Marseille

Wir haben die Helden so lange gern, so lange die Helden uns verzeihen, dass wir keine Helden sind.

Als Hitlers Wehrmacht Frankreich im Juni 1940 besiegt, finden sich Künstler und Intellektuelle, die aus Deutschland sich einst ins Exil geflüchtet hatten, plötzlich wieder in Gefahr, der sie glaubten, entronnen zu sein. Die Gestapo fahndet zu dieser Zeit nach Heinrich Mann, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden hatten. Uwe Wittstock erzählt in “Marseille 1940” die Geschichten ihrer Fluchten und die des Mannes, der sie ermöglichte. Varian Fry.

findosbuecher (fortan: NH): Am Anfang steht ein Schriftstellerkongress im Jahr 1935? Warum?

Uwe Wittstock (fortan UW): Ich habe mich für das Jahr 1935 interessiert, da Varian Fry in dieser Zeit zum ersten Mal in Deutschland war und dort diese Randale und Ausschreitungen auf dem Kurfürstendamm erlebte. Da war die Überlegung: Die Schriftsteller, die er später gerettet hat, was haben die eigentlich zu dieser Zeit gemacht? So kam ich auf lauter originelle Geschichten.

Das war der Tag, an dem die Ehefrau von Schuschnigg in Österreich beerdigt wurde. Es gibt aber auch das Tagebuch von Feuchtwanger. Da war vom Leben in der “traumhaften Villa in Sanary-sur-Mer mit Blick aufs Mittelmeer” die Rede, aber auch von diesem Schriftsteller-Kongress, wieder ein Treffen von Schriftstellern, und darüber habe mich genauer informiert und festgestellt, dass dort viele Diskussionen aufgebrochen sind.

Dort kam das Thema Victor Serge auf, der kommunistische Schriftsteller, der stalinfeindlich eingestellt war und der während des Kongresses zum Thema wurde, da er quasi schon in einer Art Gulag oder Lager saß. Ich wusste, dass Victor Serge später in der Villa Air Bel mit Varian Fry zusammenleben musste. An dieser Art von Beziehung konnte ich nicht vorbeigehen, das musste ich mit hineinbringen.

NH: Was war Varian Fry für ein Mensch?

UW: Das war kein einfacher Mensch. Fry war sicherlich ein schwieriger Charakter, jemand der mit einem hohen Idealismus versehen war, auch hohen Ansprüchen an sich selbst, aber diesen Idealismus auch von anderen Menschen erwartete. Das ist etwas für uns normale Menschen Unbehagliches.

Wir haben die Helden so lange gern, so lange die Helden uns verzeihen, dass wir keine Helden sind, dass wir in unserer normalen Alltagswelt leben wollen. Und das war in diesem Fall eben nicht so. Er hatte sehr hohe Ansprüche an seine Mitmenschen. Wenn die sagten, da mache ich nicht mit, waren die ihm unangenehm. Das hatte er sie spüren lassen.

NH: Er hat dann mit anderen zusammen die Rettung von Künstlern und Schriftstellern organisiert. Wie hat man ausgewählt, wer gerettet wird, wer außen vor bleiben muss?

UW: Varian Fry war vor allem begeistert von europäischer Avantgarde-Kunst. Er liebte Leute wie Andre Breton, den er später auch rettete, Heinrich Mann, Anna Seghers. Diese waren ihm alle bekannt. Er hatte in Harvard, wo er studiert hatte, eine Zeitschrift herausgegeben, in der er Texte dieser Menschen publiziert hatte. Nun erfuhr er in Amerika, dass viele von denen in Südfrankreich in Gefahr waren, von den Deutschen gefasst, in Konzentrationslager oder umgebracht zu werden.

Zusammen mit Freunden gründete Fry in New York eine Organisation, um Geld zu sammeln, diesen Leuten zu helfen. Dann ging es darum, welchen Intellektuellen, welchen Künstlern, welchen Schriftstellern und Schriftstellerinnen sollten wir helfen? Dafür wurden Menschen befragt, die sich in den verschiedenen Bereichen gut auskannten, in der Theaterwelt, in der Philosophie, in der Kunst, auch in den Naturwissenschaften. So wurden Listen erstellt, wer dringend gerettet werden musste.

