Familie

Erri De Luca: Das Licht der frühen Jahre

Das Licht der frühen Jahre Book Cover
Das Licht der frühen Jahre Erri De Luca ullstein Verlag Erschienen am: 29.06.2020 Seiten: 103 ISBN: 978-3-548-29101-7 Übersetzerin: Anette Künzler

Inhalt:

Beim Betrachten alter Fotos, die sein Vater gemacht hatte, bevor er erblindete, erinnert sich ein Mann an seine Kindheit im Neapel der Nachkriegszeit.

Seine Eltern waren arm, und das Leben auf den Straßen war geprägt von der Not, die der Krieg hinterlassen hatte. In einem intimen Zwiegespräch mit seiner verstorbenen Mutter lässt Erri De Luca diese frühen Jahre seines Lebens wieder auferstehen und mit ihnen die Poesie, die noch in der schwersten Kindheit steckt. (Klappentext)

Rezension:

Ein Erzähler erinnert sich an glückliche und unglückliche Tage seiner Kindheit in den Gassen von Neapel, an flirrende Sommer, Begegnungen und Beobachtungen, liebende Eltern, zweifelnde Eltern, wütende Eltern. Erinnerungen, die aufblitzen, wie das Stottern vor der Klasse, welches Besonderheit und Distanziertheit zugleich bedeuten.

Erri De Luca versetzt sich zurück in eine Kindheit, die von Armut, Wandel und schließlich bescheidenen Wohlstand geprägt ist, ein Aufwachsen mit Worten ohne Worte. Das Betrachten alter Fotografien, um verlorengegangene Erinnerungen wieder aufleben zu lassen und doch die Gewissheit zu erlangen, dass es nie wieder so sein wird, wie zuvor.

Ich kenne deinen Namen, du aber kennst mein Schicksal.

Erri De Luca “Das Licht der frühen Jahre”.

Diese kleine Novelle lässt seine Leser in die Erinnerungen des Erzählenden eintauchen, der sich einer schwankenden Kindheit entsinnt. Förmlich spürt man, wie Erri De Luca Bild für Bild betrachtet, die abgebildeten Ereignisse mit seinen Gedanken in Einklang bringt, zugleich aber durch die Fotos die Perspektive seiner Eltern einnimmt. Sein Vater als Bildschaffender, die Mutter als Dreh- und Angelpunkt der Familie. Zugleich spürt er die mit zunehmenden Alter immer deutlich werdende Entfernung.

Das Alter nimmt den Erzähler die Eltern, den Eltern ihren Sohn. Poetisch ist die Sprache hier, nicht aber anstrengend zu lesen. In der Novelle gleichsam, passiert jedoch nicht viel. Rein die Handlung betrachtet, ist “Das Licht der frühen Jahre” ziemlich dünn. Das spielt jedoch keine Rolle, die Liebe zu den Eltern, denen sich Erri De Luca zu entsinnen versucht, durchdringt jede Zeile. Nur das ist wichtig. Nicht mehr, nicht weniger.

Menschen, die innehalten, begegnen einander, auch eine junge Mutter und ein alter Sohn.

Erri De Luca “Das Licht der frühen Jahre”.

Der Autor verknüpft die Erlebnisse und spielt mit der Sprache, nicht so grob, wie der Umgang des Kindes mit neuen Spielzeugen, eher feinfühlig, wie die Beobachtungen des Kindes, welches die Umgebung um sich herum zu fassen versucht. Das funktioniert gut. Es ist eine Erzählung, in deren Worten man sich wohlfühlt und zugleich sich in die eigene Kindheit zurückversetzt.

Der Erzähler ist nachdenklich, kritisch mit sich selbst und nimmt Abschied von der Mutter. Die gemeinsame Zeit entrinnt. Was der Erzähler beim Vater zu verpasst haben glaubt, will er nun bei der Mutter richtig machen. Und so sind diese Zeilen durchdrängt von Liebe, die eines Kindes, welches selbst längst in der Mitte seines Lebens angelangt ist. Traurigkeit, Bitterkeit und Glück liegen hier nah beieinander.

Erri De Luca weiß sie meisterhaft zu verbinden.

Autor:

Erri De Luca wurde 1950 in Neapel geboren und ist ein italienischer Schriftsteller und Übersetzer. In zahlreichen Berufen arbeietet er zunächst und engagierte sich für Hilfslieferung während des Jugoslawien-Krieges. Autodidaktisch brachte er sich mehrere Sprachen bei, u.a. Althebräisch, womit er einige Bücher der Bibel ins Italienische übersetzte.

1989 veröffentlichte er sein erstes Buch. Im Jahr 2013 erhielt er den Europäischen Preis für Literatur, drei Jahre später den Preis des Europäischen Buches. Seine Erzählungen wurden mehrfach übersetzt. Der Autor lebt in Rom.

Erri De Luca: Das Licht der frühen Jahre Read More »

Diana Johanssen/Percy Shakti Johannsen: Aussteigen, einsteigen, los!

Aussteigen, einsteigen, los! Book Cover
Aussteigen, einsteigen, los! Diana/Percy Shakti Johannsen Knaur Taschenbuch Erschienen am: 01.04.2020 Seiten: 224 ISBN: 978-3-426-79079-3

Inhalt:

Was brauchen wir wirklich?, fragt sich Familie Johannsen und wagt das, wovon viele Menschen bloß träumen, nämlich: kurzerhand alles hinschmeißen und dem lästigen Alltagstrott samt Hamsterrad an Verpflichtungen zu entfliehen.

