Willkür

Narges Mohammadi: Frauen! Leben! Freiheit!

Inhalt:

Narges Mohammadis Buch lässt uns nicht nur am furchtbaren Gefängnisalltag der Frauen teilhaben, sondern auch ihren unbesiegbaren Zusammenhalt miterleben. Die Vorworte namhafter Expertinnen und die erklärenden Fußnoten bringen den Alltag im Iran, Gepflogenheiten und Bräuche sowie politische Strömungen näher, was die Lektüre nicht nur zu einem wichtigen Dokument der Gegenwart macht, sondern auch zu einem Augenöffner über den Iran und seine Menschen, die in Freiheit und Frieden leben wollen und sich weiter gegen ihre Unterdrückung wehren werden. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Die Reaktion eines Systems aus Angst vor Veränderung ist physische und psychische Gewalt gegen jene, die es als Gegner identifiziert und das sind in der theokratischen Diktatur Irans vor allem Frauen, die sich unterdrückt und ihren Freiheiten beraubt und darum betrogen fühlen und dies mindestens seit der iranischen Revolution, die viele Veränderungen zum Schlechteren mit sich brachte. Immer weniger Menschen lassen sich dies gefallen.

Das Regime, nicht fähig zur Veränderung, reagiert heftig und füllt seine Gefängnisse. Wieder sind es vor allem Frauen, die für ihre Rechte einsetzen, die darunter zu leiden haben. Allein, der Widerstand hält an. Auch aus den Gefängnissen des Staates, seines Geheimdienstes, der Revolutionsgarden heraus. Einige von ihnen, allem voran Narges Mohammadi, die 2023 den Friedensnobelpreis für ihren Kampf um die Menschenrechte erhalten hat, erzählen nun ihre Geschichte. So entstand eine Sammlung von Interview-Portraits von Frauen verschiedener Gesellschaftsschichten, Religionsgemeinschaften und Hintergründen, welche zeigt: Der Protest der Frauen im Iran ist vielschichtig und auch eingesperrt, sehr lebendig.

Dem vorangestellt gibt es zunächst eine Einordnung verschiedener Expertinnen für den Iran und der Menschenrechte, auch die Biografie Narges Mohammadi wird bündig dargestellt, um zu verstehen, woher die Kraft dieser und anderer Frauen für die Proteste kommt, die teilweise seit Jahrzehnten geführt werden. Auch verschiedene Arten der in den iranischen Gefängnissen und bei Verhören verwendeter Folter wird eingeordnet und sortiert.

Die körperliche Gewalt von Gefängniswärtern etwa ist das eine, die psychische, etwa durch Einzelhaft und Isolation, sogenannte weiße Folter, ist ein anderer Bestandteil dieses perfiden Systems, welches allzu oft außer Blickfeld gerät.

Die Frauen schildern in den Interviews, die nicht selten aus den Gefängnissen heraus geschmuggelt werden mussten, ihre Wege, die sich oft kreuzten. Lesend entdeckt man Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede und Veränderungen von Verhörsituationen und der Haftsituation, die über die Jahrzehnte mit unterschiedlichen Zielen geführt wurden, an derer nicht wenige zerbrachen. Besonders vermögen beschriebene Momente der Stärke zu beeindrucken. Immer wieder fragt man sich, woher bloß diese Frauen, denen Tag für Tag jede Perspektive vorenthalten wird, diese Kraft nehmen.

Sehr trocken wirken teilweise die für das Vorwort gewählten Texte, in deren Erläuterungen einige Wiederholungen tatsächlich ermüden, doch beim Lesen der Interviews wird klar, dass diese nur dazu dienten um Wichtig- und Dringlichkeit der Beschäftigung mit der Thematik zu verdeutlichen. Die Proteste und der Widerstand der Menschen, insbesondere der Frauen, benötigt Aufmerksamkeit, die bei all den anderen Krisenherden zu kurz kommt. Die Wirkung der Interviews ist mit bedrückend beschrieben noch untertrieben. Es wird einem schlecht beim Lesen der geschilderten unmenschlichen Grausamkeit eines Systems und derer, die es am Leben erhalten.

