Verfolgung

Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur

Inhalt:
Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. (Klappentext)

Rezension:

In letzter Minute hat Heinrich Mann es geschafft, die Grenze ohne Aufsehen zu überqueren, Teil des kulturellen Exodus’, der das Deutsche Reich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, erfasste. Auch andere, die sich politisch mit Werk und Worten gegen die neuen Machthaber positionierten, mussten fliehen. Viele Intellektuelle und Schriftsteller fanden sich darauf hin in Frankreich wieder.

Doch auch hier holt der Krieg jene, die sich in Sicherheit glaubten, ein. 1940 ist Frankreich besiegt, zerstückelt. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, Leib und Leben zu riskieren, sich außer Reichweite der Häscher zu bringen. In der unbesetzten Zone wird die Stadt Marseille zum Schicksalsort, an dem sich alles entscheidet.

Nach seinem Werk “Februar 33 – Der Winter der Literatur” nimmt sich der Autor Uwe Wittstock nun erneut einen kulturellen Wendepunkt an, der der Erzählung des Exodus des intellektuellen Lebens nach der Machtergreifung Hitlers in nichts nachsteht. Spannend, erzählt er die Geschichte derer, die sich versuchen, in Sicherheit vor den Zugriff der Nazis zu bringen, und derer, die dies ermöglichen. Biografien werden verwoben, wie Wege, die sich kreuzen. Ausgangspunkte sind ein Schriftsteller-Kongress im Exil, die Beobachtung ausbrechender Gewalt, Tatendrang und unermüdliche Hilfsbereitschaft.

Im Mittelpunkt der Journalist Varian Fry, der es mit seinen Mitstreitern schafft, in aller Kürze ein kleines aber effektives Netzwerk aufzubauen, in Frankreich später selbst die Fäden in den Händen halten muss, welche nicht nur durch das dortige Vichy-Regime unter Druck geraten. Akribisch folgen wir seinen Spuren und derer, denen er die Flucht verhilft.

Alma Mahler Werfel und Franz Werfel, Heinrich Mann, Anna Seghers und viele andere werden so gerettet. Fry und seine Unterstützer werden für einen entscheidenden Moment der Geschichte zu besonderen Menschen in einer besonderen Zeit.

Wie bereits in seinem vorangegangenen Werk werden die dicht gedrängten Ereignisse in Tagebuchform aufgefächert, welche das Drängen, die Eile und nicht selten die Ungewissheiten der Akteure herausstellt, deren Schicksale sich von einem auf dem anderen Tage ändern konnte.

Wieder sind es ausgewählte Personen, deren Wege hier beschrieben werden, stellvertretend für viele, die zwangsweise namenlos bleiben müssen, da wir zu wenig wissen, um von ihnen zu erzählen. Gleich zu Beginn wird dies vom Autoren selbst herausgestellt, dem der Spagat gelungen ist, ein zweites Mal ein literarisches, zudem in unseren Zeiten hoch nachdenklich machendes, Sachbuch zu schaffen.

Anhand von Tagebuchaufzeichnungen, nach dem Krieg niedergeschriebenen Erinnerungen oder Briefen, auf denen sich eine puzzleartige Recherche, die auch nach Marseille selbst führte, stützt, ist damit ein kulturelles Portrait entstanden. Kurzbiografien am Ende des Buches geben über das weitere Schicksal Aufschluss. Aufgelockert wird die Lektüre durch Kartenmaterial in den Innenseiten und zahlreichen Abbildungen, welche im Zusammenspiel diese Tage lebendig werden lassen.

Auch hier hat man, wie in “Februar 33” erneut das Gefühl, allen Personen so nahe zu sein, als würde man daneben stehen, gegen alle Widrigkeiten Fluchten zu organisieren oder zu bestreiten. Diese Chronologie geht unter die Haut, mit einem sogar noch etwas flüssiger wirkenden Schreibstil als beim Vorgänger. Ein Buch über Menschlichkeit und Mut, über unwägbare Faktoren und Sekunden, die über Gelingen oder Scheitern entschieden.

Eine unbedingte Leseempfehlung.

Autor:

Uwe Wittstock wurde 1955 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Zunächst arbeitete er als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 der Literaturredaktion angehörte, danach wirkte er als Lektor beim S. Fischer Verlag.

Zur gleichen Zeit war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. Im Jahr 2000 wurde er stellvertretender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, zwei Jahre später Kulturkorrespondent in Frankfurt/Main. Bis 2017 arbeitete er als Literaturchef des Magazins Focus. Zu seinen Werken zählen mehrere Sachbücher. 1989 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Journalismus.

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Holger Kreymeier: Hashtag #DDR

Inhalt:

2023 im geteilten Deutschland. Der Widerstand in der DDR findet nicht mehr auf der Straße statt, sondern im Netz. Die DDR-Führung strebt die strengere Kontrolle des Internets und Zerschlagung der Oppositionsgruppen an, braucht aber Milliardenhilfen in D-Mark, die ihr die Bonner Regierung in Aussicht stellt. Nachdem YouTube-Entertainer Lonzo den realen Zustand der DDR mit seinem Video “Die Zerstörung der DDR” entlarvt hat, bekommt er die Unterstützung der freien Presse der Bundesrepublik. Doch dann wird er zum Sicherheitsrisiko – für beide deutsche Staaten … (Klappentext)

Rezension:

Es ist eines der viel erzählten Szenarien der fiktiven Geschichtsforschung, sich die Frage nach dem “Was wäre wenn?” zu stellen, wenn sich Ereignisse nicht so wie tatsächlich, sondern in eine vollkommen andere Richtung entwickelt hätten. Diese Gedankenspiele sind Grundlage für zahlreiche Erzählungen und manchmal sind diese uns erschreckend nah.

Der Schriftsteller Holger Kreymeier hat den Zeitstrahl verschoben. Nachdem Gorbatschow verunglückt ist, ist die deutsche Teilung immer noch knallharte Realität. Ihr, der großen Politik, stehen Social Media Influencer auf beiden Seiten entgegen und ebenso wie in unserer Welt stellen sie Weichen. Manchmal bringen sie dabei Lawinen ins Rollen, die sie kaum mehr aufhalten können. Oder wollen. Ein gefährliches Spiel beginnt.

Dystopische Szenarien haben ihre Schwächen. Oft genug merkt man, dass diese nicht konsequent ausgeführt werden. Die Welt, in der uns der Autor hier entführt, ist jedoch greifbar. Gleich eines Spielfilms sehen wir die Geschichte vor unserem inneren Auge auferstehen und begleiten die Figuren auf ihren Weg, der spannungsgeladener nicht sein könnte.

