Atrium

Jeannette Gusko: Aufbrechen

Inhalt:
Transformationskompetenz ist die wohl größte ungehobene Ressource für unsere Zukunft. Wandlungserprobte Menschen, wie Wende-, Migrations- oder Arbeiterkinder, haben große Umbrüche erlebt und damit eine Kompetenz erworben, die unsere Gesellschaft für die Zukunft handlungsfähig machen kann. Wenn es uns gelingt, diese bislang unerkannte Superkraft freizusetzen, können wir endlich aufbrechen und die dringend nötigen Transformationen unserer Zeit gemeinsam angehen. (Klappentext)

Rezension:

Krisen sind wie Kreuzungen, heißt es gleich zu Beginn in diesem Buch. Einmal eine Abzweigung genommen, wird es mit zunehmender Wegstrecke schwerer zum Ausgangspunkt zurückzukehren, zumal ohne das Wissen, ob nicht ein anderer weg zu einem noch schlechteren Ergebnis führen würde. Verständlich, dass viele Menschen daher angesichts der derzeitigen Ereignisse und düsteren Zukunftsaussichten resignieren oder gar Angst haben, den Status quo zu verlassen, lieber diesen bewahren möchten, gleichwohl wissend, dass ein “Weiter so” ebenso falsch wie auf lange Sicht unpraktikabel wäre.

Vielfach ist bewusst, dass wir Änderungen, nicht nur in Bezug auf z. B. Klimawandel oder sozialen Fragestellungen vornehmen müssen, alleine die Ungewissheit ob der Auswirkungen lassen uns diese nicht oder gar zu zögerlich angehen.

Dabei könnte es schon helfen, Menschen, die selbst bereits Änderungsprozesse erlebt und bewältigen mussten, in die Lage zu versetzen, ihre Transformationskompetenz zu nutzen. Die Autorin Jeannette Gusko erläutert in ihrer Denkschrift “Aufbrechen”, wie dies funktionieren kann.

Transformationskompetente Menschen können sich jederzeit andere Systeme vorstellen. Sie arbeiten mit hoher Analytik sowie Mustererkennung, einer wichtigen Fähigkeit für Kreativität. Sie finden umfangreiche langfristige Antworten auf Systemstörungen […], weil sie die ihnen zugrundeliegenden Ursachen systematisch zurückführen können.

Jeannette Gusko: Aufbrechen

Über die hervorragende Qualität der Reihe -Zündstoff- aus dem Hause Atrium habe ich an anderer Stelle bereits geschrieben, doch sei hier noch einmal hervorgehoben, dass diese theoretisches Grundlagenwissen vielfältiger Themenbereiche so aufbereitet, dass diese kompakten Schriften geeignet sind, diskutiert zu werden und damit Debatten angestoßen werden können, die längst überfällig sind. Dabei greifen diese auch ineinander über, ein Werk ergänzt das andere und bleiben dabei jeder für sich verständlich für alle Lesenden.

Nach etwa z. B. Rassismus oder Klassismus nimmt sich mit “Aufbrechen” eine weitere Autorin einer weiteren Säule an, derer es dringend an Änderungen schon in unseren Ansichten bedarf und zeigt überlegt argumentierend, was Transformationskompetenz bedeutet und für unsere Gesellschaft bewirken kann.

Transformationskompetenz entwickelt sich dann, wenn man Neuem ausgesetzt ist und sich damit auseinandersetzen muss.

Jeannette Gusko: Aufbrechen

Entlang eines stringenten roten Fadens erläutert Jeannette Gusko zunächst ihren Hintergrund als praktisches Beispiel, bevor sie zu den theoretischen Grundlagen kommt. Was ist Transformation, die sich daraus ableitende Kompetenz, wie entsteht sie und welche Bausteine braucht es dafür, aber auch, was passieren mag, wenn diese vom Rest der Gesellschaft nicht genutzt wird und wie transformationskompetente Menschen mit Veränderungen umgehen, die von der Mehrheit kritisch bis ängstlich betrachtet werden.

Es gibt in allen Bevölkerungsgruppen Menschen, die aufgrund verschiedener Erlebnisse Transformationskompetenz entwickelt haben, und wir alle profitieren davon, wenn sie ihre Kompetenz entdecken und sie in den Diskurs und durch ihr Handeln einbringen.

Jeannette Gusko: Aufbrechen

Anhand von drei Gruppen von Menschen, Überschneidungen gibt es und sicherlich auch weitere, die diese Fähigkeit haben, erläutert sie Gemeinsamkeiten in Denk- und Herangehensweisen und was eine Gesellschaft für Voraussetzungen schaffen muss, damit diese zum Wohle aller ausgespielt werden können. Das auf so wenigen Seiten so präzise zu formulieren ist eine Stärke Jeannette Guskos, die damit einen Aspekt eröffnet, den wir noch viel zu selten sehen. Gleichzeitig gelingt anhand der im Werk erörterten Beispiele ein positiver Ausblick, was bereits heute durch Transformationskomponente Menschen möglich ist, die Entwicklung eines weltweit eingesetzten Impfstoffes in sehr kurzer Zeit etwa, um nur ein Beispiel zu nennen.

Die Erkenntnisse der Autorin, über sich selbst und durch ihre Arbeit in verschiedenen daran ausgerichteten Netzwerken und Organisationen, fließen hier ein, ebenso die Erfahrungen anderer, die diese Eigenschaft besitzen, und für sich und andere zu nutzen wissen. Das strukturierte Werk vermittelt dadurch dieses Denkmodell so nahbar, zugleich übrigens mit einer positiven Tonalität, dass wir gar nicht anders können als die dazu befähigten Menschen sich dergestalt einbringen zu lassen. Es wäre für uns alle ein Gewinn.

Autorin:

Jeannette Gusko wurde 1984 in Berlin geboren und studierte Wirtschaftskommunikation und Internationale Beziehungen, sowie Kommunikationsmanagement. Sie ist Sprecherin des Netzwerks 3te Generation Ost und hat verschiedene Plattformen für gesellschaftlichen Wandel mit aufgebaut. Sie ist Geschäftsführerin der Recherche-Organisation Correctiv und wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet.

