Gesellschaft

Wolfgang Krüger: Serienmörder des Dritten Reiches 1933-1945

Inhalt:

Auch in der vermeintlich fast lückenlos überwachten Diktatur des Dritten Reiches konnten Serienmörder ihr Unwesen treiben. Nach umfangreichen Recherchen legt Wolfgang Krüger nun einen weiteren Band zu Mordfällen aus der Zeit des Dritten Reiches vor. Diesmal begibt er sich auf die Spur unheimlicher Serienmörder. Er beschreibt detailliert die Verbrechen des berüchtigten Münchner Triebtäters Eichhorn und des Berliner S-Bahn-Mörders Ogorzow.

Er zeichnet aber auch die Vorgehensweise der Dortmunder „Raubmord-GmbH“ nach, die Untaten eines Serienmörders am Rande des Schwarzwaldes, die erschütternden Morde eines Melkers, der 1940 innerhalb von drei Wochen die Mark Brandenburg, Magdeburg und das sudetendeutsche Eger heimsuchte, indem er vier kleine Mädchen an sich lockte, sie missbrauchte und tötete. Schließlich wird der polnische Serienmörder Wignaniec geschildert, der als Fremdarbeiter im westfälischen Osnabrück drei seiner Landsleute ermordete und beraubte. (Klappentext)

Rezension:

Selbst als der Staat sich zum größten aller Massenmörder avancierte, gab es sie, die dunklen Kapitel der klassischen Kriminalistik, die in der Form von Serienmördern die Bevölkerung in Atem hielt. Auch in der absoluten Diktatur konnten diese ihr Unwesen treiben, Behörden und Polizeiorgane narren, welches Menschenleben kostete und für ein dem Anspruch nach alles unter Kontrolle haben wollende Gebilde schlicht Gesichtsverlust bedeutete, würde man den oder die Täter nicht habhaft werden können.

So suchte man möglichst schnell und geräuschlos, teilweise mit Mitteln, wie sie nur in einer Diktatur zur Verfügung stehen konnten, auch den Serienmördern auf die Spur zu kommen, von denen im vorliegenden Werk der Autor Wolfgang Krüger erzählt, beginnend bei den ersten Taten bis hin zur Vollstreckung der gefällten Urteile.

Zunächst wird in dieser schaurigen Sammlung dieser düsteren Seite deutscher Kriminalgeschichte die Definition derer erläutert, die Hauptgegenstand der Betrachtung sind, bevor sich kapitelweise den einzelnen Tätern gewidmet wird. Der Fokus liegt hier auf männliche Serientäter, die jeder für sich eine erschütternde Mordserie zu verantworten haben.

Detailliert beschreibt der Autor sowohl die Vorgehensweise, etwa des Schwarzwälder Serienmörders Josef Schäfer als auch die Umstände, wie dieser und andere ihre Opfer auswählten und nach dem Leben trachteten. Dabei werden Tathergang und Vorgehensweise fast nüchtern detailliert beschrieben als auch, warum selbst in einer so lückenlosen und grausamen Diktatur wie dieser solch ein Morden möglich war.

Teilweise zu plastisch wird dies durch Bilder aus den kriminalistischen Ermittlungsakten, die auch in der Qualität von damals nichts für schwache Gemüter sind. Zeit zum Durchatmen bleibt dabei kaum, denn auch die Ermittlungsarbeit selbst bis zur Aburteilung sind in ihrer historischen Betrachtung sowohl interessant als auch erschreckend.

Wie gingen klassische Behörden damals vor und wann und warum machten sie sich die Organe des NS-Regimes zu Nutze. Hier wäre eine ausführlichere und zuweilen kritischere Betrachtung wünschenswert gewesen, auch über das Verhältnis der einzelnen Kapitel zueinander kann man diskutieren.

Natürlich ist es vor allem der Quellenlage geschuldet, wenn man, in diesem Falle einer Mordserie knapp 60, einer anderen gerade mal fünf Seiten widmen kann, doch sollte man letztere dann überhaupt zur Sprache bringen? Diese kann schon alleine aufgrund des Seitenverhältnisses nicht die gleiche Wirkung auf die Lesenden entfalten, wie andere ausführlichere Schilderungen oder man hätte dieses Kapitel in der Reihenfolge anders sortieren müssen.

Auch ein Rahmen, z. B. durch ein Nachwort fehlt hier, in dem man voran gebrachte Kritikpunkte hätte erläutern können, was die aufgearbeitete Thematik, obwohl interessant, etwas unrund wirken lässt. Trotzdem, für historisch Interessierte eröffnen sich mit der Lektüre sicherlich einige eher unbekannte Aspekte. Und da ist dieses Sachbuch sicherlich eine Ergänzung.

Autor:

Wolfgang Krüger ist Psychotherapeut in eigener Praxis. Ihn beschäftigt seit Jahrzehnten, wie unsre Seele die Gesundheit stärkt. Außerdem publizierte er erfolgreiche Bücher über die Liebe, Treue, Sexualität, Freundschaften, Eifersucht, Geld, Humor , Selbstachtung und Großeltern.

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Martina Berscheid: Fremder Champagner

Inhalt:

Ein Familienfest, für das es scheinbar keinen konkreten Anlass gibt. Wie immer in den letzten Jahren haben sich die drei Geschwister und ihre Eltern kaum etwas zu sagen. – Nirgends wird so viel gelogen und verschwiegen wie in Familien, denkt Claire. Oder ist das nur in ihrer Familie so? Doch dann werden die Geschwister unverhofft mit ihren Kindheitserinnerungen konfrontiert …

Fünfzehn Erzählungen von Martina Berscheid über Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen, einfühlsam und genau beobachtet, mit einem feinen Gespür für Stimmungen und zwischenmenschliche Beziehungen. (Klappentext)

Rezension:

Wie feine Zahnräder greifen wir mit dem unseren in die Leben anderer ein und auch selbst werden wir von der dadurch entstehenden Dynamik erfasst. Daraus entstehen Ereignisse, die richtungsändernd wirken können. Wendepunkte, für die es ein feinsinniges Gespür braucht, diese zu erkennen, wie in diesem Falle, literarisch zu erzählen. Fünfzehn solcher Momente hat die Schriftstellerin Martina Berscheid zu Papier gebracht. Damit entstanden ist eine sensible Sammlung voller Geschichten, nicht nur literarisch wunderschön.

