss Faber-Castell zu versuchen, dies zu verarbeiten und in Worte zu fassen. Der Germanist Uwe Neumahr erzählt ihre Geschichte.

Als im Februar 1933 das NS-Regime auch gegenüber den Kulturschaffenden seines Landes die Macht zementierte, ahnten wenige, dass die Welt nur Jahre später in Trümmern liegen und zu Gericht sitzen würde über die Führungsriege eines Staats, der Millionen Menschenleben forderte. Über diesen Beginn berichtet Uwe Wittstock in seinem viel beachteten literarisch wirkenden Sachbuch. Das Ende, an dem zu einem kleinen Teil die gleichen Protagonisten Anteil nahmen, wird nun in diesem Werk in den Blick genommen.

Anders als Uwe Wittstock hangelt sich jedoch Uwe Neumahr nicht entlang eines Zeitstrahl, sondern beschreibt das Unwirkliche anhand von Personenkonstellationen, die schon für sich selbst genommen so besonders sind, wie der Prozess selbst, ob zu der geschilderten Zeit, davor oder erst viel später.

Das Geschehen der Verhandlungen, im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung war es anzahlmäßig nie nur ein einziger Prozess, gibt den Rahmen vor, ein sehr sonderbares Stück Geschichte einmal aus einem anderen Blickwinkel aufzuzeigen, der heut abseits der bekannten Bilder fast vergessen ist. In sich kompakt und geschlossen wirken die Kapitel, die zusammen einer Linie folgen und in der sich der Autor vor allem auf einzelne Biografien und der dadurch beeinflussten Wahrnehmung fokussiert.

So wurde der Prozess nicht nur von den Journalisten der verschiedenen Herkunftsländer unterschiedlich aufgenommen, auch abseits aller Ideologie oder Geografie gab es in der damaligen journalistischen Betrachtung durchaus ausgemachte Unterschiede. Wie wurde der Prozess etwa von den wenigen anwesenden weiblichen Journalistinnen gesehen? Wie schauten sei auf Angeklagte, Kläger und Richter? Wie schauten die Schreiberlinge auf das Leben und Wirken ihrer Konkurrenz? Gab es Unterschiede in der Betrachtung zwischen ausländischen und den wenigen anwesenden deutschen Journalisten?

Wie gestalteten sich und wirkten Verwerfungslinien im journalistischen Arbeiten während oder in Folge der Prozesse? Der Autor folgt diesen und geht der unterschiedlichen Betrachtungen von John Dos Passos oder Martha Gellhorn auf dem Grund, beschreibt die Wahrnehmungen von Erika und Golo Mann oder etwa Willy Brandts und Markus Wolf, deren Biografien sich dort zum ersten Mal kreuzen sollten.

Diese Vielfalt macht dieses Sachbuch zu einer aufwühlenden und zugleich spannenden Lektüre, die innerhalb einer besonderen und sehr sensibel anzufassenden Thematik gut recherchiert weitere Besonderheiten herausschält. Es liegt dabei in der Natur des Textes, dass einzelne Längen durchzuhalten sind, aber durch die relativ kurz gehaltenen Kapitel fällt dies nicht weiter ins Gewicht. Die Perspektive wechselt nicht nur zwischen den einzeln beleuchteten Personen, die Dynamik kommt immer wieder durch das jeweilige Gegenüber zustande.

Diese Art und Weise Geschichte nicht kalenderartig zu erzählen, sondern indirekt über die sie zur damaligen Zeit erlebenden Personen schafft einen sehr besonderen Zugang. Zugleich ist es ein Sachbuch, welches dadurch innerhalb der Bücher gegen das Vergessen einfach heraussticht. Diese Perspektivensammlung gibt es bisher so zu selten. Gestützt auf zahlreiche Quellen und einer Fülle an Archivmaterial hat Uwe Neumahr eine Lektüre geschaffen, die zugleich einer Vielfalt an journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten ein Denkmal setzt, die damit ebenso gewürdigt und manchmal kritisch betrachtet werden muss, wie die Vorgänge, denen Kästner und andere beiwohnten.

