Missbrauch

Ian McEwan: Lektionen

Inhalt:

Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1958 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat. Sowohl episch als auch intim – ein bewegender, zutiefst menschlicher Roman über Liebe, Verlust, Kunst und Versöhnung. (Klappentext)

Rezension:

Wer sich in eine Geschichte hinein begibt, kommt darin um. Zumindest manchmal. Zumindest dann, wenn Erwartungshaltung und, in diesem Falle, Gelesenes weit auseinanderklaffen. Dabei beginnt diese Erzählung aus der Feder des britischen Schriftstellers Ian McEwan recht vielversprechend, beinhaltet sie doch alle Elemente, die für sich genommen und in mancherlei Zusammenspiel gut funktionieren.

Der Roman ist eine Mischung aus zunächst Coming of Age, im Rahmen einer Internatsgeschichte nach alter englischer Tradition, wandelt sich dann zu einer Geschichte über Missbrauch und Vereinnahmung, um zu einer fiktionalen Biografie, einem Familienepos vor zeithistorischer Kulisse, gewürzt mit einer gehörigen Portion Gesellschaftskritik, zu werden. Eingebettet in einem fast zu ruhigen Erzählstil passiert zu Beginn nicht viel, um dann jedoch unerwartet zu zuschlagen, womit in dieser sehr ausufernden Erzählung schon bald eine Kerbe eingeschlagen wird, die wir Lesenden für den Rest der Geschichte im Hinterkopf behalten und nicht wieder loswerden.

Das liegt nicht an der Ausgestaltung der wichtigen beiden Hauptprotagonisten. Diese ist dem Autor gelungen, weißt doch der zunächst Elfjährige Ecken und Kanten auf, die er die gesamte Handlung über behalten wird, verstärkt und noch stärker in den Fokus gerückt, durch seinem Gegenpart, deren Handeln Ursache für alles ist, was folgt. An diesen beiden Figuren hat Ian McEwan eine Missbrauchsgeschichte erarbeitet, wie man sie seltener liest. Hier ist das Opfer ein Junge, der Täter eine Frau, die so berechnend wie perfide ihren Schüler zuerst unsittlich berühren, dann vereinnahmen wird, was Auswirkungen auf das gesamte Leben von Roland.

Der erkennt den Missbrauch erst spät als solchen oder kann ihn nach Jahrzehnten erst als solchen benennen, hat die Chance, seine Peinigerin nach Jahrzehnten zur Rechenschaft zu ziehen und vertut diese Chance. Beide Protagonisten haben ja schließlich damit ihre Leben verpfuscht und dennoch gelebt, wozu also die Vergangenheit noch einmal aufrollen?

Das ist nur ein Teil dieser noch über mehrere hundert Seiten gehenden Erzählung, doch überdeckt er alles andere. Natürlich sind Geschichten mit dieser Thematik immer schwierig zu entwickeln und irgendjemanden wird, egal wie die Geschichte gedreht und gewendet wird, sich daran stoßen, aber alleine das Gefühl zu erzeugen, zu sagen, Missbrauch ist okay, wenn er von Frauen ausgeht, ist die Ahndung auch nach Jahrzehnten nicht wert, selbst wenn das nicht vom Schreibenden so beabsichtigt ist, schafft ein Geschmäckle. Wäre die Figurenkonstellation eine andere, der Missbrauchende ein Mann, das Opfer ein Mädchen, mit dieser Schlussfolgerung, der Aufschrei des Feuilletons wäre dem Roman sicher.

Und da nützt es auch nichts, dass dies nur ein, zumindest hier so empfundener, Aspekt dieser Erzählung ist und der Rest zähflüssig vor der Kulisse beinahe aller historischer Kulisse verläuft, die die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu bieten hat. Ian McEwan fährt von Kubakrise über Tschernobyl und Mauerfall bis hin zur Pandemie wirklich alles auf. Natürlich, ein langes Leben nimmt halt vieles mit, aber hier hätten noch mehr persönliche Spannungsformulier ausformuliert gereicht, um die Tragweite der Handlung voran zu bringen.

Die Stärke des Autoren liegt in der Ausarbeitung der Charaktere, wenn auch konsequent nur die Perspektive der Hauptfigur dominiert. Nebenfiguren nehmen diese Rolle immer dann ein, wenn es um Rückblenden und Zeitsprünge geht, diese zu verdeutlichen. Aber eben auch das hilft nicht gerade, wenn die ganze Zeit wirklich alles eben auf diesen Missbrauchsmoment heruntergebrochen werden kann und letztlich keine Konsequenzen folgen.

Schauplätze dagegen werden sehr plastisch beschrieben und für die Lesenden zum Leben erweckt. Auch sei zu erwähnen, dass der Autor einen winzig kleinen Teil seiner eigenen Biografie mit eingewoben hat. Die Antagonistin ist dies jedoch nicht.

Und so bleibt ein Werk, welches ich aufgrund eines Aspekts und wenn ich damit Geisterfahrer zu anderen Rezensenten bin oder ich das “falsch” verstanden habe (Wenn dem so ist, dann hätte man diesen Fallstrick beim Schreiben des Romans bemerken müssen.), einfach nicht empfehlen kann. Für Sprache und Figurenausarbeitung möchte ich hier jedoch die Pluspunkte sehen.

Autor:

Ian McEwan wurde 1948 geboren und ist ein britischer Schriftsteller. Zunächst studierte er englische und französische Philologie und schloss das Studium anschließend mit einem Bachelor of Arts in englischer Literatur ab. Während des Studiums besuchte er einen Kurs für Kreatives Schreiben und unterrichtete später selbst.

1975 veröffentlichte er eine Kurzgeschichtensammlung, danach weitere Erzählungen und Romane. Mehrere seiner Werke wurden verfilmt und vielfach übersetzt. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, im deutschsprachigen Raum u. A. mit dem Deutschen Buchpreis und der Goethe-Medaille.

