Rezension

Mattias Berg: Der Carrier

Der Carrier Book Cover
Der Carrier Autor: Mattias Berg Atrium Verlag Erschienen am: 21.02.2020 Seiten: 575 ISBN: 978-385535-039-1 Übersetzer: Steffen Jacobs

Inhalt:

Erasmus Levine hat einen Beruf, den es nur einmal gibt. Er trägt den Koffer mit den Codes, die es dem Präsidenten der USA ermöglichen, Atombomben zu zünden.

Levine gehört einer geheimdienstlichen Abteilung an, die nach 9/11 gegründet wurde, von einem Unbekannten namens “Alpha” geführt. Auf einer Reise des Präsidenten nach Stockholm kommt es zu einem Zwischenfall und Levine trifft auf Alpha. Der hat eine ganz eigene Mission. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Wenn schwedische Krimikunst auf amerikanischen Thrill-Faktor trifft, kommt unter Umständen so etwas heraus, wie das vorliegende Werk von Mattias Berg. Doch, funktioniert die Kombination von schwedischer Gelassenheit und amerikanischer Spannungslektüre überhaupt? Der neue Roman “Der Carrier” zeigt es uns.

Worum geht’s? Der Hauptprotagonist sticht zunächst durch seine ungewöhnliche Tätigkeit hervor, die dem Autoren hier als Dreh- und Angelpunkt seiner Geschichte dient. Levine ist Kofferträger des amerikanischen Präsidenten.

Nicht irgendein Koffer freilich, sondern gleich der mit den Codes, mit deren Hilfe der US-Präsident die volle Kontrolle über das Atomwaffen-Arsenal seines Landes erlangt. Was passiert aber, wenn der Kofferträger in ein Doppelspiel verschiedener Interessen gerät, selbst zur Tarnung seiner Tätigkeit ein solches betrieben hat und plötzlich nicht mehr entscheiden kann, zwischen Fremdbestimmung und eigenem Willen?

Explosiver Stoff ist die Geschichte, deren Erzählperspektive die des Hauptprotagonisten einnimmt, der lange einziger Sympathieträger der Geschichte bleiben wird. Nur hat auch der, wie die anderen eingewobenen Figuren, seine Ecken und Kanten. Zwielicht zieht sich quer durch die Zeilen.

Recht schnell entwickelt sich die Handlung, die von Beginn mehrere Stränge durchziehen, die der Leser bis zuletzt zu entwirren versuchen wird. Erst gegen Ende wird klar, wohin sich die Geschichte entwickeln wird, nachdem mehrere große Längen beim Lesen überwunden wurden.

Dabei ist der Mittelteil richtig gut geschrieben, während man zu Beginn des Buches natürlich nicht ahnen kann, worauf der Autor mit seinem Protagonisten hinaus will. Das Ende hingegen wirkt leider etwas unausgereift. Hier wäre eine Überarbeitung angebracht gewesen, wobei ich selbst mir noch im Unklaren darüber bin, wie diese auszusehen hätte.

Das Werk funktioniert als Mahnung, wie Manipulation wirken kann und welche Kraft einzelne Personen besitzen, wenn sie nur die richtigen “Hebel” bedienen. Die Geschichte gibt jedoch auch Anlass über Atomwaffen und deren Sinnhaftigkeit nachzudenken, zumal, wenn deren Kontrolle in falsche Hände gerät oder überhaupt infrage gestellt wird.

In diesem Punkt widerum ist Mattias Bergs Schreiben sehr stark.

Das Zusammenspiel zwischen skandinavischer Kriminalliteratur und amerikanischen Thrill wirkt etwas holprig, funktioniert jedoch im großen und Ganzen. Ein gelungenes Debüt, mit Potenzial nach Oben. Den journalistischen Hintergrund des Autoren merkt man besonders dann, wenn Fakten eine Rolle spielen. Und so dürfen wir gespannt sein, welche Geschichte uns der Autor als nächstes erzählt.

Autor:

Mattias Berg wurde 1962 in Stockholm geboren und ist ein schwedischer Journalist, Reporter und Schriftsteller. Für die großen schwedischen Tageszeitungen arbeitete er als investigativer Journalist. Heute leitet er die Kulturredaktion des schwedischen Radios. Mit seiner Familie lebt er in Stockholm. Dies ist sein erster Roman.

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Josef Haslinger: Mein Fall

Autor: Josef Haslinger

Titel: Mein Fall

Seiten: 139

Genre: Biografie

Hardcover

Verlag: S. Fischer

ISBN: 978-3-10-030058-4

Inhalt:
Als Zehnjähriger wurde Josef Haslinger Schüler des Sängerknabenkonvikts Stift Zwettl. Er war religiös und wollte Priester werden, er liebte die Kirche. Seine Liebe wurde von den Patres erwidert. Erst von einem, dann von anderen.

Ende Februar 2019 tritt Haslinger vor die Ombudsstelle der Erzdiözese Wien für Opfer von Gewalt und sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Dreimal muss er seine Geschichte vor unterschiedlich besetzten Gremien erzählen. Bis der Protokollant ihn schließlich auffordert, sie doch bitte selbst aufzuschreiben. (Inhaltsangabe des Verlags)

Rezension:

Meine Eltern hatten mich der Gemeinschaft der Patres anvertraut, weil mich dort das Beste, das selbst sie mir nicht geben konnten, erwarten würde. Ich habe sie heimlich oft verflucht, weil sie mich nicht darauf vorbereitet hatten, was dieses Beste sei…

Josef Haslinger: “Mein Fall”.

Wie viel Leid muss ein Mensch eigentlich ertragen, bevor ihm geglaubt, bevor er angehört und ihm Gerechtigkeit wiederfahren wird?

Zumindest benötigen sie zumeist einen langen Atem und Durchhaltevermögen, im Falle Josef Haslingers wohl auch eine gewaltige Portion Glück, der sich 2019 der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft und der Unabhängigen Opferschutzkommission anvertraute, die in Österreich die Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche untersuchen soll.