Ein Verlag, der mir Kurzgeschichten zu lesen gibt, beweist Mut, da diese relativ häufig durchfallen. Oft zu kurz, wenig Platz, um Geschichten und Momente entstehe zu lassen, Figuren ihre Wirkung entfalten zu lassen, dazu eine schwankende Qualität im Schreib- und Erzählstil, zumal wenn unterschiedliche Entstehungszeitpunkte den Ausschlag geben oder ein Vielleser, das wäre dann ich, der mit der Masse an Werken einfach kritischer geworden ist. Wenn jedoch der oder die Schreibende es wirklich vermögen, mit wenigen Worten verdichtet, viel zu erzählen, dann ist dies ein um so schöneres Leseerlebnis. Der Autorin Martina Berscheid ist dies mit allen der hier versammelten Erzählungen gelungen.

Aus Sicht der Hauptprotagonisten ihrer jeweiligen Kurzgeschichte öffnet die Autorin einen kurzen Einblick in Lebens- und Gefühlsmomente, die alleine durch die Beschreibungen der Figuren und dessen, was diese beobachten, nach außen und in sich hinein horchend, lebendig wird. Immer sind es ganz unterschiedliche Situationen, in denen sich die Protagonistinnen, es sind zumeist Frauen, befinden, die erwachsenen Geschwister, die sich mit einer Entscheidung der Eltern, ebenso mit ihrer Kindheit konfrontiert sehen, die Freundin, die ihrem Partner die Belästigungen am Arbeitsplatz verheimlicht, die Frau, die ihrer Nachbarin in den sozialen Medien näher ist als von Angesicht zu Angesicht …

Situationen, die man nachvollziehen kann, die bekannt sind, die alle schon auf irgendeine Art und Weise erlebt haben und doch stehen wir immer wieder vor Abgründen und Weggabelungen, die uns verzweifeln oder kämpferisch werden lassen. Trotz der wenigen Seiten pro Geschichte zeigt die Autorin, dass es auch in diesem Format mit einem durchaus ruhigen Erzähltempo ohne viele Worte ganz viel zur Sprache zu bringen. Wer sind wir eigentlich in diesen Momenten? Was macht uns eigentlich zu dem, wer wir sind? Wie sieht es in unserem Inneren aus, bevor wir eine Entscheidung fällen, deren Richtung vielleicht unumkehrbar ist?

Feinsinnige Protagonisten-Zeichnungen, die im Gegensatz oft zu vergleichsweise blassen Nebencharakteren stehen, passen da gut ins Bild, kennen wir uns doch selbst immer am besten. Innerhalb der einzelnen Geschichten sind Handlungsrahmen wie Anzahl der Figuren begrenzt, die Geschichten so angeordnet, dass der Kontrast der unterschiedlichen Lebenssituationen seine Wirkung entfalten kann. Dabei hat Berscheid nicht davor gescheut, ihren Figuren Ecken und Kanten zu geben, was durchaus starke Momente erzeugt.

Es sind kurzweilige Erzählungen, die zwar unabhängig von einander gelesen werden können, dennoch wie aus einem Guss scheinen. Der rote Faden ist klar erkennbar, oder auch das Tuch, welches man im Stil des Covers bestellen kann, wenn man dies auf der Verlagsseite (aktuell zum Zeitpunkt des Schreibens der Rezension möglich) tut. Diese Kurzgeschichten-Sammlung hat mich menschlich wie sprachlich erreichen können, mit vielen ruhigen Momenten, in denen wir kurz innehalten sollten. Manchmal hilft das.

Autorin:
Martina Berscheid wurde 1973 in Kaiserslautern geboren und ist eine deutsche Biologin und Autorin. Sie studierte nach der Schule Biologie und absolvierte anschließend eine journalistische Ausbildung. Danach war sie als PR-Referentin tätig, sowie als Volkshochschuldozentin. Als Autorin veröffentlicht sie seit 2010 Werke u. a. in Anthologien und Literaturzeitschiften. 2015 erhielt sie den Hans-Bernhard-Schiff-Literaturpreis der Stadt Saarbrücken.

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Florian Russi: Albert Camus – Philosoph des Absurden

Inhalt:

Albert Camus (1913-1960) gilt neben Jean-Paul Sartre als bedeutendster Vertreter der Philosophie des Existenzialismus, hat sich selbst allerdings nicht als solcher gesehen. Was er mit Sartre teilte, war die Auffassung, dass das menschliche Leben zufällig und ohne vorbestimmten Sinn ist. Er ging sogar noch darüber hinaus und sah unser Dasein als völlig absurd an. In seinen Werken hat er sich damit auseinandergesetzt, wie man sich gegenüber dieser Absurdität verhalten kann. Vor allem von jüngeren Menschen wurde er als Befreier von alten Doktrinen und konservativen oder religiösen Werten, Regeln und Geboten wahrgenommen.

Florian Russi hat dem Leben und Wirken des Literaturnobelpreisträgers von 1957 nachgespürt und seine wichtigsten Gedanken und Lehren auf den Punkt gebracht. (Klappentext)

Reihe:

Das Werk gehört zur verlagsinternen Reihe „Philosophie für unterwegs“, in Zusammenarbeit mit verschiedenen Autoren und Autorinnen und lässt sich losgelöst von den anderen dort erschienen lesen.

Rezension:

Der Mensch existiert ohne Vorherbestimmung, ohne sinn und wird erst zudem, was er ist, wenn er die von der Natur ihm gegebenen Eigenschaften nutzen kann. Dazu benötigt es Freiheit. Dies sind einige der Hauptsäulen des sogenannten Existenzialismus, zu dessen Hauptvertretern wir heuet Sean-Paul Sartre und Albert Camus zählen. Zu letzterer Person hat sich der Autor Florian Russi seine Gedanken gemacht. Entstanden ist dabei eine umfassende Einführung in Leben und Werk des algerisch-französischen Philosophen, der mit seinem Denken sowohl staatlichen Ideologien als auch Religionen etwas entgegensetzen konnte.

Im Stil einer Einführung, die die Gedankengänge Albert Camus auch Laien zugänglich macht, begibt sich der Autor hier innerhalb der Reihe „Philosophie für unterwegs“ zunächst auf Spurensuche innerhalb der Biografie dieses großen Philosophen, der zunächst in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, um später mit dem Besatzungsregime der Nationalsozialisten in Frankreich konfrontiert zu sein, welches allein in seinem ideologischen Konstrukt schon absurd wirken musste, zumal in einem Land mit einer republikanischen und demokratischen Geschichte und Tradition.

Dies, sowie das Zusammentreffen mit Sartre, gilt heute als einer der Entstehungszeitpunkte des Existenzialismus, dessen Bestandteile innerhalb der Aufsätze und Bücher Camus zur Sprache gebracht werden. Eine sehr punktierte, nicht ausufernde Analyse liefert der Autor und hangelt sich dabei entlang der Werke und Essays von Albert Camus, extrahiert anschließend für eine Einordnung in Bezug zu Fragen der Zeit, etwa über Religion und den Freiheitsbegriff an sich. Befreite sich Sisyphos ab dem Moment frei, als er begann an der immer wiederkehrenden Arbeit des Hinaufrollens des Felsens Freude zu empfinden, wo diese Tätigkeit vorher nur Last gewesen war?