Solche Sammlungen und Berichte braucht es, auch um die Politik anderer Länder entsprechend in Aufmerksamkeit zu halten und den Menschen die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie benötigen. Nur ein Bruchteil kommen hier natürlich zu Wort, an manchen Stellen sind die Schilderungen auch arg gerafft, doch darf man dabei nicht vergessen, unter welchen Bedingungen diese zustande gekommen sind. Fast schade, dass Rezensionssysteme auch dafür eine Wertung “verlangen”.

Autorin:

Narges Mohammadi wurde 1972 geboren und ist eine iranische Menschenrechtsaktivistin. Sie ist Vizepräsidentin des Defenders of Human Rights Centers und Kritikerin des Hijab- und Keuchheitsprogramms von 2023 2016 wurde sie zu 16 Jahren Haft verurteilt, da sie sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzt. Vor ihrem Engagement studierte sie zunächst Physik und arbeitete als Ingenieurin und begann für eine Studentenzeitung zu schreiben, worauf hin sie erstmals verhaftet wurde. Sie schrieb zunächst für mehrere reformistische Zeitungen und wird seit 1998 immer wieder verhaftet. Sie kritisiert Folter, Einzelhaft und Menschenrechtsverletzungen, bekam 2023 für ihr Engagement den Nobelpreis verliehen. Ihre Familie lebt inzwischen im Exil.

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Charlotte Schallie (Hrsg.): Aber ich lebe

Inhalt:

Emmie Abel überlebte als kleines Mädchen die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. David Schaffer entkam dem Genozid in Transnistrien, weil er sich nicht an die Regeln hielt. Die Brüder Nico und Rolf Kamp versteckten sich in den Niederlanden dreizehn Mal vor ihren Mördern. Zusammen mit den Überlebenden haben drei international bekannte Zeichner:innen deren Geschichten in Graphic Novels erzählt, die unvergesslich vor Augen führen, was der Holocaust für Kinder bedeutete – und nicht nur für sie. (Klappentext)

Rezension:

Immer weniger Zeitzeugen gibt es, die uns und vor allem den nachfolgenden Generationen erzählen können, wie es war, aufzuwachsen, inmitten des Holocausts, einem unvorstellbaren Terror ausgeliefert zu sein, in dem ein winziger Moment des Zögerns, eine falsche Entscheidung, ein unvorsichtiger Augenblick den Tod bedeuten konnte. Um so wichtiger ist es, deren Erinnerungen festzuhalten und sie so aufzubereiten, dass Interesse geweckt wird und die Geschichten der Erzählenden im Gedächtnis bleiben.

In einer Mischung aus Sachbuch und Graphic Novel versuchen dies mit “Aber ich lebe” drei Illustratoren, die zusammen mit ihren Interview-Partnern deren Kindheit nachspüren und fangen mit unterschiedlichen Zeichenstilen sehr individuell deren und nicht zuletzt ihre eigenen Eindrücke ein, bevor am Ende der Streifzüge eine Nachbereitung in Textform eingefügt ist.

Zunächst Barbara Yelin, die die Geschichte von Emmie Arbel nachspürt. In düsteren und dunklen Farben erzählt sie die Geschichte des kleinen Mädchens, welches kaum alt genug ist, um zu begreifen und doch schon gelernt hat, zu überleben. Frohe Momente, sowie die heutige Zeit sind dagegen hell gehalten. Die Konturen verschwimmen, wenn Erinnerungen diffus werden, der Blick verliert sich in Details. Wie wirken Schrecken und Grauen der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter hinein?

