Generation

Monica Subietas: Waldinneres

Inhalt:

Ein jüdischer Kunstsammler rettet sich mit Fluchthelfern vor den Nazis in die Schweiz, doch seine Spur verliert sich im Dickicht eines Waldes. Zurück bleibt nur sein Gehstock, darin eingerollt ein kleines Gemälde.

70 Jahre später betritt Gottfried Messmer das Foyer einer Bank in Zürich. Im Schließfach seines Vaters findet er einen echten Klimt. Wie kam sein Vater an dieses Bild? Und wo ist sein wahrer Besitzer? Gottfried muss sich einem Familiengeheimnis stellen, das weit in die Geschichte seines Landes zurückreicht. (Klappentext)

Rezension:

Als der Sohn den Nachlass seines Vaters inspiziert, den er zuvor einem jahrzehntelang unberührten Bankschließfach entnahm, stockt ihm der Atem. Eingerollt im Hohlraum eines Gehstocks findet sich ein bemaltes Stück Leinwand, kaum größer als eine Postkarte. Ein Original so scheint es, von Gustav Klimt.

Wie kam Hermann einst in Besitz dieses Gemäldes? War Gottfrieds Vater Profiteur von NS-Raubkunst? Und wie soll er den letzten Willen von Hermann erfüllen, den wahren Besitzer von “Waldinneres” zu finden? Eine Suche auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte und in den düsteren Kapiteln seines Heimatlandes entpuppt sich als schwierig. Und als wahrer Krimi.

So viel zur Handlung der vorliegenden kompakt gehaltenen Novelle, in der sich die spanische Kulturjournalistin Monica Subietas mit den Themen Judenverfolgung und NS-Raubkunst auseinandersetzt. Zunächst, das titelgebende Gemälde gibt es tatsächlich.

Der Maler Gustav Klimt schuf es 1881 und war mit seinen Werken einer der Künstler, deren Objekte sich später die Nationalsozialisten auf ihren Raubzügen quer durch Europa aneigneten, welche in Folge entweder in Privatarchive oder Sammlungen wiederfanden, deren Spuren sich über das Kriegsende hinaus verlor und bis dato teilweise noch immer nicht restituiert sind. Dieses Szenario gestreift hat die Autorin einen sogreichen Roman verfasst, der durchaus ein Erzähltempo erzeugt, dessen Sog man sich nicht entziehen kann.

Eingerahmt durch Zeitsprünge erleben wir die Haupthandlung in unserer Gegenwart, die zunächst unscheinbar daherkommt und mit deren Hilfe alle Figuren, auch die aus der Vergangenheit nach und nach ihre Konturen bekommen. Nicht alle gleichermaßen, vieles bleibt im Waagen. Nur langsam lüftet sich der Schleier für den Hauptprotagonisten, der sich schnell innerhalb eines Spiels findet, welches er kaum noch kontrollieren kann.

Verschiedene kurz gehaltene Perspektivwechsel tun ihr übriges dazu, der Handlung eine gewisse Dynamik zu verleihen, die jedoch an mancher Stelle nicht ganz stimmig in ruhige Fahrwasser gerät. Subietas hat hier Potential nicht zur Gänze genutzt, um so erstaunlicher ist es, dass dennoch keine unlogischen Brüche oder Wendungen existieren.

Viel mehr Ausschmückung an Details hätten einzelnen Figuren und Szenen gut getan, wobei Auslassungen an vielen Stellen dann doch funktionieren. Die Tonalität indes bleibt zumeist ruhig. Die Thematik indes ist fast ein Alleinstellungsmerkmal oder zumindest selten für eine Romanhandlung, weshalb “Waldinneres” dennoch lesenswert ist.

Subietas’ Stärke liegt in der Ausgestaltung ihres Hauptprotagonisten, dessen innere Zerrissenheit sich in allen Facetten der Handlung widerspiegelt, wogegen die Antagonisten nicht gänzlich der einen oder anderen Seite zuzuordnen sind. Die Autorin scheint die Zwischentöne zu lieben, was durchaus Wirkung zeigt. Auch atmosphärische Ortsbeschreibungen lassen Bilder vor dem inneren Auge entstehen und geben so der Erzählung zusätzlich Konturen. Logikfehler sind, wenn vorhanden, zu überlesen.

Das gesamte Konstrukt wirkt im Zusammenspiel mit einer überraschenden wende beinahe am Ende des Textes, der in kompakt gehaltene Kapitel aufgegliedert ist, zudem helfen die oben beschriebenen Punkte, sich dies alles vorzustellen. Auch das Grundthema trägt seinen Teil zur Spannung bei. Hier wäre dennoch etwas mehr Tiefe wünschenswert gewesen.

Der Roman “Waldinneres” ist lesenswert und kann durchaus als Ansatz genommen werden, sich einmal mit dem Wirken Klimts sowie der verschlungenen Thematik NS-Raubkunst zu beschäftigen, die bis in unsere Zeit hineinwirkt und noch immer nicht aufgelöst wird, dank des verborgenen Teils der Kunstwelt, der Verschwiegenheit von Banken und auch dem Unwillen staatlicher Institutionen, sich mit den dunklen Flecken der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Mit ihrem Debüt stößt Monica Subietas durchaus gekonnt einen Keil hinein und damit eine Diskussion an, die viel beharrlicher geführt werden muss.