Ist der Mensch nicht nur das, was er aus sich selbst heraus macht? Eine wiederkehrende Hauptfrage dieser Philosophie, die jede religiöse oder ideologische Vereinnahmung zunichte macht und daher bereits zu Lebzeiten Camus zahlreichen Anklang fand. Auch für dieses Werk aus der Reihe gilt, sie ist vor allem für jene geeignet, die eine Einführung in Leben und Werk bekommen möchten, nicht für jene, mit Vorwissen. Ohne staubtrockene Theoreme durchzukauen, gelingt es Russi einen Zugang zu schaffen, nachdem man sich weiter anhand eines gut sortierten Quellen- und Literaturverzeichnis mit Person und Werk beschäftigen kann.

Autor:

Florian Russi wurde 1941 in Saarlouis geboren und ist ein deutscher Autor und Unternehmer. Zunächst studierte er Jura, Volkswirtschaft und Philosophie, sowie Kommunikationswissenschaften in Saarbrücken, Wien, Freiburg und Bonn, bevor er sich begann, schriftstellerisch zu betätigen. Zudem war er Richter am Landgericht Saarbrücken, sowie Rechtsanwalt in Frankfurt/Main. Nebenberuflich war er als Fachhochschuldozent tätig. Sein erstes Buch wurde 2004 veröffentlicht, dem weitere folgten. Er ist Begründer und Herausgeber der Reihe „Philosophie für unterwegs“ und wurde, 2021, mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

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Andrea Löw: Deportiert

Inhalt:

Der Deportationsbefehl war unerbittlich – ein Koffer war erlaubt, es blieb kaum Zeit, um alles zu regeln und Abschied zu nehmen. Dann wurden sie aus ihrem bisherigen Leben gerissen. Ab Herbst 1941 wurden die im Deutschen Reich verbliebenen Jüdinnen und Juden systematisch „nach Osten“ deportiert.

Meisterhaft verwebt Andrea Löw ihre Geschichten zu einer Erzählung, deren Lektüre die ganze Ungeheuerlichkeit des Verbrechens emotional bewusst macht. Indem sie selbst zu Wort kommen, werden die Menschen sichtbar – als Mütter, Kinder, Großeltern, als Liebende, als Junge und Alte. Sie schildert ihre Ängste und Hoffnungen, die Stationen bis zur Abreise, den Transport. Die meisten erwartete am Ziel der sichere Tod, die Überlebenden berichten von Gefangenschaft, Flucht und Rettung. (Klappentext)

Rezension:

Am Anfang mussten sie entscheiden, was sie auf die Fahrt ins Ungewisse mitnehmen sollten. Nicht mehr als ein Koffer voll durfte es sein. Was würde man in der Fremde, Zielort unbekannt, benötigen? Viele liebgewonnene Dinge, Erinnerungsstücke, mussten sie zurücklassen. Den wenigen, die es schafften, bis Kriegsende die Qualen und unvorstellbare Gewalt durchzustehen, blieb zum Schluss kaum mehr das Leben und das, was sie am Leibe trugen.

Zu viele Jüdinnen und Juden war dies nicht vermocht. Einige der überlebenden Jüdinnen und Juden jedoch legten nach dem Krieg Zeugnis von dem unmenschlichen Grausamkeiten ab. Wie erlebten sie den Erhalt des Deportationsbefehls, die Deportation selbst, das Leben im Ghetto, die Razzien der SS, Konzentrationslager Todesmärsche? Wie schafften es einige zu überleben, was zu vielen zum Verhängnis wurde?

Ich weiß nicht, was vor mir liegt, vielleicht ist das gut so.

Andrea Löw: Deportiert

Die Historikerin Andrea Löw hat anhand von Berichten, Tagebüchern und transkribierten Interviews eine Chronik der schrecklichsten Ereignisse der jüngeren Zeitgeschichte aus Sicht derer geschaffen, die ihr zum Opfer fielen, was gerade jetzt immer wichtiger wird, je weniger Zeitzeugen uns davon erzählen können. Entstanden ist so aus hunderten Quellen ein Gesamtbild, welches verständlich zu machen versucht, was kaum zu begreifen ist.

Zu begreifen war, bereits zum Zeitpunkt des Geschehens, wurden zumindest die ersten Opfer des Holocaust zu Beginn noch im Unklaren über ihr weiteres Schicksal gelassen, während später nach und nach aus Gerüchten aus dem Osten ein immer klareres Bild die grausame Realität zeigte.

Wenn so etwas möglich war, was gibt es dann noch? Wozu noch Krieg? Wozu noch Hunger? Wozu noch Welt?

Andrea Löw: Deportiert

Dabei erläutert die Autorin zunächst ihre Herangehensweise anhand der Quellenlage, die sich vor allem aufgrund ihrer Anzahl auf die deutschsprachige jüdische Gemeinschaft beschränkt, sowie auf die Ghettos in Litzmannstadt und Riga konzentriert, wobei auch andere Schauplätze beleuchtet werden. Erzählt wird ab dem Zeitpunkt des Deportationsbescheids, die vorhergehende menschliche Entrechtung wird zugunsten des Blickwinkels außen vorgelassen, wobei hier auf bereits zahlreich existierende Literatur verwiesen wird.

Entlang eines Zeitstrahl hangelt sich die Autorin durch eine immer dichtere Abfolge von unmenschlichen Grausamkeiten, bei der winzige intuitiv gefällte Entscheidungen über Weiterleben oder Tod entscheiden konnten.

Auf der Seite liegend, Oberkörper und Füße von verschiedenen Nachbarn eng gepresst, erzeugte dieses Liegen das Gefühl sich bereits in einem Massengrab zu befinden […]

Andrea Löw: Deportiert

Ungeschönt erzählt das Sachbuch von einer Vernichtungsmaschinerie aus der Sicht ihrer Opfer, die sich einer immer brutaleren Unausweichlichkeit entgegen sahen, jedoch auch, was menschlicher Überlebenswille und Erfindungsreichtum zu überstehen vermag. Dicht verweben sich die einzelnen Biografien zu einem Gesamtbild, welches nicht unberührt lassen kann.

Andrea Löw setzt damit jene, über die sie schreibt und allzu vielen, deren Gedanken nicht dokumentiert wurden, ein Denkmal und hat mit „Deportiert“ einen wichtigen Bestandteil innerhalb der Bücher gegen das Vergessen geschaffen. Ergänzt wird die Lektüre mit einem ausführlichen Personenregister und Quellenverzeichnis zur Unterfütterung des Gelesenen.