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Linda Segtnan: Das achte Haus

Inhalt:

An einem Maiabend im Jahr 1948 verschwindet die neunjährige Birgitta Sivander zwischen den Bäumen eines schwedischen waldes und kehrt nicht mehr zurück. Kurz vor Sonnenaufgang wird sie tot in einem graben gefunden. Siebzig Jahre später liest Linda Segtnan zufällig einen Zeitungsartikel über den ungeklärten Mord. Etwas veranlasst sie, Birgittas Schicksal näher zu erforschen. Sie beginnt, in Archiven zu recherchieren, doch auch vor dem Unergründlichen dieses Falls schreckt sie nicht zurück. Ihre Besessenheit wird immer größer – während gleichzeitig in ihrem Bauch Leben heranwächst. Ein Mädchen. Wie hält man es aus, ein Kind in eine Welt zu setzen, die so bodenlos grausam sein kann? Wie erträgt man die Gefahren, die eine Tochter bedrohen? (Klappentext) 

Rezension:

Es ist das wohl schrecklichste aller Szenarien, wenn dem eigenen Kind etwas angetan wird, wenn dieses plötzlich verschwindet und später tot aufgefunden wird. Welten brechen damit zusammen und nicht nur für die Eltern ist danach nichts mehr, wie zuvor. Am Ende bleiben Verzweiflung, Hilflosigkeit, Ermittlungsakten und Zeitungsartikel. Auf letzteren stößt zufällig Linda Segtnan bei der Vorbereitung einer ihrer Stadtführungen, nicht ahnend, dass bald die Recherche nach den Hintergründen sie in Abgründe stößt, denen sie sich nur schwer entziehen wird können.

Der Kriminalfall an sich gilt aus damaliger Sicht als schnell gelöst. Die schuldige Person ist schnell ausgemacht. Lücken und Differenzen, die aus heutiger Sicht kaum zu übersehen sind, werden als nichtig abgetan, doch stößt man sich unweigerlich daran, wenn man sich heute damit beschäftigt. Wurden bestimmte Aspekte zu Gunsten einer einfachen Lösung damals außer Acht gelassen, da entweder untersuchungstechnische Mittel nicht zur Verfügung oder gesellschaftliche zwänge im Wege standen? 

Mit diesem Spagat hat sich die Autorin beschäftigt und damit eine Besonderheit im Bereich des True Crime geschaffen, eben nicht nur nüchtern einen Fall nacherzählt. Segtnan wollte erfahren, warum handelnde Personen wie ermittelnde Beamte  bestimmte Entscheidungen trafen und was dies mit den Familien des Opfers, des Verdächtigen und mit ihrer Umgebung machte, zugleich schildert sie, was die Erkenntnisse mit ihr selbst machten, was dieser Fall auch Jahrzehnte später noch auszulösen vermag.

Im Wechsel zwischen den Zeiten, einmal die Nachstellung damaliger Szenen, wie sie sich abgespielt haben müssen, dann wieder wie die Recherche nach Fakten und weiterführenden Informationen in das eigene Leben hineingreifen, schildert sie diesen Kriminalfall, versucht nach und nach ein Puzzle zusammen zu setzen. Je klarer sich Konturen, Ecken und Kanten ergeben, um so unerträglicher wird es, zumal Familie und Privatleben, was sich daraus ergibt. Zunächst besteht die Recherche da nur aus dem Zusammensuchen von Zeitungsartikeln, später Archivmaterial bis hin zur Kontaktaufnahme mit Zeitzeugen und Ortsbegehungen. Nicht nur diese Schilderungen sind es, die eine Dynamik beim Lesen erzeugen, der man sich ebenso wie die Autorin kaum entziehen mag.

Linda Segtnan legt sich dabei nicht fest, stellt mehrere Perspektiven dar, um ein vielschichtiges Bild aufzuzeigen. Wie war das gesellschaftliche Gefüge der örtlichen Gemeinschaft, in deren Nähe dieses Verbrechen geschah, wie der stand der einzelnen Familien und Personen, sowohl des Opfers als auch des Verdächtigen und wie der Umgang mit beiden, der so in alle Richtungen heute nicht mehr vorkommen würde? Welche Auswirkungen hatte dies auf die Ermittlungen und wie wirkt das in der Nachbetrachtung heute?

Gegensätze werden dabei sehr detailliert herausgearbeitet. Es ist aber eben auch spannend zu erfahren, wie die Autorin mit dem Wissen umgegangen ist, und dieses verarbeitet hat, wenn auch die spiritistischen Einsprengsel manchmal ein Zu viel des Guten gewesen sind, sollte man sich doch eigentlich über die Vorgehensweise der ermittelnden Beamten aufregen, die den Fall von Beginn an in eine bestimmte Richtung gelenkt haben, ohne andere Facetten überhaupt in Betracht zu ziehen, anstatt über die Autorin selbst. 

Manchmal fragt man sich beim Lesen schon, wie ernst man die Autorin noch nehmen kann, wenn wiederholt die App erwähnt wird, die auf ihrem Smartphone aufgespielt, angeblich die Anwesenheit von Geisterwesen anzeigt. Diese Erwähnungen einmal bitte ausklammern und nach dem Lesen schnell vergessen, um den Fokus auf andere Aspekte, nämlich die Beschäftigung und Vereinnahmung des Falls, legen, dann ist “Das achte Haus” allemal eine spannende Lektüre wert.

Trotzdem mögen alle für sich bestimmte Anknüpfungspunkte finden. Fans von True Crime kommen hier auf ihre Kosten, ebenso wie an Psychologie interessierte Menschen, aber auch jene, die sich gerne mit Historie und gesellschaftliche Zusammenhänge vergangener Zeiten beschäftigen möchten. 

Es fehlt, glücklicherweise, der zu sehr melancholisch alles übertünchende Mehltau, der zumindest in der romanhaften skandinavischen Kriminalliteratur immer noch häufig anzutreffen ist. Im True Crime Bereich gleicht “Das achte Haus” in etwa Michelle McNamaras “Ich ging in die Dunkelheit”, welches die Autorin sowohl als Vorbild nennt, jedoch auch in den Folgen für McNamara als abschreckendes Beispiel. Dieser Gefahr des sich in etwas Hineinsteigern hat Segtnan förmlich versucht zu vermeiden. Ob dies ihr gelungen ist, bitte einmal selbst herausfinden.

Auf der einen Seite die Schilderung des Falls, auf der anderen die des Verarbeitungsprozesses als Kontrapunkt zeichnen sich verantwortlich für die Dynamik und das Erzähltempo, den man sich kaum entziehen kann. Als gelernte Stadtführerin kann die Autorin zudem detailreich Orte bildlich vor dem inneren Auge entstehen lassen, was dann beinahe eine gewisse literarische Qualität besitzt, ohne jedoch diesen Anspruch haben zu wollen. Zuweilen wirkt das so, als würde man den Besprechungen, Begehungen beiwohnen. So schafft die Autorin Nähe zu sich selbst und auch zum recherchierten Geschehen.