Über die eine oder andere dort beleuchtete Person lohnt es sich dabei durchaus ein wenig Grundwissen in der Hinterhand zu haben. Die Lektüre lädt jedoch ein, selbstständig ergänzend zu recherchieren, so dass man selbstständig noch viel mehr Informationen zusammentragen kann. Wenn man denn möchte. Auch ohne bekommt man jedoch ein umfassendes Bild über jene, die sich einer fast unlösbaren Aufgabe gegenüber sahen.

Uwe Neumahr würdigt an der einen und beleuchtet kritisch an anderer Stelle. So ausgewogen möchte man mehr davon lesen. Das was da ist, lohnt sich.

Autor:

Uwe Neumahr wurde 1972 geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Literaturagent. In Tübingen und Pisa studierte er zunächst Literaturwissenschaft, promovierte in Köln und war Mitarbeiter der Forschungsstelle zur spanischen Renaissance der Universität Kiel. Danach arbeitete er als Lektor, sowie als Literaturagent, seit 2013 in München, wo er zahlreiche nationale und internationale Autor:innen vertritt. Er ist Autor mehrerer Sachbücher, u. a. einer Biografie über Cervantes, die 2015 erschien.

Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller Read More »

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Inhalt:

Großartig und nervtötend, liebevoll und erdrückend, aufopfernd, aber auch übergriffig – Michel Bergmann liebt seine Mutter Charlotte und hält sie manchmal nicht aus. Und erzählt in diesem Buch, in dem er nichts und niemanden schont, die Geschichte einer eigenwilligen, starken Frau: ihre Vertreibung aus Deutschland, der Verlust fast der gesamten Familie, das Glück, ihren künftigen Ehemann wiederzufinden, und dennoch ein Schicksal, bei dem sie allzu oft ganz auf sich allein gestellt ist.

Ein bewegendes Buch über eine faszinierende Frau und Mutter. (Klappentext)

Rezension:

“Woody Allen hat gesagt: Das schlechte Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Recht hat er.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

“Dafür nun habe ich überlebt.”, so oder ähnlich klingen die Vorwürfe, die sich Michel Bergmann Zeit seines Lebens anhören muss, aus dem Munde derjenigen, die ihm am nächsten stehen sollte. Das tut sie auch, doch das Leben spielte der Mutter, wie allzu vieler ihrer Generation übel mit. Geschehnisse, die lange danach noch Wirkung zeigen, in den Familien übergreifend. Der Autor schaut, Jahre nach dem Tod, zurück, sucht die Wegmarker und Wendepunkte und damit, seine Mutter mehr zu verstehen als er es zu ihren Lebzeiten konnte. Entstanden ist eine Mischung aus Romanbiografie, Familienepos, Ode und Psychogram, hart zu der Frau, die er zu seiner Hauptprotagonistin macht, aber auch sich selbst nicht schonend.

Der Filmemacher weiß sich unterschiedlicher Genre zu bedienen und setzt deren Elemente gekonnt um. Der Handlungsverlauf gleicht im Spannungsverlauf eben dem eines guten Films, während dessen er sich an den biografischen und neuralgischen Punkten des Lebens seiner Mutter entlang hangelt. Zuweilen ist das fast wie ein Krimi zu lesen, aber eben in Romanform erzählt Michel Bergmann liebevoll aus dem Leben seiner Mutter. Ihre und seine Perspektive sind die bestimmenden Elemente, die Abwechslung in diese kurzweilige Erzählung bringen. Die Kapitel sind benannt nach den einzelnen Stationen dieser bewegten Biografie, bei der man immer wieder innehalten muss. Um zu schmunzeln, laut loszulachen, auf das einem das Lachen im nächsten Moment im Halse stecken bleibt.

Erzählt wird die Geschichte der Mutter über die gesamte Lebensspanne, konzentriert auf die neuralgischen Punkte. Der Autor könnte noch viel mehr erzählen, doch beherrscht er des Berufs wegen die Kunst des Reduzierens. Auf die Leinwand kann man schließlich auch nicht alles bringen, was man gerne möchte. Überflüssige Zeilen gibt es hier auch zwischen den Buchdeckeln nicht. Dabei lässt Michel Bergmann die unterschiedlichsten Handlungsorte vor dem inneren Auge entstehen. Wir folgen der Protagonistin, deren Ansichten sich über die Jahre verhärten werden, in der Rückschau wird das Schicksal sie verbittern lassen, durch Deutschland in seiner schlimmsten, später auch in seiner besten Zeit, in die Schweiz und nach Frankreich. Wenige Worte genügen hier manchmal, um ganze Welten lebendig erscheinen zu lassen.