Diana und Percy Johannsen und ihre drei Kinder geben alles auf: Jobs, Freunde, Familie und sogar ihren festen Wohnsitz, um in ihrem ausgebauten Mercedes-Bus um die Welt zu reisen. Ein alternatives Leben in absoluter Freiheit erwartet sie! (Klappentext)

Rezension:

Reiseberichte sind an sich immer interessant zu lesen. Was ist denn schöner als das Erkunden fremder Länder, sich in Gegenden und Sehnsuchtsorte hineinzuträumen und mit den Autoren die besonderen Momente einer Reise zu durchleben? Zumal, wenn die Art des Reisens besonders ist oder die Region, durch die die Autoren mit ihren Werken führen.

Viele solcher Berichte gibt es, gleichsam von Familien, die aus verschiedenen Gründen den grauen Alltag hinter sich lassen, und dem Hamsterrad aus Trott und Stress enfliehen möchten. Das ist vollkommen legitim, genau so wie es richtig ist, zumindest zu versuchen, seine Träume zu verwirklichen und sich auf den Weg ins große Unbekannte aufzumachen, davon dann schließlich zu erzählen.

Und so haben Diana und Percy Shakti Johannsen ihre Erlebnisse nun uns Lesern zugänglich gemacht und beschreiben eine Reise, die noch lange kein Ende gefunden hat, deren Anfang aber gemacht werden musste. Gemeinsam mit Kindern und Hund brechen sie auf, mit den Minibus Südeuropa zu erkunden, Alltagstrott, Stress und durchaus erfolgreiche Jobs hinter sich zu lassen.

Zu Beginn sehr interessant zu lesen, schildern die Beiden abwechselnd, auch ungeschönt von ihren Reiseerlebnissen, Schwierigkeiten und besonderen Momenten, als Familie auf engen Raum diese Chance zu ergreifen und die durchfahrenen Gegegenden zu erkunden. Eine Reise durch Europa und zu sich selbst.

“Ich will dich auch nicht überzeugen.”

Aus im Buch geschilderten Dialog. Geteilig, das Gefühl beim Lesen.

Das wäre alles sehr kurzweilig zu lesen, wenn nicht spätestens nach den ersten Abschnitten sich die erhobenen Zeigefinger häufen würden. Überhaupt nicht subtil drängen die Autoren ihre durchaus lobenswerte ökologische Lebensweise den Lesern auf, dermaßen penetrant, dass man in einem Gespräch wohl schnell die Geduld als Zuhörer verlieren würde.

So viele Post-its habe ich lange nicht mehr verwenden müssen.

Aber, man liest das ja und so füllen sich die Seiten mit augenrollend aufzunehmenden Stichworten, von denen man letztendlich so genervt ist, dass sie Einem nicht mehr erreichen. Die eigentlichen Reiseerlebnisse rücken dabei in den Hintergrund.

Man freut sich gar richtig, wenn die beiden Johannsens schildern, wie die nur für die Ferien mitreisende große Tochter, dieses gemeinschaftliche Erlebnis früher als geplant abbricht, um wieder ihren Alltag leben zu können. Zum Unverständnis der Eltern natürlich.

“Es gibt ein Leben ohne Netz.” “Für dich vielleicht, Papa.”

Geschildert typischer Dialog im Buch “Austeigen, einsteigen, los!”.

Viel schlimmer als dieses ganze Getue um die ökologische Lebensweise, um alle Klischees zu erfüllen, in freien Momenten mit Yoga gefüllt, ist jedoch die ausführliche Schilderung um des Unfalls und der Krankheit des Sohnes, der die Pläne der Eltern gefährlich ins Wanken gebracht hat.

Natürlich ist so etwas weder Kindern noch Eltern zu wünschen, doch scheinen die Autoren beide immer noch darüber erschüttert zu sein, dass ein alternativer Lebensstil vielleicht doch auch Grenzen hat, zumal in unserer Zeit, und das Globuli, Gebete und Yoga nicht in jeder verdammten Lebenssituation das Nonplusultra sind. Genau so, wie der sein Ziel verfehlende Reisebericht, der auch sonst in all seinen Zeilen mit Vorsicht zu genießen ist.

Es ist sicher nur eine Kleinigkeit, eine allergische Reaktion. Lukas wird die Globuli nehmen, und alles wird gut.

Diana Johannsen/Percy Shakti Johannsen “Austeigen, einsteigen, los!”

Es gibt interessante, vielschichtige und alle Seiten beleuchtende Reiseberichte, auch von Familien, die zeigen, wie ein Ausbrechen aus dem Alltag gelingen kann. Aufgrund der zahlreich erhobenen Zeigefinger gehört dieser nicht dazu.

Aufreger, Aluhüte und erhobene Zeigefinger.

Autoren:

Percy Shakti Johannsen wurde 1976 geboren und arbeitete als Produktionsleiter bei MTV. Dort lernte er seine spätere Frau kennen. Beide lebten in München, gründeten ein Yogastudio und einen veganen Cateringservice. Inzwischen leben sie zwischen Deutschland und Portugal, haben Kochbücher herausgegeben und geben weiterhin Yoga-Kurse.

Diana Johanssen/Percy Shakti Johannsen: Aussteigen, einsteigen, los! Read More »

Bücher gegen das Vergessen #02

Bücher gegen das Vergessen sollen uns geschichtliche Ereignisse vor Augen führen, für die wir nicht unbedingt die Verantwortung tragen, aber dennoch verantwortlich sind, sie nicht zu vergessen. Abseits von Rezensionen soll hier eine Auswahl vorgestellt werden.

Bisher in dieser Rubrik erschienen:

#01: Die Tagebücher des Petr Ginz

[Einklappen]

Kressmann Taylor “Adressat unbekannt”

Es sind nur ein paar Briefe, auf denen diese kleine Novelle beruht und doch traf die Autorin einen Nerv bei ihrem Lesepublikum, als ihre Geschichte als Fortsetzungsreihe 1938 veröffentlichte. Unter Pseudonym in der Zeitschrift “Story” publiziert, erzählt Kathrine Taylor in Form eines Briefwechsels vom Zerbrechen einer Freundschaft aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933.