But I live / Barbara Yelin über Emmie Arbel

Eine andere Facette beleuchtet Miriam Libicki. Sie erzählt die Geschichte von David Schaffer, der am anderen Ende Europas den Folgen des Holocausts entkam. Die Zeichnerin setzt auf klare Konturen, im Gegensatz zu Yelin, auch die Farben sind leuchtender, heller gehalten. Hier ist es der Hintergrund der an detailschärfe verliert, während die Figuren immer fassbar und bestimmt bleiben. Manche Zeichnungen wirken beinahe holzschnittartig, als würde man mit Puppen das Erlebte lebendig werden lassen. Im Gegensatz zur ersten Geschichte bindet sich Libicki nicht ein, um Kontrast und Wirkung zu schaffen.

Zuletzt, die Erinnerungen von Rolf und Nico Kamp, erzählt von Gilad Seliktar. Die Zeichnungen sind in bläulichen und gelblichen Tönen gehalten und wirken beinahe wie ältere Fotos. Auch dieser Stil weiß eine, nein eigentlich zwei, Geschichte eindrucksvoll in Szene zu setzen, wobei natürlich alle drei Geschichten auf ihre Art in Erinnerung bleiben werden.

“Aber ich lebe – Vier Kinder überleben den Holocaust”, nach den Erinnerungen von Emmie Arbel, David Schaffer, Nico Kamp und Rolf Kamp (Quelle: C. H. Beck)

Diese sind dann auch nicht zu werten. Erlebt ist erlebt, wobei die Konzentration auf einzelne Szenen liegt. Keine Geschichte ist mit der anderen zu vergleichen und doch haben sie alle etwas gemeinsam. Das Ziel der Mitwirkenden ist in jedem Fall erreicht, um so mehr noch als auch der Entstehungsprozess, das Zusammenfinden der Zeichnenden mit Machern und Zeitzeugen illustriert dargestellt wird und eine Nachbereitung in Textform die weitergehenden Biografien von David Schaffer, Nico und Rolf Kamp, sowie Emmie Arbel beleuchtet.

Hier ist das Kunststück gelungen, Geschichte für die Nachwelt modern aufzubereiten, nicht nur für Kinder und Jugendliche. Im Englischen gibt es wohl dazu auch begleitendes Unterrichtsmaterial. Mit der Konzentration der Illustrierenden auf einzelne Punkte der Erinnerungen der Zeitzeugen werden zudem bestimmte Aspekte herausgestellt, zudem ein schwieriges Thema niedrigschwellig und doch anspruchsvoll aufbereitet.

Diese Art, Geschichte zu erzählen, funktioniert wunderbar, wenn die Zeichnenden, wie hier, nicht den Menschen aus den Blick verlieren. So reiht sich “Aber ich lebe” gut ein, zu den Büchern gegen das Vergessen. Wünschenswert wäre es, noch mehr Werke dieser Art zu schaffen.

Leseprobe des Verlags: hier klicken

Verantwortliche:

Charlotte Schallié ist Professorin an der University of Victoria in Kanada und unterrichtet sowohl Germanistik als auch Holocaust Studies. 1965 in Toronto, Kanada geboren, wuchs sie in der Schweiz auf und studierte zunächst Geschichte und Germanistik in Vancouver. Sie veröffentlichte mehrere Werke u. a. zur Schweizerischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg.

Barbara Yelin wurde 1977 in München geboren und ist eine deutsche Comic-Künstlerin. Sie studierte zunächst Illustration in Hamburg und zeichnete mehrere Comic-Geschichten, die in verschiedenen Zeitungen und Anthologien erschienen. 2012 erhielt sie eine Gastprofessor an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, 2013-2015 war sie Dozentin in Erlangen.

Miriam Libicki ist Autorin der Graphic Novel “Jobnik!” über ihren Wehrdienst in Israel sowie zahlreicher Nonfiction Comics. Sie wurde 2017 mit dem Vine Award for Canadian Jewish Literature ausgezeichnet.

Gilad Seliktar illustriert Kinderbücher, zeichnet Comics und Illustrationen für verschiedene israelische Zeichnungen unnd wurde 2018 bei der Vergabe des Israel Museum Ben-Yitzhak Award ausgezeichnet. Er ist autor mehrerer Graphic Novels und lehrt in Jerusalem an der Bezalel Academy of Arts and Design.