Für Fans von True Crime, die auch einmal einer anderen Herangehensweise als im englischsprachigen Raum offen gegenüberstehen, ist “Das achte Haus” als Lektüre zu empfehlen, ebenso für jene, die die sich auch mit hierzulande unbekannteren Fällen beschäftigen möchten. Der besondere Aspekt des beschriebenen Vereinahmung- und Verarbeitungsprozesses bringt noch einmal eine andere Komponente mit hinein, auf die man sich einlassen können muss.

Alleine der Zugang zu den spiritistischen Einsprengseln geht mir persönlich ab und hätte es wirklich nicht gebraucht. Viel spannender waren da die Schilderungen historischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge, für die sich dann doch alleine schon die Lektüre lohnt. Unter diesen Gesichtspunkten kann ich “Das achte Haus” empfehlen. 

Autorin:

Linda Segtnan wurde 1986 geboren und ist eine schwedische Historikerin und Autorin. Sie hat Audio-Horrorgeschichten mit historischem Bezug zu Orten in Schweden recherchiert, geschrieben und aufgenommen. Das achte Haus ist ihr erstes Buch, es erschien im schwedischen Original im September 2022. Segtnan lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Stockholm.

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Birand Bingül: Alles Propaganda!

Inhalt:

Hass, Wut, Fake News und vermeintliche Verschwörungen: Unsere Debattenkultur ist im Ausnahmezustand, und Polarisierung ist zu einem zentralen Phänomen unserer Gesellschaft geworden. Birand Bingül legt in seinem beunruhigenden Weckruf dar, dass dies Teil einer Propaganda-Strategie ist, die den Kollaps des gesellschaftlichen Dialogs anstrebt – und damit den Kern der liberalen Demokratie angreift. Deutlich wird: Um uns davor zu schützen, müssen wir der Propaganda ins Auge schauen. (Klappentext)

Rezension:

Konstruktiver Dialog und Kompromissfindung, zwei Kernelemente demokratischer Gesellschaften, bekommen weltweit immer stärkeren Gegenwind. Praktisch in jedem Themenbereich findet sich inzwischen aufgeheizte Rhetorik, die versucht den Diskurs zu bestimmen, was nicht zuletzt an Parteien und Personen liegt, die Macht um der Macht willen erlangen wollen und dazu mehr oder weniger offen ausgefeilte Strategien benutzen, die manipulativ die Diskussionen in eine bestimmte Richtung lenken und halten sollen.

Wenn man das Monster der Propaganda verstehen und seinen Schockwellen etwas entgegenstellen will, muss man zunächst das Wesen einer Propagandapartei erkennen. Landläufig kursieren verschiedene Bezeichnungen, die jedoch den Kern des Phänomens verfehlen.

Birand Bingül: Alles Propaganda! Wie Manipulation unsere Demokratie gefährdet

Doch wie funktioniert das, was man Propaganda nennt, eigentlich? Was ist das überhaupt? Wie unterscheiden sich Propagandisten und ihre Parteien von jenen, die dem gegenüber stehen? Welche Ziele haben diese und wie versuchen sie, die Oberhand in unseren Gesellschaften zu erlangen und zu halten? Dieser Thematik hat sich nun der deutsche Journalist und Autor Birand Bingül angenommen.

In der hervorragenden kleinen, aber um so wichtigeren Reihe “Zündstoff” aus dem Atrium-Verlag, innerhalb derer sich verschiedene Autor:innen bereits mit dem strukturellen Problem des Rassismus beschäftigt haben oder etwa dem Zustand der Pflege, wird nun ein neuer Aspekt aufgerollt. In sehr kompakter Form und klarer Sprache geht es zunächst um die Unterschiede und Entwicklung von Propagandaparteien anhand verschiedener Beispiele weltweit.

Der Autor stellt verschiedene Stufen dar und erläutert sie etwa an der polnischen PiS oder der ungarischen Fidez, verliert zugleich jedoch nicht den Blick vor der eigenen Haustür. Auch in Deutschland sitzt mit der AfD eine Partei in den Parlamenten, die die Klaviatur der Propaganda perfekt beherrscht. Natürlich fehlt nicht die Rückschau auf unsere Geschichte, in der die Nationalsozialisten ihrerseits die Welt in den Abgrund stürzten und man sich zu manchen Aspekten heute noch fragen mag, wie konnte dies passieren?

Hier zeigt Bingül sehr sachlich und kompakt verschiedene Kommunikationsstrategien anhand verschiedener Quellen auf, mit derer Hilfe Propagandisten bestehende Normen zu ihrem Vorteil nutzen, umkehren, um ihren eigenen Spielregeln Wirkung zu verschaffen und warum es so schwierig ist, für liberale Demokratien, dagegen anzukämpfen, dem auch zu widerstehen.

Und wie sehen Lösungsstrategien gegen Propaganda aus? Die Antworten darauf rechtfertigen eigene Texte und so fehlen diese im Gegensatz zum Aufbau anderer Werke innerhalb dieser Reihe. Wichtig ist zunächst einmal, seinen Blick zu schärfen für Ursache und Wirkung von Propaganda, um die Anfälligkeit im Einzelnen dafür zu verringern. Das möchte Birand Bingül mit seinem Text erreichen, denn ohne Verständnis für die Funktionalität ist der versuchten Verhärtung der Fronten weltweit kaum zu begegnen.

Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass Propaganda einfach weggehen oder wegbleiben wird. […] Die Gefahr ist da. Immer.

Birand Bingül: Alles Propaganda! Wie Manipulation unsere Demokratie gefährdet

Das ist Grundlagenliteratur par excellence, die man gerade heute, wo Propagandisten mit ihren medialen Werkzeugen und auch sonst, Stück für Stück Vielfalt, Diversität und Kompromissfindung, eine sachliche Debattenkultur bekämpfen, benötigt. Man kann sich die Lektüre sowohl im universitären Bereich vorstellen als auch als Unterrichtsgrundlage für höhere Schulklassen, aber auch, wenn man selbst einen Überblick erhalten möchte, der einlädt, sich mit der Thematik näher auseinander zu setzen.

Autor:

Birand Bingül wurde 1974 geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Nach einem Studium der Journalistik in Dortmund arbeitete er beim WDR und als Reporter für verschiedene Nachrichtensendungen, u. a. der Tagesschau und den Tagesthemen. Von 2005 an trat er dort regelmäßig als Kommentator auf, zudem veröffentlichte er mehrere Werke, seinen ersten Roman im Jahr 2002, zudem mehrere Sachbücher.