Wenige Seiten sind es, nicht einmal 60, auf denen ein Strudel von Ereignissen sich abspielt. Zunächst ist da die Freundschaft zweier, die zusammen eine kleine Kunstgalerie in San Francisco gründeten und nun getrennt voneinander leben. Der Eine, seiner Familie zu Liebe in Deutschland, macht nun in der Stadtverwaltung von München Karriere. Martins Freund dagegen, Max, leitet nun alleine die Galerie.

Meine Ausgabe ist eine bei Rowohlt erschienene Taschenbuchausgabe.

Verlinkt ist die aktuell verfügbare.

Sprengstoff tut sich auf. Max ist jüdischer Abstammung und nimmt die aus Deutschland kommenden Berichte mit Sorge auf. Er hakt bei seinem Freund nach, der zunächst beschwichtigt, jedoch immer mehr der grausamen Ideologie der Nazis verfällt. Natürlich muss die Freundschaft zuerbrechen, natürlich macht die Politik auch nicht vor Max’ Familie in Deutschland halt. Natürlich macht sich Martin schuldig.

Die kleine Novelle besteht nur aus diesen Briefen, die man in sich aufnimmt und immer hilfloser Zeile für Zeile liest. Kressmann Taylor reißt ihre Leser, gleichsam wie ihre beiden Protagonisten, in den Abgrund. Der wahre Hintergrund ist es, der diese Geschichte so grausam werden lässt. Die Nazis hatten das Büchlein in Deutschland wohlweißlich verboten.

Im Jahr 1995, anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung der Vernichtungslager wurde die Novelle, von der nicht viel mehr verraten werden kann, nicht verraten werden darf, wieder aufgelegt. Diesmal in mehr als fünfzehn Sprachen. Es ist eines dieser Bücher, die so ganz unscheinbar sind, von denen man sich angesichts ihrer Dichte nicht viel erhofft, die einem dann jedoch umhauen und nicht mehr loslassen.

Wie viele Freundschaften mögen auf ähnliche Art und Weise zerstört worden sein? Wie erging es den Menschen, die hinter den Briefen steckten, die die Vorlage für diesen erschütternden Roman bildeten? Zumindest von einem der Protagonisten kann man das Schicksal erahnen. Dessen Brief kam mit dem Stempel “Adressat unbekannt” zurück.

Der virtuelle Spendenhut

Dir hat der Beitrag gefallen? Dann freue ich mich über eine virtuelle Spende. Vielen lieben Dank.

Bücher gegen das Vergessen #02 Read More »

Oskar Roehler: Der Mangel

Der Mangel Book Cover
Der Mangel Oskar Roehler ullstein Erschienen am: 28.02.2020 Seiten: 170 ISBN: 978-3-550-20038-0

Inhalt:

Vom Übergang einer Mangelgesellschaft, in der es von allem zu wenig gab, in eine Konsumgesellschaft, die den Menschen ihre Würde raubt.

Vom Großwerden einer Gruppe von Kindern in den Sechszigern, den Anstrengungen der Väter, Wohlstand oder zumindest eine Illusion davon zu erschaffen.

Von den Rückschlägen, die sie erleiden. Von den Sorgen und Existenzängsten der Mütter und das Gegenbild dazu, der Ausweg aus Mangel und Überfluss zugleich: die Kunst als Rettungsanker für das Überleben. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Der namenlose Junge beobachtet die Erwachsenen, die daran scheitern, eine Illusion von Wohlstand Wirklichkeit werden zu lassen und daran zu Grunde gehen, zerbrechen. Mit Gleichaltrigen trollt er durch die noch nicht fertige Neubausiedlung am Rande eines Dorfes, gräbt sich durch Schlamm und Lehm, versinkt sprichwörtlich in seiner eigenen Welt.

Zu Beginn ist er ein Vorschulkind, welches um sich herum alles aufnimmt, später versucht, mit den Mitteln der Kunst zu überleben, beinahe wie einst die Mütter und Väter um ihn herum, zu scheitern droht.

Beindruckend ist diese Novelle, deren Handlung der Leser wie einen kunstfollen Kurzfilm vor dem inneren Auge ablaufen sieht. Nicht von ungefähr kommt dieser Effekt, ist doch der Autor Oskar Roehler selbst Filmregisseur und Drehbuchautor.

Der Protagonist, Vorschulkind, Kind, früher Jugendlicher ist das alte Ego des Autors, der Eindrücke in sich aufsaugt, wie ein Schwamm. Kurz und prägnant sind die Sätze, messerscharf und folgerichtig, wie die Beobachtungen selbst.

In der Erzählung fühlt man mit dem Handelnden, der begreift, dass es da draußen in der großen weiten Welt noch etwas anderes geben muss, dass die Chancen, die sich ihm bieten, jedoch noch weniger als rar gesät sind.

Röhler verbildlicht hier Trost- und Perspektivlosigkeit, die Zeit des Wirtschaftswunders, die überall ankommt, nur nicht dort. Die Zeitspanne umreißt die ersten Jahrzehnte der bundesrepublikanischen Gesellschaft, mit allen Möglichkeiten, vielmehr jedoch mit allen Fallstricken.

Der Protagonist bleibt dabei immer in der Position des Schwachen, ständig am Rand des Abrgund stehend, selbst, als er beginnt, sich daraus zu kämpfen. Trost nur in der Welt der Kunst, der Sprache.

Roehlers Stil, diese Geschichte eine lehmhafte Schwere angedeihen zu lassen, ist gewöhnungsbedürftig. Schön zu lesen, doch plätschert die Trostlosigkeit wie voluminöse Regentropfen nur so dahin. Die Atmosphäre ist düster, die ganze Zeit über, kaum Hoffnungsschimmer.