Die Vorstellung gelingt, da man sofort zu fast jeder Person ein reales Vorbild erkennen kann und auch sonst die Ecken und Kanten nachvollziehbar bleiben, etwa, wenn der eine deutsche Staat die innere Opposition gerne umfassend überwachen würde, dies jedoch an der Überalterung von Führungspersonen bis hin zum kaum vorhandenen technischen Know-how scheitert oder auf der anderen Seite der schwierige Balanceakt zwischen Diplomatie und Notwendigkeit austariert werden muss. Zudem sind auch die Protagonisten viel mehr Graubereichen zuzuordnen, als dem bloßen Schwarz und Weiß, was den kompakt gehaltenen Roman glaubwürdig erscheinen lässt. Das schnelle Erzähltempo tut sein Übriges dazu.

In einem Zeitraum von nur wenigen Wochen zwischen Ost und West wird die Geschichte erzählt. Holger Kreymeier hat es hierbei geschafft, zahlreiche Facetten des politischen Spektrums der damaligen Zeit in die Gegenwart hinein zu transportieren. Der Perspektivwechsel zwischen den Protagonisten trägt zum Fluss der Erzählung bei, Kurznachrichten a la Twitter unterstreichen das Gegenwartsgefühl.

Die Geschichte wirkt in sich schlüssig, über kleinere Sprünge wird man ob der spannungsreichen Erzählung gerne hinweg sehen, jedoch wäre die Ausformulierung mancher Szenarien, die teilweise doch knapp formuliert sind, wünschenswert gewesen. Auch das Ende der Erzählung reicht nicht ganz an den starken Auftakt heran, lässt jedoch Spielraum für eine Fortführung. Der Roman hat das Potenzial, weitererzählt zu werden. Man möchte das auch gerne lesen.

Bestimmte geschilderte Auswirkungen lassen ob der Realitätsnähe einem einen kalten Schauer über den Rücken laufen. In bestimmten Punkten gleicht der Roman einer Warnung a la Orwell. Hier merkt man die Erfahrungen Kreymeiers mit den Medien an und eine genaue Beobachtungsgabe, die einerseits durchaus kritisch betrachtet, andererseits Interesse an vorhandenen Möglichkeiten zeigt.

Die Erzählung ist für Geschichtsinteressierte gleichsam wie für Dystopie-Lesende eine weitere Ergänzung zur bestehenden Literatur. Die Nähe zu real existierenden Punkten der Vergangenheit und Gegenwart machen die Handlung greifbar. Manchmal fehlen Details, einige Male wünscht man sich etwas mehr Ausführlichkeit und den einen oder anderen Sprung. Für eine Fortsetzung wird man aber in jedem Fall zu haben sein.

Autor:

Holger Kreymeier wurde 1971 in Hamburg geboren und ist ein deutscher Journalist und Medienunternehmer. Er studierte zunächst Soziologie an der Universität Hamburg, absolvierte währenddessen ein Praktikum bei OK Radio und bei der Zeitschrift Cinema. Anschließend war er bei einem Tochterunternehmen des Axel Springer Verlags tätig, arbeitete danach freiberuflich für verschiedene Medienunternehmen. Zwischen 2007 und 2018 betrieb er die Online-Magazinsendung Fernsehkritik-TV. “Hashtag #DDR” ist sein viertes Buch.

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Lore Hepner Halberstam: Antwort an Albert …

Inhalt:

Im Juli 1939 verließen der Rechtsanwalt Dr. Heinrich Hepner, seine Frau Käthe mit den Kindern Klaus, Ernst und Nesthäckchen Lore in Vaparaiso, Chile das Schiff. Über einen langen, verschlungenen Weg hatte es die Berliner Familie in letzter Sekunde nach Chile geschagfft, wo sie nun im Exil ein neues Leben aufzubauen versuchte.

Die heute 92-jährige ehemalige Journalistin Lore Hepner erzählt anschaulich und spannen den Werdegang ihrer jüdischen Familie: von der assimilation in deutschland und der behüteten, im Wohlstand erlebten Berliner Kindheit über ihre Flucht aus Nazideutschland bis zum Neuanfang im südamerikanischen Exil.

Lore Hepner Halberstam kam als staunende Europäerin, als Kind mit leuchtenden Augen in die fremde Welt und berichtet in ihrem Buch auch von ihren Erfahrungen der Integration, des Sprachlernens und der Existenzgründung auf diesem fernen Kontinent – Südamerika.

Rezension:

Kurz bevor der Zweite Weltkrieg allzu vielen Menschen die letzten Möglichkeiten nahm, sich in Sicherheit zu bringen und diesen der unmenschlichen Katastrophe des Holocausts ausgesetzt waren, zum Opfer fielen, schafften es die Eltern von Lore Hepner ihre Kinder und sich in Sicherheit zu bringen. Verschlungene Wege und eine Irrfahrt per Schiff führten ins Ausland, anders als jedoch die Passagiere der St. Louis ist diese Fahrt jedoch nicht gescheitert, sondern eröffnete der Familie die Chance auf ein neues Leben, in Chile, Südamerika.

Für das junge Mädchen ein Abenteuer, ein fremdes Land und eine andere Sprache, in der es hineinwuchs, sich ihren Platz erkämpfte. Jahre später schrieb sie erstmals die Geschichte der Familie und ihrer selbst auf. Nun ist diese kleine Familienbiografie auch dem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich.

In fast zu nüchterner Berichtsform, das Vorwort der Lektorin wirkt stellenweise emotionaler, erzählt die Autorin von den Wegen ihrer Vorfahren bis nach Berlin, später von Verfolgung und Ausgrenzung, der Flucht, Momenten der Ungewissheit und des kleinen Glücks. Es ist ein Text gegen das Vergessen, der um so wichtiger wird, je extremer auch hierzulande Diskurse laufen und desto weniger Zeitzeugen noch aus dem eigenen Erleben heraus erzählen können. Zahlreiche Fotos unterstützen dieses kleine Denkmal, welches die Autorin ihrer Familie hier setzt.

Zu viel gibt es dazu nicht zu sagen. Was will man auch die Biografie eines Menschen bewerten oder eine Geschichte, die sich gezwungenermaßen so abspielen musste. Zum Text selbst ist ebenso alles gesagt. An manchen Stellen fehlt die Emotionalität und das Ausführliche, was jedoch dem Verarbeitungsprozess geschuldet sein kann. Einige Male wirkt es so, als wollte die Autorin nur schnell festhalten, um sich dann wieder anderen Dingen zu widmen, da vieles verständlicherweise schmerzt. Auch und vor allem in der Nachbetrachtung. Der Text wurde schließlich nur wenige Jahrzehnte nach dem Krieg, in den 1980er Jahren, veröffentlicht. So groß ist die Zeitspanne also nicht. Andere konnten erst viel später mit der Verarbeitung des Erlebten beginnen.