Für die Literatur hatte diese Liste Thomas Mann aufgestellt, der natürlich Listen auch von anderen bekam, aber sich natürlich gut auskannte, da ihm viele Exilanten nach Amerika geschrieben und um Hilfe gebeten haben. Diese Leute wurden dann aufgelistet. Zusammen waren das schon über 200 Personen. Mit dieser Liste fuhr Varian Fry nach Marseille.

Anfänglich hatte er gedacht, er bliebe nur vier Wochen, um einige wichtige Menschen zu retten. Er wollte aber vor allem die Organisation aufbauen, die das übernimmt. Fry hatte dann erkannt, dass die Aufgabe zu groß war, aber auch, dass es gerade für ihn als Amerikaner möglich war, viele zu retten, da die Deutschen Amerikaner anfangs noch mit großem Respekt behandelten. So blieb er dann nicht einen, sondern dreizehn Monate geblieben, und rettete nicht 200, sondern fast 2.000 Menschen.

NH: Zunächst fand sich kein anderer, der das machen konnte oder wollte. Fry kommt in Marseille an. Was war das vor Ort für eine Situation?

UW: Im geteilten Frankreich war es so, dass auch in der unbesetzten Zone viele Deutsche, viele Wehrmachtsangehörige und andere unterwegs waren. Es gab z. B. die Kundt-Kommission, die in den Internierungslagern geschaut hat, was für Menschen dort interniert waren. Waren das reichsdeutsche Hitleranhänger, wurden diese befreit und nach Deutschland zurückgeschickt. Waren es aber Gegner, konnte die Kommission die Auslieferung vom Vichy-Regime verlangen und diese Menschen ins KZ verbringen.

Man hatte da sehr genau geschaut, aber es gab auch andere Gefahren für Juden, für Hitler-Feindliche. Oder für Dissidenten, die nicht die richtigen Papiere hatten, mit denen sie sich in Frankreich frei bewegen konnten, sodass sie wieder verhaftet und ins Lager geschickt wurden.

NH: Fry kannte die Situation in Frankreich vorher nicht. Wie fand er die Fluchtrouten? Wie hat er sichergestellt, dass diese funktionierten?

UW: Er konnte sich mit der Situation in Frankreich nicht auskennen, da der Waffenstillstand und die Teilung des Landes erst am 22. Juli vollzogen wurden. Nur zwei Monate später kam er in Marseille an. In der kurzen Zeit gab es keine gesicherten Informationen und auch die Situation in Frankreich hatte sich noch gar nicht geklärt. Fry ist in ein für ihn ziemlich “unbekanntes Gebiet” gefahren.

Das geteilte Frankreich im Juli 1940 (Foto: C. H. Beck)

Er setzte sich dort mit anderen in Verbindung, die ebenfalls versuchten, gefährdete Menschen herauszuholen oder ihnen wenigstens vor Ort zu helfen. Da gab es einen Gewerkschaftler namens Frank Bohn, ein deutschstämmiger Amerikaner, der sich für gewerkschaftlich organisierte und für die SPD-Leute stark verantwortlich fühlte.

Mit dem traf er sich, der hatte ihm gesagt: „mach das mit Schiffen“. Das scheiterte und so blieb nur der Weg über Land, zur spanischen Grenze. Von Frankreich nach Spanien, von dort aus nach Lissabon. Von dort fuhren Schiffe ab.

NH: Wie erfuhren die Exilanten und Flüchtenden von Fry?

Von einigen hatte er Adressen. An diese hatte er Briefe geschrieben, z. B. an Heinrich Mann. Nachdem er geschrieben hatte, sprach sich das innerhalb der Exilanten-Gemeinde blitzschnell herum.

NH: Marseille war aber schon zu diesem Zeitpunkt auch ein Schmelztiegel der Spione. Es gab Zensur, abgefangene Briefe. Warum ging es so lange gut, bei so vielen Menschen, die letztendlich davon wussten?

UW: Am Anfang war Varian Fry sicherlich sehr unvorsichtig gewesen, aber er hatet sehr bald Albert O. Hirschmann kennengelernt, einen Deutschen, der schon in Italien gegen Mussolini gekämpft hatte. Der hatte Erfahrung mit Untergrund-Arbeit und hat, sobald er mit Fry zusammenkam, das Schlimmste verhütet und darauf geachtet, dass der nicht zu unvorsichtig ist.