Um das zu lesen, sollte man in der richtigen Stimmung sein. Für depressive Gemüter ist das nichts.

Es ist eine kompakte Erzählung mit dem Effekt eines Günter Grass, der mit Worten zu faszinieren oder verschrecken mochte. Dazwischen gibt es nichts, sozusagen luftleerer Raum.

Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Kunst als zweifelhafter Rettungsanker. Und immer wieder Dreck, Schlamm, Feuchtigkeit, Lehm. Graue, braune Masse, aus der man etwas erschaffen oder in die man versinken kann.

Doch, muss das zwischen zwei Buchdeckeln sein?

Autor:

Oskar Roehler wurde 1959 geboren und ist ein deutscher Filmregisseur, Journalist und Autor. Nach seinem Abitur ist er als Autor für Drehbücher tätig und wurde ab 1990 als Spielfilmregisseur bekannt. Sein erfolgreichster Film war “Die Unberührbaren”, der u.a. mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde.

Roehler gehört zu den Gründungsmitgleidern der Deutschen Filmakademie, 2003. Im Jahr 2011 veröffentlichte er einen autobiografischen Roman, den er auch verfilmte. 2018 verfilmte er den Roman “HERRliche Zeiten” des umstrittenen rechten Schriftstellers Thor Kunkel.

Oskar Roehler: Der Mangel Read More »

Martina Borger: Wir holen alles nach

Wir holen alles nach Book Cover
Wir holen alles nach Martina Borger Erschienen am: 25.03.2020 Diogenes Seiten: 204 ISBN: 978-3-257-07130-6

Inhalt:

Job und Kind unter einen Hut – die alleinerziehende Sina jongliert damit seit Jahren. Seit kurzem wird sie von ihrem neuen Partner Torsten dabei unterstützt.

Und sie haben Ellen, Ende sechzig, die sich engagiert und liebevoll um Sinas Sohn Elvis kümmert und das hat, was er sich so wünscht: Zeit, Geduld – und einen Hund. Doch dann widerfährt dem sensiblen Jungen etwas Schlimmes. Da er sein Geheimnis nicht preisgibt, spinnt sich ein fatales Netz aus Gerüchten um die kleine Patchworkfamilie. (Klappentext)

Rezension:

Sobald man an der Oberfläche kratzt, zeigen sich erst kleine, dann immer größere Risse, die sich schnell zu tiefen unüberwindlichen Gräben ausweiten. Und das nicht einmal absichtlich. Grob könnte man damit die Handlung dieses, zu Beginn sehr betulichen Familienromans, beschreiben, wie sie so oft in den Regalen zu finden sind.

Doch hat die Geschichte aus der Feder Martina Borgers seine Berechtigung, mögen doch gerade die hier beschriebenen Szenen allzuoft in unserer Gesellschaft vorkommen.

In den Protagonisten mag man sich wiederfinden. Allesamt nachvollziehbare Charaktere. Die überarbeitete Mutter, deren berufliche Existenz zu wackeln beginnt, die ältere und hilfsbereite Dame aus der Nachbarschaft und der sensible Filius, Dreh- und Angelpunkt, zugleich Sorgenkind.

Dazu der neue Partner, auch Patchwork ist nichts Ungewohntes. Irgendwo findet man da seine Identifikationsfigur, die die Autorin behutsam ausgearbeitet hat. Der Erzählstil ist dabei von der ersten Zeile an sehr ruhig, um so erschütternder das Ereignis, welches einen Stein ins Rollen und Geschwindigkeit in die Handlung hineinbringt.

Kurzweilig und überschaubar sind die einzelnen Kapitel, beschrieben aus der Perspektive der jeweiligen Hauptperson, wobei hier die Sichtweise des Kindes nur aus der Beobachtung der Erwachsenen heraus, die ihre Schlüsse ziehen, wiedergegeben wird.

Martina Borger erzählt ohne Ausschweifungen von einem schrecklichen Verdacht und von Konsequenzen unseres Handelns, oder eben einer möglichen Nicht-Handlung. Zugleich bringt sie viele Probleme unter, die Gang und Gäbe sind, hier nicht im Detail auserzählt werden. Hier hätte manches Wort mehr geschrieben werden müssen, zumindest Elvis’ Perspektive ausformuliert, wäre wünschenswert gewesen.

Die Erzählung kommt relativ unscheinbar daher, was aber nicht über die Wucht hinwegtäuschen sollte, die der Roman im Verlauf entfaltet. Martina Borger durchbricht die Stadt- und Kleinfamilienidylle, konfrontiert sie mit ihren Sorgen und Ängsten, zeigt, welche Kraft, ein einmal geäußerter Verdacht haben kann.

Doch, ist zu wenig Aufmerksamkeit an der falschen Stelle nicht erst Recht fatal? Leser werden es herausfinden.

Autorin:

Martina Borger wurde 1956 in Gunzenhausen geboren und ist eine deutsche Schriftstellerin. Nach der Schule durchlief sie eine Ausbildung als Produktionsassistentin und besuchte die DeutscheJournalistenschule in München. Von 1985-1997 erarbeitete sie u.a. Drehbücher für die Fernsehserie “Lindenstraße”. Seit 2001 veröffentlichte sie mehrere Romane. 2002 wurde sie mit dem Wiesbadener Frauenkrimipreis ausgezeichnet.

Martina Borger: Wir holen alles nach Read More »

Monika Rech-Heider: Auf nach Neuland

Auf nach Neuland Book Cover
Auf nach Neuland Monika Rech-Heider Verlag: Benevento Erschienen am: 20.02.2020 Seiten: 271 ISBN: 978-3-7109-0086-0

Inhalt:

Raus aus der Job-Familie-Alltag-Tretmühle und rein ins Abenteuer. Monika Rech-Heider und ihr Mann nehmen ihre Kinder aus Schule und Kindergarten und durchqueren mit ihrem Bulli ein Jahr lang Europa.