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Rudi van Dantzig: Der verlorene Soldat

Inhalt:

Erzählt wird die Geschichte eines elfjährigen Jungen, der -im letzten Kriegsjahr mutterseelenallein in ein winziges friesisches Fischerdorf evakuiert- nach der Befreiung durch die Amerikaner von einem jungen Soldaten in eine sexuelle Beziehung hineingezogen wird. Selten sind Kinderängste und verwirrte Gefühle so eindringlich, so offen und so einfühlsam beschrieben worden, und zwar aus der Sicht des Kindes. (Ausschnitt aus Klappentext)

Rezension:

Es gibt autobiografisch angehauchte Erzählungen, die so kompakt wie schwer lesbar sind, dass sie schon mit Erscheinen kontrovers diskutiert und dann beiseite gelegt werden. So muss es auch mit dieser des niederländischen Choreografen und Tänzers Rudi van Dantzig gewesen sein. “Der verlorene Soldat”, 1988 erschienen, ist heute in der Übersetzung von Helga van Beuningen nur mehr antiquarisch zu erwerben.

Worum geht es? Ein Amsterdamer Junge wird gegen Ende des Krieges auf’s Land geschickt, da in der Stadt ein Mangel an Lebensmittel herrscht und die Familie Sorgen hat, über die Runden zu kommen. Die Niederlande leiden unter dem Besatzungsregime, doch gibt es außerhalb der Stadt immer noch Möglichkeiten, so dass sich der kleine Jeroen bald bei einer friesischen Familie untergebracht findet.

Auf sich gestellt, hat er Probleme sich in die Gegebenheite, Sitten und Gebräuche seiner neuen Umgebung einzufinden. Nicht besser wird es, als der Ort von kanadischen Soldaten befreit wird. Einer der neuen Herren nimmt sich Jeroen an, ist beinahe zärtlich, doch schnell rutscht die bekanntschaft in ein Missbrauchsverhältnis ab, welches Jeroen kaum einzuordnen weiß. Instinktiv ahnt er, dass nicht richtig ist, was da passiert, doch mit jedem Kontakt wird die Verwirrung größer, die Grenze durchlässiger.

Die Beschreibung des Inhalts ist geschönt, wird der Autor in der Erzählung doch sehr explizit. Das Entstehen des Abhängigkeitsverhältnisses, explizite Missbrauchsszenen muss man lesen können, um den Roman durchhalten zu können.

Dies ist einer der Gründe, warum das Werk heute als problematisch angesehen werden kann, zudem, wenn bewusst ist, dass Rudi van Dantzig dies zu Teilen am eigenen Leib erfahren musste.

Die andere Fascette des jungen Protagonisten kommt jedoch eben so zum Tragen, wenn der Autor die Verwirrungen Jeroens herausstellt, der mit seinen eigenen Gefühlen und der aufkommenden Pubertät zu kämpfen hat, um am Ende nicht einmal mehr selbst zu wissen, vielleicht nur noch instinktiv, was gerade richtig ist und was definitiv falsch läuft. Der kleine Hauptprotagonist wird dadurch greifbar, für den Gegenpart, der den Jungen so ausnutzt, kann man nichts mehr als Unverständnis, Ekel und Verachtung empfinden.

Wer zu körperlich negativen Reaktionen neigt, sollte von der Geschichte Abstand nehmen, nicht einmal die kurz darauf erfolgte Verfilmung sich ansehen, die sehr viele explizite Szenen abschwächt.

Beschrieben wird ein fassbarer Zeitraum von etwa zwei Jahren aus einer einzigen Perspektive. Der unverstellte Blick des Kindes ist es, der die Handlung vorantreibt und selbst zum Getriebenen wird, ist maßgebend. Der Autor schildert zudem eine Umgebung, in der man nicht anders konnte, als schneller erwachsen zu werden, einfach nur, um zu überleben. Hier gelang Rudi van Dantzig ein Kniff, der diese Differenz zwischen Kindsein und dem nicht Begreifen, sowie der Konfrontation mit der schrecklichsten aller Seiten, die Erwachsene gegenüber Schwächeren zeigen können, noch einmal besonders herauszustellen.

Handlungsorte und Schauplätze sind überschaubar, treten ob der eigentlichen Thematik in den Hintergrund und stellen diese zur Diskussion. So weit gehen wie einige Rezensionen, die meinen, der Autor verherrliche Pädophilie, würde ich nicht gehen, konzentriert sich van Dantzig doch auf die Gefühlswelt des Jungen, der nicht einordnen kann, was da mit ihm gemacht wird und passiert, der eigentlich vertrauen möchte, aber doch jedes Mal aufs Entsetzlichste enttäuscht wird, der kaum einen Weg aus diesem Abhängigkeitsverhältnis weiß, in das er hinein manöviert wird. Einige Passagen sind dennoch mehr als bedenklich zu bezeichnen.

Für wen ist diese Erzählung nun? Für den Autoren selbst, der damit einen Teil seiner Kindheitserinnerungen wohl verarbeitet, vor allem? Den Lesenden, denen eine nahezu unbekannte, vielleicht nicht massenhafte aber doch mögliche Facette des Krieges oder der Nachkriegszeit vor Augen geführt werden soll? Eine Ergänzung zu den vielen Perspektiven, die damals schon veröffentlicht wurden und noch erscheinen sollten? Diskussionsstoff ist damit in jedem Fall gegeben.

Autor:

Rudi van dantzig wurde 1933 in Amsterdam geboren und war ein niederländischer Tänzer, Choreograf und Schriftsteller. Er debütierte 1952 beim “Nederlands Ballet”, schrieb drei Jahre später seine erste Choreografie. Im späteren “Dutch National Ballet” wurde er 1968 Co-Direktor, von 1971-1991 alleiniger Chef. 1986 veröffentlichte er seinen autobiografisch angehauchten Roman “Voor een Verloren Soldaat”, welcher 1992 verfilmt wurde. Er starb 2012.

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Tete Loeper: Barfuß in Deutschland

Inhalt:

Mutoni, eine junge, gebildete Frau aus ruanda, beschließt nach dem Tod ihrer Mutter auszuwandern. Über eine ehemalige Mitschülerin erhält sie das Angebot, nach Hamburg zu ziehen und dort einen Mann zu heiraten. Voller Zuversicht und Hoffnung auf ein besseres Leben begibt sie sich auf den Weg nach Deutschland. Entgegen ihren Erwartungen findet sie sich jedoch schon bald in unterdrückenden, teils gewaltvollen Arbeitsverhältnissen wieder. Die Erfahrungen, die sie als Schwarze Migrantin in Deutschland alltäglich macht, führen sie schließlich zu einer unerwarteten Entscheidung… (Klappentext)

Rezension:

Als alle Fäden in ihrer Heimat förmlich zerreißen, entschließt sich die junge und lebensfrohe Mutoni ihr Heimatland Ruanda zu verlassen. In der Stadt, in der sie aufgewachsen ist, hält sie nichts mehr, nachdem mehrere Familienmitglieder ebenfalls den Schritt in die Ferne gewagt haben, die Mutter gestorben ist und das Bild, welches sie von Europa im Kopf hat, immer verführerischer wird.