Hauptfiguren bilden der Erzähler selbst und seine Protagonistin, die wie zwei gegensätzliche Pole einander abstoßen, aber doch nicht ohne einander können. Diese Konstellation kommt aber auch bei den Nebencharakteren zum Tragen, doch während der Sohn mit dem Abstand der Generation das Konfliktpotenzial sieht und zu bewältigen weiß, kann sich die Mutter nicht davon befreien.

“Und die Ingredienzen dieses neuen Lebens durch Überleben haben nicht nur psychische Schäden verursacht. Sie haben Krankheiten und Todesursachen provoziert und letztlich auch die Gene verändert, die an uns weitergegeben wurden. Bis heute werden die Auswirkungen dieser schweren, lebensbedrohlichen Jahre der Schoah unterschätzt. Wir alle wären andere. Und unserer Kinder ebenfalls. Davon bin ich zutiefst überzeugt.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Brüche in der Erzählung ergeben sich durch die Protagonisten selbst, nicht zuletzt durch den Erzählenden, der zwischen den Zeiten springt, um damit andere Punkte dieser Geschichte unterfüttern. Im Lesefluss selbst ist das keinesfalls störend. Es ergibt sich sogar eine gewisse Dynamik und ein Erzähltempo, welches es verhindert, dass man vollends in nicht enden wollende Melancholie hinabstürzt, aus der man nicht wieder hinausfinden würde. Dem Lesenden wachsen die Figuren mit all ihren Ecken und Kanten ans Herz. Vielleicht sollten wir alle uns die Geschichte unserer Eltern anschauen, mag man hinterher meinen, um sie zu begreifen, um sich selbst besser zu verstehen.

Der Autor weiß die Wirkung von Sätzen und sprachlichen Bildern zu nutzen, setzt sie gekonnt und nicht über die Maßen ein, setzt damit seiner Mutter, die er zur Hauptprotagonistin macht, ein Denkmal, nicht ohne dieses selbst zu hinterfragen. Immer wieder steht die Frage im Raum, was wäre wenn, um im gleichem Atemzuge beantwortet zu werden, mit: “So. Und nicht anders.” Diesem Stil kann man sich nicht entziehen, möchte man auch nach wenigen Seiten schon nicht, trotz einer Figur, die in Teilen unnahbar, manchmal fast unangenehm bleiben wird.

“Ich lehne mich zurück, atme tief durch. Was für eine Geschichte! Meine Mutter ist aber auch schrecklich. Ich muss lachen. Ich liebe sie.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Es ist ein Buch über ein Blick hinter die Fassade eines Menschen und auch die Suche des Autoren nach sich selbst. Am Ende scheint Michel Bergmann auf viele seiner Fragen Antworten gefunden zu haben. Diesen Weg zu verfolgen, durch sprichwörtlich viel zu viele und zu tiefe Täler, immer wieder aber auch Berge des Glücks, okay, das klingt jetzt kitschig, war interessant und lesenswert. Gelernt hat man am Ende auch etwas dabei und sei es nur eine ganze Reihe jüdischer Ausdrücke und Begrifflichkeiten, die Bergmann am Ende des Romans, der eigentlich eine Biografie, eine Suche und auch sonst darstellt, erläutert. Ein Text der so viel schafft, den Autoren sicherlich und nicht zuletzt, die Lesenden selbst herausfordert, den kann man nur empfehlen.

Autor:

Michel Bergmann wurde 1945 in Basel geboren und ist ein schweizerisch-deutscher Filmproduzent, Regisseur und Schriftsteller. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung bei der Frankfurter Rundschau und war anschließend als freier Journalist tätig.

Später wechselte er in die Filmbranche und arbeitet seither als Drehbuchschreiber, Regisseur und Produzent. Sein erster Roman wurde im Jahr 2010 veröffentlicht, weitere folgten, 2021 seine erster Kriminalroman. Er erhielt u. a. den Deutschen Industriefilmpreis und den New York Film Award.

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück Read More »

Barbara Constantine: Kleiner Tom, was nun?