Auf nach Neuland – ein Kontinent ohne Grenzen, ein Leben in Freiheit mit ganz viel Zeit. Vor allem aber eine Reise, die alles andere als geplant verläuft und nach der nichts mehr ist, wie es vorher war. (Klappentext)

Rezension:

Wir wollten den Kindern zeigen, dass das leben gut ist. Dass Europa gut ist. Dass wir hier zu Hause sind dass uns nichts passiert. Und der Plan ist aufgegangen.

Monika Rech-Heider “Auf nach Neuland”

Der Anfang dieses Roadtrips quer durch Europa liegt in einer vielschichtigen Sinnkrise und so ist der Bericht nicht nur Reisereportage, Selbsthilfebuch und Erfahrungsbericht, sondern die Geschichte einer Familie, auf den Weg zu sich selbst.

Aus dem gleichnamigen Blog heraus entstanden, den die Familie während der Reise führte, die zunächst mit einer Sinnkrise begann, erzählt die Autorin, wie es ihrem Mann, den Kindern und ihr selbst gelang, sich als Familie wieder zu finden und neu zu sortieren.

Einfühlsam und nahbar beschreibt Rech-Heider zunächst den Ausgangspunkt, der zu einem Trip mit großen Stolpersteinen führen sollte, die letztendlich nur überwindbare Herausforderungen darstellen sollten.

Für ähnliche Vorhaben gibt sie Tipps und Anregungen, etwa was die Organisation der Kinder angeht, da in Deutschland Schulpflicht herrscht und Ausbrüche aus dem system so nicht vorgesehen sind. Entgegen dem Gehalt vieler anderer Reiseberichte, beschreibt die Autorin hier, welche Probleme solch ein Vorhaben mit sich bringt.

Nichts wird beschönigt, weder fahrzeugtechnische Herausforderungen, noch familiär emotionale Achterbahnfahrten.

Dies ist die Stärke des Berichts, dessen kurzweilige Kapitel einen Lesefluss entstehen und so nicht nur die rein geografische Reise nachvollziehen lassen. Immer wieder gibt es Sprünge zwischen den einzelnen Zeitpunkten der Reise, sowie Rück- und Ausblicke ins Familienleben. Zeitrechnung, vor und nach der Reise.

Der emotionale Zugang wird dadurch hergestellt. Ein Leser kann sich sofort mit dem Ausbruchswillen aus dem alltäglichen Trott identifizieren. Auch die Freiheiten und Vorteile, jedoch auch Probleme Europas kommen zur Sprache.

Gleichzeitig wirken manche Beschreibungen zwar als für die Autorin selbst wichtig, für den Konsumierer der “Blogartikel” auch mal belanglos. Dies stört und hemmt den Lesefluss, im nächsten Moment ist man jedoch gleich wieder in einer anderen Ecke Europas angelegt.

Monika Rech-Heiders Bericht lebt von den Beschreibungen der Begegnungen mit Menschen, die man wohl landläufig als Zufallsbekanntschaften bezeichnet, die die Familie auf ihren Weg hin machte, sowie der Gewissheit, dass es hier durchaus gelang, ein wenig aus diesem Abenteuer in die Zeit nach den Trip hinüber zu retten.

Natürlich muss eine Sinnkrise nicht unbedingt mit einer Auszeit oder einer Reise bewältigt werden, doch die kurzen Texte, die nach den jeweiligen Reiseabschnitten gegliedert sind, zeigen zumindest diese Möglichkeit auf.

Immerhin dies. In der Art mündlich vorgetragen, kommt der Bericht sicher noch emotionaler und tiefgehender rüber, schriftlich fehlt hier noch das gewisse Etwas. Als Anregung, für sich selbst einen Weg aus der Gleichförmigkeit des Alltags zu entrinnen, funktioniert “Auf nach Neuland” dennoch.

Autor:

Monika Rech-Heider ist Geografin, Journalistin und Inhaberin einer kleinen PR-Agentur. Ihr Mann ist freiberuflicher Architekt. Zusammen reisten sie und ihre Kinder ein Jahr durch Europa. Aus dem zugehörigen Blog entstand das gleichnamige Buch.

Monika Rech-Heider: Auf nach Neuland Read More »

Christopher Kloeble: Das Museum der Welt

Das Museum der Welt Book Cover
Das Museum der Welt Autor: Christopher Kloeble Verlag: dtv Erschienen am: 21.02.2020 Seiten: 528 ISBN: 978-3-423-28218-5

Inhalt:

Bartholomäus ist ein Waisenjunge aus Bombay, er ist mindestens zwölf Jahre alt und spricht fast ebenso viele Sprachen.

Als Übersetzer für die deutschen Brüder Schlagintweit, die 1854 mit Unterstützung Alexander von Humboldts zur größten Forschungsexpedition ihrer Zeit aufbrechen, durchquert er Indien und den Himalaya.

Bartholomäus verfolgt jedoch einen ganz eigenen Plan: Er selbst möchte das erste Museum seines großen und widersprüchlichen Landes gründen. Dafür riskiert er alles, was ihm etwas bedeutet, sogar sein Leben. (Klappentext)

Rezension:

Als das British Empire an seinen Rändern erste Auflösungserscheinungen zeigt, die Kolonien in Neuengland strebten Mitte des 19. Jahrhunderts nach Unabhängigkeit, begann man anderswo gerade erst, seine Vorherrschaft zu festigen.

