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Saul Friedländer: Blick in den Abgrund – Ein israelisches Tagebuch

Inhalt:

Israel steht am Abgrund. Das Israel, das wir kannten. Saul Friedländer, der große Historiker des Holocaust, hat ein Tagebuch geschrieben, in dem er die aktuellen Ereignisse schildert und kommentiert, in Rückblenden aus der Geschichte des Landes, das er mit aufgebaut hat, erzählt, Konflikte analysiert und über Lösungen nachdenkt. Sein Tagebuch geht unter die Haut und jeden etwas an, dem an Israel liegt. (Klappentext)

Rezension:

Nicht nur außenpolitisch sieht sich dieses kleine Land vor ständiger Herausforderung, auch innen ist es kompliziert. Die Gesellschaft Israels, sie befindet sich im Zangengriff radikaler Kräfte und verschiedener Sichtweisen jüdischer Religion und ihren Interpreten. Die politischen Köpfe dieses Systems agieren eigensinnig, sind teilweise korrupt und das zieht sich bis in die obersten Ebenen des Staates hinein.

Im Jahr 2023 versucht sich der israelische Präsident an eine Justizreform, die ihn vor einem Gerichtsprozess bewahren soll, seine Koalitionspartner suchen ebenfalls Wege, sich und ihren Anhängern Vorteile zu verschaffen. Die Demokratie und der Pluralismus des Landes, sie bleiben auf der Strecke. Immer mehr Menschen protestieren.

Einige denken gar ans Auswandern aus dem Land, welches einst Heimstatt aller Juden sein wollte. Der Historiker und Schriftsteller Saul Friedländer beobachtet die gesellschaftlichen Spannungen aus der Ferne, analysiert und zieht Verbindungen zur Vergangenheit, die auch die eigene ist. Entstanden ist dabei ein hochbrisantes und komplexes Tagebuch, zugleich ernüchternd und erschreckend.

Als Außenstehender fällt es bereits schwer, die außenpolitischen Ereignisse zu sortieren und eine Übersicht zu wahren. Zu viel ist bereits passiert mit diesem Land, in der Innenpolitik sieht es dabei nicht besser aus.

Von Januar 2023 bis zum Juli 2023 beschreibt der Autor Tag für Tag das aktuelle Geschehen, welches einem fassungslos werden lässt, angesichts der Herausforderungen, mit denen in der Region ohnehin alle Akteure konfrontiert werden oder sich gegenseitig aussetzen.

Hoch komplex ziehen sich die Fäden der Handlungen israelischer Spitzenpolitiker, deren Agieren die Unfähigkeit von Regierenden manch anderer Länder wie vorausschauendes und überlegtes Handeln aussehen lässt. Schon für jene, die tagtäglich mit rassistischen Aussagen von Ministern konfrontiert werden, aus einem Land, welches es eigentlich rein von der Historie besser wissen müsste, ist dies schwer zu ertragen.

Ohne Vorkenntnisse, etwa der Ausrichtung einzelner Gruppen und Parteien innerhalb Israels ist der Zugang zur Lektüre jedoch überhaupt nicht gegeben, selbst wenn zwischendurch Saul Friedländer einen Rückblick wagt, um bestimmte politische oder religiöse Denkweisen zu erklären, die das Bild Israels im Innern heute beherrschen.

Eine Lektüre für zwischendurch ist schon rein thematisch nicht möglich, doch einige fehlende Teile im Gesamtbild werden uns Lesenden geliefert. Sehr schnell kommt man dahinter, welche Politiker zur Seiten treten müssten, damit das Land auch innenpolitisch in ruhige Fahrwasser gerät. Das Handeln, welches beschrieben wird, führt in die Isolation. Selbst enge Freunde Israels gehen auf Distanz.

Es ist eine hervorragende und differenziert ernüchternde Diagnose, die wenig Raum für Hoffnung lässt. Die Form des Tagebuchs verdeutlicht die immer tiefere Spaltung des Landes, innerhalb von Monaten. Ratlos bleiben die zurück, die letztendlich damit leben und irgendwann versuchen müssen, die Situation aufzulösen. Für Saul Friedländer auch ein Blick auf ein Israel, welches er immer weniger als das erkennt, was er einst mitgestaltet hat.