Von 2010-2014 war Bingül stellvertretender Unternehmenssprecher des WDR, zudem ab 2020 Leiter der ARD-Kommunikation. Nach verschiedenen Stationen ist er seit 2022 Geschäftsführer einer Beratungsagentur. 2017 entschloss er sich unter Eindruck der gefährdeten Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei seine türkische Staatsbürgerschaft aufzugeben.

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Dorothy B. Hughes: Ein einsamer Ort

Inhalt:

Einsam und frustriert lebt der ehemalige Jagdflieger Dix Steele im Los Angeles der späten 1940er Jahre. Nachts streift er durch die Stadt und stellt Frauen nach. Als er einen alten freund wieder trifft, ist er fasziniert von dessen Arbeit als Detective. Unmittelbar kann Dix mitverfolgen, wie Brub die Morde an einer Reihe junger Frauen untersucht – und es beginnt ein nervenaufreibendes Spiel, bei dem immer unklarer wird, wer eigentlich auf der Jagd nach wem ist.

Dorothy B. Hughes, die lange vergessene Pionierin der Kriminalliteratur, blickt unerschrocken und hellsichtig in die Abgründe von Frauenfeindlichkeit und Gewalt.
(Klappentext)

Rezension:

Nicht wenige der modernen Thriller dieser Tage setzen auf den Effekt und rasanten Wendungen, gleichsam eines rasanten Films, in dessen Handlungssträngen Details versteckt werden, die man normal zuschauend, gar nicht so schnell wahrnehmen kann. Der klassische Kriminalroman früherer Jahre kommt leiser daher, setzt auf die charakterliche Ausarbeitung der Figuren, der psychologische Effekt steht im Vordergrund oder das Ermitteln selbst. Der Weg ist das Ziel, welcher zu einer überraschenden Wendung und schließlich zur Auflösung führt.

Mit “Ein einsamer Ort” ist ein solches Erzählstück wieder neu aufgelegt worden, der mit Erscheinen Weichen stellte. Die amerikanische Autorin Dorothy B. Hughes durchbrach, nicht nur hier, bis dahin geltende klassische Erzählkonventionen (was hier nicht näher erläutert werden kann, sonst würde man einen Teil der Auflösung verraten) und schuf eine Geschichte, in die sich auch heute noch gut eintauchen lässt.

Das beginnt schon mit der Konzentration auf nur eine Perspektive, aus deren Sicht erzählt wird. Verdächtig ruhig ist es im Los Angeles der 1940er Jahre, fast zu ruhig, doch im Inneren des städtischen Ballungsraumes rumort es. Eine Mordserie an Frauen erschüttert die Metropole. Die ermittelnde Polizei tappt im Dunkeln. Lange ist nicht klar, wird auch den Lesenden nicht klar sein, wer hier Täter ist, auch wenn sich ein Verdacht aufgrund der Art des Erzählens schnell ergibt. Fast zu schnell. Doch Beweise fehlen lange.

Fast nüchtern wird aus der Sicht des ehemaligen Jagdfliegers erzählt, dessen Charakter zunächst schwer zu fassen, dann greifbar ist. Er ist es auch, aus dessen Perspektive die anderen Figuren beleuchtet, gewertet werden. Dorothy B. Hughes hat es verstanden, ihren Figuren klare Konturen zu geben, die Lesenden förmlich in eine trügerische Stille einzulullen, um dann nur eine einzige überraschende Wendung einzuführen, die zum Ziel gereicht. Die Rollenzuteilung bei der Auflösung war schon für damalige Zeiten überraschend und wirkt auch aus heutiger Sicht sehr modern.

Der Zeitraum der Handlung umfasst wenige Wochen und die Anzahl der Charaktere, die alle ein entgegengesetztes Gegenüber besitzen, ist überschaubar, was das Einfinden in die Erzählung erleichtert. Der nüchterne Ton wirkt zuweilen kalt und unnahbar. Wer nur moderne Thriller gewohnt ist, wird zunächst irritiert sein. Es finden sich kaum Darstellungen von Gewalt, ausführliche Beschreibungen. Die Bedrohung bleibt für lange Zeit sehr diffus. Unterschwellig ist sie jedoch immer vorhanden.

Durch die Konzentration aufs Wesentliche hat sich Dorothy B. Hughes nicht verzettelt, sondern ihre Handlungsstränge konzentriert zu Ende geführt. Logikfehler sind keine zu entdecken oder zumindest zu vernachlässigen. Klassische Rollenmuster werden durchbrochen, einzelne kleine Blickpunkte auf das amerikanische Alltagsleben und schon damals vorhandene gesellschaftliche Gegensätze gegeben, ohne dass die Handlung verloren wird. Interessant aus heutiger Sicht die Beschreibung derer, die aus den Schrecken des Krieges aus Europa zurückgekehrt sind und wieder in einen Alltag sich einfinden müssen, der nicht mehr der ihre ist. Der Kriminalroman wurde zwei Jahre nach Kriegsende, 1947, veröffentlicht.

Wer liest findet sich ein, überrascht vielleicht am Ende von der Perspektive, die man die gesamte Zeit über eingenommen hat. Dorothy B. Hughes ist nichts für den Fan rasanter Kriminalliteratur oder blutrünstiger Thriller. Wer psychologische Aspekte mag, eingebettet in einer ruhigen Erzählung und dennoch überraschender Wendungen, die hier sehr sparsam gesetzt sind, wird mit “Ein einsamer Ort” jedoch spannende Stunden erleben.

Autorin:

Dorothy Belle Hughes wurde 1904 in Kansas City, Missouri geboren und ist eine US-amerikanische Kriminalschriftstellerin und Literaturkritikerin gewesen. Zunächst studierte sie Journalismus und arbeitete für verschiedene Zeitungen, belegte an mehreren Universitäten Kurse. 1931 gewann sie mit ihrem Schreibdebüt, einem Gedichtband einen wichtigen Literaturwettbewerb, bevor sie 1940 ihren ersten Kriminalroman veröffentlichte.

Sie gilt als eine der wichtigsten Vertreterinnen der amerikanischen Hardboiled Literature. 1963 erschien ihr letzter Roman. Ihre Werke wurden teilweise verfilmt, zudem betätigte sie sich als Literaturkritikerin. Dafür gewann sie mehrere Male den Edgar Allan Poe Award. Hughes starb 1993.