Inhalt:

Tom ist elf Jahre alt. Mit seiner viel zu jungen Mutter Joss wohnt er in einem alten Wohnwagen, und weil Joss abends gerne ausgeht, sich verliebt und mit Freunden wegfährt, ist Tom oft allein. Sein Essen klaut er in den Gemüsegärten der Nachbarschaft. Hier rupft er eine Karotte aus der Erde, dort eine Kartoffel. Aber er ist sehr vorsichtig.

Sorgfältig beseitigt er seine Spuren, steckt die Pflanzen zurück in die Erde und buddelt die Löcher wieder zu. Eines Abends, als er einen neuen Garten betritt, um etwas zu essen zu suchen, stolpert er beinahe über die dreiundneunzigjährige Madeleine, die zwischen ihren Kohlköpfen liegt und weint. Tom nimmt sich ihrer an, denn ehrlich gesagt: Zusammen ist man weniger allein … (Klappentext)

Rezension:

Wie schön sind doch Erzählungen, in denen nichts aber eigentlich ganz viel passiert. Als solche entpuppt sich der Roman der französischen Autorin Barbara Constanine, den man nichtsahnend aufschlägt, um sofort in eine liebevolle Geschichte hinein zu geraten.

Lesend folgt man den Fußspuren des kleinen Hauptprotagonisten, der eine viel zu große Last auf seinen schmalen Schultern tragen muss. Tom streift durch die Gärten der Nachbarschaft, um die für seine Mutter und sich ohnehin unregelmäßigen und kargen Mahlzeiten zu ergänzen. Ohne es zu wissen, sind seine Erkundungsgänge schon längst entdeckt. Nicht dies, auch nicht gefundene Möhren oder die Katze der Nachbarn lassen ihn eines Abends aufschrecken. Eine ältere Frau liegt hilflos in ihrem Garten. Tom hilft ihr auf und setzt damit unwissentlich Veränderungen in Gang.

Diese Geschichte ist unter den Deckmantel einer reinen Erzählung zum Wohlfühlen mehr als es Klappentext oder Verlagsinhaltsangabe hergeben, hat es die Autorin doch geschafft auf wenigen Seiten so viel anderes umzubringen. Die Entwicklung einer Mutter-Sohn-Beziehung in vertauschten Rollen, hier ist eindeutig der Kleine der Große, ebenso wie eine anrührende Coming-of-Age-Geschichte sind hier zu finden, ein Roman über Freundschaft und Familie, Veränderungen.

Der Roman spielt in einem nicht näher benannten Zeitfenster, doch dürfte der Handlungsstrang nicht mehr als über ein paar Wochen hinausgehen. Das reicht der Autorin dennoch, um vor allem ihren Hauptprotagonisten Konturen zu geben. Andere Figuren werden im Laufe der Handlung nur soweit ausgearbeitet, wie es zur Erzählung beiträgt, doch hat man gegen Ende das wohltuende Gefühl, nichts zu vermissen. Hier ist weniger mehr, stattdessen Konzentration aufs Wesentliche. Antagonisten braucht Constantine nicht, um zu zeigen, was der Titel des Werks impliziert, welches Susanne van Volxem liebevoll ins Deutsche übersetzt hat.

“Kleiner Tom, was nun?”, wird innerhalb der Kapitel per Perspektivwechsel zwischen den Figuren erzählt. Misslungene Sprünge oder störende Wechsel fehlen, auch das Erzähltempo bleibt nahezu die gesamte Geschichte über unverändert. Vielleicht kann man, außer die Gefahr in Kauf zu nehmen, ins Kitschige zu geraten, was die Autorin umgangen hat, bei dieser Art von Erzählung auch nicht viel falsch machen. Man bleibt dabei, nicht weil es so sehr spannend wäre, was man da vor sich hat, es ist einfach wie etwas, was man konsumiert, um sich hinterher besser zu fühlen. Ohne dafür negative Seiten in Kauf nehmen zu müssen.

Sprachlich ist das alles kein großer Wurf, ein Roman für Zwischendurch ohne besonderen Anspruch. Es genügt, dass man sich in den Hauptprotagonisten hineinversetzen, die Tomaten, die er mopst, förmlich greifen kann, den Hunger spürt, aber auch das Wechselspiel zwischen den Figuren beobachtet. Mehr möchte man dann auch nicht. Vielleicht ein wenig von der Tom Tomatensoße? Das würde schon reichen.