Sie erzählen die Geschichten von Emmie ArbelRolf und Nico Kamp, sowie David Schaffer.

Für externe Inhalte wird keine Haftung übernommen, diese gehören den Erstellern.

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Gerd Hankel: Ruanda 1994 bis heute

Ruanda - 1994 bis heute Book Cover
Ruanda – 1994 bis heute Gerd Hankel Taschenbuch Zu Klampen Verlag Seiten: 159 ISBN: 978-3-86674-590-2

Inhalt:

Vom April bis Juli 1994 wurden in Ruanda zigtausend Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ermordet. Das Land ist zum Synonym für den Völkermord an den Tutsi geworden, aber auch für dessen Aufarbeitung und vorbildliche Vergangenheitsbewältigung. Doch, unter der Oberfläche brodelt es wieder.

Die Zeichen, dass der Völkermord als politisches Instrument genutzt wird, dessen Bewältigung zur Unterdrückung kritischer Stimmen genutzt wird, mehren sich. Hinter dem Vorzeigestaat verbirgt sich ein totalitäres Regime und dessen durchsetzung eines Geschichtsbildes, welches keinen Widerspruch duldet. Ein ernüchterndes Porträt des Vorzeigestaats in Zentralafrika. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Insbesondere Autoren von Sachbüchern haben die Aufgabe, den leser mit einer Thematik vertraut zu machen, sie auf etwas zu stoßen oder wachzurütteln und genau dies tut Gerd Hankel mit seinem Standardwerk über den Verarbeitungsprozess des Völkermordes in Ruanda. Kürzlich erschien die vorliegende Ergänzung und Aktualisierung, die nicht minder aufrüttelnd die Ereignisse in Zentralafrika analysiert und in ein neues Licht stellt.

Doch, zunächst, der Autor ist ein Kenner der Thematik, beschäftigt sich der Wissenschaftler schon länger mti Völkermorden im Allgemeinen und der Geschichte Ruandas im Besonderen. Diese wird kurz, aber detailliert genug umrissen, um den noch nicht vertrauten Lesern einen Überblick zu geben.

Sehr faktenreich ist die Beschäftigung mit den Sachverhalten, an die man konzentriert herangehen muss. Analysiert wird von Anfang an, zahlreiche Beispiele an Personen festgemacht. Zahlen und Statistiken bekommen ein Gesicht.

Das ist zuweilen anstrengend. Doch, die Auseinandersetzung funktioniert nur so, zumal sich Gerd Hankel hier gegen einem ganzen Trott politischer Ansichten und der allgemeinen Diplomatie stellt, die nicht einen Blick unter die Oberfläche wagen. Dies gilt für Frankreich, ebenso wie Deutschland, Amerika oder Groß-Britannien.

Nur langsam werden erste Risse sichtbar. Diese sind auch kaum zu vermeiden, beschreibt Hankel doch, wie sich nach einem offensichtlichen Terrorregime ein anderes etabliert, welches verdeckt operiert und nur zugern sich als Garant der Aufarbeitung vergangenen Übels inszeniert, nicht ohne das eigene Fehlverhalten zu kaschieren.

Noch immer verschwinden Menschen spurlos, die auf Ungereimtheiten in den Prozessen zur Verarbeitung des Völkermordes aufmerksam machen oder gar in der Vergangenheit heutiger Regierungsmitglieder Ruandas kramen. Dem Leuchtturm Afrikas gehen langsam aber sicher die Lichter aus.

Hankel stellt, unterstützt durch zahlreiche erdrückende Quellen und Begegnungen, schlüsselt die Rolle von Staat und Wirtschaft für die Verarbeitung auf, das Handeln einzelner Gruppen auf die Nachbarländer Ruandas und der damit verbunden Wechselwirkung wieder hin zu dem kleinen zentralafrikanischen Land.