Mit Hilfe von Pionieren, Glücksrittern und Entdeckern, dem Handel und starken Militär sicherte sich England den riesigen indischen Subkontinent im Spiel der Großmächte. Expeditionen wurden gefördert, um weiße Flecken von der Landkarte zu tilgen und Besitzanspruch zu markieren. Mittendrin drei Deutsche, deren Weg heute fast vergessen ist.

Unter Fürsprache des preußischen Königs und Empfehlung Alexander von Humboldts machten sich 1854 die Gebrüder Schlagintweit auf, Indien für das englische Königshaus und die britische East India Company zu ergründen. Die Bergsteiger und Wissenschaftler unternahmen eine bis dato beispiellose Expedition, erforschten mal gemeinsam, mal getrennt, von Bombay ausgehend, atemberaubende Landschaften, drangen bis nach Nepal und Tibet vor, um ihren in Europa gegebenen Auftrag zu erfüllen.

Unter all den Dingen, zu denen ich mitgewirkt, ist Ihre Expedition bzb eube der wichtigsten geblieben. Es wird mich dieselbe noch im Sterben erfreuen.

Alexander v. Humboldt, Brief an die Brüder Schlagintweit, im Roman abgedrucktes Zitat.

Der Schriftsteller Christopher Kloeble hat sich nun diesem historischen Stoff angenommen und daraus einen Abenteuer- und Expeditionsroman gewoben, der seines Gleichen sucht. Hauptfigur hier, der Waisenjunge Bartholomäus, der zunächst unwillig die drei Brüder begleitet, beobachtet und nicht nur die Ingrez, Indien und schließlich sich selbst kennenlernt.

Aus der Sicht des Hauptprotagonisten wird die Geschichte erzählt. Detailreich lässt der Autor das Indien der Kolonialzeit wieder aufleben, zeigt, wie erste zarte Sprosse einer Unabhängigkeitsbewegung wuchsen, die erst etwa hundert Jahre später zum Erfolg führen sollten.

Zugleich ist dem Autor ein wunderbarere Coming of Age Roman gelungen, der feinfühlig vom Aufwachsen in unklaren Verhältnissen, Ängsten berichtet, parallel Bartholomäus mit zunehmender Seitenzahl Erfahrung und Selbstsicherheit angedeihen lässt. Umgeben von Lüge und Verrat.

Werde ich den Verräter auch bald als Freund bezeichnen?

Der Hauptprotagonist Batholomäus in “Das Museum der Welt” von Christopher Kloeble.

Die Spannung eines solchen starken Stoffes fehlt nicht. Tatsächlich hat Kloeble hier keine Längen entstehen lassen, sondern das richtige Maß gefunden, etwa zwischen ausführlicher Beschreibung von Handlungen und Landschaften, ohne in irgendeinem Bereich zu übertreiben oder seine Leser zu unterfordern. Auch kitschig wirkt das alles nicht.

Die Kapitelgliederung folgt der Expedition, deren Beschreibung nahe an der Wahrheit liegt, zumindest im Verlauf, und den Beobachtungen des jungen Bartholomäus’. So werden nicht nur Orte und Gegenstände zu bemerkenswerten Objekten, auch die Protagonisten unter dem sensiblen Augenmerk des Hauptprotagonisten.

Dies hält den Spannungsbogen, der von der klaren und dichten Sprache des Autoren bestimmt ist. Dieser Roman ist eine gelungene Mischung aus Expeditionsgeschichte, Abenteuer und Coming of Age, Gesellschaftskritik und Landesgeschichte, wie sie nur selten zu finden ist. Somit ist das Werk Teil des Museums der Welt, des ersten Museum Indiens, welches Bartholomäus zusammentragen möchte.

Ich kann nur jedem Leser empfehlen, es zu ergründen.

Autor:

Christopher Kloeble wurde 1982 in München geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Drehbuchautor. Er war Mitglied im Tölzer Knabenchor und besuchte bereits als Schüler den Manuskriptum-Kurs der Ludwig-Maximillians-Universität München.

Er studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und veröffentlichte in diversen Zeitschriften. Parallel dazu schrieb er diverse Drehbücher für Film und Fernsehproduktionen. Für seine Werke erhielt er zahlreiche Stipendien und Preise. Kloeble lebt in Neu-Dehli und Berlin.

Zusatzinformationen:

Die Nachfahren der realen Gebrüder Schlagintweit haben hier Informationen und Hintergründe zur Geschichte ihrer Vorfahren zusammengestellt. Die abgebildete Karte findet sich auch im Roman wieder.

Nach TMG distanziert sich der Betreiber von den Inhalt fremder Verlinkungen und schließt die Haftung dafür aus. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurde der Inhalt und die Rechtmäßigkeit gewissenhaft geprüft.

Christopher Kloeble: Das Museum der Welt Read More »

Peter Balko: Zusammen sind wir unbesiegbar

Zusammen sind wir unbesiegbar Book Cover
Zusammen sind wir unbesiegbar Peter Balko Hanser/Zsolnay Verlag Erschienen am: 17.02.2020 Seiten: 157 ISBN: 978-3-552-05974-0 Übersetzerin: Zorka Ciklaminy

Inhalt:

Nichts kann sie auseinander-bringen, davon sind Leviathan und Kapia überzeugt. Bis eines Tages die Ereignisse rund um einen harmlosen Kuss ihre Freundschaft doch gefährden… Peter Balko erzählt unterhaltsam und sehr warmherzig die Geschichte von Tom Sawyer und Huckleberry Finn an der ungarisch-slowakischen Grenze. (Klappentext)

Rezension:

Eine Geschichte wie ein Knall und eine Erzählung, die ihre Leser fordert. So kommt Peter Balkos Kurzroman, gleichsam Novelle, “Zusammen sind wir unbesiegbar” daher, die kürzlich aus dem Slowakischen übersetzt wird.