Er selbst wurde als Kind in einem kirchlichen Internat sexuell missbraucht und musste erst lernen, darüber zu sprechen, vertraute sich den miteinander verzahnten und von der Kirche selbst gestützten Organisationen erst an, als seine Peiniger von Einst nicht mehr lebten.

Dieser Zustandsbericht, gleichermaßen Kindheitsbiografie und Verarbeitungsversuch dessen, was kaum zu verarbeiten ist, ist nun das Resultat. Nach und nach erfährt der Leser, wie das Kind in die Hände der Patres kam und missbraucht wurde.

Ein schleichender Prozess, den der zunächst Zehnjährige nicht erkennt als das, was es ist. Eben Missbrauch und Gewalt. Parallel erzählt der Autor auch vom erschwerten Verarbeitungsprozess einer Kirche, deren Taktik zu verschleiern, zu verzögern, zu zermürben schon in den allerersten Zeilen deutlich wird.

Wie kann da eine Aufarbeitung gelingen. Die Schilderungen Haslingers, wie dieser von einer zur anderen Stelle geschickt und schließlich selbst aufschreiben sollte, wofür es keine Worte gibt, lassen beim Leser das Blut kochen. Vor Wut auf eine mittelalterliche und rückständige Organisation, die weder Willens noch fähig zu Veränderungen ist.

Auch, wenn man sich nach außen einen reumütigen Anschein gibt.

Aber auch Haslinger selbst, der diesen Bericht zugleich als Verarbeitung des Gewesenen verstanden lassen möchte, muss sich fragen lassen, was er mit “Mein Fall” eigentlich erreichen möchte.

Vorwürfe, die er macht, werden von ihm selbst gleich wieder relativiert, erste Annäherungs- und Sexualisierungsversuche der Patres als nicht so schlimm im Nachhinein gesehen. Zugleich will er ganz klar den Pädophilen vom Lehrenden trennen, gleichwohl diese in Gestalt bestimmter Padres die gleichen Personen sind.

An den Lehrer erinnert sich Haslinger durchaus mit Wohlwollen, an den Täter natürlich nicht. Die Denkweise Haslingers, erst nach dem Tod der Täter damit an die Kontaktstelle der Missbrauchsaufklärung zu treten, um den Lebenden keinen Rufschaden hinzuzufügen, finde ich ebenfalls schwierig, als Außenstehender kaum nachzuvollziehen.

Der Ansatz Täterschaft und Neigung voneinander zu trennen, ist zwar durchaus modern, doch sollten Taten klar benannt und als solche bezeichnet werden.

Der Autor steht noch ganz am Anfang dieses Verarbeitungsprozesses. So viel ist nach der Lektüre klar, jedoch kann man aus der Lektüre selbst nichts ziehen. Josef Haslinger will sich nicht an staatliche Stellen wenden, da er sich nun einmal an die von der Kirche gehandhabten Organisation zur Bearbeitung seines Falls gewendet hat.

Als Leser bleibt man ratlos zurück. Vielleicht nur mit der Frage, warum rennt der Autor so offen gegen eine vor sich auftauchende Wand? Warum, um bei dieser fragwürdigen Organisation zu bleiben, in die Hand derer, die die Kindheit Haslingers einst verrieten?

Zumindest indirekt. Dabei wird nichts herauskommen. Dieser Bericht ist eher für die private Schublade gedacht oder für den Psychotherapeuten. Nicht jedoch für die Leser mit Gewinn zu lesen.

Andere, wie etwa Bodo Kirchhoff (“Dämmer und Aufruhr”), sind da weiter.

Autor:

Josef Haslinger wurde 1955 geboren und ist ein österreichischer Schriftsteller. Er lebt in Wien und Leipzig, lehrt seit 1996 als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.

Der Autor, der in seinen Werken u.a. die Tsunami-Katastrophe 2004 verarbeitete, die seine Familie und er erlebten, erhielt bereits zahlreiche Preise, zuletzt den Preis der Stadt Wien und den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels.

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Sasa Stanisic: Herkunft

Autor: Sasa Stanisic

Titel: Herkunft

Seiten: 366

Genre: Biografie/Rezensionsexemplar

Format: Hardcover

ISBN: 978-3-630-87473-9

Verlag: Luchterhand

Inhalt:
“Herkunft” ist ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt. (Klappentext)

Rezension:
Einem Autoren, der den Deutschen Buchpreis bekommen hat, sollte man grundsätzlich misstrauen. So jedenfalls scheint es, wenn man die Meinungen von Feuilleton, Buchhandel und Leserschaft gegenüber stellt. Gerade Stanisics Werke polarisieren.

Doch ist es nicht die vornehmste Aufgabe eines Schriftstellers, die Leser zu zwingen, Stellung zu beziehen? Genau das tut Sasa Stanisic in seinem semibiografischen Werk “Herkunft”, welches als loses Puzzle beginnt, sich erst nach und nach zu einem schlüssigen Gesamtbild zu fügen.

Dabei sind die Themen, aus denen der im ehemaligen Jugoslawien geborene Schriftsteller schöpfen kann, vielfältig. Familie natürlich, spielt immer eine Rolle. Der Begriff “Heimat, was ist das überhaupt, sowie so.

Der Zerfall eines Staates in seine Einzelteile, sowie das Erlangen der Sprache, das Spielen mit der selben und natürlich Biografie, seine selbst und die der Großmutter, die noch in einer anderen Zeit aufgewachsen ist, bedingt durch ihr schwindendes Gedächtnis nur dort wieder Zuflucht findet.

Stanisic zeigt, was es heißt, Heimat zu verlieren, zu gewinnen, aus der Herkunft Kraft zu ziehen und das Leben zu lieben. Trotz der Unwägbarkeiten, oder gerade deshalb.

Das ist zunächst nur schwer zugänglich. Das gekonnte Spielen mit der Sprache, die nicht die erste ist, Zeitsprünge, denen man sich als Leser ausgesetzt sieht, die anfangs nur schwer nachzuvollziehen sind, Puzzelteile, die kein klares Bild ergeben.