Dennoch ist diese Veröffentlichung wichtig. Jede solche und andere Familiengeschichten müssen in Erinnerung behalten werden. Menschen wie Lore Hepner Halberstam schreiben gegen das Vergessen an und es ist schön, dass sich hierzulande der Ariella Verlag diesem Text angenommen hat. Hoffen wir, dass auch dieser die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient.

Hinweis: Die Bewertung bezieht sich hier vor allem auf die Kompaktheit des Textes und die Berichtsform, die in diesem Falle zu viel von dem nimmt, was der Text eigentlich mit einem Lesenden hätte machen, wie dieser noch hätte wirken können.

Autorin:

Lore Hepner Halberstam wurde in Berlin geboren und ist eine chilenische Journalistin und Autorin. In ihrem Buch erzählt sie die Geschichte ihrer Familie und nicht zuletzt ihrer selbst.

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Grete Weil: Der Weg zur Grenze

Inhalt:

Eine Entdeckung: Grete Weils bisher unveröffentlichter, 1944 im Amsterdamer Versteck entstandener, großer Roman über Alltag und Widerstand in NS-Zeiten, über die Flucht aus Deutschland 1936 und eine große Liebe, die tödlich endet. Ein bedeutendes, zum ersten Mal zugängliches Werk der deutschen Literatur, eindrücklich und hellsichtig. (Klappentext)

Rezension:

Es ist eine Geschichte, die Grenzen überwindet, nicht nur wörtlich genommen im Sinne der handelnden Figuren, auch die Autorin hat damit eine Vielzahl von Barrieren überwunden. Nun liegt Grete Weils Erzählung “Der Weg zur Grenze” erstmalig einem größeren Publikum vor. Worum geht’s? Als das NS-Regime gefestigt, immer schärfer die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden organisiert, entschließt sich Monika Merton zur Flucht über die Berge an der österreichischen Grenze, nachdem ihr Lebensgefährte bereits im Konzentrationslager Dachau umgekommen ist.

Auf den Weg begegnet sie per Zufall dem Lyriker Andreas von Cornides. Ihm erzählt sie ihre Geschichte. An deren Ende angelangt, trifft dieser eine Entscheidung mit Folgen.

In diesen Rahmen teilweise holzschnittartig eingearbeitet, tauchen wir ein in die eigentliche Handlung und verfolgen den Weg der Hauptprotagonistin, von ihrer Jugend an, bis zu diesem Zeitpunkt, auf dem alles hinauslaufen wird. Teilweise sehr ausschweifende Beschreibungen großer Gefühle wechseln mit anfangs kleinen Nadelstichen, die sich zu einer immer größeren Bedrohung ausweiten. Das liest sich mitunter sehr holprig. Im Erzählstil eingefunden, kann man jedoch mit zunehmender Seitenzahl die Geschichte genießen.

Erzählt wird ein Zeitraum über mehrere Jahrzehnte, entlang der Biografie der Autorin, die sehr viel Persönliches in ihre Hauptfigur eingearbeitet hat. Tatsächlich ist Grete Weil die Monika Merton dieses Romans, deren Stationen auch die ihre sind, welches die erste Ebene neben der eigentlichen Erzählung darstellt. Die Orte der Handlung scheinen einem zuweilen durch die Finger zu gleiten, doch spürt man das langsame Aufbäumen der Katastrophe, die Unsicherheiten, die erst nur diffus erscheinen, dann jedoch greifbar für jene zu werden, die erst daran nicht hatten glauben wollen, nun sich dem ausgesetzt sehen und jenen, die nach und nach die Machenschaften willentlich unterstützen oder zumindest hinnehmen.

Das Ensemble wechselt leicht mit den in den jeweiligen Jahren spielenden Handlungen, doch bleiben die Hauptfiguren die gleichen, deren Wandlung Grete Weil nur behutsam vorangetrieben hat. Wenige gewinnen ein umfassendes Profil. Andere bekommen gerade einmal so viel Kontur, wie es der Handlung dienlich ist. Die Aufstellung ist klar. Es gibt wenig weiß, überschaubar schwarz und ganz viele Grautöne dazwischen. Die Hauptprotagonisten sind in ihrem Handeln nachvollziehbar, manchmal jedoch an der Grenze des Erträglichen, den Dreh- und Angelpunkt des Romans nicht ausgenommen.

“An diesen Greueln trägt nicht ein einzelnes Volk die Schuld. Seitdem Klaus tot ist, weiß ich es besser als jemals zuvor. Denn keine Nation besteht nur aus Bösewichten. Doch wenn Mörder an der Spitze stehen und Prämien für Morde ausschreiben, wird aus jedem Volk die Hefe hervorbrechen und Schreckliches anrichten.”
“Und wir anderen schweigen still dazu und wollen dies alles nicht sehen.”
“Was sollt ihr schon machen? Angst schließt euch die Augen, Angst bringt euch dazu, dem Terror zuzustimmen, Angst macht euch grausam. Wann handeln denn je die Menschen aus sich selbst? Es ist die Situation, die sie bestimmt, zu ihren guten Taten. Es gibt hierzulande, wie überall in der Welt, nicht viele Helden.”
“Ich gehöre jedenfalls nicht dazu”, sagte Andreas mit niedergeschlagenen Augen-

Grete Weil: Der Weg zur Grenze

Wenige Figuren sind wichtig für die Handlung. Aus noch weniger Perspektiven wird die Geschichte erzählt, jedoch gerade genug, um eine gewisse sich einstellende Eintönigkeit zu unterbrechen und die Handlung voranzutreiben. Viel davon ist vorhersehbar, gerade, wenn man mehrere Geschichten dieser Art bereits sich zu Gemüte geführt hat.

Interessant wird der Roman durch das bereits erwähnte Einbringen biografischer Abschnitte der Autorin, die diese ihren Figuren zu eigen macht, sowie die Entstehungsgeschichte selbst. Den Roman hat die Autorin im Amsterdamer Exil geschrieben, versteckt vor dem NS-Regime, wie auch einige andere Werke, etwa einem Theaterstück, welches sie mit Freunden für eine Widerstandsgruppe schrieb, derer sie angehörte.