Ein Angebot, in Deutschland einen Mann zu heiraten, den sie kaum kennt, zu arbeiten und Fuß zu fassen, kommt da gerade recht. Doch, nicht nur Temperaturen und Kleidung sorgen schnell für einen Kulturschock. Mutoni erkennt schnell, dass sie unter falschen Versprechungen hergelockt wurde. Ihr gelingt es, sich davon zu befreien, doch auch alltäglichere Nadelstiche setzen ihr zu, gerade wenn den Verursachern contra gegeben wird.

Sie stoppte augenblicklich in ihrer Bewegung und warf mir einen skeptischen Blick zu. Es hatte ihr wohl die Sprache verschlagen, denn wortlos verließ sie die Küche und schloss demonstrativ die Wohnzimmertür hinter sich.

Tete Loeper: Barfuß in Deutschland

So beginnt die Geschichte, die die Autorin und Journalistin Tete Loeper anhand ihrer und die Anderer Erfahrungen entlang aufgeschrieben und zu einem berührenden Roman gewoben hat, der einen nachdenklich zurücklassen wird. In kompakter Form schafft sie es, all die Hoffnungen und Enttäuschungen, die Gewalterfahrungen unterzubringen, seien sie nun physischer oder psychischer Natur, dass es einem beim Lesen kalt den Rücken hinunter laufen wird. Unweigerlich wird man sich zudem fragen, wie viel Härte das Lektorat herausnehmen musste, gerade zu Beginn, damit der Text gerade zu Beginn noch für Lesende zu verarbeiten ist.

Dieses Gefühl wird nach und nach durch zwar immer kleinere aber auch spür- und sichtbare Nadelstiche ersetzt, die die Protagonistin verspürt, ob nun durch ihre Umgebung ungewollt oder gewollt hervorgerufen. Loeper gibt hier einen Ansatz von Vorstellungen weiter, die niemand aktiv erleben möchte, der leider jedoch immer noch Alltag für viele ist. Gleichzeitig ist es der Autorin in prägnanter Sprache gelungen, auf wenigen Seiten ihrer Protagonistin eine gewisse Wandlungsfähigkeit angedeien zu lassen, die weit über das hinaus geht, was sich anfangs erahnen lässt.

Das setzt dann auch eine gewisse Fähigkeit beim Lesenden voraus, sich selbst zu hinterfragen. Wie bestimmen Klischees unser Denken und Handeln, auch unbewusst? Wie kommentieren und beobachten wir, wie wirkt dies nach außen und wie ist es gemeint, im Guten oder auch im Schlechten? Was macht das mit jenen, die dann im Fokus stehen? Was macht es mit uns, als Gesellschaft? Wenn man sich diese Punkte einmal nach dem Lesen des Romans durch den Kopf gehen lässt, hat dieser sehr viel erreicht.

Autorin:

Divine Gashugi Umulisa, bekannt unter ihrem Pseudonym Tete Loeper, wurde 1990 in Ruanda geboren. Sie lebte während des Völkermords an den Tutsi in Burundi und im Kongo im Exil. Nach ihrem Studium des Journalismus arbeitete sie in verschiedenen Forschungsprojekten mit gefährdeten Mädchen und jungen Frauen, leitete Workshops für Kreatives Schreiben. Seit 2016 lebt sie in Deutschland und arbeitet als Autorin, Schauspielerin, Bildungsreferentin für interkulturellen Austausch und globales Lernen.

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Andreas Gößling: Kira Hallstein 3 – Rattenflut

Rattenflut Book Cover
Rattenflut Reihe: Kira Hallstein – 3 Rezensionsexemplar/Thriller Droemer Knaur Hardcover Seiten: 528 ISBN: 978-3-426-52502-9

Inhalt:

Offiziell ist Kira hallstein vom LKA Berlin beurlaubt – inoffiziell arbeitet sie für eine geheime Sondereinheit von Europol. Ihre Aufgabe: alles zu unternehmen, um das weltweit agierende Menschenhandels-Kartell “Die Bruderschaft” endlich zu Fall zu bringen.

Eine Kinderkrebsklinik in Berlin scheint zum Netz der Bruderschaft zu gehören, und Kira ist es gelungen, Kontakt zu einem der Pfleger aufzunehmen. Doch bevor sie etwas Nützliches erfahren kann, wird der junge Mann bei einem fingierten Raubüberfall brutal ermordet… (Klappentext)

Reihenfolge der Bücher:

Andreas Gößling: Kira Hallstein 1 – Wolfswut

Andreas Gößling: Kira Hallstein 2 – Drosselblut

Andreas Gößling: Kira Hallstein 3 – Rattenflut

[Einklappen]

Rezension:

Im Jahr 2012 erschütterte ein Missbrauchskandal unvorstellbaren Ausmaßes die britische Öffentlichkeit und nicht zuletzt die angesehene Fernsehanstalt BBC.

Immer mehr ehemalige Opfer meldeten sich mit erschreckenden Vorwürfen zu wort, der zuvor verstorbene ehemalige Moderator und Discjockey Jimmy Savile, habe sie als Kinder und Jugendliche unter Ausnutzung ihrer Hilflosigkeit sexuell und körperlich missbraucht. Scotland Yard sollte von Savile als den “schlimmsten Sexualverbrecher in der Geschichte des Landes” sprechen.

So viel zu den Hintergründen dieses erschreckenden Thrillers aus der Feder von Andreas Gößling. Der Allrounder unter den deutschen Autoren setzt mit “Rattenflut” die packende True-Crime-Serie um Kira Hallstein fort und verlangt mit dieser Geschichte seinen Lesern einiges an Nerven ab.

Zart beseitete Krimileser sollten von diesem Band der Trilogie, den man gut unabhängig von den vorherigen Werken lesen kann, die Finger lassen. Ziemlich nahe geht das Geschehen beim Lesen, zumal im Wissen der wahren Hintergründe.

Diese hat der Autor vom pulsierenden Metropolleben Londons in die Abgründe der bundesdeutschen Hauptstadt versetzt und ein Setting zum Gruseln geschaffen. Tatsächlich schreibt die Realität bekanntlich die packendsten Geschichten und so bekleiden wir die verdeckt arbeitende Kira Hallstein, die sich nicht nur ihrer Kollegen erwehren muss, sondern auch der als “Bruderschaft” benannten Organisation stellen muss.