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Francis Seeck: Zugang verwehrt

Inhalt:

Eine bislang weitgehend ignorierte Diskriminierungsform prägt das Leben vieler Menschen fundamental: Klassismus. Die Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und Position spaltet unsere Gesellschaft, in der die Schranken zwischen den Klassen immer unnachgiebiger werden. Soziale Unterschiede spitzen sich dramatisch zu. Und Francis Seeck zeigt ganz klar: Eine gerechte Gesellschaft können wir nur erreichen, wenn wir uns mit Klassismus auseinandersetzen! (Klappentext)

Rezension:

Eine der großen Gefahren für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist verglichen mit anderen Punkten, die ebenfalls zu deren Spaltung beitragen, vergleichsweise unsichtbar oder, genauer, vor allem sichtbar für jene, die es betrifft. Klassismus ist der Oberbegriff dieses Phänomens, welches das Leben einer immer größeren Gruppe von Menschen bestimmt und dies von Geburt an. Die Kulturanthropologin und Antidiskriminierungstrainerin Francis Seeck hat nun eine zugängliche Diskussionsgrundlage verfasst, die zum Anlass genommen werden darf, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen.

Wenn immer mehr Einkommen für Miete aufgewendet werden muss, Parkbänke so gestaltet werden, dass sich wohnungslose Menschen nicht länger dort aufhalten mögen und können, gleichzeitig die Lücke zwischen Arm und Reich immer unüberwindbarer wird, ein Aufstieg sowohl materiell als auch sonst gesellschaftlich kaum mehr möglich ist, ist dies nichts anderes als sich eine immer stetiger zeigende Festigung von Unterschieden. Damit ist dies Grundlage einer Ideologie, die nicht nur allein als Diskriminierungsform, sondern fast immer auch in Verbund mit anderen daherkommt.

Die Autorin, als Eine, die sich selbst durch Klassenschranken kämpfen musste, erklärt die Entstehung des Begriffs und seine Fascetten, die historische Dimension und ihre heutigen Ausprägungen, zugleich Verknüpfungspunkte und Lösungsmechanismen, über die zumindest nachgedacht werden sollte.

Dieses Buch soll zeigen, wie die oft ignorierte Diskriminierungskategorie Klassismus unsere Gesellschaft umfassend prägt. Mein Ziel ist, Menschen für Klassismus zu sensibilisieren, damit wir gemeinsam für eine sozial gerechtere Gesellschaft kämpfen. Es reicht nicht, über Klassismus zu reden und neue Theorien zu entwickeln, wir sollten auch ins klassismuskritische Handeln kommen.

Francis Seeck: Zugang verwehrt – Keine Chance in der Klassengesellschaft

Das klingt zunächst sehr technisch, doch anhand von Beispielen, die sie immer wieder einbringt, beleuchtet Seeck beide Seiten unserer und vergangener klassistischer Gesellschaften, derer die danach streben und derer, die dagegen ankämpfen. Gleichzeitig verliert sie jedoch nicht den Blick auf jene, die als Opfer dieses Systems so stark darin gefangen sind, dass sie Hilfe brauchen, um sich da raus zu kämpfen. Dies aus Perspektiven, die heute immer noch zu wenig eingenommen werden.

Wie auch den Schreibenden der bereits erschienenden Streitschriften der Reihe “Zündstoff” gelingt es ihr in kompakter Form Grundlagenwissen zu einer wenig bisher differenziert beleuchteten Thematik zu vermitteln, dass zwangsläufig neue Perspektiven gewonnen werden, ohne dass man zugleich mit allen genannten Lösungsvorschlägen einverstanden muss.

Schnell wird man jedoch feststellen, wie sehr man selbst vielleicht im klassistischen Denken verhaftet und wie schwer es angesichts unserer Gesellschaft ist, dauerhaft umzudenken. Diesen Prozess anzustoßen, ist ein Kraftakt, der mit dem Lesen der Denkschrift und der Diskussion die folgen sollte, der Francis Seeck gelungen ist.

Autorin:

Francis Seeck wurde 1987 geboren und ist eine deutsche Kulturantropologin und Antidiskriminierungstrainerin. Sie studierte zunächst Kulturwissenschaften an der Europa Universität Viadrina und Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität Berlin, an der sie auch promovierte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Antidiskriminierung und Gender, qualitative Sozialforschung und soziale Gerechtigkeit.

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Riku Onda: Die Aosawa-Morde

Inhalt:

An einem stürmischen Sommertag veranstaltet die Familie Aosawa ein rauschendes Fest. Doch die Feier verwandelt sich in eine Tragödie, als siebzehn Menschen durch Zyanid in ihren Getränken sterben. Die einzige Unversehrte ist Hisako, die blinde Tochter des Hauses. Kurz darauf begeht der Mann, der die getränke lieferte, Selbstmord und besiegelt damit scheinbar seine Schuld, während seine Motive im Dunkeln bleiben.

Jahre später versuchen die Autorin eines Buches über das Verbrechen und ein Ermittler, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Doch die Wahrheit ist nichts anderes als ein Gegenstand, der aus einer bestimmten Perspektive beleuchtet wird… (Klappentext)

Rezension:

Honne und Tatame sind Begriffe für gesellschaftliche Phänomene, wie sie in dieser Form wohl in kaum einem anderen Land so ausgeprägt existieren, wie in Japan. Der eine bezeichnet die wahrer Gefühle einer Person, die entgegengesetzt zu denen stehen können, die von der Gesellschaft erwartet werden. Der andere Begriff steht für die Äußerung und das Verhalten, welches von der Gesellschaft erwartet wird, je nachdem welche Position man inne hat.

Die damit verbundene Komplexität und damit einhergehenden Problematiken werden erst seit kurzem in der japanischen Öffentlichkeit diskutiert, bilden im ersten Kriminalroman der Autorin Riku Onda die Grundlage für zahlreiche spannende Momente.

Der Auftakt entspricht dem, klassischer Kriminalliteratur,. Wir Lesende wohnen einem Fest bei, welches von einer in der örtlichen Gemeinschaft anerkannten Familie ausgerichtet wird, wo es zur Katastrophe kommt. Gift in Getränken ist der Auslöser einer sich über Jahre ziehenden Handlung. Alleine Hintergründe, nicht zuletzt die Identität der mordenden Person, bleiben lange im Dunkeln.

Unnahbar sind von Beginn an alle Charaktere aus deren wechselnder Perspektive erzählt wird, ohne dies immer klar voneinander abzugrenzen. Hier ist Konzentration erforderlich. Der nüchterne und distanzierte Erzählstil ist gewöhnungsbedürftig und macht es anfangs schwer, in die Geschichte hinein zu finden. Doch wirkt dies wie ein Sog.