Wer hat heute die Deutungsautorität über die Geschehnisse Mitte der 1990er jahre und wie viel Unrecht verträgt der Fortschritt. Übersichtlich gegliedert und konzentriert, letzteres muss der Leser unbedingt sein, liest sich die Aktualisierung des 2016 erschienen Berichts etwas anstrengend, jedoch verliert man seine rosarote Brille, zieht gar den Vergleich zur Verarbeitung anderer Kriegsverbrechen ähnlicher Coleur.

Man kann froh sein, dass es etwa bei der Behandlung der Trias Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, etwa in Deutschland anders zugegangen ist. Der Autor weist hier aber auch auf die Unterschiede zu den Geschehnissen in Ruanda hin.

Wer umfassend sich über die Verarbeitung des Völkermordes in Ruanda informieren und dabei einen Blick unter die schöne glatte Oberfläche werden möchte, ist mit diesem Werk gut bedient, muss sich jedoch vollständig darauf konzentrieren. Kein Buch zum Nebenherlesen, welches es auch nicht sein soll. Gerd Hankels Verdienst ist es, einiges an unserem, vielleicht falschen Bild auf die Ereignisse in Ruanda zurechtzurücken. Alleine dafür schon, lohnt die Lektüre.

Autor:

Gerd Hankel wurde 957 in Büderich bei Wesel geboren und ist Jurist und Sprachwissenschaftler. Er studierte zunächst in Mainz, Granada und Bremen, bevor er 1993 freier Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung wurde. Seit 1998 ist er zudem wissenschaftlicher Angestellter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

Seit 2002 untersucht er den Völkermord in Ruanda, insbesondere die Verarbeitung dessen durch die sogenannten Gacaca-Gerichte. Zudem veröffentlichte er u.a. ein Werk über die strafrechtliche Verfolgung deutscher Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg.

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Autoren-Interview auf der Leipziger Buchmesse 2018: Dogan Akhanli und ein Tag in Granada

NH: Herr Akhanli, der Haftbefehl von Interpol in Spanien durch die Türkei beruhte offensichtlich auf ihre Arbeiten, die sehr kritisch mit der Politik dieses Landes umgehen, etwa mit den Völkermord an den Armeniern. In wie fern war das ausschlaggebend?

DA: Ich beschäftige mich mit der türkischen Politik, aber ich bin vorsichtiger, wenn es um politische Akteure geht. Ich bin kein Journalist. Ich beschäftige mich mit der Kontinuität des Landes. Woher kommt es, dass wir in einer ständigen Situation der Agonie leben oder dieser ständige Ausnahmezustand? Dieser Zustand endete bisher nicht.

Wenn man einen Blick in die Geschichte der Türkei wirft, sieht man dass diese Gewalt eine normale politische Form ist. Wenn ich über die Gewalt an den Armeniern rede, über die Vertreibung der Griechen oder ähnliches, spreche ich von aktuellen Themen.

NH: Kein geschichtlicher Bezug, also, weil sich das kontinuierlich durchzieht?

DA: Ja.

NH: Sie wurden in Spanien praktisch aus dem Bett heraus verhaftet. Andere Journalisten und Schriftsteller in der Türkei sind direkt im Zugriff dieses Staates. Was sagt das aus, über die heutige Situation für Autoren und Journalisten in der Türkei?

DA: Die Situation der Meinungsfreiheit hat sich in der Türkei so verschlechtert, dass man es leicht mit der Militärzeit vergleichen kann. Als das Militär an der Macht war, haben alle geschwiegen, durften auch nicht frei schreiben. Jetzt darf man angeblich schreiben, wenn man das aber macht, kommt man ins Gefängnis. Das ist die Kontinuität der Verfolgung.

Es gibt die Geschichte von zwei Brüdern, Journalisten, die verhaftet wurden. Deren Vater war auch Journalist in den 1960er Jahren und hat ähnliches durchmachen müssen. Er war Parlamentsabgeordneter, gleichzeitig Journalist und Schriftsteller. Er wurde damals schwer gefoltert. Ein halbes Jahrhundert später “gehen” die Söhne den gleichen Weg und kommen lebenslänglich ins Gefängnis.