Gößling ist es gelungen, ein fiktionales Netz organisierter Kriminalität zu konstruieren und ebenso agierende Protagonisten, mit Ecken und Kanten.

Aus wechselnder Perspektive ist “Rattenflut” eine kurzweilige, immer rasanter verlaufende Geschichte, die abschnittsweise kaum auszuhalten ist. Wie nah sich der Autor an die realen Ereignisse aus Groß-Britannien orientiert hat, kann man da nur erahnen, doch müssen die Recherchen bewegend und abstoßend zugleich gewesen sein.

Nach dem Lesen ist man zu Weilen versucht, die Lektüre zu unterbrechen, um durchatmen zu können, der Spannungsbogen hält hier jedoch bis zum bitteren Ende, welches nur auf der Leinwand so zu realisieren sein dürfte. Das sollte klar sein, dennoch passt das Setting auch am Schluss zu der Geschichte, die so schon unglaublich erzählt ist.

Man kann diesen dritten Band ohne Vorkenntnisse lesen, muss weder vorher sich mit den realen Hintergründen, noch mit den Vorgänger-Bänden befasst haben. Dann fehlen zwar private Details um die ansonsten sehr detailliert eingewobene Hauptprotagonistin Hallstein, das sind jedoch Lücken, die zu verschmerzen sind, da nicht notwendig für die Geschichte an sich.

Großer Pluspunkt dafür, dass Gößling es schaffte, den Schrecken der realen Ereignisse um Savile fiktional so zu verarbeiten, dass man diese ganze Wucht beim Lesen zu spüren bekommt, dabei aber noch genug Raum für die fiktionalen Elemente gelassen hat.

Ein Thriller, basierend auf einer ebenso erschreckenden und abstoßenden Geschichte, der unter die Haut geht und Spuren hinterlässt.

Mehr geht praktisch nicht.

Zu den realen Hintergründen: hier klicken

Autor:

Andreas Gößling wurde 1958 geboren und ist ein deutscher Schriftsteller für Romane und Erzählungen, aber auch Krimis und Jugendbücher. Zunächst studierte er Deutsche Literaturwissenschaft, Publizistik und Politikwissenschaften, bevor er ein Forschungsprojekt zu den Werken von Robert Walser begann.

Er schreibt Sachbücher und Romane, mit historischen Grundlagen, zudem ist er auch literaturwissenschaftlich tätig. Auch unter Pseudonym (Pietro Bandini) veröffentlichte er bereits mehrere Werke. Gößling lebt in Berlin, wo er den Verlag und die Agentur MayaMedia leitet.

Zusammen mit Michael Tsokos arbeitete er an den Thrillern “Zerschunden”, “Zersetzt” und “Zerbrochen”.

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Martina Borger: Wir holen alles nach

Wir holen alles nach Book Cover
Wir holen alles nach Martina Borger Erschienen am: 25.03.2020 Diogenes Seiten: 204 ISBN: 978-3-257-07130-6

Inhalt:

Job und Kind unter einen Hut – die alleinerziehende Sina jongliert damit seit Jahren. Seit kurzem wird sie von ihrem neuen Partner Torsten dabei unterstützt.

Und sie haben Ellen, Ende sechzig, die sich engagiert und liebevoll um Sinas Sohn Elvis kümmert und das hat, was er sich so wünscht: Zeit, Geduld – und einen Hund. Doch dann widerfährt dem sensiblen Jungen etwas Schlimmes. Da er sein Geheimnis nicht preisgibt, spinnt sich ein fatales Netz aus Gerüchten um die kleine Patchworkfamilie. (Klappentext)

Rezension:

Sobald man an der Oberfläche kratzt, zeigen sich erst kleine, dann immer größere Risse, die sich schnell zu tiefen unüberwindlichen Gräben ausweiten. Und das nicht einmal absichtlich. Grob könnte man damit die Handlung dieses, zu Beginn sehr betulichen Familienromans, beschreiben, wie sie so oft in den Regalen zu finden sind.

Doch hat die Geschichte aus der Feder Martina Borgers seine Berechtigung, mögen doch gerade die hier beschriebenen Szenen allzuoft in unserer Gesellschaft vorkommen.

In den Protagonisten mag man sich wiederfinden. Allesamt nachvollziehbare Charaktere. Die überarbeitete Mutter, deren berufliche Existenz zu wackeln beginnt, die ältere und hilfsbereite Dame aus der Nachbarschaft und der sensible Filius, Dreh- und Angelpunkt, zugleich Sorgenkind.

Dazu der neue Partner, auch Patchwork ist nichts Ungewohntes. Irgendwo findet man da seine Identifikationsfigur, die die Autorin behutsam ausgearbeitet hat. Der Erzählstil ist dabei von der ersten Zeile an sehr ruhig, um so erschütternder das Ereignis, welches einen Stein ins Rollen und Geschwindigkeit in die Handlung hineinbringt.

Kurzweilig und überschaubar sind die einzelnen Kapitel, beschrieben aus der Perspektive der jeweiligen Hauptperson, wobei hier die Sichtweise des Kindes nur aus der Beobachtung der Erwachsenen heraus, die ihre Schlüsse ziehen, wiedergegeben wird.

Martina Borger erzählt ohne Ausschweifungen von einem schrecklichen Verdacht und von Konsequenzen unseres Handelns, oder eben einer möglichen Nicht-Handlung. Zugleich bringt sie viele Probleme unter, die Gang und Gäbe sind, hier nicht im Detail auserzählt werden. Hier hätte manches Wort mehr geschrieben werden müssen, zumindest Elvis’ Perspektive ausformuliert, wäre wünschenswert gewesen.

Die Erzählung kommt relativ unscheinbar daher, was aber nicht über die Wucht hinwegtäuschen sollte, die der Roman im Verlauf entfaltet. Martina Borger durchbricht die Stadt- und Kleinfamilienidylle, konfrontiert sie mit ihren Sorgen und Ängsten, zeigt, welche Kraft, ein einmal geäußerter Verdacht haben kann.

Doch, ist zu wenig Aufmerksamkeit an der falschen Stelle nicht erst Recht fatal? Leser werden es herausfinden.