Es ist eine einfache Geschichte für Zwischendurch, um den Kopf frei zu bekommen, aber auch sich berühren zu lassen. Die Welt durch Kinderaugen ist nicht immer einfach, aber manchmal dadurch ein wenig besser.

Autorin:

Barbara Constantine wurde 1955 geboren und ist eine französische Drehbuchautorin, Töpferin und Schriftstellerin.

Barbara Constantine: Kleiner Tom, was nun? Read More »

Anne Goscinny: Der kleine Nick und das große Glück

Inhalt:

Es war einmal ein auf Papier gezeichneter Junge, der mit seinen Freunden den Schulhof unsicher macht und weltberühmt wurde. Zum Leben erweckt haben ihn zwei unzertrennliche Freunde: der Zeichner Jean-Jacques Sempe und der Comicautor Rene Goscinny, die es beide als Kinder nicht leicht hatten. Gemeinsam haben sie für den kleinen Nick eine Kindheit erfunden, die sie selbst nie haben konnten. (Klappentext)

Rezension:

Wie sieht sie aus, eine glückliche Kindheit? Wie stellt man sich eine solche vor, wenn man selbst keine hatte? Gelingt dies, anderen ohne Vorbild eben diese zu verschaffen? Der französische Comicautor Rene Goscinny und der im Jahr 2022 verstorbene Zeichner Jean-Jacques Sempe haben dies versucht und nicht nur, aber besonders einer Figur das Kinderleben zu geben, welches sie selbst nicht haben konnten. So erzählt “Der kleine Nick und das große Glück” einerseits vom werden einer der bekanntesten französischen Kinderbuchfiguren, aber auch von der darüber entstandenen Freundschaft und Arbeit zweier faszinierender Persönlichkeiten.

Das Werk der Tochter Anne Goscinny ist dabei ein Hybrid zwischen den Genres. Natürlich ist da der kecke zu Streichen aufgelegte Junge mit seinem Markenzeichen, dem roten Pullunder, der immer wieder Anekdoten anschneidet, die aus der Feder Goscinnys in die Geschichten der Buchreihe Eingang gefunden habe, zugleich ist der Text aber auch eine Art Biografie, Hommage an zwei große Künstler, welche zugleich Einblick in die Arbeitsweise beider gibt. Kaum vorstellbar, dass es anders gelaufen ist als die Autorin selbst, nun mit einem anderen Zeichner Fabrice Ascione, zusammenarbeitete, um das Werk ihres Vaters und dessen Freundes zu bewahren.

Prima!

Ausspruch der Kinderbuchfigur Le Petit Nicolas.

Eine schnöde Biografie zu entwerfen, wäre zu einfach gewesen, Geschichten vom kleinen Nick und seinen Freunden gibt es ohnehin zu Hauf’ (und noch nicht genug), warum also nicht einmal etwas Neues probieren? Schief gehen durfte solch ein Projekt nicht, was leicht hätte passieren können, hat man damit doch ein wenig am franzöischen Kulturerbe gerüttelt, doch wird man in die verschiedenen Welten, die nur zusammen eine in sich stimmige Erzählung ergeben, förmlich hineingesogen.

Den Zeichenstil Sempes hat man beibehalten, der nicht nur seine Figuren immer hat lebendig werden lassen, sondern ganze Szenarien erschaffen hat. Getreu dem Vorbild, wenn nicht Bilder der Originale genommen wurden, ist die feine Linienführung erhalten geblieben, in der einzelne Farbkleckse Akzente setzen. Die Autorin wiederum hat es geschafft, dem Stil ihres Vaters treu zu bleiben und eigene Punkte zu gestalten. Die Dynamik zwischen Freunden kommt dabei ebenso hervor, wie auch die Stimmung, die Goscinny und Sempe erfasst haben muss, wenn eine eigene Figur es schafft, sich in das Herz zu schleichen. Die erzählt die Geschichte übrigens selbst, abwechselnd zu den beiden anderen Perspektiven, die Goscinny und Sempe bilden.