Nach dem Krieg bekam die Autorin, deren Werke in den Niederlanden erfolgreich waren, in ihrer ursprünglichen Heimat wenig Anerkennung. Erst nach Jahrzehnten gelang ihr mit “Meine Schwester Antigone” in Deutschland der Durchbruch. Das nun vorliegende, erst kürzlich entdeckte Werk, holt noch mal andere Facetten hervor, lt. editorischer Notiz und einem ausführlichen Vor- und Nachwort, in denen die Geschichte eine Einordnung erfährt. Obwohl zu Teilen Liebesgeschichte, diese Ebene kann zuweilen als sehr anstrengend empfunden werden, ist dies ein großes Stück Exilliteratur. Wer sich einmal in Schreib- und Erzählstil eingefunden hat, wird dies durchaus mit Gewinn lesen können.

Autorin:

Grete Weil wurde 1906 geboren und studierte zunächst Germanistik, bevor sie eine Lehre als Fotografin begann. 1935 folgte sie ihrem Mann ins Exil nach Amsterdam, wo sie ein Fotostudium übernahm, nach der Besetzung durch das NS-Regime im Judenrat arbeitete.

Sie baute die Widerstandsgruppe “Hollandgruppe Freies Deutschland” mit auf und kehrte nach dem Krieg nach Deutschland zurück. Ihre Romane waren zunächst in ihrer Heimat weniger erfolgreich als in den Niederlanden, mit “Meine Schwester Antigone” erlangte sie jedoch auch hier eine größere Bekanntheit. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet und war Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. 1999 starb sie in Grünwald bei München.

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Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur

Inhalt:

Es ging rasend schnell. Der Februar 1933 war der Monat, in dem sich auch fir Schriftsteller in Deutschland alles entschied. Uwe Wittstock erzählt die Chronik eines angekündigten und doch nicht für möglich gehaltenen Todes. Von Tag zu Tag verfolgt er, wie das glanzvolle literarische Leben der Weimarer Zeit in wenigen Wochen einem langen Winter wich und sich das Netz für Thomas Mann und Bertolt Brecht, für Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin und viele andere immer fester zuzog. (Klappentext)

Rezension:

Die Geschichte der letzen Tage, sie beginnt mit einem Tanz auf den Vulkan. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer, der mit den Drama “der Hauptmann von Köpenick” ein paar Jahre zuvor seinen größten Erfolg feierte, begibt sich zum Presseball, einer Berliner Institution. Alles, was Rang und Namen hat, gibt sich dort die Ehre. Die künstlerische Elite versammelt sich. Doch, die Atmosphäre ist getrübt. Nicht wenige Anwesende ahnen, dass sich die Zeiten gerade ändern. Welche Folgen dies langfristig haben wird, ist kaum jemanden klar. Am nächsten Tag, den 30. Januar 1933, wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.

Es ist die Geschichte einer flirrenden Zeit. Einen Monat, in etwa so lang, wie ein ausgedehnter Sommerurlaub, brauchte es, um die Demokratie auszuhölen und durch ein System der Willkür und Tyrannei zu ersetzen, doch zunächst war nicht sicher, ob nicht die Nazis genau so schnell verschwinden würden, wie andere Regierungen zuvor. Der Krieg noch nicht in sicht, begann die Konsolidierung der Macht jedoch bereits vom ersten Tag an. Schriftstellende, Journalisten und Künstler mussten sich entscheiden. Bleiben, wie der Autor Erich Kästner etwa oder die Flucht ins Exil, wie sie Thomas und Heinrich Mann ergriffen.

Der Autor und Literaturredakteur Uwe Wittstock erzählt von einem beispiellosen kulturellen Exodus, nachdem nichts mehr so sein sollte, wie zuvor.

Anhand ausgewählter Biografien beschreibt der Autor Tage der Entscheidung. Rettet man mit der Flucht ins Exil sein eigenes Leben oder wartet man nicht lieber ab, bis der Spuk vorbei ist? Muss man überhaupt fliehen? Ist man von den Ausfällen der Machthaber selbst betroffen oder kann sich gar mit der neuen Situation arrangieren?

Was nimmt man mit, was versteckt man? Wo taucht man unter? Wie und wovon lebt man dann dort? Uwe Wittstock erzählt aus der Sicht der Manns, Döblins oder etwa Ricarda Huch und Gottfried Benn, welchen Fragen und Entscheidungen die ausgesetzt waren, die sich schon längst mit ihrem künstlerischen Schaffen positioniert hatten. Er berichtet von der Vernetzung einer Schicht, die die Nazis innerhalb weniger Tage zerschlugen.

Mit der Form eines literarischen Sachbuchs macht Uwe Wittstock eine Zeit lebendig, deren Folgen die Protagonisten damals nur ahnen konnten, die später einen ganzen Kontinent und noch mehr ins Unglück stürzte. Fakten verpackt er in erzählerischer Form. An manchen Stellen muss man durchatmen und sich vergewissen, was man mit “Februar 33 – Der Winter der Literatur” eigentlich vor sich hat. Nicht doch einen Roman?

Aus Tagebuchaufzeichnungen, Notizen und Briefen, teilweise autobiografischen Schriften, hat Wittstock ein lebendiges Bild ausgewählter Männer und Frauen gewoben, die alle auf unterschiedliche Art und Weise sich entscheiden mussten, manchmal von einer Minute auf die andere. Dabei handelt es sich um Ausschnitte.

Ein Ding der Unmöglichkeit ist es, die Wege der gesamten künstlerischen Elite jener Zeit darzustellen, doch die Auswahl der Lebensläufe zeigt ein breites Spektrum auf. Der Autor ruft so jene Zeit ins Gedächtnis, in der noch niemand sicher sagen konnte, ob dieser oder jene Weg der richtige sein sollte. Viele Akteure indes, konnten später nicht mehr an ihre Erfolge vor Februar 1933 anknüpfen. Anderen wurde die Kooperation mit den Nazis zum Verhängnis. Wenige nur konnten auch in der Nachkriegswelt künstlerisch Fuß fassen.

Wittstock erzählt chronologisch. Die Kapitel sind in Form von Tagesdaten untergliedert, was die Brisanz und die Schnelligkeit verdeutlicht, mit der sich alles änderte. In wechselnder Perspektive werden die Schwierigkeiten und Fragestellungen klar, denen sich die Akteure ausgesetzt sahen. Auch, was danach geschah, bleibt nicht unerwähnt. Zur Abrundung werden im Anschluss Kurzbiografien aufgeführt. Das Sachthema erzählerisch in dieser Form lebendig werden zu lassen, funktioniert hier sehr gut.