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Dogan Akhanli über seine Verhaftung in Spanien.

NH: Sie wurden zwei Mal verhaftet, einmal 2010 und 2016. Wie gehen Sie damit um, dies zu verarbeiten, auch, wenn andere Schriftsteller, die Sie vielleicht gut kennen, ebenfalls verhaftet werden und in die gleiche Situation kommen?

DA: Obwohl ich in Deutschland, einen geschützten Raum, lebe, habe ich nach der Festnahme und Freilassung 2010 fast den Bezug zu meiner Muttersprache verloren. In dieser Zeit ist mein Vater gestorben. Ich wollte nicht mehr Türkisch schreiben und mit der Türkei nichts mehr zu tun haben. Das war eine so tiefe Verletzung, dass ich danach Jahre lang kein Buch mehr schreiben konnte.

In Spanien, nach dieser Festnahme, habe ich die Blockade überwunden, und habe über “Die Verhaftung in Granada” geschrieben. Dass war das erste Buch seit sieben Jahren. Im Vergleich mit den türkischen Kollegen bin ich in einer priviligierten Situation. Ich kann die Türkei kritisieren und angreifen. Sie dürfen es nicht, machen es trotzdem und landen dafür im Gefängnis. Dann ist es meine Freiheit, mich mit denen zu solidarisieren.

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Autor: Dogan Akhanli
Titel: Verhaftung in Granada
Seiten: 224
ISBN: 978-3-462-31856-2
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Rezension: hier klicken

NH: Im Buch beschreiben Sie ein Gespräch zwischen einen türkischen Gefängnisbeamten und Ihnen, in der es darum geht, dass der deutsche Staat sich um seine Bürger kümmert und sorgt. Der Beamte ist dem gegenüber verständnislos, da er das so nicht kennt. Ist es flächendeckend so, dass der türkische Bürger vor dem Staat Angst hat?

DA: In der Türkei ist die Beziehung zwischen Bürger und Staat sehr interessant. Sie mögen den Staat nicht, haben eine unglaubliche Angst. Aus der Erfahrung heraus wissen sie, dass dieser Staat seine eigenen Bürger seit hundert Jahren u.a. getötet, vertrieben, gefoltert und verfolgt hat.

Das ist im Gedächtnis gespeichert. Sie gehen in etwa damit so um, wie bei einer Frau, die ständig von ihrem Mann geprügelt wird, aber jeden Tag sagen muss, dass sie ihn liebt. Aus dieser Angst heraus gibt es ständige “Liebeserklärungen” an diesen Staat. Das hat mit Liebe oder Mögen nichts zu tun, nur mit Selbstschutz.

NH: Wie gelingt es dann diesen Staat sich zu halten, wenn die Bürger nicht dahinterstehen? Halten Sie friedliche Demonstrationen und die Auflösung der macht, wie es sie in der DDR gab, für möglich oder eher nicht?

DA: Das passiert gerade. Am 8. März haben sehr viele Frauen demonstriert. Das waren tausende Menschen. Sie schrieen, wir wollen keine Diktatur. Sie waren kreativ und mutig, solche Slogen zu entwickeln, um gegen den Staat zu agieren. Es ist für mich die einzige Hoffnung, dass zukünftig häufiger eine solche Bewegung von unten kommt, dass Erdogan am Ende weg ist.

NH: Also glauben Sie an eine Zukunft der Türkei nach Erdogan?

DA: Ja. Absolut. Er hat riesige Angst vor dem Machtverlust. Deshalb begibt er sich in den Krieg und greift Syrien an. Er hat diese Bedrohung einfach erfunden. Es gab sie nicht. Er will durch die Hetze gegen die Kurden die türkische Bevölkerung zusammenhalten. Aber er kann scheitern, wenn er dies nicht schafft. Das kann für ihn sehr gefährlich werden. Wenn der kurdische Widerstand Erfolg hat, kann Erdogan seine Macht verlieren.