Rene und Jean-Jacques, die haben mir erklärt, sie haben mich erfunden – ich, ich hab gar nichts gesagt, aber eigentlich wären sie doch ohne mich überhaupt gar nicht berühmt, also echt. Ich weiß schon, das klingt komisch und wenn ich das in einem Aufsatz schreibe, dann sagt meine Lehrerin, meine Mama darf mir nicht helfen.

Anne Goscinny: Der kleine Nick und das große Glück

Es ist ein Werk für große und kleine Comic-Fans, übrigens auch für die Leinwand adaptiert, welches einfach nur schön ist. In allen Punkten. Sind es die Zeichnungen, in die man sich verliebt? Der Text? Die in jeder Zeile mitschwingende Melancholie? Ist es die Perspektive eines kleinen Jungen oder zweier Herren, die es geschafft haben, ihr inneres Kind bis zu ihrem Tode zu bewahren? Oder ist es vielleicht etwas ganz anderes?

Für mich kann ich das nicht vollständig beantworten. Es sind solche Geschichten, weswegen ich lese.
Nicht nur, weil reale Namensgleichheit verpflichtet.

Autorin:

Anne Goscinny wurde 1968 geboren und ist eine französische Literaturkritikerin und Romanautorin. Nach der Schule studierte sie in Paris Vergleichende Literaturwissenschaften und schrieb anschließend für unterschiedliche Magazine. Parallel veröffentlichte sie mehrere Romane, die in verschiedenen Sprachen übersetzt wurden und veröffentlichte Kurzgeschichten für Jugendliche.

Als Tochter und alleinige Rechtsnachfolgerin für das Erbe ihres Vaters verwaltet Anne Goscinny dessen literarisches Werk und gründete im Jahr 2016 das Institut Rene-Goscinny, eine Stiftung. Für Werke, die in Zusammenarbeit mit anderen entstanden sind, arbeitet sie eng mit deren Nachfolgern zusammen, so z. B. mit Sylvie Uderzo, der Tochter von Albert Uderzo. Ihr 2004 gegründetes Unternehmen IMAV veröffentlicht alle Werke von “Der kleine Nick” und verwaltet die Merchandising- und Audiovisuellen-Rechte.

Anne Goscinny: Der kleine Nick und das große Glück Read More »

Eric Vuillard: Die Tagesordnung

Inhalt:

20. Februar 1933: Auf Einladung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring finden sich 24 hochrangige Vertreter der Industrie zu einem Treffen mit Adolf Hitler ein, um über mögliche Unterstützungen für die nationalsozialistische Politik zu beraten.

Mit virtuoser Eindringlichkeit und satirischem Biss seziert Vuillard die Mechanismen des Aufstiegs der Nationalsozialisten und macht deutlich: Die Deals, die an den runden Tischen der Welt geschlossen werden, sind faul, unser Verständnis von Geschichte beruht auf Propagandabildern. (Klappentext)

Rezension:

Nach Anhören oder Lesen einiger Rezensionen riet mir ein erster Impuls damals von der Lektüre ab, doch fiel mir später die Taschenbuchausgabe in die Hände. Meine Gedanken zu diesem Werk hatte ich dato längst verdrängt. Manchmal ist das Vergessen von Sachverhalten ja etwas Wunderbares, kann man sich doch so, in diesem Falle dem Text, einmal unbefangen nähern. Und so griff ich “Die Tagesordnung” aus meinem Regal heraus und begann zu lesen.

Schon mit dem Lesen der ersten Abschnitte stellt sich die Frage, was dieses Werk eigentlich sein will? Sein soll? Ein Roman ist das nicht, dafür wirkt die Form zu starr. Die Kategorisierung Sachbuch trifft hier ebenso wenig zu. Vielleicht hat uns Eric Vuillard hier eine Mischform aufgetischt? Im Fernsehen würde man wohl Doku-Spiel dazu sagen. Tatsächliches Geschehen noch einmal nachgespielt. Hier eben in Textform. Bekannte Szenen aus der Anfangszeit des NS-Regimes als Postkartenmotiv in Hochglanzform.

Und das ist ein Problem. Das Ausgangsmaterial hat beinahe Jeder bereits in aller Ausführlichkeit im Geschichtsunterricht serviert bekommen. Auch die Ergebnisse sind bekannt. Nichts Neues an Erkenntnissen gewinnt man, wenn das alles noch einmal umgeschrieben zu lesen ist.