An manchen stellen wirkt das so, als würde man selbst etwa an einer Straßenkreuzung stehen und müsste sich entscheiden, ob man zur Wohnung geht, in der Gefahr, den eigenen Häschern in die Arme zu laufen, oder doch zum Bahnhof, um in den nächsten Zug zu steigen und Richtung Grenze zu fahren, so lange dies noch möglich ist. Manche Biografien sind bekannt, trotzdem schwitzt man beim Lesen teilweise Tropf und Wasser. Eine nüchterne Abhandlung ist etwas anderes.

Autor:

Uwe Wittstock wurde 1955 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Zunächst arbeitete er als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 der Literaturrerdaktion angehörte, danach wirkte er als lektor beim S. Fischer Verlag.

Zur gleichen Zeit war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. Im Jahr 2000 wurde er stellvertrender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, zwei Jahre später Kulturkorrespondent in Frankfurt/Main. Bis 2017 arbeitete er als Literaturchef des Magazins Focus. Zu seinen Werken zählen mehrere Sachbücher. 1989 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Journalismus.

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Michael A. Meyer: Leo Baeck – Rabbiner in bedrängter Zeit

Inhalt:

Rabbiner, Intellektueller, Liberaler und sprecher der jüdischen Gemeinde in dunkelsten Zeiten der Verfolgung: Leo Baeck gehört zu den faszinierendsten Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte. Michael A. Meyer lässt in seiner anschaulichen Biografie einen engagierten Denker lebendig werden, der hinter seiner Rolle als Ikone der deusch-jüdischen Geschichte zu verschwinden drohte. (Klappentext)

Rezension:

Oft genug kommen bei vielen namhaften Persönlichkeiten öffentliche Wirksamkeit und Privatleben nicht zur Deckung, Bei viel zu wenigen ist die Übereinstimmung zwischen Gesagten und letztendlichen Taten so groß, wie bei Leo Baeck.

Doch, wer war dieser Mann, der als oberster Repräsentant der organisierten deutsch-jüdischen Gemeinschaft nicht nur ein beeindruckendes Pensum an wissenschaftlichen Ausarbeitungen vorweisen konnte, auch Menschen jüdischen Glaubens half, unterzutauchen, zu emigireren oder wenigstens die Moral derer zu stärken und Nöte zu lesen, von denen, die keine andere Wahl hatten als in Deutschland zu bleiben?

Wie ist sein Wirken im Berlin der Nazi-Zeit, im Ghetto Theresienstadt und nach Kriegsende zwischen Amerika und London zu beurteilen und was bleibt von der Person Baecks in der heutigen Zeit? Der Historiker Michael A. Meyer begab sich auf Spurensuche. Dabei ist die vorliegende, sehr eindrucksvolle Biografie entstanden. Unter den zahlreichen Persönlichkeiten, deren Wirken heute teilweise fast vergessen ist, nimmt Leo Baeck eine Sonderstellung ein. An einzelne Abschnitte wird heute erinnert, doch wie ist der Rabbiner, der Wissenschaftler, der Denker und die Person in ihrer Gesamtheit zu beurteilen.

Was bleibt, wo heute das Leben und die Arbeit anderer intellektueller Größen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird und an was sollte erinnert werden, gerade bei Baeck, der es von Beginn an geschafft hatte, den unterschiedlichen Strömungen des jüdischen Glaubens eine Stimme zu geben und gerade in Zeiten akuter Bedrohung, zumal für das eigene Leben, zwischen den Stühlen auch seinen Gegnern die Stirn zu bieten.

Welche Diskussionen stieß er in seiner Glaubensgemeinschaft an. Was bedeutete die Person Baecks für die jüdische Gemeinden in Oppeln, Berlin und später in seiner Funktion im Ältestenrat im Ghetto Theresienstadt?

Die Tür öffnete sich und ein SS-Offizier trat ein. Es war Eichmann. Er war sichtlich betroffen, mich zu sehen. “Herr Baeck, Sie leben noch?” Er sah mich sorgfältig an, als wenn er seinen Augen nicht traute, und fügte kalt hinzu: “Ich dachte, Sie wären tot.” “Herr Eichmann, Sie scheinen ein zukünftiges Ereignis vorauszusagen.” “Jetzt verstehe ich. Totgesagte leben länger, nicht wahr?”

Michael A. Meyer: Leo Baeck – Rabbiner in bedrängter Zeit

Michael A. Meyer ist ein Kenner der Schriften Leo Baecks, hat diese ausgewertet und nun in einer eindrucksvollen Biografie zusammengefasst. Erstmals werden Denken, wissenschaftliches und religiöses Arbeiten, sowie der Mensch Baeck gemeinsam bedrachtet und einer Wertung unterzogen, die nur respektvoll und voller Hochachtung vor dieser Person sein kann.

Dabei hält sich der Historiker strikt an die biografischen Stationen und stellt kompakt das Wirken Baecks anhand seiner Schriften dar, zeigt, wo dem rabbiner Grenzen gesetzt waren und welche zweifelhaften Entscheidungen er mitunter auch fällen musste.

Wie Leo Baeck selbst, ist der Historiker Meyer ein Mensch der leisen Töne, was der Biografie mehr als gut tut. Die einzelnen Ausschnitte aus Baecks Arbeiten sind nicht immer leicht zu lesen. Seicht ist etwas anderes. Hierauf muss man sich einlassen. Vorkenntnisse, insb. im Bereich der Strömungen innerhalb der jüdischen Religion, schaden nicht, aber auch sonst vermittelt dieses Werk, welches zu einer Standardlektüre avancieren könnte, viel Information und Wissen über den Menschen, den Gelehrten und Rabbiner Baeck und dessen Zeit.

Immer wieder im Wechsel werden wissenschaftliches Arbeiten, religiöses und gesellschaftliches Wirken beleuchtet und dem Wenigen gegenüber gestellt, was vom Privatmenschen Leo Baeck bekannt ist. Diese Schablonen, entstanden nach intensiver Rechercheleistung, so übereinander gelegt, ergeben ein beeindruckendes Bild, welches noch nach dem Lesen wirkt.

Autor:

Michael Albert Meyer wurde 1937 in Berlin geboren und ist ein US-amerikanischer Historiker der neuzeitlichen jüdischen Geschichte. Nachdem seine familie über spanien in die USA emigrierte wuchs er in Los Angeles auf und studierte an der University of California Geschichte. Am Hebrew Union College Cincinnaty (HUC) promoviererte er und lehrte ab 1964, wurde drei Jahre später Mitglied des HUC.