Autorin:

Andrea Löw wurde 1973 in Hagen geboren und ist eine deutsche Historikerin. Sie studierte Geschichte, Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Bochum, wo sie promovierte. Von 2004 bis 2007 war sie an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig.

Seit 2007 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Zeitgeschichte beschäftigt, zunächst in Berlin, danach in München. Dort ist sie seit 2013 stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien. Des Weiteren lehrt sie an der Universität Mannheim . wirkt als Redakteurin des Online-Journals Sehepunkte mit. Sie forscht und betreut Projekte zur NS-Judenverfolgung, insb. zum Themenkomplex Ghettos im deutsch besetzten Polen. Löw ist Autorin mehrerer Bücher.

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Dirk Wulff: Hannah Arendt – Erforscherin des Bösen

Reihe:

Das Werk gehört zur verlagsinternen Reihe „Philosophie für unterwegs“, in Zusammenarbeit mit verschiedenen Autoren und Autorinnen. Da jedes Buch aus der Reihe aus einer anderen Feder stammt und unabhängig voneinander gelesen werden kann, haben wir hier keine Band-Reihenfolge aufgelistet, da sonst das Rezensionsverzeichnis durcheinander käme.

Inhalt:

Hannah Arendt (geb. 1906 in Hannover, gest. 1975 in New York), durchlebte einen großen Zeitraum des „weltverändernden“ 20. Jahrhunderts. Bildung, Denkfähigkeit, Freiheitswille sowie persönliche Erlebnisse befähigten sie – die 1933 vor der Judenverfolgung aus Deutschland emigrierte -, scharfe Beobachterin und Analystin dieser Epoche zu werden.

Das „tätige Leben“ der Menschen, die Entwicklung totalitärer Regime, Freiheitsentzug, Flucht und die Vernichtung Andersdenkender sind „politische Themen“, mit denen sie sich beschäftigte und die sie „weltloser, akademischer“ Philosophie vorzog. Ihre Forschungsergebnisse zur Entstehung totalitärer Herrschaft sowie die Reportage zu „Eichmann in Jerusalem“ mit der intensiv geführten Debatte über die „Banalität des Bösen“ sind von bleibender Aktualität. (Klappentext)

Rezension:

Der immer höhere Grad an Automatisierung bringt es mit sich, dass die Auswirkungen unserer Taten wir immer indirekter zu spüren bekommen, ja damit gar nicht mehr in Berührung kommen. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt hat den Schreibtischtäter möglich gemacht, ohne den keine Mechanik in Gang gesetzt werden kann, der jedoch nicht wahrzunehmen braucht, welche Folgen sein Handeln, sein Entscheiden hat. Adolf Eichmann konnte so den Massenmord des NS-Regimes organisieren, mit der gleichen Leidenschaftslosigkeit, mit der er auch hätte Aktenordner sortieren können.

Das was er tat war in Zahlen messbar, Tot und Massenmord als Zahlenfolge, die emotionalen Folgen erreichten den Bürokraten aufgrund der physischen Entfernung zu den zentralen Handlungsorten nicht. Das Böse ist banal, schlussfolgerte die Publizistin und politische Theoretikerin Hannah Arendt, deren eigene Themen des Lebens zugleich die eines Großteils des 20. Jahrhunderts waren. Der Wissenschaftler Dirk Wulff nimmt sich ihrer an und gibt mit seinem Exzerpt einen kompakten Überblick über das Leben dieser beeindruckenden Frau, sowie über derer wichtigsten Werke.

In wie weit aber lässt sich die Arbeit eines Menschen so dermaßen kompakt herunterbrechen, wie es innerhalb dieser Buchreihe geschieht, in derer sich verschiedene Autoren und Autorinnen den großen Denkenden der Geschichte annehmen? Dirk Wulff zumindest gelingt es, hauptsächliche Punkte herauszuarbeiten und damit auch ihrer Urheberin Gestalt zu geben. Es ist anzunehmen, dass dies im Rahmen der Reihe mit einer gewissen Kontinuität geschieht, so dass es sich wohl lohnt, die „Philosophie für unterwegs“ im Blick zu behalten. Der Verlag hat diese ausgebaut und so finden sich von Camus über Sokratis, von Karl Marx bis hin zu Simone Weil schon sehr viele, mit deren Gedankengängen es sich zu beschäftigen lohnt.

Zumindest für einen Anknüpfungspunkt, um einen Zugang zu finden. Dafür ist die Reihe in jedem Fall geeignet und das gelingt Dirk Wulff mit „Hannah Arendt – Erforscherin des Bösen“ sehr gut. Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis gibt im Anschluss weitere Anregungen für eine ausführlichere Beschäftigung, doch für das Grundsätzliche genügen diese wenigen Seiten, auf denen beschrieben werden, wie die Publizistin Flüchtlinge sah, zu denen sie selbst gezwungenermaßen gehören musste und aus welchen Elementen und Ursprüngen heraus totalitäre Gesellschaften ihres Erachtens folgen können.

Abgerundet wird die Denkschrift zusätzlich mit Überlegungen, was sich Hannah Arendts Betrachtungen im Heute schlussfolgern lässt. Sprachlich ohne Schnörkel stellt Dirk Wulff dies dar, jedoch ohne trocken oder gar überheblich daherzukommen. Vielleicht liegt dies am Format, welches keine größeren Abstrahierungen erlaubt, ist damit jedoch um so zugänglicher für Laien, so dass man Werk wie Reihe unbedingt weiter verfolgen sollte.

Autor:

Dirk Wulff wurde 1941 in Wittenberg geboren und arbeitete bis 2004 als promovierter Chemiker an Forschungsprojekten in der chemischen Industrie. Er war an unzähligen Patenten, wissenschaftlichen Publikationen sowie am Wissensspeicher CHEMICA beteiligt. Seit 2004 widmet er sich philosophischen und soziologischen Themen. Wulff ist Mitglied der Nietzsche-Gesellschaft e. V. und veröffentlichte im Jahr 2009 „Kapitalismus und weiter?“.

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Anthony Bale: Reisen im Mittelalter

Inhalt:

Ob Pilgerinnen oder Kaufleute, Ritter, Mönche oder Spione – die Leidenschaft für das Reisen packte die Menschen bereits im Mittelalter. Getrieben von Fernweh und Abenteuerlust die einen, auf der Suche nach religiöser Erleuchtung oder Ruhm auf dem Kreuzzug die anderen. Für alle war der Weg lang und gefährlich, gute Vorbereitung und Reiseführer mit Tipps für Rast und Übernachtung und Hinweisen auf Gefahren waren unerlässlich.