Trotz seiner Schwächen ist alleine deshalb “Waldinneres” daher sehr lesenswert.

Autorin:

Monica Subietas wurde 1971 in Barcelona geboren und ist eine Kulturjournalistin und Autorin. Die in Zürich als Editorial Designerin tätige arbeitet in der Leseförderung und spricht mehrere Sprachen fließend. “Waldinneres” ist ihr erster Roman.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Monica Subietas: Waldinneres Read More »

Helene Yalden: Trifilij, seine Frau Tatjana und seine Töchter Marseillaise und Felitsata

Inhalt:
Die außergewöhnliche Geschichte einer Familie, deren Mitglieder mit ungewöhnlichen Namen gesegnet waren. Zusammen mit den Charakteren der Erzählung durchleben wir über einen Zeitraum von fast 100 Jahren glückliche und tragische Momente im Leben mehrerer Generationen und werden Zeugen wichtiger historischer Ereignisse. Familiengeschichten, die in der Familie von Trifilij von Generation zu Generation weitergegeben wurden, haben Einfluss auf die Nachkommen – auf ihren Charakter und ihren Blick auf die Welt. Es ist so wichtig, die Verbindung zwischen den Generationen innerhalb einer Familie aufrechtzuerhalten! (Klappentext)

Rezension:

Eine Zeitreise hinein in das Auge des Sturmes, von dessen Mittelpunkt man die Brüche und Wendungen zum Guten, aber eben auch zum Schlechten betrachten kann, mit der Sicherheit des Jetzt, macht die Autorin und erzählt von stürmischen Zeiten und glücklichen Momenten, vor allem aber von ihrer eigenen Familie, die sich immer wieder neu einrichten und arrangieren muss. Der sperrig erscheinende Titel stellt zugleich die Hauptprotagonisten vor, deren Wege wir durch die jüngere Zeitgeschichte Russlands begleiten dürfen, vom russischen Bürgerkrieg an, bis zu den Punkt, an dem die Autorin selbst zur Protagonistin wird.

Die zuweilen sehr nüchtern, dennoch von Liebe zu den einzelnen Personen durchdrängte Geschichte beginnt beim Familienoberhaupt, der sich für die Ideen des Kommunismus begeistern kann und an der Seite Stalins wiederfinden, ein Drahtseilakt, der ihn später indirekt zu Fall bringen wird und wandelt dann perspektivisch zu den starken Frauenfiguren der Familie, die diese nach ihm dominieren werden. Aus drei Perspektiven, eingerahmt von einer Art Vor- und Nachbetrachtung der Autorin selbst, wird erzählt, jede in ihrer sehr eigenen Tonalität. Anfangs wirkt der Text dadurch gewöhnungsbedürftig, so bald man hineinkommt, eröffnet sich jedoch ein großes und vor allem vielschichtiges Panorama.

Trotzdem wird man durch die den Perspektiven zugrundeliegenden Unterschiede zu einem Teil des Textes mehr Zugang finden als zu den anderen, zudem wenn bestimmte Begrifflichkeiten einfach nicht geläufig sind. Dem hat Helene Yalden jedoch Abhilfe geschaffen. Ein Glossar erleichtert die Lektüre und Einordnung, ein Fototeil am Ende dieser Familienbiografie tut das Übrige zur Auflockerung. Über allem stehen die Fragen, was macht die Vergangenheit, was machen die Entscheidungen unserer Vorfahren mit uns, was verbindet uns, was unterscheidet? Was zieht sich durch mehrere Leben innerhalb einer Familie? Was folgt daraus? Und was sagt dies auch über Region und Menschen aus? Was ist eigentlich Heimat? Ein Land, eine Region, etwas Unbestimmtes in uns selbst?

Große Fragen zwischen den Zeilen, auf die es vielleicht keine eindeutige Antworten gibt. Die Autorin dürfte diese für sich zumindest gefunden haben, eingebunden in detailreich geschilderten Alltagsbeschreibungen, Traditionen, hervorzuheben die Gefühlsbeschreibungen, die punktuell gesetzt, doppelt nachhallen. Das muss man mögen, dann hat man auf mehreren Ebenen durchaus eine gewinnbringende Lektüre.

Autorin:

Helene Yalden wurde in Russland geboren und lebt seit 1995 mit ihrer Familie in Deutschland. Die Verlegerin und Autorin ist Naturwissenschaftlerin und Verfasserin mehrerer naturwissenschaftlicher Publikationen.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Helene Yalden: Trifilij, seine Frau Tatjana und seine Töchter Marseillaise und Felitsata Read More »

Max Richard Leßmann: Sylter Welle

Inhalt:
Ein allerletztes Mal wollen Oma Lore und Opa Ludwig ihren Lieblingsferienort Sylt besuchen, gemeinsam mit ihrem Enkel Max. Drei Tage. Zwei Generationen. Eine Insel. Und die Frage: Würden wir unsere Familienangehörigen auch lieben, wären sie nicht mit uns verwandt?
(Klappentext)


Rezension:

Wie wird es sein, der voraussichtlich letzte Urlaub, zusammen mit den Großeltern, zudem nach längerer Zeit des Nichtsehens? Verändert haben sollen sie sich, sagt sein Bruder zu ihm. Zum Guten oder zum Schlechten, haben sie abgebaut? Fordert das Alter von ihnen, die die Familie einst dominierten nun ihren Tribut?