Varian Fry machte aber auch einen klugen Schachzug: Er hat eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet, die er ganz offiziell bei der Präfektur in Frankreich angemeldet hat, und ein Büro eröffnet, das sog. Centre Americain de Secours, welches die Aufgabe hatte, Geld- und Sachspenden zu verteilen, also Kleider, Lebensmittel.

Damit hatte er eine Fassade, mit der er rechtfertigen konnte, warum so viele Menschen zu ihm kamen. Hinter dieser Fassade hat er aber mit den Leuten, die gefährdet waren, vertraulich gesprochen und versucht, diese aus Frankreich herauszuholen. Auf welchem Wege auch immer.

NH: Es kam dort auch zu Situationen, dass an ihn “Bedingungen” gestellt wurden wie: „Ich geh nicht ohne den oder nur unter diesen Umständen“. Sind das Kurzschlussreaktionen gewesen?

UW: Wenn man z. B. von Familien ausgeht, ist es ziemlich klar, dass man zusammenbleiben möchte. Dann gibt es Solidarität und Loyalitäten, die man auch auf der Flucht nicht verletzt. Das ist das eine. Das andere, wir sprechen z. B. von Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding, der eine Fraktionsvorsitzender der SPD, der Andere Finanzminister zu Zeiten der Weimarer Republik, die waren europaweit bekannt.

Staatsmänner, die sich im ersten Moment darauf verlassen hatten, dass die Vichy-Regierung ihnen Sicherheit zusichert, was diese auch getan hatte, dass sie nicht ausgeliefert werden. Das war ein Fehler. Im Nachhinein sehen wir das ganz deutlich. Schon nach einem Dreivierteljahr hatte das Vichy-Regime sein Wort gebrochen und sie ausgeliefert. Unser Wissen ist vom Nachhinein. Im Nachhinein ist man immer klüger. Ich kann schon verstehen, dass jemand von diesem Rang bleibt, wenn jemand ihm einen besonderen Schutz gewährt.

NH: Auf der anderen Seite ergibt sich der Eindruck, dass viele Schriftsteller wie Heinrich Mann diese Rettungsaktion als selbstverständlich angesehen haben und dann gerät Varian Fry ins Abseits des Vergessens.

UW: Leute wie Mann sind Menschen des 19. Jahrhunderts gewesen. Im 19. Jahrhundert geboren. Die konnten sich nicht wirklich vorstellen, wie sehr sich die Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem im Zuge des Beginns des Nazi-Regimes verändert hatten, mit welcher Brutalität und Rücksichtslosigkeit da vorgegangen wurde. Man dachte sich, wenn man sich wie ein guter Bürger verhält, dann kann einem nichts passieren.

NH: Die konnten sich nicht vorstellen, dass eine deutsche Regierung zu solchen Maßnahmen greift?

UW: Unbedingt. In diesen v. a. juristischen Dingen waren die Schriftsteller naiv und kannten sich nicht aus. Es gab natürlich manche, die waren exzellent und haben die Dinge sehr gut vorausgeahnt. Im vorangegangenen “Februar 33” beschreibe ich etwa Joseph Roth, der bereits am Morgen als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, das Land verlässt. Hier kann ich nicht mehr leben. Das ist zu gefährlich.

NH: Beide Werke, sowohl “Marseille 1940” als auch “Februar 33” sind in einer kalenderartigen Form gehalten. Was bewirkt diese Form für die Brisanz?

Uwe Wittstock im Gespräch. (Foto: Privatarchiv)

UW: Wenn es zu solchen Umbrüchen kommt, wie im Februar 1933 oder in der Zeit um 1940, in der die Exilanten in Südfrankreich regelrecht gejagt wurden, dann passiert in solchen Situationen unglaublich viel gleichzeitig. Und wenn man das erzählen möchte, ich sehe mich bei diesen Büchern als Erzähler, dann braucht man ein Ordnungsinstrument, um dieses Chaos in irgendeiner Art und Weise zu ordnen. Das chronologische Prinzip ist da sehr naheliegend, da es sehr gut Kausalitäten erklärt. Was ist vorher passiert? Was passierte danach? Auf die eine folgt die nächste Aktion und so weiter.

