Zürich

Daniel Lee: Der Sessel

Inhalt:

Ein unglaublicher Fund: In einem Sesselpolster werden Jahrzehnte nach Kriegsende persönliche Papiere des SS-Offiziers Robert Griesinger entdeckt. Wie kamen sie dorthin? Wer wollte sie verstecken? Der Historiker Daniel Lee nimmt den Faden auf und begibt sich auf eine abenteuerliche Recherchereise. Nach und nach setzt er aus einzelnen Puzzleteilen ein ganzes Leben zusammen und schildert, wie aus einem pflichtbewussten Beamten und Familienvater ein ganz normaler Täter werden konnte. Eine fesselnde Erzählung über Schuld und Verantwortung, Erinnern und Vergessen. (Klappentext)

Rezension:

Was die oberen Hierarchie-Ebenen der für den Zweiten Weltkrieg und des Holocausts verantwortlichen Akteure betrifft, ist die Verarbeitung der Geschehnisse und ihrer Folgen weit vorangeschritten, wenn auch dieser fortlaufende Prozess nie ganz abgeschlossen sein wird. Anders sieht es mit der Betrachtung derer aus, auf die sich das NS-Regime stützen konnte.

Warum unterstützten tausende Menschen ein System der willkür, Unterdrückung und des Unrechts? Wie viel wussten die Schreibtischtäter, die vielleicht nicht selbst mordeten, jedoch Befehle bekanntmachten, Verordnungen umsetzten? Was konnte der Einzelne bestimmen und wo entzog sich den Beamten, behördlichen Angestellten die Kontrolle? Wie nutzten die Nationalsozialisten die Menschen für sich?

Ein loser Stapel Dokumente, eingenäht im Stoffpolster eines Sessels, machte den britischen Historiker Daniel Lee neugierig? Zu wen gehörten die Papiere? Wer war der Mensch hinter den Schriftstücken? Warum wurden diese versteckt? Welche Geschichte können diese noch erzählen und wie viel Recherche ist notwendig, um die einzelnen rätselhaften Teile zusammen zu setzen? Herausgekommen ist ein zweiteiliges Porträt, eines über die Person Robert Griesinger, dessen Leben der Autor nachspürt, zum anderen eines über die Arbeitsweise des Historikers selbst.

Verwoben erzählt Lee in diesem Sachbuch mit sehr unscheinbaren Titel, wie ein diffuses Bild immer klarer an Kontur gewinnt und beantwortet dabei nach und nach die zu Eingang gestellten Fragen, nach den unteren Ebenen, auf die sich die Nationalsozialisten stützen konnten, aber auch, welche Rechercheleistung notwendig ist, um den Fragestellungen zu ihren komplexen antworten zu verhelfen und wo die Grenzen für einen Historiker liegen, selbst wenn der Gegenstand verhältnismäßig jüngere Geschichte darstellt.

Sehr kleinteilig beschreibt der Autor seine Suche, die der Leserschaft Konzentration abverlangt, dieser zu folgen, jedoch nicht langatmig daherkommt. Lee weiß spannend zu erzählen, jedoch sachlich zu argumentiere und Fragen, nicht nur der Nachfahren der Person Robert Griesinger, zu beantworten. Auf diesen Ebenen ein wichtiger Beitrag zur weiteren Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und Holocausts, aber auch wichtig, um Laien zu verdeutlichen, wie wichtig die Arbeit von Historikern ist, v. a. wie sie funktioniert.

Autor:

Daniel Lee ist ein britischer Historiker, dessen Forschungsschwerpunkte der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, die Geschichte der Juden in Frankreich und Nordafrika darstellen. Nach seiner Promotion lehrte er u.a. in Yad Vashem und am United States Holocaust Memorial Museum. Derzeit unterrichtet er in London und verfasst regelmäßig Beiträge für die BBC.

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Ulrike Ulrich: Während wir feiern

Während wir feiern Book Cover
Während wir feiern Ulrike Ulrich Piper/Berlin Verlag Erschienen am: 06.07.2020 Seiten: 272 ISBN: 978-3-8270-1408-5

Inhalt:

Ein einziger Tag. Symbolisch aufgeladen. Während die einen feiern, kämpfen andere um die Existenz. In ihrem kaleidoskopartig aufgebauten Roman erzählt Ulrike Ulrich klug, anspielungsreich und mit großem Witz von dem, was hier und jetzt passiert, und davon wie auch kleine Entscheidungen unsere Leben und die der anderen beeinflussen. (Klappentext)

Rezension:

Wie in jedem Jahr feiert die deutsche Sängerin Alexa am Abend des Schweizer Nationalfeiertages ihren Geburtstag mit einer Dachparty, leider noch ohne Einbürgerungsbescheid. Doch, in diesem Jahr scheinen sich die Ereignisse schon vorher zusammen zu brauen und schließlich zu überschlagen.