Anthony Bale nimmt uns mit auf eine Reise nach Nürnberg und Aachen, nach Paris und Rom, in das von Touristen bevölkerte Venedig und nach Rhodos. Wir erkunden Konstantinopel und Jerusalem und gelangen bis in die sagenhaften Länder der Amazonen, Riesen und Fabelwesen, nach China, Äthiopien und Indien. Ein farbiges Panorama der mittelalterlichen Welt, gesehen durch die Augen derer, die sie bereisten. (Klappentext)

Rezension:

Als Martin Behaim, Kaufmann und Seefahrer, einen der ersten europäischen Versuche präsentierte, die ganze Welt auf einem physischen Globus darzustellen, war dieser bereits überholt, doch konnte sich damit Nürnberg als prosperierender Handelsplatz präsentieren. Heute noch erhalten und im Germanischen Nationalmuseum von Nürnberg zu besichtigen, zeigt der Globus uns die mittelalterliche Welt als Produkt dieser besonderen Konstellation von Zeit und Ort. Ein Blick darauf offenbart die Sicht auf die Welt, in der die Menschen schon damals im regen Austausch zueinander standen. Der Historiker Anthony Bale folgt ihren Spuren und nimmt uns mit auf eine ebenso spannende, wie abenteuerliche Zeitreise.

Entlang historischer Reiseberichte entfaltet der Autor eine Welt, in der Reisen noch mit Abenteuer verbunden, dennoch nicht weniger durchorganisiert war, als heute. Auf unterschiedlichen Pfaden und Handelsrouten begegnen wir dabei Menschen, die Handel trieben und zu einer der ersten Vernetzungen der Welt beitrugen, Pilger, Missionare, Ritter und Kämpfer für ihren Glauben und entdecken die ersten Touristen, die nur für sich selbst unterwegs waren und dabei auf allerhand Erstaunliches stießen.

Damals, so erfahren wir, in den nach Routen und Zielen unterteilten Kapiteln, war Reisen mit zahlreichen Schwierig- und Unwägbarkeiten verbunden. So konnte eine Flaute auf See die Menschen zum Innehalten zwingen, Brief und Siegel eines Königs jedoch dabei helfen, Grenzen zu überwinden. Der Historiker zeigt anhand zahlreicher Beispiele die sich verändernden Sichtweisen Fremder auf Gegenden und Orte, die sie bereisten, aber auch, dass Reiseberichte von damals immer eine Mischung aus Wahrheit und Fiktion, sowie politischer und religiöser Standpunkte waren.

Anhand gleichsam philosophischer Überlegungen erläutert Bale Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Reiseetappen damals und heute. Warum reisen wir? Was macht dies mit uns? Welche Ziele haben wir? Was bleibt nach der Reise selbst? Die Gedanken dazu bilden das tragende Konstrukt nebst zahlreicher historischer Überlieferungen für dieses spannende Sachbuch, welches zudem nicht nur die Sichtweise damaliger Reisenden erläutert, sondern auch jener, die sie besuchten. Dabei bleibt Bale nicht eurozentrisch verhaftet, erläutert auch das Unterwegssein aus anderen Teilen der Welt heraus.

Spannend vermischen sich historische Reiseberichte, philosophische Überlegungen, die ergänzt werden mit einer ausführlichen Quellenangabe und Personenregister zu einem bunten Portrait des Unterwegssein in damaliger Zeit. Auf den Spuren von venezianischen Kaufleuten wie Marco Polo, ehrwürdigen Mönchen und doch zahlreichen Frauen wie Margery Kempe, für die das Reisen noch ganz andere Herausforderungen bereithielt, bewegt sich dieses kurzweilige Sachbuch, welches sprachlich schön, sowohl von an der Historie als auch am philosophischen Aspekt des Reisens Interessierten gelesen werden kann.

Autor:

Anthony Bale wurde 1975 geboren und ist ein britischer Historiker. Er lehrt Mittelalterstudien am Birkbeck College der University of London und erhielt 2011 den Philip Leverhulme Prize für herausragende junge Wissenschaftler. 2019 war er Fellow der Harvard University. Für sein Buch ist er den Routen mittelalterlicher Globetrotter gefolgt.

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Jeremias Gotthelf: Der Bauernspiegel

Inhalt:

Mit dem Bauernspiegel wurde aus dem Pfarrer Albert Bitzius der Schriftsteller Jeremias Gotthelf. In seinem ersten Roman erzählt er das Leben eines „Verdingbuben“, dessen Weg aus der Knechtschaft ihn bis ins Paris der Julirevolution führt. Die schonungslose und zugleich humorvolle Direktheit, mit der Gotthelf der eigenen Welt – den Bauernfamilien, aber auch den Schulmeistern und Politikern – den Spiegel vorhält, sorgte schon zu Zeiten der Erstveröffentlichung für Aufruhr und hat bis heute nichts an Brisanz und Aktualität verloren. (Klappentext)

Rezension:

In einer Mischung aus Bauernroman und damals sehr aktueller gesellschaftlicher Analyse rollt „Der Bauernspiegel“, der im Jahr 1837 veröffentlicht wurde, eine Thematik auf, die in veränderter Form noch bis hinein in die 1960er Jahre in Teilen der Schweiz Bestand hatte und auch in anderen Ländern unter verschiedenen Namen das Schicksal unzähliger, zumeist Waisenkinder bestimmte. In Deutschland z. B. unter den Begriff Schwabenkinder, im Schweiz als Verdingen bekannt, wurden diese an Pflegefamilien vermittelt, zumeist in der Landwirtschaft als billige, nahezu rechtsfreie Arbeitskräfte eingesetzt und oft genug physisch und psychisch brutal misshandelt.

Doch noch zu Hochzeiten dieses sklavenartigen Systems gab es Stimmen, die sich für die Rechte dieser Kinder und Jugendlichen einsetzten. Einer der ersten Schweizer gehört den Pfarrer Albert Bitzius, dessen erster Roman diese Thematik aufgreift und schon zur Zeit der Erstveröffentlichung für Diskussionen sorgte.

Unter Pseudonym verfasst, durchleben wir die Geschichte des gleichnamigen Protagonisten, der gleichsam das alte Ego des Autoren ist und das Aufwachsen eines Verdingkindes verfolgt, bis zu seiner Emanzipation von diesem auf Willkür und Gewalt beruhenden Systems. Erzählt wird es aus der Perspektive des Kindes, welches eine Welt um sich herum zu zerbrechen sieht und förmlich von einer Katastrophe in die nächste rutscht und erst mit dem Älterwerden Schritt für Schritt seine Erfahrungen nutzen kann, um sich zur Wehr zu setzen. Bis dahin durchlebt der Protagonist, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, ein Martyrium, durchbrochen von zu wenigen Momenten des Durchatmens. Von Glück kann dabei lange Zeit nicht die Rede sein.

