Unfall

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Inhalt:

Wie fühlt sich ein junger, lebenshungriger Mann in Belarus? Eine hochaktuelle Geschichte über die Sehnsucht nach Freiheit. Eigentlich sollte Fransisk Cello üben fürs Konservatorium, doch lieber genießt er das Leben in Minsk. Auf dem Weg zu einem Rockkonzert verunfallt er schwer und fällt ins Koma. Alle, seine Eltern, seine Freundin, die Ärzte, geben ihn auf. Nur seine Großmutter ist überzeugt, dass er eines Tages wieder die Augen öffnen wird. Und nach einem Jahrzehnt geschieht das auch. Aber Zisk erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint. (Klappentext)

Rezension:

Immer mehr Menschen drängen Richtung U-Bahn-Schacht, als ein Unwetter über sie hereinbricht und schieben die anderen vor sich her. Schutz suchen sie. Immer enger wird es im Tunnel, immer weniger Luft bekommen jene, die sich schon im Inneren befinden. Noch, als der Schacht voll ist, bewegen sich die Massen, die ersten werden niedergetrampelt, förmlich zerquetscht. Am Ende des Tages wird es unzählige Verletzte geben und zu viele Tote. Auch der jugendliche Cello-Schüler Franzisk ist unter den Opfern und wird darauf hin zehn Jahre lang im Koma liegen. Als er wieder erwacht, ist die Welt eine andere und doch stehengeblieben.

Leise kommen die Romane von Filipenko daher, um die Lesenden dann in einem Strudel von Gefühlen zu werfen, dem man sich kaum entziehen kann. Dies ist so, auch im zweiten Roman aus der Feder des belarussischen Schriftstellers Sasha Filipenko, der es auch hier versteht, seine Leserschaft mitzureißen. Er erzählt von Belarus damals und heute, von Trostlosigkeit und Tristesse, von der Hoffnungslosig- und Müdigkeit der Menschen und dem Glauben daran, was wäre, wenn doch noch das Unmögliche geschieht.

“… Verzeihen Sie, wenn ich unhöflich bin, aber Sie sind schon ein wenig mühsam, das ist, verdammt nochmal das Leben. Ihr Enkel ist tot! Tot, verstehen Sie? Finden Sie sich damit ab. Er ist tot. Wenn Ihnen dieses Wort nicht in den Kopf hineingeht, dann vielleicht >krepiert<. Es ist aus mit ihm. Er ist gestorben. Das Gehirn ihres Enkels wird nie wieder funktionieren, nie, hören Sie mich?” “Wissen Sie was, Herr Doktor? Lecken Sie mich am Arsch!”

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Dabei ist der Hauptteil des Romans sehr düster gehalten. Nur ganz wenige positiv besetzte Protagonisten begegnen hier vielen Unsympathen, denen man im realen Leben lieber ausweichen sollte. Wer in die Geschichte um Franzisk eingesogen wird, muss das über sehr weite Strecken aushalten können, wird immer nur kurz mit wenigen Funken Hoffnung für die Figuren entlohnt. Filipenko, der auf Russisch im Nachbarland über die Stadt seiner Kindheit schreibt, greift hier die brodelnde Stimmung seiner Heimat auf, beschreibt diese aus der Sicht des Ausgewanderten, des Entfernten und doch ganz nahen Beobachters.

Bevor er seine Leserschaft ins kalte Wasser einer Stadt wirft, deren Obere der dort lebenden Bevölkerung längst das Herz herausgerissen haben, stimmt er seine Leser im Vorwort darauf ein. Die Übersetzerin Ruth Altenhofer ordnet, sortiert und erklärt im Nachwort, wie viel Sasha Filipenko eigentlich an Themen gelungen ist, auch zwischen den Zeilen zu verarbeiten, egal ob dies geschichtliche und politische Ereignisse in Belarus betrifft oder die jenigen, die grausame Paten standen, für die Geschehnisse des Romans.

Die Angst floss aus seinem Körper ins Haus. Die Angst war in seiner Wohnung und in der Wohnung gegenüber, hier, überall, in der ganzen Stadt.

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Der Autor zeigt einem lebenshungrigen Protagonisten, der aus dem Alltag herausgerissen und umgeworfen wurde, aber auch, dass es sich lohnt, für sich selbst zu kämpfen, übertragen, dass vielleicht auch der Kampf der jungen Menschen in Belarus für eine Zukunft ihres Landes, für Freiheit und Demokratie, eines Tages Früchte tragen wird. Gäbe es das Nachwort nicht, müsste man vieles davon zwischen den Zeilen lesen, dort wird es denen, die das nicht können, erklärt.