Die ersten Seiten muss man sich erkämpfen, das erste Drittel des Werkes auf sich wirken und Schreib- und Erzählstil wirken lassen. Sasa Stanisics Perspektive ist die des Kindes, des Jugendlichen, des Erwachsenen und immer die des Suchenden. Verwirrend ist das, aber gerade zu genial.

Es ist der 7. März 2018 in Visegrad, Bosnien und Herzegowina. Großmutter ist siebenundachtzig Jahre alt und elf Jahre alt.

Sasa Stanisic: “Herkunft”

Wer die dadurch entstandenen Hürden überwindet, entdeckt eine wunderbare Erzählung, zieht Parallelen zur heutigen Zeit. Wie mag es den hunderten Flüchtlingen heute gehen, die natürlich eine Herkunft haben, eine Heimat verloren haben und eine neue suchen?

Was ist das überhaupt, Heimat? Essentielle Fragen, auf die es keine einfache, keine eindeutige Antwort geben kann. Dies zu verdeutlichen, ist Stanisics Stärke, natürlich im Zusammenhang mit dem Spiel der Sprache.

Die Stile vermischen sich. Mal biografische Erzählung, mal Aufsatz, mal Roman und am Ende gar Spielbuch. Entscheide du, wie das Geschriebene endet. Als loses Puzzle, also so, wie “Herkunft” begann, als Phantasiegeschichte des Enkels, der Großmutter oder eben als schlüssiger Roman, der es in sich hat.

Je nach Stimmung, kann man probieren, was für sich funktioniert. Toll. In Bezugnahme auf frühere Texte Stanisics, Reden, Kapitel aus anderen Büchern, zeigt dieses Werk, was so vieles sein soll, so vieles ist, dass hier ein Schriftsteller Träger des deutschen Buchpreises zurecht ist.

Der Lesende wird aus der Lektüre mit mehr Fragen entlassen, als Antworten zu bekommen. In diesem Falle, eine große Stärke.

Autor:

Sasa Stanisic wurde 1978 in Visegrad, Jugoslawien, geboren und ist ein deutschsprachiger Schriftsteller. 1992 flüchtete er mit seiner Familie nach Deutschland und studierte nachder Schule Literatur.

Für Erzählungen und Romane, erhielt er u.a. den Preis der Leipziger Buchmesse, sowie zuletzt den Deutschen Buchpreis. 2019 kritisierte er die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke.

Er ist Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg und des PEN-Zentrums Deutschland. Stanisic lebt mit seiner Familie in Hamburg. Seit 2013 ist er deutscher Staatsbürger.

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Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse

Autor: Christian Baron

Titel: Ein Mann seiner Klasse

Seiten: 284

Biografie/Rezensionsexemplar

Hardcover

Erschienen am: 31.01.2020

ISBN: 978-3-546-10000-7

Verlag: claassen

Inhalt:

Christian Baron erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seines prügelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge männliche Gewalt zu erfahren.

Was es heißt, als Jugendlicher zum Klassenflüchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden. Ein Buch über das Leben und Sterben, das nacheifern und Abnabeln, das Verdammen und Verzeihen. (Klappentext)

Rezension:

Deprimierender geht es kaum, möchte man meinen, so man den Buchdeckel aufgeschlagen und die ersten Zeilen gelesen hat. Schon ist man versunken, in die Kindheitsbiografie des Einen, der sich Stück für Stück aus Elend und Verzweiflung, vor allem aber aus prekären Familienverhältnissen und Armut herausgekämpft hat.

Christian Baron erzählt kompromiert vom Aufwachsen im Armutsviertel von Kaiserslautern, vom gewalttätigen Vater und einer überforderten Mutter.

Wenig hoffnungsvolles, dafür viel Trostlosigkeit über weite Strecken, aus der Sicht des Kindes und eines Erwachsenen, der es geschafft hat, den allem zu entkommen, irgendwie jedoch auch für immer damit verbunden bleibt.

Der Autor erzählt aus der Beobachtungswarte des Kindes heraus, welches die Perspektivlosigkeit seiner Eltern gepachtet zu haben scheint, dessen Ankämpfen dagegen sämtliche Erwachsene kritisch sehen. Viel ist es nicht, was den Jungen aufrecht hält, und doch gibt es sie, die Strohhalme, nach denen er greift.

Einfühlsam und detailliert beschreibt er die zahllosen Kämpfe gegen die Vorurteile von Jugendämtern, Familienmitgliedern, Klassenkameraden und Lehrern, aber auch die kurzen Momente des Glücks. Davon gibt es wenige. Sie sind rar gesät.

Zeile für Zeile arbeitet der Autor das Elend und die Verzweiflung heraus. Wer etwas Optimistisches lesen möchte, ist hiermit auf weite Strecken falsch bedient. Doch, nach und nach, zeigt sich das Glück, tritt die Pro-Seite gegenüber den Contras mehr hervor.

Der Weg des Protagonisten, des Autoren selbst scheint auf einem frühen Foto von ihm mit seinen Geschwistern vorgezeichnet. Eine kritische Sozialstudie über eine Kindheit in einer abgehängten Stadt, in der Trostlosigkeit der Verlorenen in den 1990er Jahren, zwischen Krankheit und Tod, verfehlter oder nicht vorhandener Liebe und Alkoholismus.

Der Leser wird dazu verdonnert, mit zu leiden, sich jedoch mit den Protagonisten, der der Autor ist, und umgekehrt, freuen, bleibt schließlich nachdenklich zurück.

Wie ist es, in einem reichen Land wie Deutschland in Armut aufzuwachsen? Chancenlos zu sein, wo sich viele Chancen bieten? Aus vorbestimmten Verhältnissen auszubrechen, dabei sich immer mehr von seiner Familie zu entfernen?

Christian Baron ist diesen Weg gegangen und erzählt davon, wie es ist, aufzusteigen und doch immer ein Mann seiner Klasse zu bleiben. Diese kritische Sozialstudie in Romanform lässt seine Leser so schnell nicht los. Alleine dafür lohnt sie sich.