Autorin:

Martina Borger wurde 1956 in Gunzenhausen geboren und ist eine deutsche Schriftstellerin. Nach der Schule durchlief sie eine Ausbildung als Produktionsassistentin und besuchte die DeutscheJournalistenschule in München. Von 1985-1997 erarbeitete sie u.a. Drehbücher für die Fernsehserie “Lindenstraße”. Seit 2001 veröffentlichte sie mehrere Romane. 2002 wurde sie mit dem Wiesbadener Frauenkrimipreis ausgezeichnet.

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Josef Haslinger: Mein Fall

Autor: Josef Haslinger

Titel: Mein Fall

Seiten: 139

Genre: Biografie

Hardcover

Verlag: S. Fischer

ISBN: 978-3-10-030058-4

Inhalt:
Als Zehnjähriger wurde Josef Haslinger Schüler des Sängerknabenkonvikts Stift Zwettl. Er war religiös und wollte Priester werden, er liebte die Kirche. Seine Liebe wurde von den Patres erwidert. Erst von einem, dann von anderen.

Ende Februar 2019 tritt Haslinger vor die Ombudsstelle der Erzdiözese Wien für Opfer von Gewalt und sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Dreimal muss er seine Geschichte vor unterschiedlich besetzten Gremien erzählen. Bis der Protokollant ihn schließlich auffordert, sie doch bitte selbst aufzuschreiben. (Inhaltsangabe des Verlags)

Rezension:

Meine Eltern hatten mich der Gemeinschaft der Patres anvertraut, weil mich dort das Beste, das selbst sie mir nicht geben konnten, erwarten würde. Ich habe sie heimlich oft verflucht, weil sie mich nicht darauf vorbereitet hatten, was dieses Beste sei…

Josef Haslinger: “Mein Fall”.

Wie viel Leid muss ein Mensch eigentlich ertragen, bevor ihm geglaubt, bevor er angehört und ihm Gerechtigkeit wiederfahren wird?

Zumindest benötigen sie zumeist einen langen Atem und Durchhaltevermögen, im Falle Josef Haslingers wohl auch eine gewaltige Portion Glück, der sich 2019 der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft und der Unabhängigen Opferschutzkommission anvertraute, die in Österreich die Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche untersuchen soll.

Er selbst wurde als Kind in einem kirchlichen Internat sexuell missbraucht und musste erst lernen, darüber zu sprechen, vertraute sich den miteinander verzahnten und von der Kirche selbst gestützten Organisationen erst an, als seine Peiniger von Einst nicht mehr lebten.

Dieser Zustandsbericht, gleichermaßen Kindheitsbiografie und Verarbeitungsversuch dessen, was kaum zu verarbeiten ist, ist nun das Resultat. Nach und nach erfährt der Leser, wie das Kind in die Hände der Patres kam und missbraucht wurde.

Ein schleichender Prozess, den der zunächst Zehnjährige nicht erkennt als das, was es ist. Eben Missbrauch und Gewalt. Parallel erzählt der Autor auch vom erschwerten Verarbeitungsprozess einer Kirche, deren Taktik zu verschleiern, zu verzögern, zu zermürben schon in den allerersten Zeilen deutlich wird.

Wie kann da eine Aufarbeitung gelingen. Die Schilderungen Haslingers, wie dieser von einer zur anderen Stelle geschickt und schließlich selbst aufschreiben sollte, wofür es keine Worte gibt, lassen beim Leser das Blut kochen. Vor Wut auf eine mittelalterliche und rückständige Organisation, die weder Willens noch fähig zu Veränderungen ist.

Auch, wenn man sich nach außen einen reumütigen Anschein gibt.

Aber auch Haslinger selbst, der diesen Bericht zugleich als Verarbeitung des Gewesenen verstanden lassen möchte, muss sich fragen lassen, was er mit “Mein Fall” eigentlich erreichen möchte.

Vorwürfe, die er macht, werden von ihm selbst gleich wieder relativiert, erste Annäherungs- und Sexualisierungsversuche der Patres als nicht so schlimm im Nachhinein gesehen. Zugleich will er ganz klar den Pädophilen vom Lehrenden trennen, gleichwohl diese in Gestalt bestimmter Padres die gleichen Personen sind.

An den Lehrer erinnert sich Haslinger durchaus mit Wohlwollen, an den Täter natürlich nicht. Die Denkweise Haslingers, erst nach dem Tod der Täter damit an die Kontaktstelle der Missbrauchsaufklärung zu treten, um den Lebenden keinen Rufschaden hinzuzufügen, finde ich ebenfalls schwierig, als Außenstehender kaum nachzuvollziehen.

Der Ansatz Täterschaft und Neigung voneinander zu trennen, ist zwar durchaus modern, doch sollten Taten klar benannt und als solche bezeichnet werden.

Der Autor steht noch ganz am Anfang dieses Verarbeitungsprozesses. So viel ist nach der Lektüre klar, jedoch kann man aus der Lektüre selbst nichts ziehen. Josef Haslinger will sich nicht an staatliche Stellen wenden, da er sich nun einmal an die von der Kirche gehandhabten Organisation zur Bearbeitung seines Falls gewendet hat.

Als Leser bleibt man ratlos zurück. Vielleicht nur mit der Frage, warum rennt der Autor so offen gegen eine vor sich auftauchende Wand? Warum, um bei dieser fragwürdigen Organisation zu bleiben, in die Hand derer, die die Kindheit Haslingers einst verrieten?

Zumindest indirekt. Dabei wird nichts herauskommen. Dieser Bericht ist eher für die private Schublade gedacht oder für den Psychotherapeuten. Nicht jedoch für die Leser mit Gewinn zu lesen.

Andere, wie etwa Bodo Kirchhoff (“Dämmer und Aufruhr”), sind da weiter.

Autor:

Josef Haslinger wurde 1955 geboren und ist ein österreichischer Schriftsteller. Er lebt in Wien und Leipzig, lehrt seit 1996 als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.

Der Autor, der in seinen Werken u.a. die Tsunami-Katastrophe 2004 verarbeitete, die seine Familie und er erlebten, erhielt bereits zahlreiche Preise, zuletzt den Preis der Stadt Wien und den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels.