Zwischen 2000 und 2008 nahm er zudem regelmäßig Lehraufträge der Hebräischen Universität Jerusalem an. Meyer widmetee sich der Erforschung des Reformjudentums und der Herausgabe verschiedener Schriftebn u.a. Leo Baecks und von Joachim Prinz. Zudem ist er Mitherausgeber einer vierbändigen Deutsch-Jüdischen Geschichte. Von 1991 bis 2013 war er Präsident des Leo-Baeck-Instituts. Im Jahr 2001 erhielt er die Ehrendoktorwürde des Jewish Theological Seminary of America.

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Michael Wolffsohn: Wir waren Glückskinder – trotz allem

Inhalt:

Thea Saalheimer ist siebzehn, als sie mit ihrer Familie vor dem Naziterror nach Tel Aviv flieht. Dort verliebt sie sich in Max Wolffsohn und baut mit ihm ein neues Leben auf. Fünfzehn Jahre später kehren die beiden mit ihrem Sohn Michael ins Nachkriegsdeutschland zurück. Wie erlebten Thea und ihre Familie den Nationalsozialismus und die Emigration in ein Land, das ihnen in jeder Hinsicht fremd war? Wie kam es, dass sie ins Land der Täter zurückzogen? (Klappentext)

Rezension:

Als im Jahr 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen, realisierte kaum jemand die von ihnen ausgehenden Gefahren. Geheimnisse daraus indes, hatten sie gemacht. Von Anfang an waren deren Ziele klar. Von Beginn an, wirkten sie darauf hin. Warum jedoch, realisierten allzu viele die Zeichen erst, als es längst zu spät war?

Warum erkannten nur wenige die Zeichen der Zeit und schafften es, rechtzeitig zu fliehen? Der Autor Michael Wolffsohn versucht eine Erklärung zu finden und nimmt dabei die Geschichte seiner Familie auf.

Wem das bekannt vorkommt, der hat Recht. Schon einmal hat sich der Historiker damit beschäftigt. In “Deutschjüdische Glückskinder – Eine Weltgeschichte meiner Familie” hat er diese bereits vor einigen Jahren aufgearbeitet. Ausführlicher und detaillierter, jedoch gefühlt neutraler. Diese Variante hier ist kompakter, liest sich schneller und von der Tonalität gleicht es einem Buch für ältere Kinder oder einem für jüngere Jugendliche, um diese an diese Thematik heranzuführen und mit entsprechenden Fragestellungen zu konfrontieren, ist auch so entsprechend angedacht.

Der Autor gleichsam Erzähler und Beobachter führt die Lesenden entlang der wechselhaften Geschichte seiner Familie. Wie erlebten seine Großeltern den Umbruch, der alles veränderte, die beginnende und immer deutlich zu Tage tretende Ausgrenzung? Wie schwer fiel es der Familie den Entschluss zu fassen, alles Bekannte zurückzulassen, trotz der Gefahren, die immer sichtbarer wurden?

Weshalb entschlossen sich die Wolffsohns zu den, nur wenige Jahre nach dem Krieg, für viele Juden unbegreiflichen Schritt, wieder nach Deutschland zurückzukehren? Fragen, die sich wie die Perlen einer Kette aneinanderreihen und komplexer Antworten bedürfen. Fragen, mit denen der Schreibende die jungen Lesenden dazu bringen möchte, selbst Fragen zu stellen, die Dilemma zu erkennen, vor denen seine Familie stand, auf dass der heute wieder deutlich werdende Hass keine Chance bekommt, ein neues 1933 zu weden.

Das Werk selbst, kann als Einführung in die Geschichte genutzt werden, ist so aufbereitet auch durchaus als Unterrichtslektüre denkbar. Für ältere Leser empfiehlt sich die komplexere Variante für Erwachsene. Für sie könnte alleine der Erzählstil etwas angestrengt wirken, zumal das Jugendbuch nicht ganz so detailreich wird. In der entsprechenden Altersgruppe gelesen, ist es dennoch gut vorstellbar.

Autor:

Michael Wolffsohn wurde 1947 geboren und ist ein deutscher Historiker und Publizist. In Tel Aviv geboren, kehrte er mit seiner Familie 1954 nach Deutschland zurück, aus dem diese einst im Zuge des Holocausts fliehen musste. Nach der Schule studierte er Politikwissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte in Berlin, Tel Aviv und den USA, nahm später Stellen an verschiedenen Universitäten an. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet Internationaler Beziehungen, der deutschen und jüdischen Geschichte, sowie der historischen Demoskopie. In der Bundeswehruniversität Münschen begründete er 1991 die Forschungsstelle Deutsch-Jüdische Zeitgeschichte. Er wurde mehrfach ausgezeichnet. Wolffsohn ist Ehrenmitglied im Verein Deutsche Sprache.

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Ulinka Rublack: Der Astronom und die Hexe

Der Astronom und die Hexe Book Cover
Der Astronom und die Hexe Autorin: Ulinka Rublack Klett-Cotta Erschienen am: 25.02.2020 (TB) Seiten: 409 ISBN: 978-3-608-98243-5 Übersetzer: Hainer Kober

Inhalt:
Deutschland, 1615. Die Mutter des berühmten Astronomen Johannes Kepler wird als Hexe angeklagt. Vor der faszinierenden Kulisse einer Welt im Wandel zwischen Magie und Naturwissenschaft beschreibt Rublack fesselnd und bewegend, wie der Vorwurf der Hexerei Familien entzweite. (Klappentext)

Rezension:
An der Schwelle zum Dreißigjährigen Krieg befand sich die Welt im. Größen wie Galileo Galilei begründeten den Weg zu den modernen Wissenschaften, gleichzeitig hatte die Kirche immer noch große Macht, wenn auch nach der Reformation die Glaubensgemeinschaft gespalten war.

Immer noch gab es Hexenprozesse, denen hunderte Menschen zum Opfer fielen. In dieser Zeit lebte auch Johannes Kepler, der entdeckte, dass die Planeten des Sonnensystems sich auf ellipsenförmigen Umlaufbahnen bewegten. Ulinka Rublack nun, analysiert ein wenig bekanntes Kapitel aus Keplers leben.

Schon die Geschichte von Johannes Kepler selbst ist interessant genug, ganze Bücher zu füllen. Wie sieht es jedoch aus, wenn man sich nicht mit seinem wissenschaftlichen Beitrag beschäftigt, der den Horizont der damaligen Zeit ungemein erweiterte, sondern den Astronomen und Mathematiker im Spiegel seines Jahrhunderts einordnet, und ferner sein Familienleben betrachtet, welches turbulenter nicht hätte sein können?