Der Handlungsverlauf verfolgt ein halbes Menschenleben und veranschaulicht überdeutlich ein System, welches uns in reichen Ländern heute die Haare zu Berge stehen lässt, doch in der Vergangenheit Europas bittere Realität gewesen ist, dessen Gesellschaftskritik doch nichts von seiner Aktualität verloren hat. Kinderarbeit gibt es, in veränderter Form, noch immer in Teilen der Welt. Die Realitäten dürften davon auch in der Moderne nicht allzu weit davon entfernt sein.

Jeremias Gotthelf, um den Autoren mal beim Pseudonym zu nennen, erzählt ausschweifend im altschweizerischen Dialekt, in dem vor allem die Dialoge verfasst sind, welches langsames und konzentriertes Lesen erforderlich macht, vor allem, wenn man sonst nur das Hochdeutsche gewohnt ist. Hinten angestellt gibt es ein Glossar mit Begriffen, was die Lektüre deutlich erleichtert, sowie eine Übersicht über im Roman erwähnte alte Maß- oder Währungseinheiten.

So geglättet gelingt die Lektüre, in der ein aus heutiger Sicht großformatig historisches Panorama eröffnet wird, mit tief gezeichneten Figuren, wobei das Hauptaugenmerk auf den Protagonisten liegt, dessen Entwicklung wir verfolgen. Es gelingt Gotthelf hier eine Verbindung zu schaffen, die über den gesamten Erzählstrang trotz Längen anhält. Längen, die zwangsläufig entstehen, da das Erzähltempo im Gegensatz zur Moderne gemächlich anmutet. Dennoch gelingt das Portrait dieser damals untersten Gesellschaftsschicht und der Schweizer ländlichen Gegenden gut, ebenso wie der Kontrast, hier gestaltet als „Ausbruch“ ins revolutionäre Paris.

Trotzdem möchte man den Hauptprotagonisten schütteln, was mit dem Wissen und Selbstverständnis der heutigen Zeit jedoch leicht gesagt wird, sich zu wehren, was aus unserer Sicht viel zu spät im Handlungsverlauf passiert, was noch verstärkt wird durch die gegensätzlich gestalteten Charaktere, die in der Überzahl erscheinen und sich an Grausamkeiten und Gemeinheiten förmlich überbieten. Unwillkürlich fragt man sich dabei, wie ein solches System so lange Zeit Bestand haben konnte.

In sich schlüssig ist diese Erzählung, die ohne große Sprünge auskommt, auch ohne allzu lange Wendungen, aber mit erhobenen Zeigefinger, der zur damaligen Zeit wohl notwendig gewesen ist. Der Autor konnte aus Beobachten seiner Umgebung Ideen in seine Geschichte einfließen lassen, die dieser in jeder Zeile zu Gute kommen und dabei von Mut- und Trostlosigkeit bis hin zu winzigen Hoffnungsschimmern nicht nur den Protagonisten vor sich hertreiben.

Im Wissen um die historische Realität ist die Erzählung, auf die man sich jedoch einlassen muss, ein wichtiges Dokument der Schweizer Gesellschaftsgeschichte, ohne jemanden unberührt zu lassen. Aus damaliger Sicht ist dies Gesellschaftskritik, politischer Aufruf und aktueller Roman, heute ein Historienroman, in dem man das Anliegen von Albert Bitzius stringent vorgeführt bekommt. Wer sich darauf einlässt, kann dies mit Gewinn lesen. Man sollte jedoch ein Faible oder zumindest die Übung haben, Dialekt verschriftlicht zu sehen. Dies nicht gewohnt, ist die Lektüre zuweilen sehr anstrengend. Zumindest heute.

Autor:

Jeremias Gotthelf ist das Pseudonym des Schweizer Schriftstellers und Pfarrers Albert Bitzius. Dieser wurde 1797 in Murten geboren und starb 1854 in Lützelflüh. Nach Besuch der Literarschule in Bern studierte er Theologie und war 1819 Gründungsmitglied des Schweizerischen Zofingervereins. Nach einem Vikariat setzte er sein Studium fort und wurde nach einigen Stationen Vikar in Herzogenbuchsee.

Als Pfarrgehilfe begann er 1829 in Bern und wechselte anschließend in die Pfarrei Lützelflüh, wo er zum Pfarrer gewählt wurde. Neben der Schulpflicht setzte er sich für Verdingkinder aus armen Familien ein und gegen Alkoholismus. Nach Gründung einer Familie wurde Bitzius 1835 Schulkommissär und gründete im selbigen eine Armenerziehungsanstalt, ab 1828 betätigte er sich zudem journalistisch. Sein erster Roman erschien 1837, weitere Schriften und Erzählungen folgten bis zu seinem Tod 1854.

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Lize Spit: Der ehrliche Finder

Inhalt:

Seit er vor einem Jahr in Bovenmeer angekommen ist, sitzt Tristan in der Schule neben Jimmy, der klüger und einsamer ist als alle anderen und es sich zur Aufgabe macht, Tristan Ibrahimi durch das Schuljahr zu begleiten. Denn der hat nicht nur einen Krieg erlebt und eine Flucht durch ganz Europa, sondern er hat auch das, wonach Jimmy sich am meisten sehnt: eine intakte, große Familie, die Halt und Geborgenheit bietet.

Gemeinsam bauen sie sich eine eigene Welt voller geheimer Orte und einer Sprache, die beide verstehen, eine Welt, in der Freundschaft möglich ist. Bis jemand eine Entscheidung trifft, die nicht nur ihre Welt gefährdet und Jimmy und Tristan alles abverlangt. (Klappentext)

Rezension:

Seine Sammlung kennt er auswendig und für Tristan hat Jimmy ebenfalls eine eigene begonnen, schließlich ist er Experte für Flippos, Sammelbildchen, die sich in Chips-Tüten befinden. Ihm selbst fehlen nur noch wenige. Tristan ist sein bester Freund, genauer, sein einziger.

Welch ein Glück, dass sie in der Klasse nebeneinander sitzen, so kann der drei Jahre jüngere ihn, der aus den Kosovo flüchten musste, durch den Schulalltag helfen und er selbst bekommt wenigstens bei seinem Freund zu Hause das Gefühl von echter Familie. Doch ein Brief zerreißt die Idylle. Tristan und seiner Familie droht die Abschiebung. Ein Plan dagegen muss also her. Der ist schnell gefunden. Doch, was passiert, wenn sich Verhältnisse umkehren?

Normalerweise waren sie einander völlig ebenbürtig, doch jetzt, wo Jetmira sich eingemischt hatte, war zwischen ihnen plötzlich ein Unterschied entstanden. Jetmira hatte Tristan größer gemacht, während Jimmy nur noch kleiner geworden war.