Das Autorendebüt nimmt sich den Zusammenhalt, oder auch nicht, einer Kinderfreundschaft vor, die zumindest auf den ersten Blick ungewöhnlicher nicht sein könnte. Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an und gleichen sich zuweilen aus.

Eine Kleinstadt an der slowakischen ungarischen Grenze, lebendig durch die Beschreibung ihrer schrulligen Protagonisten, erlebt durch die zwei Hauptfiguren, die dies zu ihrem Kindheitsparadies machen. Erzähler ist der etwa achtjährige Leviathan, Anspielungen an die mysthische Figur aus antiker Zeit sind durchaus gewollt, der ungelenk und schüchtern seinen Platz in der Familie, der Klasse und seiner Umgebung sucht.

Sein Blick ist es, an dem die Leser sich heften und die Geschichte verfolgen werden, auch auf den gegensätzlichen Freund Kapia schauen, der grob, brutal, doch voller Phantasie und loyal gegenüber Leviathan ist. Beide schließen ob der Ereignisse um ihnen herum eine scheinbar unüberbrückbare Freundschaft.

Erzählt wird vom rauen und nicht einfachen Leben in einer Kleinstadt, in der jeder jeden kennt und die einzelnen Marotten ihrer Bewohner den Verlauf der Geschichte bestimmt. Schule, Kinderstreiche und -ängste bestimmen den Alltag, bei genauerer Sicht auch das Schicksal zerüttelter Familien und die Nachwirkungen der Zeit.

Die heilt, zumindest hier, nicht alle Wunden. Die erste Liebe wird ebenso thematisiert, wie der Tod, dies alles mit einem humorigen Blick, den der Autor behutsam einfließen lässt. Wie käme man sonst dazu, ein Meerschwein Ivan den Schrecklichen zu nennen?

Die Mischung wird nicht jedem liegen. Über Strecken ergeben sich Längen, die die Erzählung nicht schnell konsumieren lassen. Doch insgesamt funktioniert die Vielfalt gut, wenn Peter Balko auch gut daran getan hätte, hier und da zu kürzen, zu verdichten, an anderer Stelle widerum mehrere Seiten hinzuzufügen.

Das Ende der Geschichte geben Klappentext und die Namen der Protagonisten vor. Der Knall könnte kaum größer sein. Der Autor scheint überhaupt eine Vorliebe für scharfe Brüche zu haben. Hier passt es mal.

Wer schwierige flirrende Novellen nicht scheut, ist mit dieser Geschichte gut bedient. Für alle anderen braucht’s schon eine besondere Stimmung, sich diese Erzählung zu Gemüte zu führen, zumal der Autor sich nicht ganz einfacher Elemente seiner Biografie bedient. Als wäre alles andere nicht schon Stoff genug.

Autor:

Peter Balko wurde 1988 in Lucenec geboren und ist ein slowakischer Schriftsteller und Drehbuchautor. “Zusammen sind wir unbesiegbar”, ist sein Autorendebüt, für das er bereits zahlreiche Preise erworben hat. Sein Werk wurde 2020 erstmalig ins Deutsche übersetz

Peter Balko: Zusammen sind wir unbesiegbar Read More »

Jasmin Schreiber: Marianengraben

Marianengraben Book Cover
Marianengraben Jasmin Schreiber eichborn Verlag Erschienen am: 28.02.2020 Seiten: 254 ISBN: 978-3-8479-0042-9

Inhalt:
Paula braucht nicht viel zum Leben: ihre Wohnung, ein bisschen Geld für Essen und ihren kleinen Bruder Tim, den sie mehr liebt als alles andere auf der Welt. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der sie in eine tiefe Depression stürzt.

Erst die merkwürdige Begegnung mit Helmut, einem schrulligen alten Herrn, erweckt wieder einen Funken Lebenswillen in ihr. Und schließlich begibt Paula sich zusammen mit Helmut auf eine abenteuerliche Reise, die sie Beide zu sich selbst zurückbringt – auf die eine oder andere Weise. (Klappentext)

Rezension:
Es passiert eigentlich nicht viel im neuesten Roman von Jasmin Schreiber und doch eine ganze Menge, lesen so einen wunderbar schmerzhaften, bedrückenden und dennoch lebensbejahenden Roman. Wie das zusammenpasst? Zu Beginn steht die Trauer der Hauptprotagonistin, der ein Leser sofort in sein Herz schließen wird.

Die Studentin Paula hat vor ein paar Jahren ihren kleinen Bruder durch das Meer verloren und ist seit dem tief gefallen. Im übertragenen Sinne bis an den Grund des Marianengrabens, des tiefsten Punkt der Ozeane. Nur ist es hier Lethargie und Depression, unverarbeiteter Schmerz, der die Oberhand hat.

Aus ihrer Perspektive erlebt man nun einen Roadtrip und damit auch ein Auftauchen, beschwerliches Ankämpfen gegen die Schuldgefühle. Gegenpol bildet der zweite Hauptprotagonist. Helmut, ein älterer Herr, der ebenso eine Geschichte zu erzählen hat. Auf diese zwei Figuren ist die Geschichte reduziert. Völlig ausreichend ist das.

Feinfühlig beschreibt die Autorin diesen schmerzhaften Verarbeitungs-prozess. Gebannt wird man in die Geschichte eingesogen. Manch kalter Schauer wird einem bei diesen Zeilen über den Rücken laufen, nur um dann wieder grinsen, manchmal laut auflachen zu müssen.

Diese Kontraste zu schaffen, ist Jasmin Schreiber hervorragend gelungen. Dies lässt in der Geschichte die Protagonisten durchhalten, ebenso fordert dies die Leser dieses gelungen Werks.

Auf Trauer folgt Verarbeitung. Diesen Prozess begleiten die Leser, die nach und nach die Puzzleteile der Geschichten beider Protagonisten erfahren, wenn Paula und Helmut so langsam aus dem sprichwörtlichen Meer auftauchen. Interessant dazu auch die Titelüberschriften.