NH: Hierzulande sind wir sehr abhängig von den Bildern aus den Medien, die natürlich immer nur einen Ausschnitt zeigen können. Die Deutschen sind darauf in unsicher, ob sie z.B. in die Türkei weiter reisen sollen oder nicht. Sind Sie zufrieden mit der Berichterstattung hier über dieses Land?

DA: Die sachliche Berichterstattung der deutschen Medien finde ich nicht schlecht. Sehr distanziert, keine feindseelige Stimmung. Das gefällt mir. Ob man in die Türkei reisen darf oder nicht, ob man durch den Tourismusboykott die Opposition verstärken kann, bin ich mir nicht sicher. Wenn ich die Vergangenheit anschaue, haben solche Boykottaufrufe nicht viel gebracht.

Wenn es den Menschen schlecht geht, beschäftigen sie sich nur mit dem Überleben und sind von der Politik abgewendet. Ich würde weiter empfehlen, Urlaub in der Türkei zu machen. Die Begegnungen mit den Menschen in der Türkei sind wichtig.

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"Die Begegnungen mit den Menschen in der Türkei sind wichtig."

Man kann es nicht pauschalisieren, dass alle Türken Anhänger von Erdogan sind. Ich finde es schade, wenn die Begegnungen nicht stattfinden können. Die Touristen kommen mit einen anderen Blick, andere Werte, eine andere Weltanschauung. Diese Begegnungen können etwas bewirken.

NH: Ihre Situation wurde medial sehr aufmerksam beobachtet. Es gab eine große Berichterstattung. Was muss sich ändern, für Kollegen, die vielleicht nicht wissen, dass sie auf irgendeiner Liste stehen und für die die Aufmerksamkeit nicht ganz so groß ist?

DA: Wir haben als zivile Gesellschaft nicht so viele Möglichkeiten. Wir können uns aber mit bedrohten oder sich in Haft befindlichen Kollegen solidarisieren, z.B. über Briefkontakte mit Inhaftierten. Man muss Wege finden, dass die Menschen nicht ins Vergessen geraten. Das ist unsere Aufgabe. Von der deutschen Politik erwarte ich, dass sie sich nicht zum Komplizen der türkischen Despotie macht. Da sollte man sehr vorsichtig sein. Erdogan ist keine vertrauenswürdige Person.

Die deutsche Regierung sollte alle diplomatischen Wege versuchen, bevor man nicht mehr miteinander redet. Das hat etwas mit Verhandlungen zu tun. Es mussten rote Karten gezeigt werden, dass z.B. Deniz Yücel immer noch in Haft ist. Deutschland sollte seine eigenen Möglichkeiten etwas besser nutzen als früher. Nicht leise sein und sich zurückhalten, sondern an die Möglichkeiten glauben.

NH: Wie viel von dem, was für Ihre Freilassung im Hintergrund getan wurde, haben Sie mitbekommen?

DA: Viel. 2010, aber auch 2017 in Spanien war es ein Glück, dass die Öffentlichkeit schnell reagiert hat. Diese schnelle Reaktion von der deutschen Presse, der zivilen Gesellschaft und der Regierung hat mich wirklich aus einer schwierigen Situation gerettet. Ich habe viel Unterstützung aus allen Kreisen bekommen.

NH: Wie ist Ihre Situation in der türkischen Gemeinde aufgenommen worden?

DA: Das weiß ich nicht genau, weil ich so wenige Kontakte habe. Ich habe hauptsächlich Kontakt zu Exil-Personen und ein paar andere, nicht aber AKP-Kreise. Nur zwei Leute daraus, auch Kollegen von mir, haben zu mir Kontakt und dadurch bekomme ich ein wenig die Stimmung mit. Warum sie so denken und eine gewisse Zuneigung zu Erdogan haben, weiß ich nicht.

NH: Das ist teilweise sehr schwer für die Deutschen nachzuvollziehen.