Fragen, die zunächst unbeantwortet bleiben müssen, der Autor aber freut sich zunächst einmal auf das Zusammentreffen und die gemeinsamen Tage auf Sylt, mit Opa Ludwig und Oma Lore. Eine Reise, mit der er auf liebevolle, wie skurrile Momente zurückblicken wird.

Was macht es mit uns, wenn die die wir lieben, ihre Dominanz und Kraft verlieren, die, die wir einst von ihnen abhängig gewesen sind, nun die Rolle der Helfenden annehmen müssen? Max Richard Lehmann beschreibt mit “Sylter Welle” den Moment, an dem dieser Punkt längst schon Faktum, die Schwere, diesen anzunehmen, aber immer noch vorhanden ist. Rückblicke helfen dabei, das Denken an liebevolle Gesten, aber auch Äußerungen, die man einmal als Kind hinnehmen musste, erst später einordnen konnte.

Es ist kein Roman, kein Sachbuch, auch keine Familienbiografie, die hier vorliegt, kein Buch, welches mit Melancholie und Schwere vollgesogen ist, wie die Apfelringe, die längst ihre Weichheit verloren haben und zusammen mit Zucker eine kompakte Masse ergeben, immer noch essbar.

Jede Zeile ist getränkt voller Liebe, eine Aneinanderreihung von Anekdoten, ruhig, besonnen, ohne Groll und nicht zu hart gegenüber der älteren Generation oder sich selbst. Max Richard Leßmann ist dabei ein genauer Beobachter, hält die im Strandkorb sitzende Oma Lore ebenso fest, wie die Marotten des Großvaters.

Der Urlaub als Punkt, gemeinsame Momente in den Erinnerungen abzuspeichern, bevor sie aus dem familiären Gedächtnis verschwinden. Bevor der Strandkorb sprichwörtlich abbrennt oder jemand der Angestellten merkt, dass sich statt der angemeldeten zwei noch ein dritter Gast im Hotelzimmer einquartiert hat. Unbezahlt natürlich.

Eine Hommage an die Großeltern, wie sie wohl viele von uns erbringen können, Kindheitserinnerungen kulminiert in Form von einer klebrigen Süßigkeit. Auch dazu gibt es wohl für uns lesend äquivalente Punkte. Eine Frage vielleicht bleibt am Ende. Für wen nun ist dieses Buch? Wahrscheinlich am allermeisten für den Autoren selbst. Und für andere, die ebenso eine Oma Lore und einen Opa Ludwig haben oder hatten.

Wer sind wir also ohne oder mit unseren Großeltern? Was macht das mit uns? Und mit ihnen? Manchmal ist ein Urlaub der perfekte Zeitpunkt, darüber zu reflektieren. Verpassen wir ihn nicht.

Autor:

Max Richard Leßmann wurde 1991 in Paderborn geboren und ist ein deutscher Sänger und Autor. Als Schüler gründete Leßmann zusammen mit Freunden eine Indie-Rock-Band, solo trat er erstmals 2017 in Erscheinung mit “Liebe in Zeiten der Follower”. Sein gleichnamiger Gedichtband erschien 2022 bei Kiepenheuer & Witsch. Leßmann lebt in Berlin, betreibt zusammen mit seiner Frau einen Podcast und schreibt zudem Songtexte für u. a. Ina Müller und der Band Madsen.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Max Richard Leßmann: Sylter Welle Read More »

Alex Schulman: Endstation Malma

Inhalt:
Ein Zug fährt durch eine Sommerlandschaft. An Bord: ein Ehepaar in der Krise, ein Vater mit seiner kleinen Tochter, eine Frau, die das Rätsel ihres Lebens lösen will. Sie alle fahren nach Malma, einem kleinen Ort, wenige Stunden von Stockholm entfernt, umgeben von Wäldern. Und keiner von ihnen weiß, wie ihre Schicksale verwoben sind und was sie in Malma erwartet. (Klappentext)

Rezension:

Zeitebenen, aneinandergereiht wie Waggons eines Zuges, sind es, die wir verfolgen, während wir den Spuren der Protagonisten des neuen Romans von Alex Schulman verfolgen, der in einer Mischung aus Fiktion und faszinierenden Psychogram wieder einmal eine eindrückliche Erzählung aufmacht.

Nicht ganz einfach ist sie, diese Geschichte, in der wir die Figuren bis zu ihren jeweiligen Wendepunkten verfolgen. Alles läuft und entscheidet sich im fiktiven Ort Malma, wenige Stunden von Stockholm entfernt. Ein Ehepaar am Scheideweg, eine Frau auf der Suche, eine Tochter dazwischen, sie alle haben Fragen. Wird ihnen jemand diese beantworten können? Werden sie sich, teilweise selbst, überwinden?

Alex Schulman gehört zu den wohl faszinierenden zeitgenössischen Autoren Schwedens, die außerhalb des sonst so klischeehaft beliebten Krimi-Genres brillieren, schafft er es in seinen Romanen eigene Dramen mit Fiktion zu verweben. Dies gelingt so gut, dass man sich im Norden Europas zuweilen fragt, welche Szenarien quasi Erlebten entsprechen und was frei erfunden ist, macht die Erzählung zuweilen jedoch nicht immer in Gänze zugänglich.