Jasmin Schreiber hat nicht nur ihr Biologie-Studium der Protagonistin „umgehängt“. Viel steckt von der Autorin in Paula. Jede Zeile so gemeint. Jede Zeile ehrlich.

Dies alles ist die große Stärke von „Marianengraben“. Definitiv ein Highlight für alle, die ihn lesen werden und eine Mahnung, Menschen mit Depression die Hand zu reichen, niemals allein zu lassen, im übertragenen und wörtlichen Sinne, schwimmen zu lernen.

Autorin:

Jasmin Schreiber wurde 1988 geboren und ist studierte Biologin, arbeitet als Kommunikationsexepertin und Autorin. 2018 wurde sie als Bloggerin des Jahres ausgezeichnet. Sie arbeitet ehrenamtlich als Sterbebegleiterin und Sternenkinder-Fotografin. Die Autorin lebt in Frankfurt/Main.

Jasmin Schreiber: Marianengraben Read More »

Sasha Filipenko: Rote Kreuze

Rote Kreuze Book Cover
Rote Kreuze Autor: Sasha Filipenko Diogenes Erschienen am: 26.02.2020 Seiten: 288 ISBN: 978-3-257-07124-5 Übersetzerin: Ruth Altenhofer

Inhalt:

Alexander ist ein junger Mann, dessen Leben brutal entzwei- gerisssen wurde. Tatjana Alexejewna ist über neunzig und immer vergesslicher. Die alte Dame erzählt ihrem neuen Nachbarn ihre Lebensgeschichte, die das ganze russische 20. Jahrhundert mit all seinen Schrecken umspannt.

Nach und nach erkennen die Beiden ineinander das eigene gebrochene Herz wieder und schließen eine unerwartete Freundschaft, einen Pakt gegen das Vergessen. (Klappentext)

Rezension:

Nach Tolstoi und Dostojewskij darf man sich die Frage stellen, wie geht russische Literatur eigentlich heute? Zumal der Blogschreiber kaum etwas anderes kennt als Lukianenko oder Glukhovsky, vom letzteren Schreiberling nicht ganz so begeistert war, wie vom ersteren. Wobei, Viktor Jerofejew vermochte zu faszinieren. Nun, also Sasha Filipenko.

Erstmals ins Deutsche übersetzt erzählt der weißrussische Schriftsteller, der auf russisch veröffentlicht und heute in St. Petersburg lebt, von der Begegnung zweier Menschen, die sich nach und nach das Trauma ihrer jeweiligen Leben von der Seele sprechen, dabei nach und nach Vertrauen zueinander finden.

Der zweiperspektivische Roman fokussiert sich ganz auf die beiden protagonisten. Die Eine, über neunzig Jahre alt, erzählt von der Angst, innerhalb eines Regimes zu leben und ein Leben lang auf der Suche zu sein, der andere muss gleichsam ein Drama in seinem noch jungen Leben verarbeiten.

Das Aufeinandertreffen der Beiden ist für die Eine ein Abschluss, für den Anderen der Punkt, über den Sinn des Lebens nachzudenken. So viel zum Inhalt. Mehr sei nicht verraten.

Wie oft begegnen wir einander im Treppenhaus und wissen doch so gut wie nichts, voneinander? Einerseits schön, man kann praktisch überall von Neuem an beginnen, andererseits fehlt die Gemeinschaft in einer immer mehr vereinsamten Gesellschaft.

Dieses Thema als oberflächlicher Aufhänger, nutzt Filipenko geschickt, um ein anderes aufzugreifen, was weder in seiner Geburtsstadt Minsk einfach sein dürfte, noch in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er übt Kritik am Geschichtsverständnis beider Länder, deren obere Zehntausend stetig versuchen, die Deutungshoheit zu gewinnen und umzukehren, und rüttelt dabei an Grundfeste.

Während in den Neunziger Jahren noch Archive geöffnet wurden, von Behörden, Geheimdiensten und anderen Institutionen, stehen Recherchierende heute oftmals vor verschlossenen Türen.

Subtil arbeitet sich der Autor daran ab, zumindest seine Leser mitzunehmenund einem Funken der Geschichte aufzugreifen, der heute in Teilen Russlands zu gerne umgedeutet wird. Kritik ist nicht gerne gesehen, doch sowohl Filipenko als auch seine Hauptprotagonistin Tatjana Alexejewna legen ihre Finger in noch nicht längst geschlossene Wunden.

Erzählerisch nimmt der stetige Perspektivwechsel die Position zweier unterschiedlicher Pole ein, die zum Einen Spannung verursachen, im passenden Moment wieder beruhigen.

Das ist notwendig, um nicht in der Falle der Übertreibung zu gelangen und doch einen Spannungsbogen zu schaffen, der einem den Atem gefrieren lässt. Und dies auf, um den Bogen zur klassischen russischen Literatur a la Tolstoi wieder zu schaffen, vergleichsweise wenigen Seiten.

Wenn es überhaupt einen Kritikpunkt gibt, ist diese Stärke zugleich die Schwäche seines Romans. Beim Lesen würde man vielleicht gerne mehr erfahren über die beiden Protagonisten, die einem Seite für seite ans Herz wachsen. Sasha Filipenko beschränkt sich jedoch auf’s Wesentliche.

Auch gut.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein weißrussischer Schriftsteller der auf Russisch schreibt. In seiner Wahlheimat St. petersburg studierte er nach einer abgebrochenen Musikausbildung Literatur und widmete sich der journalistischen Arbeit, war Drehbuch-Autor, Gag-Schreiber für eine satire-Show und Fernsehmoderator.

Dies ist sein erster Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde.

Sasha Filipenko: Rote Kreuze Read More »