Man folgt den beiden Hauptprotagonisten auf der Suche nach Spuren, die einander kreuzen, parallel zueinader verlaufen, um dann doch wieder eine völlig andere Richtung zu nehmen. So ruhig, wie der erzählstil der Autorin wirktz, so unscheinbar sich die Übergänge lesen, so viele Verdächtige tun sich auf, was fast bis zum letzten Kapitel durchgehalten wird.

Subgenres der Kriminalliteratur werden hier gekonnt vermischt und ein einzigartiger Blick in die japanische Kultur der Verschlossenheit gewährt, sowie die Perspektiven einer Familie, die von außen kaum zu durchdringen sind. Eingebettet ist das in einem ruhigen, fast stoischen Schreibstil, den man als lesende Person anfangs ebenso stoisch aufzunehmen hat.

Zu gefühlige Menschen werden mit Riku Ondas Art des Erzählens wohl an ihre Grenzen stoßen, auch ist Durchhaltevermögen über weite Strecken nicht von Nachteil. Die Auflösung indes ist stimmig und folgerichtig. Hier gibt es keine wirren Wendungen, auch ist man selbst bis zur letzten Zeile gefordert. Kriminalliteratur nach durchschnittlich europäischen Maßstäben ist das nicht. Zudem sollte man auch nicht davor zurückschrecken, dass bewusst Fragen offen gehalten werden.

Wer damit zurechtkommt, den seien “Die Aosawa-Morde” empfohlen. Nur zu tief ins Glas schauen, sollte man dabei vielleicht nicht, viel eher darauf achten, was sich darin befindet.

Autorin:

Riku Onda wurde 1964 geboren und ist eine japanische Schriftstellerin. 1992 veröffentlichte sie ihr literarisches Debüt, dem weitere Werke folgten. Im jahr 2005 gewann sie den Yokoshiwa Eiji Preis. Seit 2002 wurden bereits mehrere ihrer Werke verfilmt. Ihr Spannungsroman “Die Aoasawa-Morde” gewann den Mystery of Writers of Japan Award.

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Donato Carrisi: Ich bin der Abgrund

Inhalt:
Es ist zehn vor fünf morgens. Der Müllmann beginnt mit seiner Arbeit. Er mag sie – er weiß, dass in dem, was die Menschen wegwerfen, die größten Geheimnisse verborgen sind. Und auch er hat eines: den gelegentlichen denkwürdigen Abend, der seine Routine bricht. Was er nicht weiß, dass bald alles auf den Kopf gestellt werden wird.

Er wird in die unsägliche Geschichte eines Mädchens mit einer lila Haarsträhne verwickelt werden. Und noch etwas weiß der Müllmann nicht – da draußen sucht jemand nach ihm. Die Fliegenjägerin hat nur eine Mission: den Schatten im Herzen des Abgrunds zur Strecke bringen. (Klappentext)

Rezension:
Die alltägliche Routine gibt ihm Sicherheit, ihm, der sonst nicht viele Gewissheiten hat. Am Rande der Gesellschaft lässt er den Unrat der Anderen so unauffällig verschwinden, wie auch er unsichtbar scheint. Der Müllmann weiß, im Zurückgelassenen liegen die Geheimnisse der Menschen vor ihm ausgebreitet.

Auch er selbst ist ein Geheimnis, hat eines und sucht nach dessen Lösung. Gedankenversunken macht er sich an die Arbeit, bis dieses Ritual unterbrochen wird. Ein Mädchen droht zu ertrinken. Er rettet es und setzt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die alle in seiner Umgebung, auch ihn selbst, in den Angrund reißen werden.

So viel zum Auftakt des nun vorliegenden Kriminalromans, des italienischen Schriftstellers Donato Carrisi, der inspiriert vom Fall des “Monster von Foligio” Luigi Chiatti, erneut die finsteren Abgründe des Menschen seziert. Diesmal verlegt am geheimnisvollen Comer See, setzt die Geschichte den Protagonisten von Zeile zu Zeile so dermaßen zu, dass man sowohl mit Opfer, Ermittler und dem Täter selbst leidet, der sich von Beginn an erahnen lässt. Hier ist der Weg, die Ermittlungsarbeit das Ziel. Scham, Zweifel und nicht erfolgte Vergangenheitsbewältigung sind handlungstreibende Elemente.

Aus wechselnden Perspektive wird “Ich bin der Abgrund” erzählt, was die Spannung hält, jedoch das eine oder andere Detail hinunterfallen lässt, welches später auch kaum mehr aufgegriffen wird. So wirkt mancher Wechsel zu abrupt, zu gewollt. Ausgeglichen wird dies jedoch dadurch, dass es Carrisi gelingt, hier mit der psychischen Verfassung der Beteiligten gekonnt zu spielen. Was macht uns zu dem, was wir sind? Welche Folgen hat dies, für uns und unsere Umgebung? Anfangs führt dies zu etwas chaotischen Sprüngen, die sich jedoch nach und nach zu einem klaren Gesamtbild fügen und einem beim Lesen komplett in diesen Kriminalfall eintauchen lassen. Zuletzt gelingt dem Autoren dann doch, keinen der Handlungsstränge aus den Augen zu verlieren. Hier hat, zumindest aus der Erinnerung heraus, Donato Carissi sich gegenüber “Enigmas Schweigen” verbessern können.

Positiv ist hier hervorzuheben, im Gegensatz zu den Kriminalromanen aus dem englischsprachigen Raum herrschen hier nicht nur abgehakte oder sehr kurze Sätze vor. Sprachlich schafft der Autor hier eine unheilvolle Atmosphäre, der man sich nicht entziehen mag, auch wenn es durchaus Längen gibt, die ein wenig Durchhaltevermögen beim Lesenden erfordern.’

Was der See nimmt, gibt er nicht so leicht wieder her. In ihm sind viele Geschichten verborgen. Diese immerhin, kann man durchaus lesen.

Autor:

Donato Carrisi wurde 1973 geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Zunächst studierte er Rechtswissenschaften in Rom, spezialisierte sich dabei auf Kriminologie und Verhaltensforschung und beschäftigte sich dabei mit Serienmördern, was ihn später zu seinem ersten Thriller inspirierte. Nach dem Studium arbeitete er zunächst als Anwalt, wandte sich jedoch der Schriftstellerei zu und schrieb diverse Drehbücher für Film und Fernsehen.

Sein erster Thriller wurde 2010 ins Deutsche übersetzt, ein Jahr zuvor wurde Carrisis Debütroman mit dem Premio Bancarella ausgezeichnet. Der Autor lebt frei arbeitend in Rom, schreibt zudem Kolumnen für den Corriere della Sera.