Ein anderer Fakt ist der, wenn man von mehreren Perspektiven erzählt, nicht nur von einer. In “Februar 33” habe ich einen Tag erzählt, dann den nächsten, immer wieder mit Unterbrechungen. Wie sieht es jetzt bei Thomas Mann aus, am Schauplatz von Heinrich Mann oder Berthold Brecht? Bei “Marseille 1940” ist es ähnlich.

Da gibt es Ereignisse, die Folgen für die ganze Geschichte der Rettung der Exilanten haben, in New York, in Kalifornien, in Deutschland oder in Marseille.

Ich muss, wie mit einer Kamera da- und dorthin schwenken, um erzählen zu können, was dort zu dieser Zeit passierte. Damit wird die Sache auch spannender.

NH: Wie gleicht man verschiedene, auch verschwimmende Erinnerungen ab? Wie entscheidet man, was ist erzählenswert, wo sind “Rivalitäten”?

UW: Was ich mache in diesen Büchern ist keine Wissenschaft. Es geht darum, die Dinge zu erzählen, dadurch lebendig zu halten und anschaulich zu halten und ein großes Publikum für die Situation der Flüchtlinge in Südfrankreich zu interessieren.

Wenn man dies wissenschaftlich angeht, muss man versuchen, die historischen Tatsachen so genau wie möglich zu rekonstruieren, wobei immer sehr viele Unsicherheiten bleiben, bei denen man sagen muss, es kann sein, dass es so oder so passiert ist. Wenn Sie erzählen wollen, ist das außerordentlich schwierig. Ich richte mich nach den Erinnerungen der Betroffenen, die dabei waren, und halte mich daran und muss zugegeben, dass natürlich die Erinnerung nicht immer ganz stimmt, ein Unsicherheitselement, das ich hinnehmen muss.

Das Problem ist, die Wissenschaft kennt all diese Dinge. Es ist ihr aber nie gelungen, ein größeres Publikum zu interessieren.

NH: Varian Fry ist bei uns nahezu unbekannt? Wie sieht es in Amerika, in Frankreich aus? Erinnert man sich da an seine Person?

UW: Fry ist in Deutschland viel zu wenig bekannt. Er hat ganz große Verdienste, es gibt aber in Deutschland keine Biografie über sein Leben, in der man sich wirklich intensiv mit seiner Person auseinandergesetzt hat. Das wollte ich unbedingt ändern. Das ist eben auch eine Folge davon, dass wir uns in diesen Dingen sehr stark auf wissenschaftliche Arbeitsweisen zurückgezogen haben. Die liefern aber auch keine völlige Zuverlässigkeit liefern, sondern sagen, „wir wissen es nicht ganz genau, sondern nur so ungefähr“, was dem entgegensteht, dies lebendig darzustellen.

Im Ausland ist das anders. Dort gibt es zwei Biografien über ihn. Da er als Amerikaner große Konflikte mit dem Außenministerium, dem State Departement, hatte, gab es auch eine Aktion des State Departments in den 2000er Jahren, in der er ausdrücklich gewürdigt und wo betont wurde, welch großartige Arbeit er geleistet hat. Der damalige Außenminister persönlich hat ihm posthum einen Orden verliehen.

NH: Was war das für ein Konflikt?

UW: Ein Spiel mehrerer Faktoren. Frys Organisation war eine Art NGO, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Das Außenministerium war nicht daran interessiert, sehr viele Flüchtlinge aufzunehmen. Etwas, was uns heute nicht ganz unbekannt ist. Die USA waren leider sehr vorsichtig, vor allem bei Juden. Auch in Amerika gab es antisemitische Strömungen zu der Zeit. Zum anderen wollte man keine politischen Intellektuellen, Theaterleute, Künstler im Land haben, da immer der Verdacht nahelag, das sie eigentlich Sozialisten oder Kommunisten seien.