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Mikey Walsh: Jungen weinen nicht

Jungen weinen nicht - Meine Kindheit bei den Roma Book Cover
Jungen weinen nicht – Meine Kindheit bei den Roma Autor: Mikey Walsh Bastei Lübbe Erschienen am: 30.09.2019 Seiten: 317 ISBN: 978-3-404-61149-2 Übersetzerin: Katja Bendels

Inhalt:
“Bist du bereit, Mikey?”, fragt ihn sein Vater, bevor er ihn mit erbarmungslosen Schlägen traktiert.

Der Box-Champion einer archaischen Roma-Community will, dass sein Sohn ein genauso harter und gnadenloser Mann wird wie er. Doch der sensible, nachdenkliche Junge entspricht so gar nicht seinen Erwartungen.

Jahrelang wird mikey von seinem Vater deswegen gequält und gedemütigt, sein Onkel tut ihm Unaussprechliches an, und in der verschworenen Roma-Gemeinschaft findet er niemanden, dem er sich anvertrauen kann.

Als er sich schließlich in einen Mann verliebt, wird ihm klar, dass sein Leben in Gefahr ist, denn eine schwule Liebe würde sein Vater niemals akzeptieren… (Klappentext)

Rezension:
Wie bewertet man den Bericht über eine Kindheit? Wie bewertet man eine Biografie? Ist es mit der Sternenvergabe nicht so, als würde man das Urteil über ein Leben fällen? Den “Daumen hoch” für “gut gemacht”, den “Daumen runter” für einen verpfuschten Lebenslauf.

Wie anmaßend ist dass denn? Was bei der Auswahl zwischen Bewerbern um eine Stelle noch mit den Blick auf Eignung und Fähigkeiten für einen bestimmten Berufsweg gehen mag, finde ich hier kritisch und so bin ich bei Autobiografien eher geneigt, eine höhrer Wertung zu geben, da das Schema sie nun einmal verlangt. Wie auch hier.

Im Bericht “Jungen weinen nicht”, lässt nun Mikey Walsh seine Kindheit Revue passieren. Einfühlsam übersetzt von Katja Bendels, liegt dieser nun im Deutschen, erschienen bei Bastei Lübbe vor. Darin geschrieben, ungeheuerliches.

Der Roma erzählt von einer Kindheit, wie man sie keinem Jungen oder Mädchen wünschen mag, einem archaischen und uns so fremden Leben, dass man als Leser kaum das Geschehene erfassen, geschweige denn begreifen mag und davon, wie viel Eltern auch falsch, kaputt machen können, so dass man zwangsläufig ausbrechen und für sich kämpfen muss.

In prägnanten Kapiteln beschreibt der Autor die Situation seiner Familie und eine für den Außenstehenden hoch komplexe, aber undurchschaubare und aus der Zeit gefallenen Gemeinschaft der Roma, die schon seit Jahrzehnten ums Überleben kämpft.

Dies wirkt sich prekär auf die Lebenssituation aus, in der viele gewzungen sind, sich als Tagelöhner durchzuschlagen, kriminellen oder nur ansatzsweise nachvollziehbaren Geschäften nachzugehen, zumal Tradition und Familie wichtiger zu sein scheinen, als den Anschluss an eine sich immer schneller drehende Welt zu finden.

Doch, Mikey Walsh passte von früh an nicht so wirklich dazu. Diese Empfindung traf den Autoren schon in seiner Kindheit, was sich bis hinein ins junge Erwachsenenalter zog. Der sensible und einfühlsame Junge, nicht geschaffen für die archaische Kultur und den immerwährenden Kampf zwischen den Familienclans erlebte Schreckliches und nicht zu Erzählendes.

Als Leser überkommt einem das stille Entsetzen über Eltern, die unfähig sind, ihr Kind so zu akzeptieren, wie es ist, über eine Gemeinschaft, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt und über einen Jungen, der im Kampf gegen eine Mauer aus Unverständnis ihn gegenüber beinahe zerbricht, daran zugleich wächst, von dem man aber letztendlich weiß, dass er seinen Weg gehen wird.

Das ist dann vielleicht auch die größte Erkentnis, die man aus der Lektüre ziehen kann, die dann noch wirkt, wenn man schon längst die letzte Seite aufgeschlagen und die letzte Zeile gelesen hat.

Irgendwie geht es weiter, irgendwann kommen gute Zeiten, für die es sich zu kämpfen und zu leben lohnt.

Vielleicht können dies gerade Menschen wie Mikey Walsh, da sie eben auch die Schattenseite, Lieb- und Trostlosigkeit kennengelernt haben und wenn nicht für die daraus folgende einfühlsame und nahegehende Erzählung dessen, wofür dann, sollte es hier die Höchstwertung geben. Womit wir wieder beim bereits geschilderten Problem wären. Nun, denn.

Autor:
Mikey Walsh ist ein britischer Schriftsteller und Schauspiellehrer. Als Sohn einer Roma-Familie, 1980 geboren, verließ er diese Gemeinschaft mit 15 Jahren und lebt in London als Schauspiellehrer, engagiert sich für die Rechte Homosexueller.

Er schreibt Kolumnen für verschiedene Zeitungen, seine Kindheits-Biografie veröffentlichte er im Jahr 2010. Diese wurde bereits verfilmt.

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Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr

Dämmer und Aufruhr Book Cover
Dämmer und Aufruhr Bodo Kirchhoff Frankfurter Verlagsanstalt Erschienen am: 29.06.2018 Seiten: 462 ISBN: 978-3-627-00253-4

Inhalt:

Ein Autor bewohnt das Zimmer, in einem kleinen Hotel am Meer, in dem einst seine Eltern vor Jahrzehnten glückliche Tage verbrachten, die letzten vor ihrer Trennung. Er erinnert sich zurück, an die Jahre seiner Kindheit, seinem Aufwachsen bei ungleichen Elternteilen und im Internat, wo ein Drama seinen Lauf nimmt.

Bodo Kirchhoff nähert sich dem, mit den Mitteln des Romans und schildert zugleich die Geschichte des beginnenden Schreibenden. Wie für etwas Worte finden, für das es keine Wörter gibt? Bodo Kirchhoffs schmerzlicher Weg zur Literatur, sein großer autobiografischer Roman. (eigene Inhaltsangabe).

Rezension:
Es ist ein Roman, der leisen Töne, den uns der Schriftsteller Bodo Kirchhoff mit “Dämmer und Aufruhr” vorlegt, und dennoch erfährt man hier viel über die Anfänge der Schreibarbeit des Trägers des Deutschen Buchpreises, der sich am einstigen Ferienort seiner Eltern, kurz vor ihrer Trennung, zurückerinnert, an diese und andere Ereignisse seiner Kindheit, seiner Jugend und schließlich an den jungen Erwachsenen, der er einst gewesen ist.