Die Analyse zieht sich zwischen den religiösen Ausrichtungen in Verbindung der politischen Wirkung, vor allem nach innen, was aber das äußere bedingt. Die Frage, was kommt, wenn der Bruch vollständig ist, muss in Friedländers Buch unbeantwortet bleiben. Israel braucht jedoch jetzt schon, so das Gefühl nach dem Lesen, eine Menge Glück, dies nicht auszuprobieren.

Autor:

Saul Friedländer wurde 1932 in Prag geboren und ist ein israelischer Historiker und Autor. Kurz nach der Besetzung der Tschechoslowakei flohen seine Eltern nach Frankreich, erst nach Paris, später in die unbesetzte Zone. Nach Verhaftungen ausländischer Juden 1942 wurde er in einem jüdischen Kinderheim, später einem katholischen Internat versteckt und überlebte so den Holocaust.

Mit 15 Jahren ging er mit gefälschten Pass nach Palästina und absolvierte eine dreijährige Militärzeit und studierte schließlich in Paris und Genf, wo er 1963 in Geschichte promovierte. In verschiedenen Positionen arbeitete er für den israelischen Staat und ist ein bedeutender Historiker und war Mitglied verschiedener Organisationen. Er erhielt u.a. den Dan-David-Preis und den Balzan-Preis, sowie den Geschwister-Scholl-Preis und den Preis der Leipziger Buchmesse.

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Sylvia Frank: Nur einmal mit den Vögeln ziehn

Inhalt:

Ein Picknick mit Mozart vom Grammophon mitten zwischen Feldern in Thüringen wird zu “Jenseits von Afrika”, in der kaserne bauen sie illegal Marihuana an und in einem alten Kino spielen sie zu “The Band – The Last Waltz” eigenhändig Blues … sylvia Frank erzählt spannend und authentisch die Geschichte von Siv, Aki, Anna Maria, Jens und Ivo, fünf Jugendliche, die in der DDR in ganz unterschiedlichen familiären Verhältnissen aufwachsen und die historischen Ereignisse der friedlichen Revolution, der Grenzöffnung und der deutschen Einheit als junge Erwachsene miterleben. Ereignisse, die ihr Leben verändern. (Klappentext)

Rezension:

Vielleicht hat er bis dato gefehlt, dieser Roman, der nicht verklären aber auch nicht verteufeln tut, der die Schwarzmalerei unterlässt, jedoch auch nicht die Schattenseiten der jüngeren Geschichte unterschlägt. Hier ist er also, aus der Feder des Autorenpaars Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert, die stellvertretend für eine ganze Generation eine handvoll Protagonisten unterschiedliche Wege gehen lassen, dabei menschliche Abgründe aufzeigen, aber eben auch Momente des Glücks im Kleinen, sowie natürlich auch im Großen. Aus wechselnder Sicht wird erzählt, wie der vielzitierte Mantel der Geschichte sich öffnete und die Menschen diese Chance ergriffen und vollzogen.

Das geschieht in sehr kompakter Form, die überraschend ist, da die erzählte Zeitspanne doch schon 1977 ansetzt und allen Figuren, die wir von Kindesbeinen an verfolgen, genug raum eingeräumt wird. Aus wechselnder Perspektive heraus werden dabei nicht nur die großen historischen Momente aufgerollt, sondern liebevoll Alltagsszenen auserzählt, die eine ganze Generation prägten. Nicht genug, auch wechseln die Handlungsorte quer durch die DDR, um so sehr effektvoll, doch ohne großes Geschrei Differenzen, Widersprüche und Wandel aufzuzeigen, von der innerdeutschen Grenze ins ländliche Thüringen, von Leipzig bis nach Berlin.

Viel zu viel möchte man meinen für so wenig Seiten, gibt doch all das viel mehr Erzählstoff her, doch die Schreibenden lassen ihren Protagonisten Spielraum, ohne jedoch zu Gunsten von wenigen, andere Handlungsstränge zu verlieren. Wer die Zeit bewusst erlebt hat, findet sich da sicher irgendwo wieder, wer nicht taucht ein und erlebt Geschichte. Frank und Meierewert lassen Orte vor dem inneren Auge entstehen, so dass es wirkt, als würde man selbst im Verhörraum der Stasi sitzen oder im Kirchenraum, im Ungewissen, was nach der Predigt gleich passieren wird. Anderes hat sich längst ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, selbst wer das nicht aus eigenem Erleben heraus erfahren hat.