Die wollte man definitiv nicht haben. Wer ein amerikanisches Visum haben wollte, musste die Frage beantworte „Waren oder sind Sie Mitglied einer kommunistischen Partei?“ Wer das bejahte, für den war Schluss. Der kam nicht ins Land. Nicht gefragt wurde „Waren oder sind Sie Mitglied einer faschistischen Partei?“ Komischerweise. Da gab es klare politische Vorbehalte und gegen diese hatte Varian Fry immer angekämpft und sich natürlich auch unbeliebt gemacht. Gegen stalinistische Kommunisten hatte auch Fry was. Gegenüber Sozialdemokraten und anderen war er sehr offen.

NH: Er hat die Liste auch sehr weit gefasst.

UW: Wenn er mit einer Liste von 200 Personen angekommen war und nachher fast 2.000 Menschen gerettet hatte, ist das wohl so. Als er in Marseille ankam waren ein paar Leute, die auf dieser Liste standen, bereits umgekommen, andere schon fort. Es gab Menschen, gerade französische Intellektuelle, von denen man in Amerika angenommen hatte, dass sie sehr gefährdet wären, die aber selbst die Gefahr nicht sehr hoch einschätzten. Ich bleibe in Frankreich. Ich möchte mein Land nicht verlassen.

Das Ende war ein eigentlich sehr bitteres. Schon Ende 1941 hatte die amerikanische Botschaft, da sie Frys Arbeit nicht haben wollte, ihm den Pass weggenommen. Ausweislos war er damit nicht mehr durch den Status, Amerikaner zu sein, geschützt. Der amerikanische Botschafter in Vichy-Frankreich, hat Fry signalisiert, dass er nicht protestieren würde, wenn dieses Regime ihn verhaftet.

Marseille 1940/1941 (Foto: C. H. Beck)

Daraufhin wurde Fry vom Präfekten in Marseille vorgeladen, um ihn mitzuteilen, dass Fry verhaftet und so untergebracht werden würde, dass er nicht mehr für seine Organisation arbeiten könne.

Das war natürlich ein endgültiges Signal. Fry hat versucht, das noch vier Wochen zu verzögern, aber dann musste er das Land verlassen.

NH: Varian Fry als besonderer Mensch nur für besondere Zeiten?

UW: Er war schwierig in Bezug auf Autoritäten. Er war kein Gruppenmensch, aber offensichtlich ein genialer Teamchef. Die Größe, in Marseille innerhalb von ein bis zwei Wochen ein so großartiges Team aufzubauen, mit Menschen, die idealistisch waren, um andere außer Landes zu bringen, das muss man erstmal machen.

Viele von diesen Menschen, die für ihn gearbeitet haben, sind nach dem Zweiten Weltkrieg in wichtige Positionen gekommen. Das war kein Zufall. Er hatte einen Blick gehabt für begabte Leute und da hat er wunderbar gearbeitet. Ein schwieriger Mensch mit ganz außergewöhnlicher Begabung. Diese dreizehn Monate waren die Sternstunde seines Lebens.

NH: Vielen Dank für das Gespräch.

UW: Vielen Dank.

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Wir danken Uwe Wittstock und C. H. Beck für die Gelegenheit, das Interview zu führen. Wie immer der Hinweis, dass das Interview Eigentum des Autoren, des Bloggers und des Verlages ist und nicht vervielfältigt, kopiert oder anderweitig verbreitet werden darf. Cover-Fotos werden nach Vorgaben des Verlags verwendet, Fotos des Autoren sind auf der Messe entstanden und gehören dem Fotografen. Das Interview erfolgte ohne Gewinnerzielungsabsicht.

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Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur

Inhalt:
Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. (Klappentext)

Rezension:

In letzter Minute hat Heinrich Mann es geschafft, die Grenze ohne Aufsehen zu überqueren, Teil des kulturellen Exodus’, der das Deutsche Reich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, erfasste. Auch andere, die sich politisch mit Werk und Worten gegen die neuen Machthaber positionierten, mussten fliehen. Viele Intellektuelle und Schriftsteller fanden sich darauf hin in Frankreich wieder.

Doch auch hier holt der Krieg jene, die sich in Sicherheit glaubten, ein. 1940 ist Frankreich besiegt, zerstückelt. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, Leib und Leben zu riskieren, sich außer Reichweite der Häscher zu bringen. In der unbesetzten Zone wird die Stadt Marseille zum Schicksalsort, an dem sich alles entscheidet.