Autor:

Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren und ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Nach der Schule studierte er Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik. Anschließend arbeitete er als Redaktuer bei der Zeitung Neues Deutschland, wo er im Feuilleton für’s Theater verantwortlich war.

Aktuell schreibt er für die Wochenzeitung Der Freitag. 2019 veröffentlichte er ein autobiographisches Essay über die Gewalt seines Vaters gegen die Mutter, woraus ein Buch erwuchs, welches im Jahr 2020 veröffentlicht wurde. Ein Mann seiner Klasse.

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Ulinka Rublack: Der Astronom und die Hexe

Der Astronom und die Hexe Book Cover
Der Astronom und die Hexe Autorin: Ulinka Rublack Klett-Cotta Erschienen am: 25.02.2020 (TB) Seiten: 409 ISBN: 978-3-608-98243-5 Übersetzer: Hainer Kober

Inhalt:
Deutschland, 1615. Die Mutter des berühmten Astronomen Johannes Kepler wird als Hexe angeklagt. Vor der faszinierenden Kulisse einer Welt im Wandel zwischen Magie und Naturwissenschaft beschreibt Rublack fesselnd und bewegend, wie der Vorwurf der Hexerei Familien entzweite. (Klappentext)

Rezension:
An der Schwelle zum Dreißigjährigen Krieg befand sich die Welt im. Größen wie Galileo Galilei begründeten den Weg zu den modernen Wissenschaften, gleichzeitig hatte die Kirche immer noch große Macht, wenn auch nach der Reformation die Glaubensgemeinschaft gespalten war.

Immer noch gab es Hexenprozesse, denen hunderte Menschen zum Opfer fielen. In dieser Zeit lebte auch Johannes Kepler, der entdeckte, dass die Planeten des Sonnensystems sich auf ellipsenförmigen Umlaufbahnen bewegten. Ulinka Rublack nun, analysiert ein wenig bekanntes Kapitel aus Keplers leben.

Schon die Geschichte von Johannes Kepler selbst ist interessant genug, ganze Bücher zu füllen. Wie sieht es jedoch aus, wenn man sich nicht mit seinem wissenschaftlichen Beitrag beschäftigt, der den Horizont der damaligen Zeit ungemein erweiterte, sondern den Astronomen und Mathematiker im Spiegel seines Jahrhunderts einordnet, und ferner sein Familienleben betrachtet, welches turbulenter nicht hätte sein können?

Die Geschichtswissenschaftlerin Ulinka Rublack hat diesen Versuch unternommen und kleinteilig historische Archive durchstöbert.

Vor den Lesern liegt nun ein weniger bekanntes Kapitel von Keplers Leben, welches sowohl Kepler selbst, als auch die Familie in der Zeit einordnet, in der sie lebte. es ist die Zeit großer Veränderungen, in einer schon glaubenstechnisch gespaltenen Gesellschaft, an den Schwellen zu einem langanhaltenden Kriege stehend.

Gleichzeitig ist die moderne Wissenschaft am Entstehen. Große Entdeckungen werden gemacht. Und doch, die Kirche hat immer noch viel Macht. Aberglauben ist weit verbreitet, die Verfolgung und Folterung vermeintlicher Hexen in vollem Gange.

Die Autorin beschreibt, wie selbst Keplers Mutter in diesem, für damalige Zeit bedrohlichen Verdacht gerieht und wie die Familie des Astronomen damit umging. Ein jeder für sich, ganz unterschiedlich.

Sie hat recherchiert, wie eine Behauptung zu einem Selbstläufer mit ungeheuerlicher Dynamik wurde, gleichzeitig, wie die unmittelbare Nachbarschaft darauf reagierte.

In diesen Punkten zeigt Rublack ihre enorme Kenntnis der damaligen Zeit und legt ausführlich dar, wie verbreitet Aberglaube und die Angst vor Hexerei noch waren, jedoch auch, dass nicht immer und überall jeder Vorwurf der Hexerei zu Folter und Tod führen musste.

Eine Gesellschaft noch im Griff vieler Traditionen und nicht zuletzt des Glaubens, gleichzeitig in den Städten ein enormer Wissensschub durch den Fortschritt der Wissenschaft. Die Autorin legt verständlich dar, wie Johannes Kepler seine Reputation und seine daraus folgenden Kontakte für sich und die Seinen zu nutzen wusste, nicht zuletzt seiner Mutter.

Wie weit gingen Familienbande zur damaligen Zeit? Wie weit reichte der Horizont der Menschen? In welchen Denkmustern waren selbst auf natur-wissenschaftlichen Gebieten fortschrittliche Männer wie Kepler gefangen? Auch diese Fragen beantwortet Rublack ausführlich, jedoch ohne sich mit längeren Exkursen aufzuhalten.

Ein wenig bedauerlich ist, wenn auch der Schwerpunkt schon titelmäßig woanders liegt, dass Keplers wissenschaftliche Arbeit ein wenig zu kurz kommt.

Da hätte ich mir noch ein wenig mehr Ausführungen gewünscht, jedoch ansonsten hilft dieses historische Sachbuch die Zeit des Astronomen und die gesellschaftliche Dynamik einer Kleinstadt im Spätmittelalter zu verstehen.

Ergänzt wird das Werk durch mehrere erläutende Karten und zahlreichen Abbildungen und Fotografien.

Insgesamt lesenswert.

Autorin:
Ulinka Rublack wurde 1967 in Tübingen geboren und lehrt seit 1996 Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit in Cambridge. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Genderstudien, Materialitätsgeschichte und Fragen der kulturellen Identität. Sie schreibt für zeitungen und Zeitschriften und ist Autorin mehrerer Sachbücher.

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Jeremy Dronfield: Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte Book Cover
Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte Autor: Jeremy Dronfield Droemer Erschienen am: 30.12.2020 Seiten: 460 ISBN: 978-3-426-27804-8 Übersetzerin: Ulrike Strerath-Bolz

Inhalt:
Wien, 1938. Gustav Kleinmann und sein Sohn Fritz werden von den Nazis verhaftet, weil sie Juden sind. Im Konzentrations-lager Buchenwald beginnt für beide eine unvorstellbare Tortur, die mehrere Jahre dauern wird.