DA: Das ist normal. Auswanderer unterstützen meist die Mächtigen des Herkunftlandes. In der deutschen Geschichte war das auch so. In der Nazi-Zeit haben die Deutschen im Ausland oft auch die Nazis unterstützt. Das ist nicht außergewöhnlich. Für mich ist es auch unerklärlich, dass viele, die hier geboren, zur Schule gegangen sind und diese Demoratie kennen, trotzdem diesen Mann schätzen. Es gab mal eine Umfrage einer wissenschaftlichen Studie, dass die Mehrheit der türkischen Einwanderer Merkel mehr als Erdogan als ihren Präsident sehen. Sie schätzen Frau Merkel zehn Mal mehr als ihn.

NH: Das Pendeln zwischen diesen zwei Welten, der türkischen und der deutschen. Wie sehr hat sie das beeinflusst, jetzt auch nochmal in Hinblick Ihrer Situation 2017?

DA: Ich lebe isoliert von türkischen Kreisen, aber ich würde auch nicht unterscheiden. Ich habe keine Möglichkeiten zwischen zwei Welten zu unterscheiden, da ich mit Leuten mehr in Kontakt bin, die der gleichen Meinung wie ich sind. Ich möchte einen Dialog mit meinen Landsleuten, sie auch verstehen, warum sie so gekränkt sind, wenn man über Erdogan so eine kritische Stimme erhebt. Warum empfinden sie so gekränkt? Ich habe leider wenige Möglichkeiten, mit denen in Kontakt zu treten.

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Dogan Akhanli: "Ich bin isoliert von türkischen Kreisen."

NH: Was müsste sich konkret ändern, damit Sie wieder in die Türkei reisen würden wollen?

DA: Die Situation hat sich seit 2010 verschlechtert, und damals war es schon willkürlich. Ich kann sowie so in die Türkei nicht reisen, da es einen Haftbefehl gegen mich gibt. Auch, wenn der nicht da wäre, könnte ich nicht dorthin, weil es so unberechenbar geworden ist. Da muss sich etwas Grundsätzliches ändern.

NH: Wie sehr waren Sie von der Situation in Granada überrascht?

DA: Sehr. Ich dachte, ich bin Deutscher und geschützt in Europa. Habe nie gedacht, dass sie mich festnehmen würden, aber es ist passiert. Es war eine Ohnmachtssituation, später Wut, dann Heilung, aber es hat mich wirklich überrascht.

NH: Wann haben Sie 2017 zum ersten Mal gemerkt, dass es sich für Sie dann doch in eine positive Richtung entwickelt. Wann war der Moment, jetzt wird alles gut?

DA: Sofort. Am nächsten Tag, da ich die Berichterstattung aus Deutschland mitbekommen hatte. Alle großen Zeitungen haben darüber berichtet und die deutsche Regierung sich eingemischt hat. Da dachte ich, dass es mir nicht so schlecht gehen kann.

NH: Hätten Sie es denn der spanischen Regierung zugetraut, sie abzuschieben?

DA: Nein. Das wäre ein Skandal gewesen, und illegal. Ich bin als Flüchtling hergekommen und habe diese Anerkennung. Nach dem Beschluss des Europäischen Gerichtshofes wusste ich, dass sie politisch anerkannte Flüchtlinge nicht abschieben dürfen. Trotzdem haben sie zwei Monate gebraucht, zum Punkt zu kommen. Richtige Angst hatte ich nicht.

NH: Was sind Ihre zukünftigen Pläne?

DA: Eigentlich, wie immer. Ich schreibe Romane, mache Begegnungsprojekte zwischen Türken und Deutschen, dass die Menschen aus unterschiedlichen Kreisen zusammenkommen. Und ich werde weiter schreiben.

NH: Dann danke ich Ihnen für das Gespräch.

Das Interview und Bildmaterial darf ohne Genehmigung nicht vervielfältigt oder andersweitig verwertet werden. Dies ist redaktionsrechtlich geschützt. Die Rechte liegen bei findosbuecher.com, den Verlag Kiepenheuer & Witsch und Dogan Akhanli.

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