Jugoslawien

Tom Chesshyre: Slow Train

Slow Train - Eine Liebeserklärung an Europa heute in 25 Stationen Book Cover
Slow Train – Eine Liebeserklärung an Europa heute in 25 Stationen Tom Chesshyre Dumont Reise/mairdumont Erschienen am: 14.04.2020 Seiten: 334 ISBN: 978-3-7701-6696-1 Übersetzerin: Astrid Gravert

Inhalt:

Die Freiheit auf Schienen genießen – dafür begibt sich Tom Chesshyre auf eine abenteuerliche Zugreise quer durch Europa, von London über die Ukraine bis nach Venedig. Das eigenetliche Reiseziel, Europa und seine Bewohner kennenlernen.

Tom Chesshyre reist ohne genauen Plan, eben dorthin, wohin die Schienen führen, und freundet sich unterwegs mit seinen Mitreisenden an – und natürlich mit dem ein oder anderen Schaffner. Ein persönlicher Reisebericht, der zeigt, was Europa zusammenhält. Und eine leidenschaftliche Einladung, sich mit dem nächsten Zug selbst auf den Weg zu machen. (Klappentext)

Rezension:

Als Groß-Britannien sich dafür entscheidet, die Europäische Union zu verlassen, besteigt der Reiseschriftsteller Tom Chesshyre einen Zug und begibt sich auf die Suche nach eben dem, wovon sich so viele seiner Landsleute entfernt zu haben scheinen. Was ist das, dieses Europa? Welche Bedeutung hat der Begriff, der für die Einen Hoffungsschimmer und Sehnsuchtsort, für die anderen Projektionsfläche allen Übels darstellt?

Was können wir heute noch von diesem Zusammenhalt für uns mitnehmen, der zunehmend zu bröckeln beginnt. Mit einem Interrailticket durchquert der Autor den Kontinent, von West nach Ost, Endstation Venedig.

Reiseberichte sind Momentaufnahmen bestimmter Zustände und zumeist sehr subjektiv. Da nimmt sich dieser von Tom Chesdshyre nicht aus, dessen Liebe zu Zügen bereits auf den ersten Seiten auffällt. Der Leser begleitet den Autor von Station zu Station, die Kapiteleinteilung folgt der Reiseroute. Eindrücklich sind die Schilderungen von Begegnungen im Zug, kurzen Momenten der Beobachtung an den Bahnsteigen. Passieren tut nicht viel.

Tom Chesshyre lässt sich treiben und überraschen, ob von belgischen Schaffnern oder im Museum der zerbrochenen Beziehungen, irgendwo im ehemaligen Jugoslawien. Das macht nichts. Interessant sind ohnehin die Gedanken des Briten, die mit zunehmender Entfernung von zu Hause immer mehr zum dortigen politischen Geschehen schweifen. Werden in einem Europa, in dem sich die Staaten immer mehr von einander entfernen, Reisen wie diese noch möglich sein?

Am Rande der Bahnsteige, Bahnhöfe, zeigen sich für Autor und LeserInnen, wie Europa heute noch wirkt und was das für die Menschen bedeuten kann, etwa im gebeutelten Kosovo oder in der von den jüngsten Auseinandersetzungen mit Russland geplagten Ukraine.

Sachlich, doch immer auch mit viel Emotionen verbunden, beschreibt Chesshyre was er sieht ohne ins Kitschige abzugleiten. Nur manchmal ist das Technische, die Eisenbahnliebhaberei dann doch etwas zu viel des Guten. Fans des Rollwerks auf Schienen kommen jedoch auf ihre Kosten. Liebhaber von Reiseberichten, ohnehin.

Ein Plädoyer für Europa, ob nun innerhalb eines politischen Gebildes, so doch als Gemeinschaft, in der ein jeder sein eigenes Leben lebt und doch auf den jeweils Anderen einwirkt. Die Eisenbahn verbindet heute noch ganze Länder und Regionen, funktioniert auch dort zuweilen, wo Politik gerade auseinander triftet.

Auf persönlicher Ebene scheint noch zu klappen, was offiziell immer schwieriger wird. Tom Chesshyre beobachtet, saugt auf und spricht mit den Menschen, hört zu. Das Reisen auf Schienen macht neugierig, verbindet, verändert Blickwinkel. Einen hauch davon kann man aus diesem Bericht mitnehmen. Damit ist dann schon ein Anfang gemacht.

Autor:

Tom Chesshyre wurde 1971 geboren und ist ein britischer Reiseschriftsteller. Für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte er mehrere Reportagen, u.a. bei The Times. Auch für National Geographic war er bereits tätig. Über das Zugreisen schrieb er bereits mehrere Reiseberichte. Chesshyre lebt in London.