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Hideo Yokoyama: 2

Inhalt:

Ein legendärer Kriminaldirektor, der sich aus dunklen Gründen weigert, seinen Posten zu räumen – und eine junge, aufstrebende Polizistin, die von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Arbeit erscheint. Zwei Fälle, ein Schauplatz: Japan, Polizeipräsidium Präfektur D.

Rezension:

Japan ist das Land der zwei Geschwindigkeiten. Einerseits bestimmt das Leben auf der Überholspur die Menschen, die laufen müssen, um nicht den Anschluss zu verlieren, was widerum mit althergebrachten Traditionen und längst veralteten Rollenbildern kollidiert. Ständig. In diesem Szenario siedelt Hideo Yokoyama seine beiden hier vorliegenden Kurzkrimis an und zeigt damit eine hier nahezu unbekannte Seite des Inselstaats.

Zunächst entführt uns der Autor in die Verwaltungsabteilung eines Polizeipräsidiums und setzt damit gleich zu Beginn den Fokus nicht auf den klassischen Ermittler, sondern auf den Beamten, der ein bürokratisches Problem zu lösen versucht. So trocken sich dies anhört, so ruhig entwickelt sich die Geschichte zu einem unterschwellig spannenden Szenario, welches in dieser kompakten Form allenfalls als Kriminalromannovelle zu bezeichnen ist. Die Kurzgeschichte unter dem Genre Thriller laufen zu lassen, mag eine verlegerisch durchdachte Entscheidung beruhen, ist für mich ob der stoischen Ruhe des Textes kaum nachzuvollziehen.

Andererseits fehlt mir, dies muss fairerweise erwähnt werden, der Vergleich zu weiteren Krimis und Thrillern aus diesen geografischen Raum. Die zweite Geschichte weist da ein etwas höheres Erzähltempo auf. Beide lassen sie sich jedoch flüssig lesen. Für nicht an asiatische Namen gewöhnte Augen sorgt eine Namensliste für den Überblick.

In beiden Geschichten setzt der Autor zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten mit der Lösung an. Hier kommt es sehr darauf an, wie man selbst gerne liest und wie Handlungsstränge wirken. Die Protagonisten sind feinfühlig ausgearbeitet. Eine gewisse Distanz zum Lesenden, gleichsam dem asiatischen Gesellschaftsbild nach immer funktionieren zu müssen, sich nicht in das Seelenleben hineinschauen zu lassen, ist immer vorhanden. Hier zeigt sich Yokoyama durchaus gesellschaftskritisch, auch was den Umgang mit traditionellen Rollenbildern angeht.

So ist, wer einen Krimi nach englischen oder skandinavischen Vorbild erwartet, hier falsch, doch wer gerne einmal Novellen mit gesellschaftskritischen Tönen liest, hier an der geeigneten Lektüre. Die Krimihandlung, die ich hier aufgrund der Kürze der Geschichten, umschiffen musste, spielt ohnehin eine nebensächliche Rolle. Zum “Antesten”, ob Schreib- und Erzählstil von Hideo Yokoyama für einem selbst geeignet sind, ist “2” jedoch passend.

Autor:

Hideo Yokoyama wurde 1957 in Tokio geboren und ist ein japanischer Autor und Journalist. Nach seiner journalistischen Arbeit begann er Kriminalromane zu schreiben, die in mehrere Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet wurden. Sein Werk “64” wurde als bester japanischer Kriminalroman im Jahr 2013 ausgezeichnet, ein Jahr darauf erhielt er den Deutschen Krimipreis in der Kategorie International.

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David Gutensohn: Pflege in der Krise – Applaus ist nicht genug

Inhalt:

Eines der größten Probleme der Gegenwart hat uns die Corona-Pandemie unerbittlich vor Augen geführt: Unser Gesundheits- und Pflegesystem ist in der Krise. David Gutensohn schreibt engagiert und fundiert über die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Mit konkreten Vorschlägen ruft er zum Wandel auf und zeichnet die Vision eines funktionierenden Gesundheitssektors. deutlich wird dabei: Der Pflegenotstand betrifft uns alle, und der Zeitpunkt zum Handeln ist jetzt! (Klappentext)

Rezension:

Wenn Ökosysteme sich nicht mehr aus eigener Kraft regenerieren, klimatische Veränderungen nicht mehr rückgängig gemacht werden können, spricht die Wissenschaft von Kipppunkten. Das sind Momente, in denen unaufhaltsame Folgen in Gang gesetzt werden und nicht mehr umkehrbar gemacht werden können.

Auch unsere Sozialsysteme, unser Gesundheits- und Pflegesystem hat einen solchen, spätestens dann, wenn die geburtenstärksten Jahrgänge der Republik in den Ruhestand gehen und viele von ihnen im Alter gepflegt werden müssen. Schon heute jedoch, stößt die Versorgung Pflegebedürftiger an ihre Grenzen. Pflegekräfte haben weder Wertschätzung in unserer Gesellschaft, noch Zeit für die Patienten, die zu einem reinen Kostenfaktor für die Verwaltungen großer Krankenhauskonzerne geworden sind. Personalmangel, schlechte Bezahlung, wenig Aus- und Weiterbildungschancen tragen ihr übriges dazu bei.

Der Journalist David Gutensohn, der von klein auf mit Pflegenden und zu pflegenden in Kontakt gekommen ist, rechechiert seit längerem zu Thermen wie Gesundheits- und Pflegesystem und hat in der nun vorliegenden Denkschrift herausgearbeitet, wie einige der entscheidenden Mängel mit denen wir heute umgehen müssen, entstanden sind, und wie diese behoben werden können, auch und im Blick auf unsere Zukunft.

Sachlich stellt er zunächst dar, wie unser Gesundheitssystem kommerzialisiert wurde und was dies für die Arbeit in Krankenhäusern und in der Pflege bedeutet. Gutensohn erläutert am Beispiel der viel diskutierten Fallpauschale, wie diese funktioniert, was ursprünglich damit erreicht werden sollte und wie die negativen Auswirkungen sich heute auf medizinische Behandlungen auswirkt, wie sie die schere zwischen chronisch unterfinanzierten kommunalen Krankenhäusern und florierenden Krankenhauskonzernen weiter öffnet. Dem gegenüber stellt er zugleich Lösungsansätze, wie sie heute regional schon versucht werden und erläutert punktuell, was getan werden muss, um die kommunale medizinische Versorgung auch in Zukunft zu gewährleisten.