Der rote Faden, der Lauf der Geschichte, den hat Vuillard hier ausgefranzt. Mal passen Szenen nicht zueinander, Übergänge, die diese schleichende Machtergreifung noch mehr verdeutlichen könnten, wie sie die Nationalsozialisten fabrizierten, fehlen zu Teilen gänzlich. Das ist handwerklich schlecht gemacht und trägt der Brisanz nicht unbedingt Rechnung.

Zudem darf sich der Autor die Frage gefallen lassen, warum mitten im Geschehen der Text endet. Und der Verlag, warum man nicht nochmals über den Klappentext geschaut hat. Letzterer beschreibt eine Szene von vielen, leider von zu wenigen, die in diesem Werk vorkommen könnten.

Bei Ersteren, ja, es wird die Vereinnahmung Österreichs beschrieben, der Anklang der Münchener Konferenz, der die Tschechoslowakei zum Opfer fallen sollte, aber mehr eben auch nicht. Warum nicht? Warum hat Vuillard nicht mehr aus den Stoff herausgeholt, dem ihn die Geschichte bietet? Keine Lust, weiterzuschreiben, wenn wir einmal bei dem Text an sich sind, sich wenigstens zu entscheiden, ob man einen Roman, eine Novelle vielleicht oder doch ein literarisches Sachbuch machen möchte?

Nun liegt das Werk eben so vor. Es lässt sich auch leicht lesen, zumal alles jedem darin bekannt sein dürfte. Danach bleibt jedoch auch nichts mehr übrig. Nicht mehr als ein Vergleich zumindest. Zu Pandemie-Zeiten haben einige von uns erfahren müssen, wie es ist, zu essen und nichts zu schmecken. Man wird vielleicht satt, aber das war es dann halt auch.

Vielleicht demnächst wieder ein Sachbuch oder einen richtigen Roman.

Autor:

Eric Vuillard wurde 1968 in Lyon geboren und ist ein französischer Schriftsteller und Filmemacher. Er studierte Jura, Politikwissenschaften, Philosophie, Anthropologie und Geschichte an der Elitehochschule EHESSS und veröffentlichte 1999 erste Erzählungen. Dem folgten weitere Texte, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Im Jahr 2017 erhielt er den Prix Goncourt für “Die Tagesordnung”.

Eric Vuillard: Die Tagesordnung Read More »

Florence Aubenas: Er ist keiner von uns

Inhalt:

Ein Dorf in der französischen Provinz, Dezember 2008. Um 8:30 Uhr schließt Catherine Burgod die kleine Postfiliale in der Dorfmitte auf. Eine halbe Stunde später ist sie tot, mit achtundzwanzig Messerstichen brutal ermordet. Die aufgebrachte Bevölkerung sucht einen Schuldigen, und der Verdacht fällt auf den Fremden im Dorf …

Nach jahrelanger Recherche erzählt die preisgekrönte Journalistin Florence Aubenas die Geschichte dieses bis heute ungelösten Kriminalfalls – atmosphärisch, packend und erschütternd. (Klappentext)

Rezension:

Eigentlich ein vergleichsweise belangloser Kriminalfall, ist der im französischen Monreal-la-Cluse geschehene Mord an einer Postangestellten ein Geschehen, welches bis heute viel mehr Fragen aufwirft als beantwortet werden können, zumal der für lange Zeit Hauptverdächtige kurz vor einer letzten Gegenüberstellung spurlos verschwand.

Die Journalistin Florence Aubenas hat recherchiert und nicht nur ein Ermittlungsporträt erstellt, auch ein spannend zu lesendes Psychogram eines Menschen, der tiefer kaum fallen konnte.

Hierzulande kaum bekannt, dürfte dieser Fall in Frankreich ein paar Wellen geschlagen haben, ist der des Mordes Hauptverdächtige kein geringerer als der für seinen Film “Le petit criminel” 1991 mit dem Cesar ausgezeichnete Jungschauspieler Gerald Thomassin, dessen Biografie schon zuvor mit zahlreichen Hindernissen und Stolpersteinen gespickt war.