Tom Chesshyre: Slow Train Read More »

Sasa Stanisic: Herkunft

Autor: Sasa Stanisic

Titel: Herkunft

Seiten: 366

Genre: Biografie/Rezensionsexemplar

Format: Hardcover

ISBN: 978-3-630-87473-9

Verlag: Luchterhand

Inhalt:
“Herkunft” ist ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt. (Klappentext)

Rezension:
Einem Autoren, der den Deutschen Buchpreis bekommen hat, sollte man grundsätzlich misstrauen. So jedenfalls scheint es, wenn man die Meinungen von Feuilleton, Buchhandel und Leserschaft gegenüber stellt. Gerade Stanisics Werke polarisieren.

Doch ist es nicht die vornehmste Aufgabe eines Schriftstellers, die Leser zu zwingen, Stellung zu beziehen? Genau das tut Sasa Stanisic in seinem semibiografischen Werk “Herkunft”, welches als loses Puzzle beginnt, sich erst nach und nach zu einem schlüssigen Gesamtbild zu fügen.

Dabei sind die Themen, aus denen der im ehemaligen Jugoslawien geborene Schriftsteller schöpfen kann, vielfältig. Familie natürlich, spielt immer eine Rolle. Der Begriff “Heimat, was ist das überhaupt, sowie so.

Der Zerfall eines Staates in seine Einzelteile, sowie das Erlangen der Sprache, das Spielen mit der selben und natürlich Biografie, seine selbst und die der Großmutter, die noch in einer anderen Zeit aufgewachsen ist, bedingt durch ihr schwindendes Gedächtnis nur dort wieder Zuflucht findet.

Stanisic zeigt, was es heißt, Heimat zu verlieren, zu gewinnen, aus der Herkunft Kraft zu ziehen und das Leben zu lieben. Trotz der Unwägbarkeiten, oder gerade deshalb.

Das ist zunächst nur schwer zugänglich. Das gekonnte Spielen mit der Sprache, die nicht die erste ist, Zeitsprünge, denen man sich als Leser ausgesetzt sieht, die anfangs nur schwer nachzuvollziehen sind, Puzzelteile, die kein klares Bild ergeben.

Die ersten Seiten muss man sich erkämpfen, das erste Drittel des Werkes auf sich wirken und Schreib- und Erzählstil wirken lassen. Sasa Stanisics Perspektive ist die des Kindes, des Jugendlichen, des Erwachsenen und immer die des Suchenden. Verwirrend ist das, aber gerade zu genial.

Es ist der 7. März 2018 in Visegrad, Bosnien und Herzegowina. Großmutter ist siebenundachtzig Jahre alt und elf Jahre alt.

Sasa Stanisic: “Herkunft”

Wer die dadurch entstandenen Hürden überwindet, entdeckt eine wunderbare Erzählung, zieht Parallelen zur heutigen Zeit. Wie mag es den hunderten Flüchtlingen heute gehen, die natürlich eine Herkunft haben, eine Heimat verloren haben und eine neue suchen?

Was ist das überhaupt, Heimat? Essentielle Fragen, auf die es keine einfache, keine eindeutige Antwort geben kann. Dies zu verdeutlichen, ist Stanisics Stärke, natürlich im Zusammenhang mit dem Spiel der Sprache.

Die Stile vermischen sich. Mal biografische Erzählung, mal Aufsatz, mal Roman und am Ende gar Spielbuch. Entscheide du, wie das Geschriebene endet. Als loses Puzzle, also so, wie “Herkunft” begann, als Phantasiegeschichte des Enkels, der Großmutter oder eben als schlüssiger Roman, der es in sich hat.

Je nach Stimmung, kann man probieren, was für sich funktioniert. Toll. In Bezugnahme auf frühere Texte Stanisics, Reden, Kapitel aus anderen Büchern, zeigt dieses Werk, was so vieles sein soll, so vieles ist, dass hier ein Schriftsteller Träger des deutschen Buchpreises zurecht ist.

Der Lesende wird aus der Lektüre mit mehr Fragen entlassen, als Antworten zu bekommen. In diesem Falle, eine große Stärke.

Autor:

Sasa Stanisic wurde 1978 in Visegrad, Jugoslawien, geboren und ist ein deutschsprachiger Schriftsteller. 1992 flüchtete er mit seiner Familie nach Deutschland und studierte nachder Schule Literatur.

Für Erzählungen und Romane, erhielt er u.a. den Preis der Leipziger Buchmesse, sowie zuletzt den Deutschen Buchpreis. 2019 kritisierte er die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke.

Er ist Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg und des PEN-Zentrums Deutschland. Stanisic lebt mit seiner Familie in Hamburg. Seit 2013 ist er deutscher Staatsbürger.