Doch der Liebe und dem Vertrauen zwischen Vater und Sohn kann die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie nichts anhaben: Als Gustav nach Auschwitz deportiert wird, beschließt Fritz, ihm zu folgen…

Aus nächster Nähe erzählt Jeremy Dronfield die erschütternde Geschichte zweier Holocaustüberlebender: von Hunger, Misshandlungen und ständiger Todesangst – aber auch von Freundschaft, Solidarität und tiefster Menschlichkeit im Angesicht des Unmenschlichen. (Klappentext)

Rezension:

Viel ist schon über den Holocaust, das größte Verbrechen der Menschheit, geschrieben wurden. Zahlreiche Erinnerungen wurden niedergeschrieben, Interviews veröffentlicht. Überall in Europa wird an die sechs Millionen Menschen erinnert, die den grausamen Terrorregime der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.

Braucht es da noch eine weitere Veröffentlichung? Eine weitere Erinnerung, die für die Nachwelt aufbereitet und verbreitet wird? Beispiele wie der Anschlag in Halle und die immer noch schwelende Diskriminierung von zu vielen zeigen, dass dies notwendig ist.

Jeremy Dronfield hat nun die Erinnerungen von einer weiteren Familie ausformuliert, so dass auch diese nicht in Vergessenheit gerät. Der anerkannte Geschichtswissenschaftler führte Interviews mit Kurt Kleinmann, dessen Wiener Familie 1938 nach der Besetzung Österreichs ins Visir der Nazis geriet, sichtete Briefe und durchsuchte Archive.

Heraus kam ein erschütterndes Porträt. In der Form eines literarischen Sachbuchs hält sich der Autor streng an Fakten, konstruiert Begebenheiten und Gespräche anhand von Briefen und tagebucheinträgen, lässt so Kurts Geschwister, vor allem seinem älteren Bruder Fritz, Hauptprotagonist des Buches, wieder lebendig werden, sowie seinen Vater, der es schaffte, seinen Optimismus selbst in dunkelster Zeit beizubehalten.

Klatsch – er liegt auf allen Vieren,
doch der Hund will nicht krepieren!

Gustav Kleinmann

Erzählt wird praktisch aus der Vogelperspektive den einzelnen Lebenslinien der Familienmitglieder nach. Die eine Schwester schafft es etwa nach England, das jüngste Kind Kurt entkommt den Häschern nach Amerika.

Besonders beeindruckend jedoch die gemeinsame Geschichte von Fritz und Gustav, die in Angesicht des Todes zusammenhalten. Fortwährend. Erschütternd, wie in aller Ausführlichkeit das Leid der Lebenden beschrieben wird. Zeile für Zeile immer näher an den Abgrund heran.

Am Anfang hatten sie stehen müssen, aber nach ein paar Tagen waren so viele von ihnen vor Kälte gestorben, dass man sich setzen konnte. Die Leichen wurden am Ende des Waggons aufgestapelt, ihre Kleidung wurde verteilt, um die Lebenden zu wärmen.

Jeremy Dronfield “Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte”

Kaum auszuhalten ist das. Man möchte vor Verzweiflung aufschreien. Unvorstellbar das Leid, welches Menschen anderen Menschen antun können.

Gerade dies hat der Autor sehr schön herausgearbeitet, lässt jedoch ebenso seine Leser an die Momente der Menschlichkeiten in Zeiten des Terrors teilhaben, die den Haupt- und anderen Protagonisten zuteil werden, die ihnen half durchzuhalten. Nachdenklich wirken Schreib- und Erzählstil, durch wenige Fotos ergänzt.

Mahnend, dass sich so etwas nie wiederholen darf.

Bitte, unbedingt lesen.

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Christian Goeschel: Mussolini und Hitler

Mussolini und Hitler - Die Inszenierung einer faschistischen Allianz Book Cover
Mussolini und Hitler – Die Inszenierung einer faschistischen Allianz Christian Goeschel Rezensionsexemplar/Sachbuch Suhrkamp Hardcover Seiten: 476 ISBN: 978-3-518-42891-7

Inhalt:
Öfter als jedes andere Duo westlicher Staatschefs jener Zeit trafen sich Mussolini und Hitler, die Diktatoren an der Spitze Italiens und des Deutschen Reichs.

Die Inszenierung der Freundschaft sollte nach außen Einheit und Macht demonstrieren, nach innen Volksnähe vermitteln, doch war sie nur wenig mehr als ein Zweckbündnis, welches sich verselbstständigte.

Beide Männer konnten sich persönlich nicht leiden, waren zunehmend aneinander gebunden, stürzten schließlich Europa und sich selbst in den Abgrund.

Christian Goeschel analysiert die choreographierte Diktatorenfreundschaft im Zeitalter der Massenmedien und zeigt, was geschehen kann, wenn in der Politik Performance und Macht miteinander verschmelzen. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Kaum ein Ereignis hat in Folge seiner Aufarbeitung so viel Literatur hervorgebracht, wie die größte aller Katastrophen unserer Geschichte.

Um so schwieriger ist es, einen neuen Ansichtspunkt zu finden, der die Betrachtung lohnt, doch ein Blick in die Archive, in private und öffentliche Korrespondenzen fördert auch heute noch Interessantes und Erschreckendes zu Tage.

Der Historiker Christian Goeschel hat einen solchen Ansatz zu einer an sich bekannten Thematik gefunden. Ergebnis seiner Recherchen ist vorliegendes Werk.

Kein anderer Krieg war so zerstörerisch und so mörderisch, wie dieser. Als Europa in Trümmern lag, hatte dieser Millionen von Menschen das Leben gekostet. Heraufbeschworen hatten ihn Diktatoren, in deren Ländern der Weltenbrand, den sie einst ausgelöst hatten, nach sechs Jahren zurückkehrte.