Schwierig hineinzufinden ist es in den Text, in dem die Figuren sofort mit ihren Ecken und Kanten auffallen. Nicht einmal das Kind wirkt von Beginn an bedingungslos sympathisch, zudem sehr bald das große Thema Depression dunkle Wolken am schwedischen Firmament aufziehen lässt. Wortgewandt vermag das der Autor zu beschreiben, immer tiefer droht man dann doch zu versinken. Darauf sollte man sich nur einlassen, wenn man nicht dazu neigt, sich allzu sehr hinunterziehen zu lassen.

Leicht ist etwas anderes. Schon die Zeitebenen machen es nicht unbedingt leicht, den Überblick zu wahren, die Protagonisten tun ihrerseits das Übrige. Sie streben voneinander weg, kommen doch nicht voneinander los. Ein Familiendrama in drei Akten, auf unterschiedlichen Ebenen, bei denen man sich die Haare raufen und die Figuren eine nach der anderen schütteln möchte. Ohne zu wissen, ob man enttäuscht, wütend oder einfach nur genervt ist.

Landschaftsbeschreibungen indes kann der Autor so, wie er auch Figuren ausgestaltet, jedoch ohne Meta-Ebene. Orte, sei es nun der Bahnsteig, das Innere des Waggons oder auch Wohnungsszenen sind sehr plastisch beschrieben. Genau so stellt man sich das alles vor. Hier gelingt das Spiel mit der Sprache. Einzelne Sätze sind es, wie auch bei “Die Überlebenden”, die sich einbrennen.

Wer einmal etwas anderes als das lesen möchte, was man sonst aus dem skandinavischen Raum bekommt, ist auch mit dieser Erzählung von Alex Schulman gut bedient, wenn auch Schönheitsfehler in der B-Note diesen Roman nicht an das zuerst ins Deutsche übersetzte Werk heranreichen lassen. Dazu ist “Endstation Malma” etwas zu sperrig. Wie auch die Figuren ist diese Erzählung sehr eigen. Darauf muss man sich einlassen wollen. Nur so funktioniert es.

Autor:
Alex Schulman wurde 1976 in Hemmesdygne, Schweden, geboren und ist ein skandinavischer Schriftsteller, Journalist und Blogger. Er schreibt für diverse TV-Shows und startete im Jahr 2006 einen Blog, zudem für diverse Zeitungen und Magazine Beiträge, zuletzt moderierte er eine TV-Sendung und startete 2012 einen eigenen Podcast.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Alex Schulman: Endstation Malma Read More »

Angela Findlay: Im Schatten meines Großvaters

Inhalt:

Als die in England aufgewachsene Angela Findlay im Rahmen eines Kunstprojekts ein Gefängnis betritt, hat sie sofort das unerklärliche Gefühl,als ob sie dorthin gehörte. Jahrelang hatte sie mit einem diffusen Schuldgefühl in sich gerungen. Doch nun beginnt sie, nach den Ursachen zu forschen,und so entsteht ein immer detaillierteres Bild von Nazi-Deutschland und vom Leben ihres toten Großvaters, eines hochdekorierten Generals der Wehrmacht. (Klappentext)

Rezension:

Immer detailreicher werden die Erkenntnisse, die sich aus den Forschungen generationsübergreifender Traumata ergeben, doch noch wird dieses Phänomen anhand zu weniger Perspektiven beleuchtet. Inzwischen gibt es Bücher, in denen die Nachfahren von Migranten darüber berichten, schon früh hingegen erschienen die Erfahrungen der Nachfahren Holocaust-Überlebender. Nun ist mit “Im Schatten meines Großvaters” der Blick um eine faszinierende Facette ergänzt worden.

Da sind zunächst einzelne Bemerkungen seitens der Mutter, Momente der Kindheit und eine Art Wissen, auf die sich die Autorin keinen Reim machen kann, doch erlebt Angela Findlay im Rahmen der von ihr gestalteten Kunst-Projekte zunächst, was Verarbeitung bei anderen Menschen bewirkt. Erst später beginnt sie die Hintergründe ihrer eigenen Gefühle zu recherchieren und macht sich auf eine Reise durch die Vergangenheit ihres Großvaters.

Den Blick voller Wohlwollen war da immer die Frage, wie viel wusste der General vom Grauen des Holocaust hinter der Front, in wie fern war er selbst beteiligt? Hat er weg gesehen, mitgemacht oder, bestenfalls, dagegen Widerstand geleistet? In der Hoffnung auf letzteres recherchierte die Autorin quer durch Europa auf der Suche nach Antworten, legt Schicht um Schicht ein Bild voller Grauschattierungen frei und kommt damit auch ihren eigenen Gefühlen immer näher.

Diese psychologische Reportage ist faszinierend zu lesen, allein fehlt manchmal die Einordnung eines fachlichen Historikers, doch in Ergänzung zu anderer Literatur ist auch dieses Buch unglaublich wertvoll. Was hier gut nachzuvollziehen ist, ist die innere Zerrissenheit Findlays, was sich auch auf andere übertragen lässt, die sich mit vererbten Traumata herumschlagen müssen. Medizinische Hintergründe werden dabei angerissen, jedoch so, dass es für die Laien unter uns nachvollziehbar bleibt.

