Euthanasie

Laura Baldini: Aspergers Schüler

Inhalt:
Wien, 1932: Erich ist noch ein Junge, als er zu Dr. Hans Asperger an die Uniklinik Wien kommt. Er sieht die Welt nicht wie andere Kinder. Er kann hochkomplexe mathematische Probleme lösen, aber es fällt ihm schwer, seine Gefühle zu zeigen. Nach schrecklichen Jahren in einer Pflegefamilie erlebt er hier zum ersten Mal Zuneigung und Verständnis.

Die Krankenschwester Viktorine schließt Aspergers Schüler ganz besonders ins Herz. Für sie bricht eine Welt zusammen, als die bahnbrechende Arbeit ihrer Abteilung vom NS-Regime vereinnahmt wird. Während Asperger sich mit den neuen Machthabern arrangiert, ist Viktorine entsetzt, als sie erfährt, was an der Klinik am Spiegelgrund vor sich geht. Für Erich wird es lebensgefährlich. (Klappentext)

Rezension:

Wenn gut ausgearbeitet und die wirklichen Begebenheiten nicht allzu sehr zu Gunsten der Fiktionalisierung zurechtgebogen, darf sich auch ein historischer Roman zu den Büchern gegen das Vergessen zählen. Ist dies Laura Baldini mit ihrer hier vorliegenden Erzählung „Aspergers Schüler“ gelungen oder gleitet ihr Text allzu sehr ins Kitschige ab, wie dies auf einige Texte dieses Genres zutrifft?

Auf zwei Zeitebenen erzählt der historische Gesellschaftsroman vom dunklen Kapitel Euthanasie, der österreichischen Geschichte unter deutscher Vereinnahmung im Zweiten Weltkrieg und vom Kinderarzt und Heilpädagogen Hans Asperger, der als Erstbeschreiber des später nach ihm benannten Asperger-Syndroms, einer Form des Autismus, zumindest in Europa gilt.

In vergleichsweise einfacher Sprache, überraschend leichtgängig, fast zu sehr möchte man meinen, taucht man in gut geordneten Kapitel in die jeweiligen Handlungsstränge ein, springt zwischen die Jahre des Zweiten Weltkriegs und dem Wien 1986, in dem sich noch allzu viele nicht der Vergangenheit ihres Landes stellen wollen.

Hauptprotagonistin des einen Handlungsstranges ist Viktorine, die als Krankenschwester Zeitenwende und Vereinnahmung der Klinik, das Verdrängen von Kollegen und Kolleginnen erleben muss, sowie nach und nach den Schrecken der neuen Ideologie einziehen sieht, deren Auswirkungen sie zunächst nicht sehen möchte und die Augen davor verschließt, was um sie herum passiert. Erst als es beinahe zu spät ist, begreift sie das Grauen. Ansonsten macht diese Protagonistin kaum eine nennenswerte Entwicklung durch.

Ebenso naiv gibt sich ihr Gegenstück im zweiten Handlungsstrang, der Jahrzehnte später spielt, so dass man beide schütteln möchte, was mit dem Wissen und zeitlichen Abstand von heute ziemlich leicht, damals vermutlich um so schwerer gewesen wäre. Andere Figuren bleiben in diesem sonst gar nicht ausufernden Roman erstaunlich blass, wenn sich auch die Autorin an der Beschreibung des Bösen sehr akkurat an die historischen Fakten gehalten hat.

Hier merkt man die Recherchearbeit und Sachkenntnis Baldinis. Die Autorin arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin mit Kindern, die das Asperger-Syndrom haben. Empfehlenswert ist hier das Nachwort zur Einordnung.

Am besten funktioniert der Text, wenn sie mit ihren Beschreibungen nah dran an historisch verbürgten Personen ist, weniger gut, leider, bei ihren eigenen fiktionalen Figuren, die erstaunlich wenige Ecken und Kanten verzeichnen, wobei ob der geschichtlichen Gegebenheiten natürlich offen gegensätzliche Charaktere gut ausgearbeitet sind.