Aus der ich-Perspektive beschreibt er eine glückliche Kindheit zwischen schwankenden Eltern, einmal ikonenhaft angebetet, im nächsten Moment verwirrende Ältere, die, als der Sohn nicht mehr in der Schule hinterher kommt und im unsteten Pendeln seiner Eltern keinen Haltepunkt findet, ihn ins Internat stecken.

Auch dort fällt es den genauen Beobachter, Träumer und Sonderling zu gleichen Teilen schwer und leicht, Anschluss zu finden. Ein Kantor nimmt sich seiner an und nimmt sich körperlich das, was nicht ihm gehört.

Der Junge weiß, dass dies falsch ist, wird es später nicht Missbrauch nennen, anders den Schmerz beschreiben, mit der Waffe des Wortes. Der Schriftsteller, der er noch nicht ist, jongliert schon als Kind mit Worten. Nun sind diese Erinnerungen zu Papier gebracht.

Bodo Kirchhoffs autobiografischer Roman hat mich beeindruckt, ob seiner ruhigen Erzählweise, die das Unerhörte um so lauter erscheinen lässt und eine schöne Sprache außerdem, die hier wirklich dei Handlung trägt und den Leser nicht wegnicken lässt.

Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, penibel und unterhaltsam die Familienszenen beschrieben, die der Aufwachsenede beobachtet. Außenstehend und doch immer dabei. Geliebt von seinen Eltern und doch Meilen weit von ihm entfernt.

Der Perspektivwechsel zum älteren Ich, welcher die letzten Jahre der Mutter schreibt, selbst Schriftstellerin, vormals Schauspielerin, diese Nähe und Bewunderung, die der Autor sich natürlich aus der Kindheit bewahrt hat, ist ebenso gelungen und glaubwürdig. Der Bogen überspannt durch das Beobachten, Verinnerlichen und späteren Schreiben.

Dem Unerhörten, was nicht sein darf, ein Gesicht zu geben, ist ebenso ein Verdienst des Autoren, den man nicht gering schätzen darf.

Bewundernswert, wie Kirchhoff es schafft, den Missbrauch durch den Internatskantor zu beschreiben, ohne es Missbrauch zu nennen, doch mit genau der gleichen Wucht, die den damaligen Jungen in eine Abhängigkeit versetzt hat, die nicht zu entschuldigen ist und die den späteren Mann keine geistliche Musik mehr ohne Beigeschmack hören lassen kann.

Entlang von Fotos aus dieser Zeit hangelt sich der Autor von Erlebten zu Erlebten und beschreibt das so, als würde man am Tisch Kirchhoffs sitzen, und durch das Fotoalbum blättern.

Ein Roman, der einem kalt den Rücken herunterläuft, aber nicht kalt lassen wird.

Autor:
Bodo Kirchhoff wurde 1948 in Hamburg geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, der Romane und Drehbücher veröffentlicht. Er studierte 1972 bis 1979 Pädagogik an der Universität Frankfurt und veröffentlichte erstmals bei Suhrkamp.

Vorher arbeitete er u.a. als Eisverkäufer in den USA, zeichnete und war später 1994/95 Dozent, ebenfalls in Frankfurt/Main. er gibt Kurse für Kreatives Schreiben und enthüllte 2010 in einem Artikel des Spiegel, den an ihn begangenen Missbrauch eines Kantors der Evangelischen Internatsschule, auf die er19659-1968 ging.

Für seine Novelle “Widerfahrnis” bekam er 2016 den Deutschen Buchpreis. Er lebt in Frankfurt/Main, zeitweise auch am Gardasee in Italien.

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Jesus Carrasco: Die Flucht

Die Flucht Book Cover
Die Flucht Jesus Carrasco Klett-Cotta Erschienen: 2013 Seiten: 208 ISBN: 978-3-608-98001-1 Übersetzerin: Petra Strien

Inhalt:

Ein Junge flieht. Die Schreie seiner Jäger verfolgen ihn. Tagsüber kauert er in einem staubigen Versteck. Nachts kämpft er sich in der Dunkelheit vor und sucht in vertrockneten Brunnen nach Wasser. Vor ihm liegt nichts als die ausgebrannte Ebene, eine Welt unerbittlicher Hitze und Gesetzlosigkeit. Und es gibt kein Zurück. (Klappentext)

Rezension:

Unter der sengenden Sonne Spaniens, die die ebene Landschaft unter sich ausdürrt, begegnet der Leser einem Jungen auf der Flucht. Genauer gesagt, in seinem Versteck, in dessen Nähe seine Häscher ihn suchen. Das Alter des Kindes nicht näher bestimmt, der Protagonist nicht namentlich betitelt, erwacht sofort der Beschützerinstinkt, ohne zu wissen, was dem Jungen vorab widerfahren ist.

Darüber lässt der Autor die Leser lange Zeit im Unklaren, wie so vieles erst einmal im Nebel verborgen bleibt. Das ist die Ausgangslage von Carrascos Geschichte, die auf’s Wesentliche reduziert, ihre Leser vollkommen in den Bann zieht. Die Protagonisten sind unbarmherzig gegen sich selbst, alleine dem kleinen Jungen und der sich ihn annehmende Ziegenhirte gewinnen im Laufe der Geschichte an Farbe und Sympathie.

Die anderen haben sie schlichtweg auch nicht verdient, wie sich mit zunehmender Seitenzahl herausstellt. Immer mehr wird der Leser davon ergriffen, den Hintergrund des Leidens des Jungen aufzuspüren und sich auf eine Reise zu begeben, die den Knirps an seine psychischen und physischen Grenzen bringen wird.

Immer wieder der drohenden Gefahr ausgesetzt, doch noch in die Hände seiner Verfolger zu fallen.

Es ist eine unglaublich schnell zu lesende, trotz des Themas, Geschichte, die sofort faszinierrt. Der Schreibstil, auf Wesentliches reduziert, ohne Schnirkel genügt, um völlig in die Gedankenwelt des kindlichen Protagonisten einzutauchen, sich seiner anzunehmen.

Mehr braucht es hier nicht, mehr möchte man auch nicht, leidet und dürstet mit dem Jungen und fragt sich, ob man wohl selbst diesen Kampf ums Überleben bestehen würde.