An mancher Stelle fehlt eine sachlich-nüchterne Tonalität, an anderen wären detailreichere Ausführungen interessant gewesen. Trotzdem ist diese psychologische Spurensuche ungemein lesenswert. Ich kann sie nur empfehlen.

Autorin:

Angela Findlay wurde 1964 geboren und ist eine Künstlerin und Vortragsrednerin. Sie unterrichtete Kunst in Gefängnissen und war Koordinatorin für Koestler Arts Charity. Daneben beschäftigt sie sich mit den Folgen ungelöster generationsübergreifender Traumata.Sie lebt in England und Deutschland.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Angela Findlay: Im Schatten meines Großvaters Read More »

Thomas von Steinaecker: Die Privilegierten

Inhalt:

In Norwegen beginnt der Winter. Der erste seit vielen Jahren. In einer abgelegenen Hütte muss sich Bastian eingestehen, dass er zu alt ist, um dort zu überleben. Anstatt zur weit entfernten Siedlung aufzubrechen, beginnt er, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Mit seiner Kindheit in den 90ern zwischen Star Wars, Magnum-Eis und Lichterketten gegen Rechts. Der Zeit als junger Vater und der Herausforderung, Familie, Karriere und eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Und mit den Jahren in der geschützten Wohnsiedlung in der Nähe Münchens, in denen die Welt immer bedrohlicher wurde.

(Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Der neue Roman von Thomas von Steinaecker ist das vielschichtige Porträt unserer Gegenwart in all ihren Widersprüchen. Vor allem aber auch: eine bewegende Geschichte von Liebe und wahrer Freundschaft.

Angaben des Verlags

Das meint zumindest der Verlag, doch zunächst begegnen wir den Protagonisten am Ende der Welt, der Einsam- und Unerbittlichkeit des kargen und unerbittlichen norwegischen Winters ausgesetzt. Bastians Vorräte gehen zu Neige. Er weiß, wenn nicht bald etwas passiert, ist sein Ende nicht weit. Zeit zurückzublicken, zu resümieren, ist genug vorhanden.

Bastian, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Dinge um ihn herum zu katalogisieren und fernab aller Menschen zu leben, beginnt aufzuschreiben, was einst geschah. Von den ersten Kindheitserinnerungen an bis hin zum Zeitpunkt, der alles veränderte.

Nachdem der Rahmen so festgelegt ist, schlittern wir lesend in eine Mischung aus Generationen- und Familienroman, Gesellschaftskritik und Dystopie, die zu gleichen Teilen ausufernd wie beinahe nichts sagend erzählt wird. Schon zu Beginn der eigentlichen Erzählung beschleicht einem das Gefühl, hier wollte jemand möglichst viele Seiten füllen, um des Textes Willen. Gleich in den ersten Abschnitten hätte etwas weniger Detailliertheit der Handlung gut getan. So richtig warm wird man damit nie, was um so schwerer wiegt, da der Umfang eines Mammutwerks sich nicht mal eben schnell weglesen lässt.

Dabei hat die Geschichte alles an Potential, greift der Autor doch tief genug in die Nostalgiekiste hinein, zudem funktionieren Familienerzählungen grundlegend immer, wenn sie vor allem aus einer Perspektive heraus beschrieben werden. Doch weder der Ich-Erzähler noch die anderen Protagonisten gewinnen im Verlauf der Handlung an Sympathie.

Manchmal weiß man so gar nicht, an wen man sich denn halten kann, zudem bei einiger Ausgestaltung gehörig Kitsch eingeflossen ist, um mal nur den Mutter-Theresa-behafteten Sohn Bastians zu nennen, der wohl ein Gleichnis zur Letzten Generation darstellen soll oder den Erzähler selbst, der dem Klischee eines Boomers par excellence entspricht. Irgendwann ist’s auch mal gut. Hier oft genug davon viel zu viel. So kann man aber eben auch Gegensätze schaffen. Ein Mitfühlen, mit dem einen oder anderen ist aber nur in einzelnen Momenten gegeben.

So wie Genre und Protagonisten schwer zu fassen sind, bewegen wir uns durch die jüngere Vergangenheit bis hinein in die unmittelbar bevorstehende Zukunft, in der bestehende Gewissheiten auseinander gebrochen sind. Die Veränderungen zu beschreiben, ist Thomas von Steinaecker durchaus geglückt, in dem gewollten Sinne auch logisch, doch möchte man die sich darin bewegenden Figuren durchweg schütteln.

Ein gewisser Spannungsbogen ist allein durch den beschriebenen Zeitstrahl gegeben, auch wenn da leicht überprüfbare Fakten, die eingewoben wurden, schon zu Beginn durcheinander geraten. Dass man sich bei Jahreszahlen vertippt mag ja noch angehen, der Regierungswechsel von Kohl zu Schröder fand im Jahr 1998 statt, nicht zwei Jahre zuvor. Im Kanzleramt saß dann aber letzterer und nicht Joschka Fischer. Gerade solche Sachen sollten spätestens im Lektorat auffallen. Es bleibt zu hoffen, dass das mindestens mit den kommenden Auflagen oder der Taschenbuchausgabe korrigiert wird.