Lize Spit: Der ehrliche Finder

Dieser feine kompakte Roman aus der Feder der niederländischen Schriftstellerin Lize Spit ist Schicksalserzählung und Coming-of-Age-Geschichte zugleich. In „Der ehrliche Finder“ beschreibt sie ein Abhängigkeitsverhältnis, welches sich urplötzlich umkehrt und Abläufe ins Rollen bringt, die nicht nur eine Freundschaft gefährdet, von der man gleich zu Beginn ahnt, dass sie einseitig ist, sondern auch Folgen hat, die die kleinen Protagonisten schnell nicht mehr unter Kontrolle haben werden.

Im Spagat zwischen Erzählung und Jugendbuch bewegend behandelt die Geschichte eine hochaktuelle Thematik und steuert mit hohem Tempo auf ein finales Ereignis zu, welches man intuitiv erahnt, nicht lesen zu wollen und doch nicht umhin kann, an den Figuren und ihren Handlungen dran zu bleiben.

Besonders die zwei Hauptpersonen sind stark gezeichnet, altersgerecht beschrieben, wobei ein Positionswechsel zum Handlungsgegenstand wird, der einem schlucken lässt. Jimmy als Jüngerer, genießt es, einen Freund zu haben, zu helfen, während Tristan später nicht anders kann als in die Enge getrieben, zum Spielball seiner Pläne werden zu lassen. Mit wenigen Worten hat es die Autorin hier geschafft, eine unter die Haut gehende immerwährende Spannung zu erzeugen.

Er würde nicht würgen, das musste er schaffen.

Lize Spit: Der ehrliche Finder

Der Zeitraum der Handlung sind nur wenige Stunden, die alles im Leben der beiden Jungen verändern. Innerhalb weniger Kilometer, für Jimmy die ganze Welt, spielt sich ein Drama ab, welches auf eine Katastrophe zusteuert.

Der Roman wird dabei aus Jimmys Sicht erzählt, der mit seiner Mischung aus Intelligenz und an Naivität grenzender Gutgläubigkeit für seinen Freund eigene Grenzen überwindet, schließlich war der gezwungen gewesen, zu Fuß halb Europa zu durchqueren. Doch bekommen beide Protagonisten in der Geschichte ihre Momente.

Bis auf eine Nebenfigur bleiben die anderen vergleichsweise blass. Die Kinder sind sich die meiste Zeit selbst genug, haben ja auch niemand anderes, in der einen oder anderen Art und Weise und doch schimmern zwischen den Zeilen tausend Gegensätze. Gerade wegen dieser Kombination ist „Der ehrlicher Finder“ berührend lesenswert.

Jimmy bekam keinen Daumen, keinen Daumen, keinen Ball, keine Münze. Keiner dieser Leute schien wirklich zu wissen, wer er war. Oder vielleicht wussten sie es schon […].

Lize Spit: Der ehrliche Finder

In sich schlüssig ist die Handlung und die Beweggründe der Protagonisten sind nachvollziehbar, ohne das sich unlogische Sprünge auftun. Dies gilt sowohl für das Verhalten der beiden Jungen als auch in Sprache und Ausdruck, sowie Denken.

Genug Geschichten, von denen der dieser traurige Roman inspiriert sein könnte, gibt es ja zu Hauf. Und so ist zwischen schmalen Buchdeckeln eine große Erzählung mit wenigen Worten entstanden, deren Clou vor allem am Ende in einem halb offenen Ende zu finden ist, welches je nach Gemütslage oder Position der Lesenden mindestens drei Interpretationen zulässt.

Nicht nur diese Wirkung hat die Übersetzerin Helga van Beuningen wunderbar ins Deutsche übertragen und so diesen wichtigen und quer durch die Altersgruppen lesenswerten Text von Lize Spit hierzulande zugängig gemacht.

Autorin:

Lize Spit wurde 1988 geboren und ist eine flämisch-belgische Schriftstellerin. Sie studierte in Brüssel am Königlichen Institut für Theater, Kino und Ton und gewann 2013 den Write Now! Award. Neben Romanen, für die u. a. mit den Preis des niederländischen Buchhandels ausgezeichnet wurde, schreibt sie Drehbücher und Kurzgeschichten. Lize Spit wird in über 15 Sprachen übersetzt.

Interview des S. Fischer Verlags mit der Autorin: Hier klicken.

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Sabine Böhne-Di Leo: Die Erfindung der Bundesrepublik

Inhalt:

Im Sommer 1948 beauftragen US-Amerikaner, Briten und Franzosen die westdeutschen Politiker, eine Verfassung zu schreiben. Monate leidenschaftlicher Diskussionen beginnen. Während die Abgeordneten in Bonn um das Grundgesetz ringen, wollen die Sowjets mit der Berlin-Blockade die Gründung des westdeutschen Staates verhindern. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. (Klappentext)

Rezension:

1948. In London ringen die westlichen Siegermächte und die Benelux-Staaten darum, Grundlagen für die Beteiligung eines demokratischen Deutschlands an die Völkergemeinschaft zu schaffen, woraus nach zähen Diskussionen die sogenannten Frankfurter Dokumente hervorgehen. Eine Verfassung sollen die Deutschen schaffen, für einen zu gründenden Weststaat. Jenen, die die Grundlagen erarbeiten sollen, steckt das Nazi-Regime noch in den Knochen, zudem ziehen dunkle Wolken vom Osten her auf. Die Sowjets riegeln Westberlin ab. Die Überreste der in Trümmern liegenden Stadt können sich nur mit Hilfe der Amerikaner am Leben erhalten, die eine Luftbrücke errichten, um die Berliner Bevölkerung zu versorgen.

Politikern wie Adenauer ist klar, das Gegengewicht in Form eines westdeutschen Staates muss schnell geschaffen werden, zudem, ein zweites Weimar muss um jeden Preis vermieden werden. So ringen bald in Bonn, der Stadt am Rhein, 61 Väter und vier Mütter um eine Verfassung, die nicht so heißen soll. Noch gibt es Hoffnung. Den Weg zu einem einheitlichen Deutschland befürchten sich manche damit zu verbauen. Leidenschaftliche Diskussionen um die Zukunft Deutschlands beginnen. Die Journalistin Sabine Böhne-Di Leo erzählt von diesen Tagen.

„Die Erfindung der Bundesrepublik“ erzählt als hoch informatives Sachbuch sehr kompakt über ein Lehrstück von Demokratiegeschichte, die erstmals auf deutschen Boden einigermaßen beständig und von Dauer sein sollte. Dabei folgt die Autorin den Geschehnissen verschiedener Schauplätze, zum einem das Ringen zwischen den Großmächten, die einst im Krieg als Verbündete, sich langsam mit ihren weltanschaulichen Systemen diametral gegenüberstehen sahen, zum anderen, in Bonn, jene Landespolitiker, die nun die Grundlagen für das künftige Zusammenleben in Deutschland erarbeiten sollten.