Die Geschichtswissenschaftlerin Ulinka Rublack hat diesen Versuch unternommen und kleinteilig historische Archive durchstöbert.

Vor den Lesern liegt nun ein weniger bekanntes Kapitel von Keplers Leben, welches sowohl Kepler selbst, als auch die Familie in der Zeit einordnet, in der sie lebte. es ist die Zeit großer Veränderungen, in einer schon glaubenstechnisch gespaltenen Gesellschaft, an den Schwellen zu einem langanhaltenden Kriege stehend.

Gleichzeitig ist die moderne Wissenschaft am Entstehen. Große Entdeckungen werden gemacht. Und doch, die Kirche hat immer noch viel Macht. Aberglauben ist weit verbreitet, die Verfolgung und Folterung vermeintlicher Hexen in vollem Gange.

Die Autorin beschreibt, wie selbst Keplers Mutter in diesem, für damalige Zeit bedrohlichen Verdacht gerieht und wie die Familie des Astronomen damit umging. Ein jeder für sich, ganz unterschiedlich.

Sie hat recherchiert, wie eine Behauptung zu einem Selbstläufer mit ungeheuerlicher Dynamik wurde, gleichzeitig, wie die unmittelbare Nachbarschaft darauf reagierte.

In diesen Punkten zeigt Rublack ihre enorme Kenntnis der damaligen Zeit und legt ausführlich dar, wie verbreitet Aberglaube und die Angst vor Hexerei noch waren, jedoch auch, dass nicht immer und überall jeder Vorwurf der Hexerei zu Folter und Tod führen musste.

Eine Gesellschaft noch im Griff vieler Traditionen und nicht zuletzt des Glaubens, gleichzeitig in den Städten ein enormer Wissensschub durch den Fortschritt der Wissenschaft. Die Autorin legt verständlich dar, wie Johannes Kepler seine Reputation und seine daraus folgenden Kontakte für sich und die Seinen zu nutzen wusste, nicht zuletzt seiner Mutter.

Wie weit gingen Familienbande zur damaligen Zeit? Wie weit reichte der Horizont der Menschen? In welchen Denkmustern waren selbst auf natur-wissenschaftlichen Gebieten fortschrittliche Männer wie Kepler gefangen? Auch diese Fragen beantwortet Rublack ausführlich, jedoch ohne sich mit längeren Exkursen aufzuhalten.

Ein wenig bedauerlich ist, wenn auch der Schwerpunkt schon titelmäßig woanders liegt, dass Keplers wissenschaftliche Arbeit ein wenig zu kurz kommt.

Da hätte ich mir noch ein wenig mehr Ausführungen gewünscht, jedoch ansonsten hilft dieses historische Sachbuch die Zeit des Astronomen und die gesellschaftliche Dynamik einer Kleinstadt im Spätmittelalter zu verstehen.

Ergänzt wird das Werk durch mehrere erläutende Karten und zahlreichen Abbildungen und Fotografien.

Insgesamt lesenswert.

Autorin:
Ulinka Rublack wurde 1967 in Tübingen geboren und lehrt seit 1996 Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit in Cambridge. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Genderstudien, Materialitätsgeschichte und Fragen der kulturellen Identität. Sie schreibt für zeitungen und Zeitschriften und ist Autorin mehrerer Sachbücher.

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Christopher R. Browning: Ganz normale Männer

Ganz normale Männer Book Cover
Ganz normale Männer Christopher R. Browning Rowohlt Erschienen am: 01.09.1999 Seiten: 331 Übersetzer: Jürgen Peter Krause ISBN: 978-3-499-60800-1

Inhalt:
Im Sommer 1944 wurde ein Batallion der Hamburger Polizeireserve, etwa 500 Männer, die zu alt zum Dienst in der Wehrmacht waren, nach Polen zu einem Sonderauftrag gebracht.

Dort wurde ihnen eröffnet, dass sie die jüdische Bevölkerung in den polnischen Dörfern aufzuspüren, Arbeitsfähige auszusondern und die Übrigen, Alte, Frauen und Kinder, auf der Stelle zu erschießen hatten. Vor ihren Einsatz machte der Kommandabr den Männern ein Angebot.

Wer sich der Aufgabe nicht gewachsen fühle, könne sein Gewehr abgeben und würde für eine andere eingesetzt. Nur etwa 12 Männer traten vor. Wie ist es zu erklären, dass “ganz normale Männer” zu Massenmördern würden? (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Der Klappentext gibt genügend Auskunft über den Inhalt, so dass man darüber nicht weitere Worte verlieren muss. Eine, im Gegensatz zu anderen Einheiten, die an Massenmorden im Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, dichte Quellenlage ist die Grundlage für das vorliegende Werk, welches jetzt nochmals als Taschenbuchversion aufgelegt wurde.

Detailliert schildert der Autor, der historischen Genauigkeit wegen, die Grausamkeiten des Krieges in Bezug auf ein Batallion der Hamburger Polizeireserve und behandelt damit die Frage, wie aus ganz normalen Männern, Massenmörder werden konnten.

Das teilweise sehr anstrengend kompliziert geschriebene Werk, keinesfalls leichte Lektüre, die man mal ebenso nebenher lesen kann, ist Gegensatnd eines Historikerstreits, der nach der Erstveröffentlichung folgte.

Goldhagen, der mit seinem Buch “Hitlers willige Vollstrecker” für Aufmerksamkeit sorgte, kritisiert den Autoren des vorliegenden Werks in dem Punkt, dass Browning den Einfluss der deutschen Kultur auf den Holocaust missachten würde.

Browning wirft seinem Kollegen widerum Doppelbödigkeit und Inkonsequenz in der Schlussfolgerung aufgrund dessen eigener Thesen vor. Klingt nicht einfach? Ist es auch nicht und so müssen, um sich ein klares Bild zu verschaffen, wohl beide Werke parallel gelesen werden.

Mit der Neuauflage ist dies gut möglich, da zunächst das eigentliche Buch vorliegt, dann in einem speziellen Nachwort der Autor auf Goldhagens Thesen, Analysen und Schlussfolgerungen eingeht. Die Wahrheit wird dann wohl irgendwo in der Mitte liegen, jedoch ist die Historie allemal interessant und erschütternd.

Besondere Zeiten schaffen Voraussetzungen für besondere Menschen, leider auch im Schlechten und kehren unsere schlimmsten Eigenschaften hervor.