Der Protagonist resümiert und verliert sich in vielen Details, die uns gleichsam den Spiegel vorhalten, aber keinen Anker zum Festhalten geben. Dennoch gelingt es, sich die Welt vorzustellen, sowohl die vergangene als auch die dystopisch erdachte, doch bleiben beide seltsam kalt, selbst wenn man die eine tatsächlich ähnlich empfunden oder erlebt haben mag. Die Figuren berühren kaum, wie auch die Erzählung selbst, die kaum in Bewegung kommt, vor Themen, die der Autor unbedingt mit hineinbringen wollte. Viel ist eben nicht gleich gut.

Autor:
Thomas Freiherr von Steinaecker wurde 1977 in Traunstein geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, Filmregisseur, Hörspielautor und Journalist. Er studierte zunächst in München und in Cincinnati Literaturwissenschaft, bevor er 2006 über literarische Fototexte promovierte.

Währenddessen arbeitete er für verschiedene Zeitschriften und sendete 2007 dem Bayerischen Rundfunk sein erstes Hörspiel. 2007 erschien sein Debütroman, der auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gelang. Weitere Werke wurden u. a. für den Preis der Leipziger Buchmesse oder den Alfred-Döblin-Preis nominiert.

Zudem betätigt er sich als Film- und Theaterregisseur, schreibt Comic-Rezensionen u. a. für die Süddeutsche Zeitung. Seit 2017 ist er Mitglied des PEN.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Thomas von Steinaecker: Die Privilegierten Read More »

Jürgen Meier: Wöbkenbrot und Pinselstrich

Inhalt:

Johannes Becker beginnt 1910 ein Ingenieurstudium in Chemnitz und heiratet kurz darauf. Als er zunehmend der völkischen Ideologie der Nationalsozialisten verfällt, wendet sich seine Frau von ihm ab. Ähnlich zerrissen ist die Familie Meyer in Ostwestfalen. Der Vater Karl nutzt die Machtübernahme der Nazis aus, um sich an jüdischem Eigentum zu berreichern. Sein Sohn Gottfried folgt ebenfalls seiner Begeisterung für die Nazis und zieht in den Krieg. Er lernt Ingeborg Becker kennen und heiratet sie. Aus Krieg und Hitlerzeit hat er nichts gelernt, sein Sohn Georg aber will es besser machen und schließt sich 1970 der Studentenbewegung an. (abgewandelte Inhaltsangabe).

Rezension:

So ausufernd wie einstweilen Thomas Mann muss man gar nicht schreiben, wenn man eine fiktive Familiengeschichte mit all ihren höhen und Tiefen, Wandlungen und innerer Zerissenheit zu Papier bringen möchte, auch nicht, wenn man den Personenkreis erweitert. Jürgen Meier zeigt in seinem Roman “Wöbkenbrot und Pinselstrich” dass das auch anders geht und beschreibt so ganz nebenbei die Herausforderungen, Schrecken und Wandlungen des vergangenen Jahrhunderts.

Der leicht gängige Familienroman wechselt zwischen den Perspektiven und Generationen, beginnt 1910. Fortschrittsglaube manifestiert sich in den neuen Errungenschaften der Technik, Ingenieure werden gesucht. Hoffnungsvoll schaut der junge Johannes, ersterer einer interessanten Reihe von Protagonisten in die Zukunft, noch nicht ahnend, dass bereits dunkle Schatten über Deutschland heraufziehen. Eingenommen von der Figur, deren Enthusiasmus aber auch Unsicherheiten der Autor fein herausgearbeitet hat, steigen wir in die Geschichte ein, die zu einem wahren Wechselbad der Gefühle verkommt. Das Erzähltempo passt sich dem an. Sprünge wechseln sich ab mit nachdenklichem Innehalten.

Der Perspektivwechsel zwischen den Figuren aus den zwei Familien, deren Wege sich kreuzen werden, bringt die Dynamik einerseits, wie auch die beschriebenen Generationswechsel. Jürgen Meier versteht es, die Zeiten greifbar zu machen. Hervorzuheben sind besonders seine Beschreibungen des Konflikts und einzelner Abschnitte, wie etwa die unmittelbare Nachkriegszeit, das Nichtsehenwollen des geschehenen Unrechts, aber auch Anspielungen eben der im Klappentext anklingenden Bereicherung von deutschen Familien an jüdischem Besitz. Hier wirkt die Erzählung besonders bedrückend.

Dabei beschränkt sich der Autor nicht nur auf eine Sichtweise, sondern bringt mit einer Vielzahl an Figuren unterschiedliche Perspektiven hinein, die für eine gewisse Dynamik sorgen, nicht zuletzt für gewisse Exkurse in Kunst und Philosophie, die man vielleicht nicht unbedingt beim Aufschlagen des Romans erwartet. Hier kommt das künstlerische Schaffen des Schreibenden durch, der damit an den richtigen Stellen Ruhe einbringt.

Das kann man als Einlassung nehmen, jedoch auch als Meta-Ebene für die jeweils beschriebene Zeitepoche, muss man jedoch mögen. Hier wird wichtig, wie und als was man diesen Roman lesen möchte. Konzentriert man sich auf die Familiengeschichte, setzt den Fokus eher auf die Beschreibungen gesellschaftlichen Wandels oder hat Freude an Kunst und Philosophie? Für jeden ist etwas dabei. So klar habe ich das bisher jedoch nur selten gelesen.