Vor allem die Unaufgeregtheit, mit der die Schreibenden dies aufgerollt haben, trägt dazu bei, dass ein Sog entsteht, den man sich nicht entziehen mag. Dabei wird das Erzähltempo stetig gehalten, zudem wird man wahrscheinlich in allen Figuren etwas von sich und anderen finden. Man rollt manchmal die Augen über die Protagonisten und schließt sie doch ins Herz.

Gegensätze und Kontraste werden hier durch die erzählten unterschiedlichen Lebenswege, sowie durch die Zeit selbst aufgebaut, die noch zu Beginn des, nennen wir es einmal Gesellschaftsroman, die Protagonisten vor sich hertreibt, bis sich dieses Verhältnis umkehrt. Das funktioniert oft gut, manches hätte ich mir noch mehr auserzählt gewünscht. Nur mit zwei Szenen sind die Schreibenden hier ins Kitschige abgerutscht. Da hat jedoch der Perspektivwechsel im jeweils nächsten Kapitel entgegen gewirkt. Zum Glück, es wäre sonst durchaus schade gewesen.

Somit ist “Nur einmal mit den Vögeln ziehn”, was man sinnbildlich verstehen darf, eine durchgehend schlüssige, vergelichsweise ruhige Erzählung, über eine doch bewegte Zeit, ein Roman über ostdeutsche Perspektive, ohne bestimmte Narritive zu bedienen, die heute auch einmal ganz gerne populistisch genutzt werden, was hier sehr wohltuend wirkt. Zudem hat man das Gefühl, keinen wichtigen geschichtlichen Moment ausgespart zu haben, aber eben auch die Protagonisten nicht verliert, für mich als an der Historie interessierten Menschen auch sehr spannend zu lesen.

Wie dreht sich diese Perspektive wohl für mich, wenn dann weiter erzählt wird, und die Handlung meinen Erinnerungsraum beginnt zu berühren? Eine Fortsetzung des Romans ist zumindest angedacht. Man darf gespannt bleiben. Bis dato ist es ein Roman für jene, die diese Zeit bewusst erlebten, ob ost- oder westdeutsch und jene, die darum wissen und zumindest diese kleine Zeitreise unternehmen möchten.

Die Protagonisten, deren Handlungsstränge mal mehr, mal weniger verwoben sind, dann auseinanderlaufen, um sich in anderer Beziehung später zu überkreuzen, erzeugen eine Dynamik, die man vielleicht nicht immer wahrnimmt, welche jedoch keine Monotonie aufkommen lässt. Manchmal fehlen vielleicht ein paar Ecken und Kanten, bei Figuren, wovon andere wieder mehr als genug haben. Welche das sind, werden jedoch für alle Lesenden andere sein. Eventuell lohnt die Lektüre alleine dafür, das herauszufinden.

Autorin:

Sylvia Frank ist das Pseudonym des Schriftstellerpaares Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert. Sylvia Vandermeer wurde 1968 geboren und studierte Betriebswirtschaftsleere in Passau. Im Jahr 2007 wurde sie an der Wirtschaftsuniversität Wien habilitiert. Darüber hinaus studierte sie Biologie, Bildende Kunst und Psychologie. Frank Meierewert wurde in Brandenburg a. d. Havel geboren und studierte Drehbuch an der Filmhochschule Wien, sowie Sozial- und kulturanthropologie, ebenfalls dort. Er ist ebenfalls als freiberuflicher Autor tätig.

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Gretchen Dutschke: 1968 – Worauf wir stolz sein dürfen

1968 - Worauf wir stolz sein dürfen Book Cover
1968 – Worauf wir stolz sein dürfen Gretchen Dutschke Rezensionsexemplar/Sachbuch Verlag: kursbuch.edition Hardcover ISBN: 978-3-96196-006-4

Inhalt:

“Die drei Jahre zwischen 1966 und 1969 verliefen wie im Rausch, mal strahlend hell, mal im tiefsten Dunkel, euphorisch und verzweifelt, fast wie im Kino. Nur mit dem Unterschied, dass wir keine Zuschauer waren, sondern Akteure, mittendrin. Die Zeit hat uns geprägt, und wir haben die Zeit geprägt. Das gilt heute. darauf können wir und all die Millionen Menschen in Deutschland, die etwas von dem damals Erreichten verstanden haben und ihr Leben frei, bewusst, auch kritisch gestalten, stolz sein.” (Klappentext)