Nach seinem Werk “Februar 33 – Der Winter der Literatur” nimmt sich der Autor Uwe Wittstock nun erneut einen kulturellen Wendepunkt an, der der Erzählung des Exodus des intellektuellen Lebens nach der Machtergreifung Hitlers in nichts nachsteht. Spannend, erzählt er die Geschichte derer, die sich versuchen, in Sicherheit vor den Zugriff der Nazis zu bringen, und derer, die dies ermöglichen. Biografien werden verwoben, wie Wege, die sich kreuzen. Ausgangspunkte sind ein Schriftsteller-Kongress im Exil, die Beobachtung ausbrechender Gewalt, Tatendrang und unermüdliche Hilfsbereitschaft.

Im Mittelpunkt der Journalist Varian Fry, der es mit seinen Mitstreitern schafft, in aller Kürze ein kleines aber effektives Netzwerk aufzubauen, in Frankreich später selbst die Fäden in den Händen halten muss, welche nicht nur durch das dortige Vichy-Regime unter Druck geraten. Akribisch folgen wir seinen Spuren und derer, denen er die Flucht verhilft.

Alma Mahler Werfel und Franz Werfel, Heinrich Mann, Anna Seghers und viele andere werden so gerettet. Fry und seine Unterstützer werden für einen entscheidenden Moment der Geschichte zu besonderen Menschen in einer besonderen Zeit.

Wie bereits in seinem vorangegangenen Werk werden die dicht gedrängten Ereignisse in Tagebuchform aufgefächert, welche das Drängen, die Eile und nicht selten die Ungewissheiten der Akteure herausstellt, deren Schicksale sich von einem auf dem anderen Tage ändern konnte.

Wieder sind es ausgewählte Personen, deren Wege hier beschrieben werden, stellvertretend für viele, die zwangsweise namenlos bleiben müssen, da wir zu wenig wissen, um von ihnen zu erzählen. Gleich zu Beginn wird dies vom Autoren selbst herausgestellt, dem der Spagat gelungen ist, ein zweites Mal ein literarisches, zudem in unseren Zeiten hoch nachdenklich machendes, Sachbuch zu schaffen.

Anhand von Tagebuchaufzeichnungen, nach dem Krieg niedergeschriebenen Erinnerungen oder Briefen, auf denen sich eine puzzleartige Recherche, die auch nach Marseille selbst führte, stützt, ist damit ein kulturelles Portrait entstanden. Kurzbiografien am Ende des Buches geben über das weitere Schicksal Aufschluss. Aufgelockert wird die Lektüre durch Kartenmaterial in den Innenseiten und zahlreichen Abbildungen, welche im Zusammenspiel diese Tage lebendig werden lassen.

Auch hier hat man, wie in “Februar 33” erneut das Gefühl, allen Personen so nahe zu sein, als würde man daneben stehen, gegen alle Widrigkeiten Fluchten zu organisieren oder zu bestreiten. Diese Chronologie geht unter die Haut, mit einem sogar noch etwas flüssiger wirkenden Schreibstil als beim Vorgänger. Ein Buch über Menschlichkeit und Mut, über unwägbare Faktoren und Sekunden, die über Gelingen oder Scheitern entschieden.

Eine unbedingte Leseempfehlung.

Autor:

Uwe Wittstock wurde 1955 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Zunächst arbeitete er als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 der Literaturredaktion angehörte, danach wirkte er als Lektor beim S. Fischer Verlag.

Zur gleichen Zeit war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. Im Jahr 2000 wurde er stellvertretender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, zwei Jahre später Kulturkorrespondent in Frankfurt/Main. Bis 2017 arbeitete er als Literaturchef des Magazins Focus. Zu seinen Werken zählen mehrere Sachbücher. 1989 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Journalismus.

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Alexander Oetker: Zara & Zoe – Rache in Marseille

Zara & Zoe - Rache in Marseille Book Cover
Zara & Zoe – Rache in Marseille Rezensionsexemplar/Thriller Droemer Taschenbuch Seiten: 328 ISBN: 978-3-425-30715-1

Inhalt:

Ein Zwilling, der keine Regeln brechen darf.

Ein Zwilling, der keine Regeln kennt.

Zusammen kämpfen sie gegen erbarmungslose Terroristen.