Das Werk orientiert sich am historischen Verlauf der jüngeren Geschichte, so dass Wendungen allein durch das Denken und Handeln der einzelnen Figuren entstehen. Sprachlich wird man zudem über den Dialekt des Östwestfälischen Platts stolpern, in dem einzelne Sätze und Passagen formuliert sind. Sicher eine besondere Herausforderung für das Lektorat, welches wahrscheinlich jedes Wort nachschlagen musste. Für uns Lesende gibt es jedoch eine Art Glossar hintenan mit der Übersetzung ins Hochdeutsche.

Die Protagonisten, mit all ihren Ecken und Kanten, sind nachvollziehbar. Niemand ist hier durchgängig Sympathieträger. Perfektionismus gibt es im realen Leben nicht. Entscheidungen und Handlungen, oft genug die falschen, sind es, die uns zudem machen, was wir sind. Wusste schon Dumbledore aus den Romanen um Harry Potter. Hier gilt das auch. Nicht nur das macht Lust auf mehr. Man darf auf Fortsetzungen gespannt sein.

Ach so, was ist jetzt nun eigentlich Wöbkenbrot? Vielleicht so viel, eine Spezialität, unter der vor allem Menschen aus Ostwestfalen zu leiden haben. Aber hat nicht jede Region, die an kulinarischer Abstrusität kaum zu überbieten sind? Wer genießen möchte, bleibt vielleicht besser bei dieser Erzählung.

Autor:

Jürgen Meier lebt in Hildesheim und ist ein deutscher Schriftsteller und Dokumentarfilmer. Er schloss 1973 ein Studium “Intermedia” in Bielefeld ab und arbeitete anschließend als PR-Werbechef am Stadttheater Hildesheim. Er gründete die Werbeagentur Aickele & Meier. Seit 1997 ist er selbstständiger Autor und Journalist. Von ihm liegen Theaterstücke, Buchveröffentlichungen und Theaterstücke vor.

Jürgen Meier: Wöbkenbrot und Pinselstrich Read More »

Jule Paul: Taschen voller Sand

Inhalt:

Endlich wieder Zeit für die Familie, denkt Johann, Mitte 60 und beruflich erfolgreich als Anwalt tätig. Wie in den Jahren zuvor geht es mit der Familie nach Österreich. Was als glückliche Ferienzeit beginnt, entwickelt sich von Tag zu Tag problematischer. Ausgelöst durch eine zufällige Begegnung mit einem 11-jährigen Jungen, beginnt er über das eigene Leben nachzudenken. Der Ansturm der Erinnerungen wird mächtiger, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit intensiver. Warum ist er der Mittelmäßigkeit seines Alltags nicht entflohen? Warum holt ihn gerade jetzt die eigene Mutlosigkeit ein? Auch mit Mitte 60 muss es nicht zu spät sein. (angepasster Klappentext)

Rezension:

Ja, was soll ich sagen? Ich habe mich wieder einmal auf ein literarisches Gebiet begeben, mit dem ich mich nach wie vor schwer tue. Nur, weil ich beratungsresistent gegenüber meinen eigenen bisher gemachten Erfahrungen bin, die ich damit schon gemacht habe und weil es zufällig in meiner Buchhandlung erhältlich war. Ich habe mit “Taschen voller Sand”von Jule Paul tatsächlich ein Selfpublishing-Werk gelesen.

Selfpublishing krankt meines Erachtens oft genug daran, dass zwar die Schreibenden schnell zu einer Veröffentlichung kommen, jedoch an den falschen Ecken und Enden gespart wird. Vor allem das Lektorat bleibt dabei oft auf der Strecke, von der Suche nach Logikfehlern einmal ganz abgesehen. der Hintergedanke, dass es schon Gründe haben wird, warum eine Geschichte keinen Verlag findet, schwebt als Gedanke immer mit. Bei mir. Hier haben wir jedoch eine Erzählung vorliegen, die ohne großartiges World-Building auskommt, Protagonisten als Dreh- und Angelpunkt beinhaltet, wie wir sie alle aus dem realen Leben kennen und eine geschichte, wie sie so oder ähnlich tatsächlich passieren kann.

Hauptprotagonist ist Johann, Mitte sechszig, ein erfolgreicher Anwalt, der den Urlaub mit seiner Familie, wie in jedem Jahr, in der österreichischen Bergwelt zwischen Wanderungen und Hotelpool verbringen möchte. Seine Frau, Tochter und der farblose Schwiegersohn mögen diese berechenbaren Ferien, wenigstens aber seinem Enkel möchte Johann aus der Gleichförmigkeit ziehen und eine gemeinsame Basis schaffen, wozu es außerhalb des Urlaubs bisher nicht genug Gelegenheit gegeben hatte. Dabei treffen beide auf dem elfjährigen Lasse, der allein durch seine Anwesenheit alle Gewissheiten des gestandenen Mannes zum Einsturz bringt. Johann beginnt sein Leben zu überdenken. Welche Schlüsse wird er ziehen?

Die Hauptfigur ist fascettenreich gestaltet, dazu im Kontrast stehend, die anderen Protagonisten beinahe farb- und kontrastlos. Diese Gegensätze wirken zu Teilen sehr gewollt, zum anderen wie der Mehltau eines Vorabendfilms des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. das muss man mögen, wenn man sich auf diese Erzählung einlässt, kann sich dann zurücklehnen und berieseln lassen. Die Sympathien liegen von Beginn an bei nur wenigen Personen, die den vorhersehbaren Handlungsstrang tragen.