Den Sadismus und die tödliche Kälte eines Jekelius so zu transportieren, muss man erst einmal schaffen. Auch Ortsbeschreibungen gelingen Baldini in ihrem Roman gut, das historische Wien lebt, man kann sich das alles mit Schaudern vorstellen. Das passt mal mehr, mal weniger in beiden Handlungssträngen, doch wechseln diese in so dichter Abfolge, das das Erzähltempo gleichmäßig hoch bleibt. Der stete Perspektivwechsel zwischen den Figuren tut sein übriges dazu, ebenso ergänzende Einblicke in damalige „Untersuchungsprotokolle“, die zumindest entfernt den wirklichen nachempfunden sein dürften. Der Massenmord war auch in Österreich bürokratisiert bis in die kleinste Ebene hinein.

Verständlich und in sich schlüssig greifen beide Ebenen ineinander. Wirkliche Überraschungen bleiben jedoch aus, zumal, wenn man sich ansatzweise mit der tatsächlichen Historie auskennt. In Zusammenhang mit dem Schreibstil wirkt dies beinahe zu leichtgängig, wobei das Grauen, die Autorin ist da feinfühlig zurückhaltend, eher im Kopf des Lesenden stattfindet als auf dem Papier. Dafür reihen sich Andeutungen aneinander, die sich gewaschen haben.

Man liest dies in einer gewissen Sogwirkung gefangen, um am Ende auf eine sich die gesamten Seiten anbahnende Liebesgeschichte zu stoßen, die es nicht gebraucht hätte. In diesem Text fügt sie sich jedenfalls nicht wirklich gut ein, wirkt unpassend. Laura Baldini hätte diese seichte Komponente nicht gebraucht. Vielleicht ist das nötig, um ein gewisses Lesepublikum (Klischee!) zu bedienen, alle anderen rollen die Augen und werden zurückgelassen. Das hätte wirklich nicht sein müssen.

Autorin:
Laura Baldini ist das Pseudonym der österreichischen Autorin Beate Maly, die 1970 in Wien geboren wurde. Zunächst absolvierte sie eine Ausbildung zur Kindergartenpädagogin und veröffentlichte Kinder- und pädagogische Fachbücher. 2007 erhielt sie das Wiener Autorenstipendium und beendete neben ihren Roman eine Zusatzbildung zur mobilen Frühförderin. Ihr erster Roman erschien dann 2008, dem weitere folgten. Sie wurde für den Leo-Perutz-Preis 2019 nominiert und erhielt 2021 den Silbernen Homer, weitere Nominierungen und Auszeichnungen folgten.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Laura Baldini: Aspergers Schüler Weiterlesen »

Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten

Die Erwählten Book Cover
Die Erwählten Steve Sem-Sandberg Klett-Cotta Erschienen am: 26.09.2015 Seiten: 525 ISBN: 978-3-608-93987-3 Übersetzerin: Gisela Kosubek

Inhalt:

An einem Januar-Morgen 1941 wird der elfjährige Adrian Ziegler, Sohn einer Wiener Arbeiterfamilie, seinem Zuhause entrissen und in die Klinik Spiegelgrund gebracht. Während der Zweite Weltkrieg tobt, sind Adrian und die anderen Kinder in der Erziehungsanstalt schutzlos der Hölle des Nazi-Systems ausgeliefert.

Einzig der Anblick des Bergs vor dem Fenster weckt in ihnen die Hoffnung auf einen Schutzengel, der sie von diesem finstersten aller Orte zu retten vermag. Die Klinik wird so zum Spiegel des Nazi-Terrors – und das Überleben zur absolzuten Ausnahme. (Klappentext)

Rezension:
Die Reihe guter dokumentarischer und aufarbeitender Romane ist dünn gesät. Viel zu oft werden einzelne Geschehnisse überhöht, gar welche dazu erfunden, als wollen die Autoren die Leser in eine bestimmte Zeitebene einführen, bitte jedoch mit Wohlfühlfaktor, und wenn ein wenig Schrecken und Grusel dabei ist, ist dann die kriminalistische Ader des Zielpublikums auch bedient. Hier aber, ist’s anders.

Steve Sem-Sandberg, dessen größter Teil seiner Werke noch gar nicht aus dem Schwedischen übersetzt wurde, hat mit „Die Erwählten“ in Werk geschaffen, welches ebenso wie „Die Elenden von Lodz“ aufwühlen und den Blick weiten vermag.