Diese Gliederung, zuerst die Entstehung eines Problems aufzuzeigen, deren Auswirkungen zu erläutern und dann anhand von Lösungswegen Strategien aufzuzeigen, wie man den Herausforderungen begegnen könnte, durchzieht die gesamte Denkschrift, die bewusst positiv gehalten ist. Zwar sieht der Autor die kritischen Punkte dieser Thematik und die Schwierigkeiten, die damit einher gehen, Gutensohn zeigt jedoch, wie es gelingen kann, dem zu begegnen. Zudem werden viele weitere Facetten erläutert, wie der gravierende Fachkräftemangel oder wie zukünftig unser Gesundheitssystem finanziert werden könnte.

Hier versucht jemand, der den Bereich Pflege und Gesundheit aus eigenem erleben, unzähligen Recherchen und Interviews mit Fachkräften kennt, aufzuzeigen, wie kritisch der momentane Ist-Zustand sich zeigt und wie dem begegnet werden kann. Für und Wider der angesprochenen Punkte werden dabei für Laien verständlich erläutert. Schwierigkeiten dem zu folgen, hat man hier beim Lesen nicht. Bewusst werden fachspezifische Begriffe vermieden. Die Denkschrift selbst entstand aus der Recherche von Gutensohn und anderen geschriebenen Artikeln, aus denen vor allem praktische Beispiele und Szenarien gezogen werden.

David Gutensohn gibt hier Denkanstöße, die sich die Parteien allesamt zu Eigen machen könnten, wenn sie den anstehenden Problemen wirklich begegnen wollten. Zeit dafür wäre jetzt noch, gerade so. er zeigt aber auch, wie sich das gesellschaftliche Klima gegenüber den Pflegenden, etwa in Krankenhäusern und Heimen, ändern müsste, sowie, um nicht ganz den positiven Blick zu verlieren, was sich bereits heute schon tut. Applaus ist nicht genug. War es nie.

Autor:

David Gutensohn hat in Berlin Sozailwissenschaft studiert und besuchte danach die Deutsche Journalistenschule in München. Für Zeit Online schreibt er seit 2019 als Redakteuer über Gesundheits- und Sozialpolitik und Arbeitsmärkte. Er wuchs als Sohn zweier Pflegekräfte in einem Seniorenheim auf und beschäftigt sich heute sehr intensiv mit unserem Pflegesystem.

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Kyle Perry: Die Stille des Bösen

Inhalt:

Das Verschwinden einer Gruppe Teenager in der abgeschiedenen Wildnis der tasmanischen Berge versetzt das Städtchen Limestone Creek in Alarmbereitschaft. In den Achtzigern sind hier schon einmal junge Mädchen verschollen, und die Legende des Hungermanns verfolgt die Gemeinde noch immer.

Als schließlich die übel zugerichtete Leiche eines der Mädchen am Fuß eines Berges gefunden wird, fällt der Verdacht auf wilde Tiere. Doch Detective Badenhorst ist skeptisch – warum ist die Leiche barfuß? Und wie kommen ihre Schuhe auf den Gipfel des Felsens, fein säuberlich zugeschnürt? (Klappentext)

Rezension:

Jeder Ort hat seine ihm ganz eigenen Geheimnisse und nicht alle legen wert darauf, entdeckt zu werden und so quält sich ein kleiner Ort inmitten Tasmaniens mit der grausigen Legende des Hungermanns, der der Meinung der Einheimischen nach, in den 1980er Jahren mehrere Mädchen hat verschwinden lassen. Als plötzlich erneut mehrere Teenager verschwinden und die Geister der Vergangenheit geweckt zu sein scheinen, werden Ereignisse von ungeheurer Tragweite in Gang gesetzt.

Er hockt in den Bergen versteckt, um zu töten.
Er hockt in den Höhlen versteckt, um zu warten.
Der Hungermann, der Hungermann,
er steht auf kleine Mädchen,
auf die hübschen Gesichter aus unserem Städtchen.
Glaub ja nicht, was die Erwachsenen sagen,
der Hungermann wird’s wieder wagen.
Drum geh ich da oben nie allein durch den Wald,
sonst kommt der Hungermann und macht mich kalt.

Kyle Perry: Der Hungermann

So beginnt das Thriller-Debüt des australischen Sozialarbeiters Kyle Perrys, der seine Leserschaft in die magische und auch harte Welt der größten Insel Australiens mitnimmt und auf eine Berg- und Talfahrt sondergleichen schickt. Dabei hält sich der Autor nicht großartig mit einer ausführlichen Einführung der Protagonisten auf. Zu umfangreich ist die Seitenzahl.

Man wird später noch genug Zeit haben, die Charaktere kennen zu lernen. Die Geschichte beginnt sofort mit der auslösenden Handlung und setzt sich in einem immer höheren Erzähltempo fort. Der Schreibstil wirkt zunächst hölzern, je mehr die Protagonisten durch Perry geformt werden, um so feingliedriger jedoch wird die Handlung, die aus Sicht der Charaktere kapitelweise erzählt wird.

Dabei hat sich der Autor viel vorgenommen. Erzählt wird von der Eigensinnigkeit der Kleinstadtbewohner ebenso, wie von den Gegensätzen zwischen Einheimischen und Fremden, ganz normalen Teenager-Problemen und Erscheinungen unserer Zeit in ihren schrecklichsten Formen. Das funktioniert, da Perry in seinem Debüt nichts an Schilderungen ausspart, die Handlung jedoch nur gerade so ausbreitet, wie es notwendig ist, den Geschehnissen zu folgen und ansonsten bis beinahe zum Ende im Unklaren zu bleiben.

Die Protagonisten sind mit Ecken und Kanten versehen, bleiben fast durchgehend glaubwürdig. Nur zum Ende hin wirkt die Geschichte eine Spur zu dick aufgetragen. Da merkt man das Debüt dann doch, ansonsten wird ein Spannungsbogen von Beginn an gezogen, den man mit leichtem Schauer verfolgt. Pluspunkt, Perry bleibt in seinen Schilderungen von Gewalt zurückhaltend, setzt diese nur dort, wo es für die Handlung notwendig und folgerichtig erscheint. Ansonsten ist „Die Stille des Bösen“ ein Psychothriller mit hohem Kriminalromananteil.

Wem dies liegt, kann sich gerne auf die Spuren des Hungermanns begeben. Mit aller Vorsicht.

Autor:
Kyle Perry lebt in Tasmanien und arbeitet als Therapeut und Sozialarbeiter in verschiedenen Highschools, Jugendeinrichtungen und Entzugskliniken. Er stammt aus der Gegegnd der Great Western Tieras, die in seinem Debüt eine bedeutende Rolle spielen. “Die Stille des Bösen” ist sein Erstlingswerk.

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