Das ist nicht schlecht geschrieben, ein Lektorat hat diese Geschichte wohl gesehen, dennoch möchte man einige Figuren gerne gewaltsam aus ihrer gleichförmigkeit herausnehmen und schütteln. Sehr schön, dass sich die Autorin hier für eine kompakte Erzählweise entschieden hat und einem halb offenen Ende, um nicht noch einen sehr kitschigen Schluss verfassen zu müssen. Diese Zurücknahme tut gut. Ansonsten ist die Melancholie der vepassten Chancen die bestimmende Thematik. Weiter passiert nicht viel. Eine Erzählung wie ein kleines Bergdorf. Überschaubare Gipfel, große unerreichbare Berge. Betulichkeit. Man erwartet nichts. Das bekommt man.

Autorin:

Jule Paul wurde 1961 geboren und arbeitete als Kellnerin, Buchhändlerin und Sekretärin, bevor sie Rechtswissenschaften studierte. Heute arbeitet sie als Juristin in Berlin.

Jule Paul: Taschen voller Sand Read More »

Michel Bergmann: Alles was war

Alles was war Book Cover
Alles was war Michel Bergmann Verlag: dtv Taschenbuch Seiten: 127 ISBN: 978-3-423-14457-5

Inhalt:

Ein alter Mann beobachtet heimlich ein Kind. Wie der Zehnjährige morgens zur Schule geht, wie er zu Hause am Bett des kranken Vaters sitzt, der das KZ überlebt hat. Wie der Junge ›Moby Dick‹ liest, am Zeitungsstand neben ›Quick‹ und ›Revue‹ die Comics entdeckt, im Café Kranzler Kakao trinkt.

Wie die Jahre vergehen, das Kind zum Mann wird und gegen die übermächtige Mutter aufbegehrt, während das Land sich allmählich verändert und doch stets mit seiner dunklen Vergangenheit wird leben müssen. Wer ist der Alte, der so viel über das Leben des Jungen weiß? Eine Geschichte voller Magie über eine Jugend in Deutschland nach dem Krieg.(Amazon Text)

Rezension:

Hier einmal eine biografische Erzählung aus ganz besonderer Perspektive. Michel Bergmann beobachtet sich selbst als Kind, dass in Frankfurt am Main aufwächst, der Finanzmetropole, die sie später werden sollte. Noch aber sind die Nachwehen des letzten Krieges zu verdauern.

Michel und seine Freunde spielen in Trümmern und fast jede Familie hat Verluste zu beklagen. Nicht nur Michel als Kind jüdischer Eltern hat Verluste zu beklagen. Doch, das Leben muss weitergehen. Die Mutter versorgt den kränkelnden Vater, der schließlich an den Folgen von KZ und Gestapo-Folter stirbt und baut sich nebenher ein Geschäft auf, um die Familie zu versorgen. Der Junge ist ihr Ein und Alles. Überbehütet und streng erzogen. Ihr einziger Grund weiterzuleben.

Michel, der Junge, geht zur Schule und beobachtet seine Umgebung. Die wenigen Besuche im Cafe Kranzler, das Spielen mit Freunden, schreckliche und inspirierende Lehrer und nicht zuletzt die bevorstehende Bar Mizwa, aufregende Höhepunkte eines an sich glücklichen Lebens, zumindest an der Oberfläche.

Darunter brodelt es gewaltig. Der Junge bekommt mit, mit den Jahren immer mehr, was die Erwachsenen vor ihm zu verbergen suchen. Familiäre wie wirtschaftliche Probleme als die Firma der Mutter ins Trudeln gerät, der immer noch schwelende Antisemitismus unter Lehrern und anderen Autoritätspersonen und später, schon als Volontär bei der Frankfurter Rundschau die Auschwitz-Prozesse. Angestoßen durch Generalstaatsanwalt Fritz Bauer.

Eine beeindruckende Biografie, schon als Kind vorzuweißen, schaffen nur wenige oder gerade die, die beeindruckend erzählen können. Michel Bergmann schafft dies, nicht zuletzt durch die Erzählperspektive als sich selbst beobachtender Beobachter.

Auf wenigen Seiten kurz gefasst, die einzelnen Kapitel lassen sich flüssig und schnell lesen, amüsant und abwechselnd nachdenklich melancholisch, dann wieder kritisch zu sich selbst und seiner Familie.

Er zeigt auf seine Umgebung mit den damaligen Augen eines Kindes, welches erst behütet durch die Eltern, sich später beginnt seinen Platz zu erobern. Wenn auch nicht immer freiwillig aber in jedem Fall empfehlenswert zu lesen.

Autor:

Michel Bergmann wurde 1945 als Kind jüdischer Eltern in einem Internierungslager in der Schweiz geboren und wuchs in Paris und Frankfurt/Main auf.

Nach dem Abitur machte er eine Ausbildung zum Journalisten bei der Frankfurter Rundschau, danach arbeitete er als freier Journalist. Er arbeiete als Autor, Regisseur und Produzent und begann Drehbücher zu schreiben. Seine Trilogie über jüdisches Leben in Frankfurt am Main der Nachkriegszeit wurde ein promter Erfolg.

Michel Bergmann: Alles was war Read More »