Rezension:

Im Reigen der seit kurzem zahlreich erschienenen Bücher über die späten 1960er Jahre, die allesamt die Studentenproteste in Deutschland zum Thema haben, sticht ein Werk besonders hervor. Weil es dieses Stück Zeitgeschichte aus unmittelbarer Nähe der Akteure beleuchtet, mit den Errungenschaften und zugleich den Fehlern der Neudenker, diese Formulierung ist gewollt, kritisch umzugehen vermag.

“1968 – Worauf wir stolz sein dürfen”, ist das Werk von niemand Geringeren als Gretchen Dutschke, der Lebensgefährtin des Mannes, der zeitweilig zum Wortführer der Studentenproteste werden sollte, Dreh- und Angelpunkt der Veränderungen, die sich abseits von dem sich noch bildenden Terrorismus der RAF formieren und Deutschland mit Hilfe von Diskussionen verändern wollten, die in eine revoplutionäre Umwälzung der Verhältnisse führen sollte.

Wie das von statten gehen sollte, was auf das althergebrachte System folgen sollte, wussten die Studenten auch nicht, doch Gretchen Dutschke macht deutlich, welche Rolle ihr Mann und seine Mitstreiter in dieser turbulenten Zeit spielten.

Es ist eine turbulente Zeit, die hier sehr klar und reflektiert beschrieben wird. In einfühlsamer Sprache wird der Strudel des Zeitgeschehens, in dem sich die Akteure befanden, beschrieben. Der kritische Blick geht dabei nicht verloren. Schon das ist eine Meisterleistung. So reflektiert ihre Situation zu hinterfragen, hätte ich einem Teilnehmer oder Teilnehmerin der dort beschriebenen Ereignisse nicht zugetraut, handelt es sich hier doch um ein sehr intensives Stück Personengeschichte, bei der man sich eindeutig positionieren muss.

Für Leser, die diese Zeit nicht erlebt haben, ist es ein unaufgeregter, aber positiver Blick auf Geschehnisse, die heute teils unwirklich erscheinen mögen, aber damals folgerichtig wohl auf die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse auch folgen mussten.

Erstaunt folgt man den Gedankengängen der Dutschkes und ihrer Mitstreiter, sieht Wendepunkte und vor allem, dass der Weg der 68er keine Einbahnstraße war, sondern vielfältige Richtungen einschlug. Manche davon liefen sich tot, andere führten in die Irrungen der Illegalität, andere widerum veränderten mit Diskussion und praktischen kleinen Schritten die Gesellschaft deutschlands.

Gretchen Dutschke ist ins Gelingen verliebt, und stellt, ohne den kritischen Blick zu verlieren, die positiven Aspekte dieser Zeit heraus. Zugleich auch die größte Schwäche ist die Knappheit der Schilderungen, von denen man gerne noch ein paar hundert Seiten mehr gelesen hätte.

An manchen Stellen fehlt die Ausformulierung des einen oder anderen interessanten Gedankengangs, der sich weiter zu verfolgen lohnen würde, insgesamt liegt dennoch ein ausgewogenes zeitgeschichtliches Portrait vor, welches sich trotz seiner Schwächen zu lesen lohnt.

Autorin:

Gretchen Dutschke wurde 1942 in Oak Park/Illionois geboren und ist eine Autorin und ehemalige Studentenaktivistin. Sie wurde als Witwe fes 1979 verstorbenen Rudi Dutschke bekannt. Nach einem Theolgiesttudium begann sie ein Kurs am Goethe-Institut in Münschen und lernte in West-Berlin 1964 Rudi Dutschke kennen, nach einer vorrübergehenden Rückkehr in die USA, zog sie 1965 nach Deutschland und bgegann ein Theologiestudium in Hamburg und Berlin, welches sie 1971 abschloss.

1966 heiratete sie Dutschke und half ihn nach dem Attentat seine Sprache wieder zu erlangen. Nach seinem Tod zog sie 1985 wieder zurück in die USA, lebt heute jedoch wieder in Berlin.

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