Dazu Druck, Indoktrination und Vereinnahmung und schon sind wir dazu fähig, anderen Dinge anzutun, die wir uns vorher nicht hätten vorstellen können. Browning zeigt auf, wie ganz normale Männer zunächst mit Abscheu auf ihren Auftrag des Regimes reagierten und nach und nach zu willigen Handlangern der Nazis wurden.

Dieses Werk zeigt exemplarisch an einer Einheit, wie das NS-Regime funktionieren und seine grausame Ideologie umsetzen konnte, ist jedoch keine Lektrüe für Zwischendurch.

Zahlreiche in jedem Satz geseteckte Informationen, machen das Buch eher Lesern zugänglich, die sich bereits entweder Goldhagens Werk zu Gemüte geführt haben, der sich teilweise auf die gleichen Quellen stützt oder sich von vornherein für die Thematik interessieren. Für Jemanden mit “Erstkontakt” mit diesen Themen empfiehlt sich dieses Buch eher nicht.

Autor:
Christopher R. Browning wurde 1944 geboren und ist ein US-amerikanischer Historiker. Er ist emeritierter Professor der University of North Carolina. Zunächst studierte er Geschichte, deren Professort er 1999 iin North Carolina erhielt, welche er bis 2014 ausübte.

Im Jahr 2006 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Bekanntheit erlangte er in der Auseinandersetzung Daniel Jonah Goldhagens (“Hitlers willige Vollstrecker”) mit seinem Werk “Ganz normale Männer”, welches 1992 errstmals veröffentlicht wurde.

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Michaela Küpper: Der Kinderzug

Der Kinderzug Book Cover
Der Kinderzug Rezensionsexemplar/Roman Droemer Hardcover Seiten: 348 ISBN: 978-3-426-28218-2

Inhalt:
Im jahr 1943 begleitet Barbara, Lehrerin, eine Gruppe Mädchen im Rahmen der sog. Kinderlandverschickung. Angst, gespannte Unruhe, begleitet die Gedanken der Kinder, die nicht wissen, was sie erwartet.

Eine Odyssee beginnt, die nicht nur die Kinder, sondern auch Barbara an ihre Grenzen führt. Immer mehr werden die Realität und die grausamen Methoden der Nationalsozialisten deutlicht. Schließlich verschwindet eines der Mädchen und ein polnischer Zwangsarbeiter wird verdächtigt. Barbara muss sich entscheiden. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Im Jahr 1943 bekamen die Deutschen entgültig die Auswirkungen des von ihnen verursachten Weltkrieges zu spüren. Städte wurden zerbombt, Lebensmittel waren schon längst rationiert, die Armeen an allen Fronten befanden sich auf den Rückzug.

Um Zugriff auf die Kleinsten zu haben, aber auch um sie zu schützen, wurden hunderte Kinder im Rahmen der sog. Kinderlandverschickung von ihren Eltern getrennt und beinahe schulklassenweise in vermeintlich sichere, zumeist ländliche, Gebiete verteilt. Ein großer Umbruch im Leben der Kinder und Jugendliche, die später diese als schönste oder schlimmste zeit ihres Lebens empfinden würde, ganz abhängig vom Erlebten.

So viel zur wahren Geschichte und zum Szenario, welches sich Michaela Küpper für ihren neuesten Roman “Der Kinderzug” vorgenommen hat. Der Leser begleitet eine Gruppe von Kindern, doch vor allem eine ihr zugeteilte Lehrkraft quer durch die Lande und erlebt die Schrecken dieser Zeit praktisch hautnah mit.

Erzählt wird die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, in Form der Draufschau eines Tagebucheintrages etwa oder und vor allem durch die Ich-Erzählerin, die junge Lehrerin, Barbara, die als Identifikationsfigur dient.

Zum Greifen nah ist die Spannung der Ungewissheit sonderbarer Zeit und das Abwiegen zwischen der Notwendigkeit, einen gewissen Alltag zu leben und sich der sonderbaren Lage anzupassen. Letzteres vor allem, wenn Erwachsene und Kinder mit den Auswirkungen der großen Politik konfrontiert und von deren schlimmster Sorte zum Spielball degradiert werden.

Wie weit darf, muss man mitgehen, wann Haltung bewahren oder Kompromisse machen, um sich selbst und seine Schutzbefohlenen zu schützen? Michaela Küpper hat sich diesen Spannungsbogen vorgenommen und erzählt, zunächst langsam, was auch beim Lesen einige Längen verursacht, dann in einem immer schnelleren Tempo, die Geschichte.

Erzählt wird von den Auswirkungen einer menschenverachtenden ideologie auf das Leben der Jüngsten, die später einmal unsere Groß- und Urgroßeltern werden sollten, in Romanform.

Zur Geltung kommt aber auch das Engagement vieler Lehrkräfte, die sich für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendliche bis hinein in den letzten Kriegstagen einsetzten. In kurzweiligen Kapiteln, nur anfangs stört ein etwas flacher Erzählstil das gesamte Bild, gibt sich dann jedoch später, orientiert sich Michaela Küpper am roten Faden der Geschichte und erzählt die von ihr gesponnene.

Mit zunehmender Seitenzahl findet die Autorin mittel und Wege zu beschreiben, Emotionen aufkeimen und wirken zu lassen und wird von Zeile zu Zeile stärker.

Die große Politik und die Auswirkungen des Krieges, die die Welt in eine Katastrophe stürzte, wird hier geschickt in eine gut nachvollziehbare Romanhandlung verpackt. In allen Perspektiven.

Unterstützt wird der Roman durch ein starkes Nachwort der Autorin, ebenso wie ein Quellenverzeichnis, welches in Auszügen die Recherchearbeit im Vorfeld des Schreibens verdeutlicht. Bitte mehr von solchen Romanen und auch von Michaela Küpper, von der ich gespannt wäre, noch mehr zu lesen.

Autorin:
Michaele Küpper ist eine deutsche Autorin. Nach einer Jugend in Bonn, studierte sie in Marburg Soziologie, Psychologie, Politik und Pädagogik. Nach einem Volontariat war sie als Projektmanagerin für einen Verlag tätig. Heute arbeitet sie als freie Autori und Illustratorin.

Im Jahr 2011 wurde sie für den NordMordAward nominiert, ein Jahr zuvor erhielt sie die Nominierung für den Krimipreis der Stadt Frauenfeld (Schweiz). Neben Kurzgeschichten schrieb sie bereits mehrere Romane. Heute lebt sie wieder mit ihrer Familie im Rheinland.

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