Einer der Männer wurde erschossen und seine Leiche in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt, der andere entzog sich der Verantwortung durch Selbstmord. Doch, wie konnte die Allianz von Hitler und Mussolini, die eine Freundschaft inszenierten, die es so nie gab, einen Kontinent in den Abgrund stürzen?

Welche Rolle spielten persönliche Sympathien, welche die Vorurteile der Diktatoren für dieses Bündnis, welches sich schnell außerhalb der Kontrolle beider verselbstständigen sollte?

In diesem Sachbuch stellt der Historiker Goeschel die Entwicklung eines Bündnisses dar, welches durch erstaunlich dünne Fäden zusammengehalten wurde.

Er analysiert die Gründe, welche die Diktatoren aneinander banden und gemeinsam in den Abgrund stürzten, wie auch sie ihre Länder und die halbe Welt in Schutt und Asche legten. Kühle Analyse trifft hier auf Logik, so dass die Thematik selbst dann zugänglich wird, wenn man sich nur rudimentär für diesen Teil der Geschichte interessiert.

Dennoch bekommt man durch die Lektüre eine Fülle von neuen Informationen oder anderen Blickwinkeln, die sich dann eröffnen.

Christian Goeschel weiß zu interessieren, beschränkt sich jedoch auf’s Wesentliche. Daran sollte man denken, wenn die unzähligen Treffen von Mussolini und Hitler in ihrer Ausführlichkeit detailliert beschrieben werden.

Gefühlt gibt dies Längen in der Lektüre, die jedoch die Komplexität der sich verselbstständigten Dynamik zweier Diktatoren aufzeigt und folgerichtig darstellt. Die Kapitel sind logisch gegliedert. Ein Bildteil dient der Veranschaulichung.

Grundlage bildet eine umfangreiche Recherche, wie das Quellenmaterial erschließen lässt und die Zusammenarbeit, der Austausch mit anderen renomierten Historikern. Diese trugen ungemein zum Gelingen bei.

Hitler und Mussolini im Hinblick ihrer inszenierten Freundschaft, die sich als Bild in den Köpfen der Menschen verselbstständigte und die Dynamik der daraus folgenden Prozesse, deren tödliche Spur sie noch gewollt verstärkten. Eine sehr interessante Analyse.

Autor:
Christian Goeschel wurde 1978 geboren und ist Historiker. Er lehrt an der Universität Manchester und forscht über Interaktion zwischen Politik, Kultur und Gesellschaft in der jüngeren Geschichte.

Zu seinem bemerkenswerten Arbeiten gehört die im Jahre 2011 erschiene Ausarbeitung “Selbstmord im Dritten Reich”. Er unterrichtet Europäische Geschichte.

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Thomas Böhm/Carsten Pfeiffer (Hrsg.): Die Wunderkammer der deutschen Sprache

Die Wunderkammer der deutschen Sprache Book Cover
Die Wunderkammer der deutschen Sprache Thomas Böhm/Carsten Pfeiffer (Hrsg.) Erschienen am: 01.09.2019 Verlag: Das kulturelle Gedächtnis Seiten: 300 ISBN: 978-3-946990-31-4

Inhalt:
Wenn es ein Wimmelbuch für Erwachsene gibt, so ist es wohl dieses. Gefüllt mit Geheimsprachen und Figurengedichten üben wir Zungenbrecher und Beschimpfungen.

Die Alchemie des Deutschen auf den Zahn gefühlt und Wortschätze mit Küchenlatein vermischt. Wo sagt man wie 6:15 Uhr und kennt ihr Schnadahüpfeln schon?

Die deutsche Sprache ist nicht nur nicht in gut dreißig Jahren zu lernen, sie steckt voller Geschichten und Wunder, die es zu entdecken gilt. Steigt ein, in diese Wunderkammer. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Wer eigene Kinder hat oder früher selbst eines gewesen ist (Einige erinnern sich.), kennt sie. Wimmelbücher. Bildgewaltig kommen sie daher und detailreich sowie so. Auf jeder Seite gibt es viel zu entdecken und zu bestaunen.

Nun gibt es dergleichen auch für Erwachsene, eine Art Wimmeltextbuch. Zusammengetragen und erstellt haben es Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer vom Verlag -Das kulturelle Gedächtnis-. Gestalterisch eine Wucht, in diesem kräftigen Blau und Orange gehalten, eröffnet sich zwischen den Buchdeckeln die Vielfalt der deutschen Sprache.

Abseits jeder zum Abgewöhnen stattfindenden Rechtschreibform tut sich Seite für Seite ein Füllhorn auf. Landkarten der Sprache gibt es, auf denen man mit dem Fingern zwischen Brötchen und Schrippen etwa entlangwandern oder für den nächsten Hamburg-Trip das Nachtjargon Sankt Paulis üben kann.

Vielleicht erklimmt ein Leser des Buches den babylonischen Turm der Kriechtiere, um dann bei den Polynomen zu landen? Was waren, gleich nochmal Homonyme? Hier wird all das und noch viel mehr erklärt und beispiel-, wie meisterhaft gezeigt.

Figurengedichte sind dort zu finden. Plötzlich kann ein Leser den Fontane-Code entschlüsseln. Deutsche Sprache, schwere Sprache, zumal nach nur dreißig Jahren in aller Gänze zu erlernen, sagte einst Mark Twain. Wie heißt wo die Stechmücke?

Wie koch man mit Teekesselchen im Fundus der Wörter und welche sind eigentlich Erik Fosnes Hansen liebste? Einen irren Spaß muss es gemacht haben, diese und andere Schätze zusammenzustellen. Schwer muss die Auswahl gefallen sein.

Intensive Recherche, Lust am Stöbern und eine “Gestaltungswut”, die ihres Gleichen sucht, haben zu diesem sprachlich bunten Feuerwerk geführt, in dem Namdeutsch ebenso eine Rolle spielt, wie Seemannsprache. Wenn man so will, ist dies die witzige Variante des trögen Deutsch-Buches aus Schulzeiten oder ein Duden für Humorvolle.