Im Kern geht es um den Wiener Jungen Adrian Ziegler, dessen Elternhaus nicht ins Zeitbild der Nazis passen will und der deshalb in die fänge der neuen Machthaber, genauer gesagt, in der Anstalt Spiegelgrund landet.

Dort sammelt das Regime und seine Getreuen all das, was schwer erziehbar oder als abartig, nicht lebensfähig gilt. Wer einmal drin ist, verlässt dieses System dann auch nicht so schnell. Und schon gar nicht lebendig.

Der zweite Handlungsstrang bezieht sich auf die Kinderkrankenschwester Anna Katschenke, die beim hochangesehenen Jekelius, Leiter der Anstalt, eine Stelle sucht und antritt und nach und nach vom Wirken der Ärzte dort erfährt, das Euthanasie-Programm zur Vernichtung lebensunwerten Lebens willfährig mitträgt und unterstützt.

Gleich dazu die erste erzählerische Meisterleistung des Autoren. Die Täter existierten mit den aufgeschriebenen Namen alle wirklich.

Die Namen Gross, Jekelius oder etwa Katschenka lassen sich nachvollziehen, um die überlebenden und toten Opfer zu schützen, werden diese jedoch anonymisiert, wobei auch hier leicht herauszufinden ist, dass es sich bei der Geschichte um den Jungen Adrian um niemand anderen als Friedrich Zawrel handelt, dessen Lebensgeschichte und Leiden hier als Grundlage für die Handlungsstränge dient, die mit zunehmender Seitenzahl immer schneller, immer drängender erzählt werden.

Dabei unterlässt der Autor es, den Leser zu schonen, begibt sich in die gefühlswelt der Täter und wirft seine Leser dann wieder ins kalte Wasser, wenn beschrieben wird, wie Kinder und Jugendliche mit vermeindlicher oder wirklicher Behinderung vorgeführt, misshandelt oder erlöst werden.

Letzteres findet vor allem im Kopf statt, nur Andeutungen gibt es reichlich.

Unterfüttert mit z.B. Vernehmungsprotokollen und einer tragischen Wiederbegegnungsszene, die verbürgt sind, ist dieser Roman kleinteilig, jedoch immer packend. Man möchte die Täter am liebsten jetzt noch nach ihrem Tode einer gerechten Strafe zuführen.

Doch, was ist schon gerecht, in Anbetracht der Behandlung, die diese ihren Opfern haben angedeihen lassen?

Erschreckend, diese Kaltschnäuzigkeit und diese Willkür, die damals das geherrscht haben, ebenso diese Berufung auf Vorgesetzte. „Wir haben doch nur Befehle ausgeführt.“

Man möchte brechen, auch im Angesicht der Tatsache, dass sich nicht wenige Täter in die Gesellschaft wieder eingliedern, ihren Beruf wieder aufnehmen konnten, während all ihren Opfern, sofern sie mit den Leben davon kamen, Gerechtigkeit meist versagt blieb. Eine Ungeheuerlichkeit.

Im perspektivischen Wechsel gestaltet, hat Sem-Sandberg ein Meisterwerk des Gedenkens geschaffen, welches unbedingt gelesen gehört. Viel zu selten erfährt man etwas über das Schicksal der Euthanasie-Kinder, deren bekanntestes Beispiel in Deutschland Ernst Lossa ist, doch müssen, wie hier am Beispiel Friedrich Zawrels unbedingt noch mehr Kinderschicksale aufgearbeitet werden, um in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu geraten.

Zu groß ist die Gefahr des wiederkehrenden Geschehens. Es hat schließlich auch damals nicht mit überdorsierten Tabletten oder Spritzen angefangen, sondern mit geschürten Hass und Ausgrenzung. Dagegen und gegen die Folgen, nicht zuletzt zur Erinnerung, dieser Roman.

Autor:
Steve Sem-Sandberg wurde 1958 in Oslo geboren und ist ein schwedischer Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer. Schon im jungen Erwachsenenalter verfasste er erste Romane. Er war Redakteur bei der Tageszeitung Svenska Dagbladet und wurde für seinen Roman „Die Elenden von Lodz“ mit den schwedischen August-Preis ausgezeichnet. Er übersetzt zudem auch andere Autoren ins Schwedische. Er lebt in Stockholm und Wien.

Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten Weiterlesen »