Ereignisse, die gegenseitig Sand im Getriebe bilden und doch zu Reaktionen auffordern, zeigt die Autorin um welche Fragen gestritten wurden, schon damals ersichtlich, sich für die Zukunft herausschälende politische Konkurrenten. Aber auch die Strukturen des künftigen Deutschlands stehen zur Diskussion, von der Frage, ob die Todesstrafe beibehalten soll und ob die Gleichberechtigung der Frauen ins künftige Verfassungsdokument gehört oder doch separat geregelt werden muss. Kurzweilig schildert die Autorin die Lust am Meinungsstreit, das Zuspielen von Bällen, aber auch, wie kurz vor knapp gelang, was ein Jahr später in die Gründung der Bundesrepublik münden würde.

Was in heutiger Zeit wieder bedroht ist, gelang damals unter Vorlage verschiedener schon in der Welt vorhandenen Verfassungen mit ganz eigenen Komponenten. Immer wieder wird bei der Lektüre deutlich, wo damals, noch unwissend ob der künftigen Geschehnisse, Stellschrauben geschaffen wurden, um derer wir in vielen Ländern beneidet werden. Sabine Böhne-Di Leo macht deutlich, die Geschichte unseres Landes hätte auch anderes beginnen und damit auch verlaufen können, wenn die Vorzeichen nur ein wenig anders gesetzt worden wären. Ein Glücksfall, dass es so gekommen ist. Die Lektüre zeigt, die Geschichte seiner Entstehung ist so spannend, wie das Grundgesetz selbst.

Autorin:

Sabine Böhne-Die Leo wurde 1959 in Bochum geboren und ist eine deutsche Journalistin und Hochschulprofessorin. Sie studierte zunächst Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an den Universitäten Münster und Perugia und schloss das Studium 1985 ab. Nebenher arbeitete sie als staatlich geprüfte Italienisch-Übersetzerin für Polizei und Justiz. Nach journalistischen Anfängen bei der Münsterschen Zeitung, arbeitete sie im Journalistenbüro Kontur, sowie in Hamburg als freie Autorin für Zeitschriften und Magazine. 2009 wurde sie mit dem Deutschen Preis für Naturjournalismus ausgezeichnet, zudem wurde sie Professorin für den Studiengang Ressortjournalismus in Ansbach. Daneben baute sie eine Lehrredaktion auf und leitete diese zwölf Jahre lang.

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Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister

Inhalt:

Die stolze bäuerliche Landwirtschaft mit Viehmärkten, Selbstversorgung und harter Knochenarbeit ist im Laufe der Sechzigerjahre im rasanten Tempo und doch ganz leise verschwunden. Der Historiker Ewald Frie erzählt am Beispiel seiner Familie von diesem stillen Abschied. Sein glänzend geschriebenes Buch verwebt meisterhaft die eigenen Erfahrungen mit zeitgeschichtlichen Zusammenhängen und lässt so den großen Umbruch auf dem Land lebendig werden. (Klappentext)

Rezension:

Die Geschichte der Bundesrepublik wird zumeist von den Städten heraus beschrieben mit dem allseits bekannten Zeitstrahl, anhand dessen man sich orientieren kann, wogegen die Erzählung vom Höfesterben ein Narrativ bedient, welches lohnt, auseinandergenommen und neu erzählt, damit neu eingeordnet zu werden.

Ewald Frie und seine Geschwister haben den stillen Wandel einer Gesellschaftsform, die zunächst noch prägend den ländlichen Raum gestaltet hat und schließlich mit all den traditionellen Elementen verschwand, erlebt, gelebt und mitgestaltet. Am Beispiel seiner Familie zeigt der Historiker mit seinem Sachbuch Umbrüche als nahtlose Übergänge, in dem Verschwinden auch das sich Eröffnen von Chancen bedeutet hat, vor allem für die jüngeren unter den Geschwistern.

In „Ein Hof mit elf Geschwistern“ verbindet er Archivarbeit mit Interviews, die er in seiner Familie geführt hat, oral history, und zeigt dabei die Verschiebung von Wahrnehmung innerhalb einer Generation. Am Anfang wurde da die traditionelle Landwirtschaft noch als wirkliche Zukunftsperspektive wahrgenommen, schon alleine aufgrund der großen Anzahl von Geschwistern wegen, nur wenige Jahre später strebten die Kinder von Bernhard Frie anderen Lebenszielen nach. Der Hof von mittlerer Größe konnte perspektivisch nicht mehr zum Lebensunterhalt aller beitragen.

Ungeschönt, ohne Nostalgie, doch voller Empathie ist innerhalb der gewählten Erzählform ein bemerkenswerter Text entstanden, der nicht nur Wolke II zu Ehren gereicht, sondern eine wichtige Ergänzung zu all den Geschichten der Bundesrepublik darstellt. Auch eben das ist passiert.

Der Historiker beschreibt die Veränderungen der Sichtweisen von außen, jedoch vor allem von innen und damit noch viel mehr, geht es auch um die Rolle des Katholizismus im ländlichen Raum, Bildungschancen und Eroberungen von Spielräumen für sich selbst, immer auch unterstützt von den eigenen Eltern, die zunehmend die neuen Welten nicht mehr zur Gänze verstehen konnten, aber so weit wie möglich ihre Kinder bestärkten den ihren eigenen Platz darin zu finden.

Zumindest für die Frie-Geschwister, so geht es aus der Lektüre hervor, die zunächst die Perspektive des Vaters, dann der Mutter, eingerahmt von der Vor- und Nachgeschichte, beschreibt, kann der Wandel nicht nur als Abgesang, sondern auch als durchaus Erfolgsgeschichte gelten. Wie einst die Kuh des Vaters, die eine DLG-Ausstellung gewann.

Zurecht mit dem deutschen Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet, hat da Ewald Frie, diese Perspektive eingenommen, ein Unentschieden für sich herausgeholt.#

Ewald Fries Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Sachbuchpreises 2023:

(Quelle: Deutscher Sachbuchpreis)

Autor:

Ewald Frie wurde 1962 in Nottuln geboren und ist ein deutscher Historiker. Als Sohn einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland aufgewachsen, studierte er zunächst Katholische Theologie und Geschichte an der Universität Münster, bevor er von 1985 bis 1987 als Museumsführer arbeitete. Danach legte er 1988 seinen Magister ab und war 1989 bis 1991 Volontär am Institut für westfälische Regionalgeschichte Münster.

Er promovierte 1992 und habilitierte schließlich nach verschiedenen Stationen im Jahr 2001. In Tübingen ist er Professor für Neuere Geschichte und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Frie ist Verfasser und Herausgeber verschiedener Werke. 2023 gewann er den Deutschen Sachbuchpreis.

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