So beginnt der zunächst ruhig erscheinende Roman, der quasi einer Zustandsbeschreibung der in die Schweiz Eingewanderten gleicht und das nicht zu knapp. Einwanderung, Einbürgerung, Heimat ist das große Thema, Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Ulrike Ulrich legt mit klaren Worten den Finger in die Wunde der Diskussion, zeigt die Ungleichbehandlung verschiedener Suchender auf und verwebt die Handlungsstränge bis hin zu einem großen Finale.

Sprachlich fein gearbeitet, wechseln sich schnelle stakkatohafte Sätze mit langsamen beschaulichen Abschnitten ab, die im Perspektivwechsel die Geschichte um Alexa und ihres Bekanntenkreises erzählen. Die Hauptprotagonisten sind vielschichtig ausgearbeitet, mit all ihren Grautönen und Problemen, die nicht zu kurz abgehandelt werden und doch die Lesenden nicht über Gebühr strapazieren.

Aufhänger dabei ist das traditionelle Guggisberglied, ein Schweizer Volkslied, welches das Thema des sich stetig drehenden Mühlrads zum Ausdruck bringt, welches sich wiederum auf die einzelnen Handlungsstränge übertragen lässt.

Interpretation des Guggisberglieds von Stephan Eichner.

Eigentlich hat er am meisten Angst davor, dass es wächst, wenn er davon spricht. Dass es größer wird. Und es könnte gut sein, dass sie es größer machen wird. Dass ihr Blick, ihre Fragen, ihre Art, damit umzugehen, dazu beitragen werden, dass er es nicht mehr kontrollieren kann. Und was dann?

Aus Ulrike Ulrich “Während wir feiern”, Berlin Verlag, 272 Seiten, ISBN: 978-3-8270-1408-5.

Der Roman selbst ist durch Absätze und Leerzeilen, Perspektivwechsel gegliedert, lässt sich so auch ohne Kapiteleinteilung leicht in kurze Abschnitte gliedern und leicht lesen. Zwar wechseln sich schnell und langsam zu lesende Abschnitte ab, dies passt jedoch zu den jeweilig erzählenden Protagonisten. Deren Handlungsstränge bauen logisch aufeinander auf, laufen erst getrennt und werden nach und nach verknüpft.

Ulrike Ulrich lässt Welten und Sichtweisen aufeinander prallen, zeigt, wie unsere Entscheidungen das Leben anderer Personen beeinflusst und dass jede Feier zu einem “Tanz auf den Vulkan” werden kann, zumal man die Gedanken der Hauptprotagonistin ganz leicht auf die Autorin selbst übertragen kann. Ähnlicher Hintergrund, Migrationsgeschichte, Sozialisierung.

Der Erzählstil lässt dies vermuten, auch ihre gegenteiligen Ansichten zu den rechten Rändern der Gesellschaft, die es auch in der Schweiz mit ihrer direkten Demokratie gibt. So ist dieser Roman ein Stück Literatur, welches die Frage in den Mittelpunkt stellt, welche Entscheidungen wir treffen wollen und warum, mit der Aufforderung den Einfluss dieser auf andere Leben zu überdenken und zu hinterfragen.

Wer nicht so weit denkt, findet dabei immer noch eine schöne, lesenswerte Geschichte, im heutigen Zürich spielend. Und das soll ja nicht unansehlich sein.

Autorin:

Ulrike Ulrich wurde 1968 in Düsseldorf geboren und ist eine schweizerisch-deutsche Schriftstellerin. Zunächst studierte sie Germanistik, Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaft, bevor sie im Bereich Kommunikationslinguistik arbeitete. Nach Aufenthalt in Wien, lebt sie seit 2004 in Zürich. Sie schreibt Prosa, Lyrik, Drehbücher, Kolumnen und Hörspiele, ist zudem als Herausgeberin für Anthologien tätig.

Die Autorin, die 2004 ihr erstes Buch veröffentlichte, ist Mitglied des Schriftstellerverbandes “Autorinnen und Autoren der Schweiz”, sowie des Deutschschweizer PEN-Zentrums. Ulrichs Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit den Walter-Serner-Preis im Jahr 2010.

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