Gesetz und Gewalt – vereint in zwei Schwestern. Die eine Cop – die andere Mafiosa.

Um eine Katastrophe zu verfindern, müssen sie die Rollen tauschen.

Ihr Kampf gegen fanatischen Terror wird zum epischen Showdown zwischen Gut und Böse.

(Klappentext)

Rezension:

Thriller, die von der ersten Seite an, ein schnelles Tempo vorlegen, haben es zumeist in sich, so auch das vorliegende Szenario von Alexander Oetker. Der Frankreichkenner, Journalist und Schriftsteller entführt den Leser nach Marseille, in die Tiefen der Banlieues, grauer Vorstädte, die sich längst jeder staatlichen Kontrolle entzogen haben, Korruption, Drogenhandel und Terrorismus ihre Brutstätten haben.

Im vorliegenden Band ermitteln die scharf gezeichneten Protagonisten, die Europol-Beamten Zara von Hardenberg und ihr Kollege Isaakson. Was zunächst wie ein Mord mit Anhängsel aussieht, entwickelt sich jedoch schnell zu einem Fass ohne Boden. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, für den Zara ihre ärgste Feindin einspannen muss. Ihre eigene Schwester.

So viel zur Handlung, von der man mehr nicht verraten sollte, die jedoch durchaus trägt und einen kontinuierlichen Spannungsbogen praktisch garantiert. Rasant geschrieben, hat der Autor hier genau das richtige Maß zwischen den wichtigen Details und unwichtigeren Geplänkel gefunden. Positiv auffallend ist dabei, dass alle Protagonisten verschiedene Fascetten aufweisen. Das reine Gut-Böse-Schema gibt es nur auf den ersten Blick.

Auch Orts- und Milieubeschreibungen gehören zu den Pluspunkten des Autoren. Man nimmt dies dem Autoren ab und verliert sich in die Gluthitze der Stadt am Mittelmeer, die anscheinend mehr Schatten- als Sonnenseiten vorzuweisen hat. Nichts rät eher ab, doerthin zu reisen, als dieser thriller. Kurze und prägnante Kapitel laufen in wechselnder Perspektive einem Showdown entgegen, der einen großen Knall schon früh erahnen lässt.

Dort wird es indes kritisch. Gerade das Endszenario kann ich dem Schriftsteller nicht abnehmen. Zu unglaubwürdig, zu schnell und zu kurz erzählt. Was am Anfang noch funktioniert, reicht mit Fortschreiten der Seitenzahl nicht aus, um gerade ständige Krimileser bei Stange zu halten und zu überzeugen. Die Geschichte wirkt dann wie ein Fernsehfilm, den man mal gesehen, dann jedoch schnell wieder verdrängt hat.

Das ist schade, da viele Themen aufgegriffen werden, die man detailliert hätte verarbeiten können. Die Chancenlosigkeit in den Vorstädten, Radikalisierung, Terrorismus, organisierte Kriminalität, das Drogenmilieu, Mafiabande, um nur einige zu nennen. Das wird alles angeschnitten und im Schnelldurchlauf zusammengefügt, reicht jedoch nicht. Vielleicht hätte man sich hier auf weniger konzentrieren, dies jedoch ausfühlicher verarbeiten können.

Im letzten Viertel fehlt der Biss, jedoch würde ich gerne mehr über die einzelnen Protagonisten erfahren und damit weitere Fälle lesen. Gegen den Auftakt als Reihe, hätte ich nichts. Dann könnte der Autor diese Schwächen mit einer stärkeren Fortsetzung wettmachen.

Autor:

Alexander Oetker wurde 1982 geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er begann Sozial- und Politikwissenschaften zu studieren und beendete dies jedoch nicht, arbeitete v on 1998 bis 2000 freiberuflich für die Berliner Zeitung. Danach arbeitete er für die Mediengruppe RTL und war von 2005-2007 Berlin-Korrespondent.

Von 2008 an, leitete er das Westeuropa-studio und berichtete für RTL/n-tv/Vox aus Paris. Seit 2012 ist er politischer Korrespondent in Berlin. 2017 erschien sein erster Kriminalroman. Oetker schreibt unter eigenen Namen, sowie unter Pseudonym und lebt mit seiner Familie in Berlin.

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