Schnadahüpfln wird ein Leser nach der Lektüre ebenso kennen, neu wissen, welche Wörter das Kosovo-Albanische aus dem Deutschen übernommen hat.

Wer bis hier hin den Überblick behalten hat, wird ihn spätestens nach der Lektüre verloren oder vertieft haben, in jedem Fall aber, eine Liebe zur deutschen Sprache neu entdecken.

Autoren:
Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer sind Herausgeber und Autoren für den Verlag -Das kulturelle Gedächtnis- und Liebhaber der deutschen Sprache. Ersterer wurde 1968 in Oberhausen geboren, lebt aber in Berlin und ist Literaturvermittler, Schriftsteller und Moderator.

Nach einer Mitarbeit für eine Literaturzeitschrift, für die er als Lektor und als Redakteur arbeitete, übernahm er die Programmleitung des Literaturhauses Köln, moderierte ein Literaturfestival, schreibt sich um Kopf und Kragen.

Carsten Pfeiffer ist Mitgesellschafter beim für das Buch verantwortlichen Verlag, war vorher bei Egmont tätig, sowie bei Cornelsen. Spezialgebiet, Marketing und Vertrieb.

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Christopher R. Browning: Ganz normale Männer

Ganz normale Männer Book Cover
Ganz normale Männer Christopher R. Browning Rowohlt Erschienen am: 01.09.1999 Seiten: 331 Übersetzer: Jürgen Peter Krause ISBN: 978-3-499-60800-1

Inhalt:
Im Sommer 1944 wurde ein Batallion der Hamburger Polizeireserve, etwa 500 Männer, die zu alt zum Dienst in der Wehrmacht waren, nach Polen zu einem Sonderauftrag gebracht.

Dort wurde ihnen eröffnet, dass sie die jüdische Bevölkerung in den polnischen Dörfern aufzuspüren, Arbeitsfähige auszusondern und die Übrigen, Alte, Frauen und Kinder, auf der Stelle zu erschießen hatten. Vor ihren Einsatz machte der Kommandabr den Männern ein Angebot.

Wer sich der Aufgabe nicht gewachsen fühle, könne sein Gewehr abgeben und würde für eine andere eingesetzt. Nur etwa 12 Männer traten vor. Wie ist es zu erklären, dass “ganz normale Männer” zu Massenmördern würden? (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Der Klappentext gibt genügend Auskunft über den Inhalt, so dass man darüber nicht weitere Worte verlieren muss. Eine, im Gegensatz zu anderen Einheiten, die an Massenmorden im Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, dichte Quellenlage ist die Grundlage für das vorliegende Werk, welches jetzt nochmals als Taschenbuchversion aufgelegt wurde.

Detailliert schildert der Autor, der historischen Genauigkeit wegen, die Grausamkeiten des Krieges in Bezug auf ein Batallion der Hamburger Polizeireserve und behandelt damit die Frage, wie aus ganz normalen Männern, Massenmörder werden konnten.

Das teilweise sehr anstrengend kompliziert geschriebene Werk, keinesfalls leichte Lektüre, die man mal ebenso nebenher lesen kann, ist Gegensatnd eines Historikerstreits, der nach der Erstveröffentlichung folgte.

Goldhagen, der mit seinem Buch “Hitlers willige Vollstrecker” für Aufmerksamkeit sorgte, kritisiert den Autoren des vorliegenden Werks in dem Punkt, dass Browning den Einfluss der deutschen Kultur auf den Holocaust missachten würde.

Browning wirft seinem Kollegen widerum Doppelbödigkeit und Inkonsequenz in der Schlussfolgerung aufgrund dessen eigener Thesen vor. Klingt nicht einfach? Ist es auch nicht und so müssen, um sich ein klares Bild zu verschaffen, wohl beide Werke parallel gelesen werden.

Mit der Neuauflage ist dies gut möglich, da zunächst das eigentliche Buch vorliegt, dann in einem speziellen Nachwort der Autor auf Goldhagens Thesen, Analysen und Schlussfolgerungen eingeht. Die Wahrheit wird dann wohl irgendwo in der Mitte liegen, jedoch ist die Historie allemal interessant und erschütternd.

Besondere Zeiten schaffen Voraussetzungen für besondere Menschen, leider auch im Schlechten und kehren unsere schlimmsten Eigenschaften hervor.

Dazu Druck, Indoktrination und Vereinnahmung und schon sind wir dazu fähig, anderen Dinge anzutun, die wir uns vorher nicht hätten vorstellen können. Browning zeigt auf, wie ganz normale Männer zunächst mit Abscheu auf ihren Auftrag des Regimes reagierten und nach und nach zu willigen Handlangern der Nazis wurden.

Dieses Werk zeigt exemplarisch an einer Einheit, wie das NS-Regime funktionieren und seine grausame Ideologie umsetzen konnte, ist jedoch keine Lektrüe für Zwischendurch.

Zahlreiche in jedem Satz geseteckte Informationen, machen das Buch eher Lesern zugänglich, die sich bereits entweder Goldhagens Werk zu Gemüte geführt haben, der sich teilweise auf die gleichen Quellen stützt oder sich von vornherein für die Thematik interessieren. Für Jemanden mit “Erstkontakt” mit diesen Themen empfiehlt sich dieses Buch eher nicht.

Autor:
Christopher R. Browning wurde 1944 geboren und ist ein US-amerikanischer Historiker. Er ist emeritierter Professor der University of North Carolina. Zunächst studierte er Geschichte, deren Professort er 1999 iin North Carolina erhielt, welche er bis 2014 ausübte.

Im Jahr 2006 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Bekanntheit erlangte er in der Auseinandersetzung Daniel Jonah Goldhagens (“Hitlers willige Vollstrecker”) mit seinem Werk “Ganz normale Männer”, welches 1992 errstmals veröffentlicht wurde.