Die Grundstimmung der Erzählung macht das fortlaufend geschriebene Werk nicht gerade zu einer einfachen Lektüre, zumal diese einem nachdenklich und bedrückt zurücklassen wird. Filipenko beeindruckt und legt im Gegensatz zu seinem Debüt, welches vergleichsweise leise daherkam, noch einmal eine Schippe drauf. Großartig ist das, gleichsam ein Cellospiel in Worten.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. In seiner Wahlheimat St. Petersburg studierte er nach einer abgebrochenen Musikausbildung Literatur und widmete sich der journalistischen Arbeit, war Drehbuch-Autor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator.

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Jasmin Schreiber: Marianengraben

Marianengraben Book Cover
Marianengraben Jasmin Schreiber eichborn Verlag Erschienen am: 28.02.2020 Seiten: 254 ISBN: 978-3-8479-0042-9

Inhalt:
Paula braucht nicht viel zum Leben: ihre Wohnung, ein bisschen Geld für Essen und ihren kleinen Bruder Tim, den sie mehr liebt als alles andere auf der Welt. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der sie in eine tiefe Depression stürzt.

Erst die merkwürdige Begegnung mit Helmut, einem schrulligen alten Herrn, erweckt wieder einen Funken Lebenswillen in ihr. Und schließlich begibt Paula sich zusammen mit Helmut auf eine abenteuerliche Reise, die sie Beide zu sich selbst zurückbringt – auf die eine oder andere Weise. (Klappentext)

Rezension:
Es passiert eigentlich nicht viel im neuesten Roman von Jasmin Schreiber und doch eine ganze Menge, lesen so einen wunderbar schmerzhaften, bedrückenden und dennoch lebensbejahenden Roman. Wie das zusammenpasst? Zu Beginn steht die Trauer der Hauptprotagonistin, der ein Leser sofort in sein Herz schließen wird.

Die Studentin Paula hat vor ein paar Jahren ihren kleinen Bruder durch das Meer verloren und ist seit dem tief gefallen. Im übertragenen Sinne bis an den Grund des Marianengrabens, des tiefsten Punkt der Ozeane. Nur ist es hier Lethargie und Depression, unverarbeiteter Schmerz, der die Oberhand hat.

Aus ihrer Perspektive erlebt man nun einen Roadtrip und damit auch ein Auftauchen, beschwerliches Ankämpfen gegen die Schuldgefühle. Gegenpol bildet der zweite Hauptprotagonist. Helmut, ein älterer Herr, der ebenso eine Geschichte zu erzählen hat. Auf diese zwei Figuren ist die Geschichte reduziert. Völlig ausreichend ist das.

Feinfühlig beschreibt die Autorin diesen schmerzhaften Verarbeitungs-prozess. Gebannt wird man in die Geschichte eingesogen. Manch kalter Schauer wird einem bei diesen Zeilen über den Rücken laufen, nur um dann wieder grinsen, manchmal laut auflachen zu müssen.

Diese Kontraste zu schaffen, ist Jasmin Schreiber hervorragend gelungen. Dies lässt in der Geschichte die Protagonisten durchhalten, ebenso fordert dies die Leser dieses gelungen Werks.

Auf Trauer folgt Verarbeitung. Diesen Prozess begleiten die Leser, die nach und nach die Puzzleteile der Geschichten beider Protagonisten erfahren, wenn Paula und Helmut so langsam aus dem sprichwörtlichen Meer auftauchen. Interessant dazu auch die Titelüberschriften.

Jasmin Schreiber hat nicht nur ihr Biologie-Studium der Protagonistin „umgehängt“. Viel steckt von der Autorin in Paula. Jede Zeile so gemeint. Jede Zeile ehrlich.

Dies alles ist die große Stärke von „Marianengraben“. Definitiv ein Highlight für alle, die ihn lesen werden und eine Mahnung, Menschen mit Depression die Hand zu reichen, niemals allein zu lassen, im übertragenen und wörtlichen Sinne, schwimmen zu lernen.

Autorin:

Jasmin Schreiber wurde 1988 geboren und ist studierte Biologin, arbeitet als Kommunikationsexepertin und Autorin. 2018 wurde sie als Bloggerin des Jahres ausgezeichnet. Sie arbeitet ehrenamtlich als Sterbebegleiterin und Sternenkinder-Fotografin. Die Autorin lebt in Frankfurt/Main.

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