Sasa Stanisic: Herkunft Read More »

Vea Kaiser: Rückwärtswalzer

Rückwärtswalzer Book Cover
Rückwärtswalzer Vea Kaiser Kiepenheuer & Witsch Hardcover Seiten: 432 ISBN: 978-3-462-05142-1

Inhalt:

Drei Tanten, ein toter Onkel, ein Drittel-Life-Crisis-geplagter Neffe und eine tragikomische Reise durch die Jahrzehnte von Wien bis nach Montenegro.

Voller Witz, Verve und Herzenswärme erzählt Vea Kaiser in ihrem neuen großen Roman von einer Familie aus dem niederösterreichischen Waldviertel. Von drei ungleichen Schwestern, die ein Geheimnis wahren, von Bärenforschern, die die Zeit anhalten möchten, von glücklichen und tragischen Zufällen und davon, wie die Seelen der Verstorbenen die Lebenden auf Trab halten. In ihrer unnachahmlichen Art verwebt sie die Wahrheiten alter Mythen mit der Gegenwart und erschafft ein mitreißendes und unvergessliches Familienepos. (Klappentext)

Rezension:

Roadmovies sind weder auf der Leinwand noch zwischen zwei Buchdeckeln etwas wirklich Neues, um so mehr müssen sich die Schreiber solcher Werke anstrengen, um im Gedächtnis zu bleiben. Ob dies gelingt, weiß man oft erst nach der Lektüre, denn eine solche Erzählung wirkt, der Natur der Sache geschuldet, nur als Ganzes.

Dazu kommt, dass man dem Schreiber jede Zeile abnehmen können sollte und erst dann, wenn man ein solches stimmiges gesamtbild vorfindet, ist dies als gelungen zu bezeichnen. Vea Kaiser ist dies mit “Rückwärtswalzer” gelungen.

Im Zentrum stehen vier liebevoll gezeichnete, im Laufe der Geschichte, sich vertiefende Protagonisten, die den Lesern Zeile für Zeile an’s Herz wachsen. Detailliert beschreibt die Autorin aus wechselnder Erzählperspektive den Werdegang ihrer Figuren durch die Zeitgeschichte vergangener Jahrzehnte, bis hinein ins heutige Wien, der Wandel auf den Weg zum Ziel mit inbegriffen.

Die Figuren hängen ihren Gedanken nach, jeder für sich allein, doch irgendwie zusammen und so ergibt sich aus vielen Einzelteilen ein stimmiges Gesamtbild.

Die Entscheidungen der einzelnen Figuren werden aus der Vergangenheit heraus begründet. Feinsinnig hat Vea Kaiser hier die Fäden gehalten; keinen verloren, was auch nicht jedem Autoren gelingt, und als Handlungsstränge letztendlich stimmig zusammengeführt.

Mit Wortwitz und einer gewaltigen Prise Humor treibt sie die Handlung fort und fast wirkt es so, als säße man mit im Wagen, nur um einen Verstorbenen seinen letzten Willen erfüllen zu können. Kurzweilige und vor allem handliche Kapitel tragen mit so manchen Cliffhanger die Handlung voran. Unterhaltung im besten Sinne.

Keine der Figuren geht auf die Nerven, vielmehr muss man über die schrulligen Eigenheiten der Protagonisten schmunzeln. Erwähnenswert sind hier die Referenzen zur römischen Mythologie, die zugleich titelgebend sind und auf diese immer wieder Bezug genommen wird. Manen sind die römischen Totengeister, denen man als Nachfahre der Verstorbenen nicht zu entkommen vermag. Das Studium der Autorin macht sich hier bemerkbar.

Dabei ist dieser Roman weder traurig oder so sehr melancholisch, dass es einem stimmungstechnisch mit hinunter zieht, sondern so witzig, dass man die eine oder andere Eigenschaft an sich und anderen Menschen wiedererkennen wird. Alleine, dafür schon ein großes Lob.

Vea Kaisers Roadtrip der Familie Prischinger ist Unterhaltung in Reinform und macht Lust auf mehr. Ob nun in Wien, Montenegro oder anderswo.

Autorin:

Vea Kaiser wurde 1988 in St. Pölten geboren und ist eine österreichische Schriftstellerin. Sie arbeitete zunächst als Übersetzerin und Fremdenführerin, studierte von 2007 an Klassische und Deutsche Philogie mit Schwerpunkt Altgriechisch in Wien.

Nachdem sie zudem Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studierte wurde 2014 ein von ihr geschriebenes Theaterstück in Wien uraufgeführt. 2012 erschien ihr erster Roman, zudem schreibt sie Kolumnen für verschiedene Zeitungen. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin lebt in Wien.

Vea Kaiser: Rückwärtswalzer Read More »