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Alexandra Endres: Niemand liebt das Leben mehr als wir

Niemand liebt das Leben mehr als wir Book Cover
Niemand liebt das Leben mehr als wir Alexandra Endres Verlag: mairdumont Erschienen am: 08.10.2019 Seiten: 330 ISBN: 978-3-7701-8249-7

Inhalt:
Mexiko – ein unglaublich vielfältiges Land, landschaftlich und kulturell. Und vom Drogenkrieg gezeichnet. Alexandra Endres durchquert das Land, welches oft für viele nur eine Durchgangsstation ist.

Ein Land voller Gewalt, in dem täglich Menschen spurlos verschwinden, aber auch ums Überleben kämpfen, um die Natur und ihr kulturelles Erbe. Alexandra Endres trifft auf das indigene Erbe der Maya ebenso, wie auf traditionelle Mezcal-Brenner und engagierte Umweltschützer.

Sie lernt Menschen kennen, die sich unerschütterlich für ihr Heimatland einsetzen und von einer besseren Zukunft träumen. (abgewandelter Klappentext)

Rezension:

Niemand liebt das Leben mehr als wir, weil für uns der Tod so sehr präsent ist.

Guillermo del Toro

Der mexikanische Regisseur Guillermo del Toro fand einst diese Worte, um das Lebensgefühl seiner Landsleute zu umschreiben. Doch, wie sieht es aus, das heutige Mexiko, welches, wenn überhaupt, hierzulande nur in die Schlagzeilen gerät, wenn mal wieder ein hochrangiger Drogenboss den Behörden ins Netz geht oder die Dramen an der Grenze zu den USA nicht mehr von den Nachrichten-agenturen ignoriert werden könne?

Alexandra Endres, Redakteurin, u.a. von ZEIT Online, hat sich aufgemacht, auf Spurensuche durch ein faszinierendes und vielfältiges Land.

Von Süd nach Nord hat die Autorin den mittelamerikanischen Staat durchquert, der für so viele nur eine Durchgangsstation zum Traum von einem besseren Leben sein soll, der jedoch spätestens im Norden für allzu viele zerplatzt.

Endres nimmt sich Zeit für die Begegnungen mit Menschen, denen ihre Heimat nicht egal ist, die etwas für sich und Andere bewegen wollen, die Abwärtsspirale aus Korruption und Drogenhandel, Umweltverbrechen, nicht akzeptieren.

Aufgrund vermittelter Kontakte begab sie sich auf eine Reise, die ihres Gleichen sucht, zumal als Frau alleine in dieser Gegend zuweilen nicht ganz ungefährdet. Der Blick geschärft für Details schildert sie lebendig das Leben der Menschen, die sie daran teilhaben lassen und zeichnet so ein vielschichtiges Bild.

Kurzweilig sind die Kapitel, immer entsprechend ihrer gewesenen Reiseabschnitte gegliedert, doch beginnt die kurzweilige Reisereportage mit einer Beobachtung, die fast gegen Ende der Reise selbst stattfand. Um so beeindruckender sind die nachfolgenden Schilderungen.

Die Autroin schafft es ihre Bedenken, ihre Zweifel, vor allem aber auch ihre Neugier auf das Unbekannte und ihre Zugewandtheit den Menschen gegenüber lebendig werden zu lassen. Ein Reisebericht kann dabei immer nur einen Ausschnitt aus einem Land zeigen, dessen ist sich die Autorin bewusst.

Sie versucht dennoch einen Rundumblick zu bekommen. Wo stehen Mexiko und seine Menschen heute? Mit welchen Problemen haben sie zu kämpfen und was heißt es, dort zu überleben, wo einem der Tod so nahe ist?

Alexandra Endres schildert all dies nicht nüchtern. In lebendigen Farben gibt sie wieder, was sie gesehen hat und herausgekommen ist der nachhallende Zustandsbericht eines Landes, welches mit keinem anderen zu vergleichen ist.

Durchgangsstation und Endpunkt langer, beschwerlicher Reisen, unfreiwilliger Schmelztigel und indigene Völker auf der Suche nach ihrer Identität, vermischt mit christlichen Traditionen. All dies zusammen führt zu einer besonderen Mischung, die man mit Zeile zu Zeile als Lesender zu verstehen versucht, jedoch immer noch mehr Fragen bekommt.

Aufgelockert durch zahlreiche Skizzen, die Wege markieren, Kartenmaterial im Inneren der Umschlagseiten, sowie einem Fototeil, zeigt die Autorin die Vielfältigkeit dessen, was sonst nur einseitig in unseren Medien dargestellt wird.

Mit jedem Wort wird klarer, wie nah Freude, Zuversicht, Mut und Verzweiflung beieinander liegen, gerade wenn sie mit Umweltschützern, Frauenrechtlerinnen oder Indigenen spricht, die sich für ihre Interessen, nicht ohne Gefahr für sich selbst, einsetzen. Beeindruckend, um nur ein Wort zu nutzen. Bewundernswert in jedem Fall.

Mexiko, so bleibt festzustellen, ist ein unerschrocken unermüdliches Land mit Menschen, die an sich glauben, an ihr Leben hängen. Es lohnt sich, dies zu beobachten und zu verfolgen. Alexandra Endres ist dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten gelungen. Wünschenswert, wenn es in Zukunft noch mehr Aufmerksamkeit für die Menschen gibt, die das Leben so sehr lieben.

Autorin:

Nachd er Schule studierte Alexandra Endres in Köln Volkswirtschaft in Kombination mit Realpolitik, bevor sie Redakteurin bei der FAZ wurde und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Wirtschaftsgeographischen Institutes der Uni Köln. Seit 2006 arbeitet sie für ZEIT Online und unternimmt immer wieder Reisen nach Südamerika.

2014 arbeitete sie als Gastredaktuerin für eine kolumbianische Zeitung. Die südamerikanischen Länder (die sie immer wieder bereist), ihre Rohstoffe und Ressourcen, sowie Entwicklung und Menschenrechte gehören zu ihren Hauptthemen. 2016 bereiste sie Kolumbien erneut. Ihre Erlebnisse veröffentlichte sie auf ihren Blog und ausführlich in Buchform.

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