Aufgrund von Drogen- und Beziehungsproblemen verschlug es ihn später in den Ort, der Jahre später zum Schauplatz eines Verbrechens werden sollte, was die Region erschüttern sollte. Aufgrund von getätigten Aussagen und Formulierungen Thomassins selbst, rückt dieser schnell in der stetig kleiner werdenden Liste der Hauptverdächtigen, was eine über Jahre andauernde Dynamik ins Rollen bringen sollte.

Die Autorin rollt den Fall auf und beleuchtet von allen Seiten die Biografie Thomassins und die Dynamik eines Geschehens, welche eine örtliche Gemeinschaft auseinanderbrechen ließ und nicht nur ein Leben zerstörte. Beinahe an der Grenze zum Roman schlüsselt Aubenas Ereignisse auf, sucht Wendepunkte und Puzzleteile zusammen zu setzen.

Dabei streift sie die Abgründe der Gesellschaft, ebenso den Kontrast zur gegensätzlichen französischen Filmwelt, aber eben auch die Innereien einer Justiz- und Ermittlunsgarbeit, die zwangsläufig irgendwann auf die Stelle tritt, wenn alle Spuren und Indizien kaum handfeste Ergebnisse zu Tage befördern.

Vor allem versucht sie einen Charakter zu verstehen, welcher schon zu Zeiten seines schauspielerischen Schaffens für die ihn Umgebenden kaum zu fassen gewesen sein muss, beschäftigt sich jedoch auch mit der gegenüberstehenden Seite. Was macht dies mit den Angehörigen, denen man das Liebste nimmt? Welche Sichtweisen entstehen, wenn man die für selbstverständlich wahrgenommene Sicherheit herausnimmt?

Sehr sachlich, ruhig geht die Journalistin hier vor, so dass man das Gefühl hat, ohne die Quellenlage freilich genau zu kennen, dass hier intensiv recherchiert und befragt wurde. Vom Stil her kann man diese Reportage den Büchern Asne Seierstads zuordnen oder Michelle McNamara, die ebenfalls zu Fällen ihrer Heimatländer recherchierten.

Vieles bleibt aufgrund der Informationslage dennoch im Verborgenen, so musste Aubenas ergänzen und Schlüsse ziehen. Wirklich gelöst wurde der Fall nie, wenn auch gegen Ende der Ermittlungen sich ein neues, anderes Bild ergab als dies zunächst schien.

Wer sich mit dem französischen Film etwas tiefgehender beschäftigt, wird um die Geschichte des Schauspielers Gerald Thomassin und seine Verwicklungen in diesem Kriminalfall wohl früher oder später kaum drum herumkommen. Für andere mag die beschriebene Dynamik oder Arbeit des Rechts- und Justizsystems eines anderen Landes ein interessanter Aspekt sein, sowie die psychologische Komponente oder gesellschaftliche Wahrnehmung.

Der Schreibstil, oder die Übersetzung haben hier ein paar Längen entstehen lassen, zumal man gen Ende lesend genauso ratlos sein wird, wie Angehörige, ermittelnde und die Journalistin selbst. Wird dieser Fall jemals gänzlich gelöst werden können?

Autorin:

Florence Aubenas wurde 1961 in Brüssel geboren und ist eine französische Journalistin. In Paris studierte sie bis 1984 an der Journalistenschule “Centre de formation des journalistes” und arbeitete anschließend bei einem Wirtschaftsmagazin.

Seit 1986 ist sei bei der Zeitung “Liberation” tätig und war als Kriegs- und Krisenreporterin in Ruanda, Kosovo und Afghanistan im Einsatz. Über den Völkermord von Ruanda und über die Globalisierung schrieb sie viel beachtete Bücher. 2010 wurde ihr im Stile Günter Wallraffs veröffentlichter Bericht über die Erfahrungen als Putzfrau in Frankreich ein Beststeller, der auch ins Deutsche übersetzt wurde.

Während ihrer Arbeit in Bagdad wurde sie entführt und erst nach fünf Monaten Geiselhaft wieder freigelassen. Ihre literarisch aufgearbeiteten Recherchen wurden mehrfach ausgezeichnet.

Auch interessant:

Wikipedia-Eintrag zu Gerald Thomassin

Dokumentation über den Kriminalfall (französisch)

Trailer zu “Le petit criminel” mit Gerald Thomassin

Florence Aubenas: Er ist keiner von uns Read More »