Angelegt ist die Erzählung in einem nicht näher bestimmten Zeitraum, doch ist zu vermuten, aufgrund der Schilderungen einiger Begebenheiten (etwa: Massengrab), dass es sich entweder um die Zeit des Spanischen Bürgerkrieges oder der Diktatur Francos handelt, gleichwohl könnte die Geschichte praktisch überall im südlichen Europa angesiedelt sein.

Die Geschichte geht einem ans Herz, wobei sich die geschilderte Gewalt in Grenzen hält. Alleine, die Gedanken zwischen den Zeilen, wenn man ein wenig mehr der Vergangenheit des Jungen zu spüren bekommt, gehen schon genug nahe.

Beeindruckend ohne zu viel oder zu wenig zu erzählen, geht Jesus Carrasco voran und nimmkt uns mit auf einem Weg, auf dem der kleine Protagonist über sich hinauswächst. Ein Roman, der nichts anderes als die Höchstwertung verdient.

Autor:

Jesus Carrasco wurde 1972 in Badajoz geboren. “Die Flucht” ist sein erster Roman, der in mehreren Sprachen übersetzt wurde und in zehn Ländern erschienen ist. Es wurde in Spanien als das “Beste Buch des Jahres2013” ausgezeichnet. Der Autor lebt in Sevilla und arbeitet zudem als Werbetexter.

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Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben

Ein wenig Leben Book Cover
Ein wenig Leben Hanya Yanagihara Roman Hanser Verlag Hardcover Seiten: 960 ISBN: 978-3-446-25471-8

Inhalt:
“Ein wenig Leben” handelt von der lebenslangen Freundschaft zwischen vier Männern in New York, die sich am College kennengelernt haben. Jude St. Francis, brillant und enigmatisch, ist die charismatische Figur im Zentrum der Gruppe – ein aufopfernd liebender und zugleich innerlich zerbrochener Mensch.

Immer tiefer werden die Freunde in Judes dunkle, schmerzhafte Welt hineingesogen, deren Ungeheuer nach und nach hervortreten. “Ein wenig Leben” ist ein rauschhaftes, mit kaum fasslicher Dringlichkeit erzähltes Epos über Trauma, menschliche Güte und Freundschaft als wahre Liebe. Es begibt sich an die dunkelsten Orte, an die Literatur sich wagen kann, und bricht dabei immer wieder zum hellen Licht durch. (Verlagstext)

Rezension:
Kein anderer Roman schafft es, das Leben seiner Leser so durcheinander zu wirbeln, so in Frage zu stellen, wie “Ein wenig Leben” von Hanya Yanagihara. Der Werbesatz des Hanser-Verlages: “Sie werden darüber reden wollen.”, ist kein Gerede, sondern Programm.

Nach Beenden der Lektüre wird man sein Leben, seine Freundschaften, seine Beziehungen hinterfragen wollen und nicht nur die der Protagonisten. Dabei beginnt alles recht harmlos.

Wir begleiten vier Freunde, die sich auf den College kennengelernt haben über Jahrzehnte durch ihren Alltag. Erleben ihr privates Glück und ihre Fehlschläge, ihren beruflichen Werdegang und die kleinen Gemeinheiten des Alltags. so weit, so normal. Der Knall natürlich, erfolgt schnell und erwischt den Leser kalt.
Jude, ein charismatischer junger Anwalt, ist die Hauptfigur des Romans, Fixpunkt des Vierergespanns. Alle anderen umkreisen ihn. Niemand kommt nah an ihn heran. Denn, Jude ist es auch, der eine tragische Vergangenheit vor seinen Mitmenschen verbirgt.

Seite für Seite erfährt der Leser darüber mehr, viel mehr als er wissen möchte, und sieht sich einer Abwärtsspirale ausgesetzt aus der es kein Entkommen gibt.
Dicht ist die Abfolge der beschriebenen Ereignisse, erzählt aus den wechselnden Perspektiven der einzelnen Protagonisten. Feinfühlig geht Yanagihara mit ihren Figuren um, allesamt mit Ecken udn Kanten und einer tiefe, die man so manch anderen Roman wünschen würde.

Doch, es ist schwere Kost, welche die Autorin hier vorsetzt. Sensible Gemüter, die keine psychologischen Querelen aushalten können, sei die Geschichte nicht empfohlen. Wer sich aber auf sie einlässt, erlebt vielleicht mit eines der besten Werke der vergangenen Jahre.
“Ein wenig Leben” erzählt so viel, dass man alles das bekommt, was man erwartet und noch eine ganze Portion mehr. Natürlich ist man ab und an genervt von den Protagonisten.

Natürlich ist es unmöglich, dieses Buch in einem Rutsch zu lesen, ist man nicht gerade so gefühllos wie ein Teelöffel und natürlich wird dieser Roman nicht so schnell verdrängt werden können, zumal die erzählten fiktiven Ereignisse zu nahe gehen dürften aber diese Erfahrungen sind es schon wert, sich darauf einzulassen.
Das gesammelte Elend trifft hier einen einzigen Menschen, der sich sein Leben lang nicht freimachen kann und doch ist es ein Text für eben dieses. Alleine, wer lebt wird triumphieren. Manchmal aber, will man diesen Sieg nicht haben. Aus guten Gründen.

Hanya Yanagiharas Roman lässt uns unser Leben hinterfragen und sollte daher nur mit Beipackzettel verkauft werden. Entweder die Nebenwirkungen sind positiv und negativ. Persönlich gesehen finde ich, abgesehen von einigen Längen in den Kapiteln, ist der Autorin ein großartiges Meisterwerk gelungen.

Wieder andere werden den Roman aufgrund seiner Dichte, Abfolge der Ereignisse, geschilderten Grausamkeiten womöglich hassen. Eben wie in unser aller wenig Leben.

Autorin:
Hanya Yanagihara wurde 1974 in Los Angeles/Kalifornien geboren und ist eine US-amerikanische Journalistin und Autorin. Sie arbeitete als Redakteurin eines amerikanischen Reisemagazins, bevor sie stellvertretende Herausgeberin der Wochenbeilage T: The New York Times Stile Magazine wurde.

Davor lebte sie in Maryland und Texas. Yanigaharas erster Roman erschien 2013. Ihr Roman “A little life” erschien 2015. Das 2017 im Deutschen erschienene Werk stand auf der Shortlist verschiedener Literaturpreise und wochenlang auf den Bestsellerlisten.

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