Regime

Holger Kreymeier: Hashtag #DDR

Inhalt:

2023 im geteilten Deutschland. Der Widerstand in der DDR findet nicht mehr auf der Straße statt, sondern im Netz. Die DDR-Führung strebt die strengere Kontrolle des Internets und Zerschlagung der Oppositionsgruppen an, braucht aber Milliardenhilfen in D-Mark, die ihr die Bonner Regierung in Aussicht stellt. Nachdem YouTube-Entertainer Lonzo den realen Zustand der DDR mit seinem Video “Die Zerstörung der DDR” entlarvt hat, bekommt er die Unterstützung der freien Presse der Bundesrepublik. Doch dann wird er zum Sicherheitsrisiko – für beide deutsche Staaten … (Klappentext)

Rezension:

Es ist eines der viel erzählten Szenarien der fiktiven Geschichtsforschung, sich die Frage nach dem “Was wäre wenn?” zu stellen, wenn sich Ereignisse nicht so wie tatsächlich, sondern in eine vollkommen andere Richtung entwickelt hätten. Diese Gedankenspiele sind Grundlage für zahlreiche Erzählungen und manchmal sind diese uns erschreckend nah.

Der Schriftsteller Holger Kreymeier hat den Zeitstrahl verschoben. Nachdem Gorbatschow verunglückt ist, ist die deutsche Teilung immer noch knallharte Realität. Ihr, der großen Politik, stehen Social Media Influencer auf beiden Seiten entgegen und ebenso wie in unserer Welt stellen sie Weichen. Manchmal bringen sie dabei Lawinen ins Rollen, die sie kaum mehr aufhalten können. Oder wollen. Ein gefährliches Spiel beginnt.

Dystopische Szenarien haben ihre Schwächen. Oft genug merkt man, dass diese nicht konsequent ausgeführt werden. Die Welt, in der uns der Autor hier entführt, ist jedoch greifbar. Gleich eines Spielfilms sehen wir die Geschichte vor unserem inneren Auge auferstehen und begleiten die Figuren auf ihren Weg, der spannungsgeladener nicht sein könnte.

Die Vorstellung gelingt, da man sofort zu fast jeder Person ein reales Vorbild erkennen kann und auch sonst die Ecken und Kanten nachvollziehbar bleiben, etwa, wenn der eine deutsche Staat die innere Opposition gerne umfassend überwachen würde, dies jedoch an der Überalterung von Führungspersonen bis hin zum kaum vorhandenen technischen Know-how scheitert oder auf der anderen Seite der schwierige Balanceakt zwischen Diplomatie und Notwendigkeit austariert werden muss. Zudem sind auch die Protagonisten viel mehr Graubereichen zuzuordnen, als dem bloßen Schwarz und Weiß, was den kompakt gehaltenen Roman glaubwürdig erscheinen lässt. Das schnelle Erzähltempo tut sein Übriges dazu.

In einem Zeitraum von nur wenigen Wochen zwischen Ost und West wird die Geschichte erzählt. Holger Kreymeier hat es hierbei geschafft, zahlreiche Facetten des politischen Spektrums der damaligen Zeit in die Gegenwart hinein zu transportieren. Der Perspektivwechsel zwischen den Protagonisten trägt zum Fluss der Erzählung bei, Kurznachrichten a la Twitter unterstreichen das Gegenwartsgefühl.

Die Geschichte wirkt in sich schlüssig, über kleinere Sprünge wird man ob der spannungsreichen Erzählung gerne hinweg sehen, jedoch wäre die Ausformulierung mancher Szenarien, die teilweise doch knapp formuliert sind, wünschenswert gewesen. Auch das Ende der Erzählung reicht nicht ganz an den starken Auftakt heran, lässt jedoch Spielraum für eine Fortführung. Der Roman hat das Potenzial, weitererzählt zu werden. Man möchte das auch gerne lesen.

Bestimmte geschilderte Auswirkungen lassen ob der Realitätsnähe einem einen kalten Schauer über den Rücken laufen. In bestimmten Punkten gleicht der Roman einer Warnung a la Orwell. Hier merkt man die Erfahrungen Kreymeiers mit den Medien an und eine genaue Beobachtungsgabe, die einerseits durchaus kritisch betrachtet, andererseits Interesse an vorhandenen Möglichkeiten zeigt.

Die Erzählung ist für Geschichtsinteressierte gleichsam wie für Dystopie-Lesende eine weitere Ergänzung zur bestehenden Literatur. Die Nähe zu real existierenden Punkten der Vergangenheit und Gegenwart machen die Handlung greifbar. Manchmal fehlen Details, einige Male wünscht man sich etwas mehr Ausführlichkeit und den einen oder anderen Sprung. Für eine Fortsetzung wird man aber in jedem Fall zu haben sein.

Autor:

Holger Kreymeier wurde 1971 in Hamburg geboren und ist ein deutscher Journalist und Medienunternehmer. Er studierte zunächst Soziologie an der Universität Hamburg, absolvierte währenddessen ein Praktikum bei OK Radio und bei der Zeitschrift Cinema. Anschließend war er bei einem Tochterunternehmen des Axel Springer Verlags tätig, arbeitete danach freiberuflich für verschiedene Medienunternehmen. Zwischen 2007 und 2018 betrieb er die Online-Magazinsendung Fernsehkritik-TV. “Hashtag #DDR” ist sein viertes Buch.

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Sasha Filipenko: Kremulator

Inhalt:

Pjotr Nesterenko ist mit dem Tod auf vertrauten Fuß. Als Direktor des Moskauer Krematoriums in der Stalin-Zeit hat er sie alle eingeäschert: die Abweichler, die angeblichen Spione und die einstigen Revolutionshelden, die den Säuberungen zum Opfer fallen.

Er jedoch, davon ist er überzeugt, kann gar nicht sterben. So oft ist er dem Tod schon knapp entronnen. Bis der Tag seiner eigenen Verhaftung kommt. Wird er auch diesmal den Hals aus der Schlinge ziehen? Ein Roman über Russlands Vergangenheit, die ihre Schatten bis in die Gegenwart wirft – auf Grundlage historischer Dokumente, die dem Autor von der Organisation Memorial (Friedensnobelpreis 2022) zur Verfügung gestellt wurden. (Klappentext)

Rezension:

Wie sehr muss man sich eigentlich in den Brennpunkt einer Gefahr hinein begeben, um nach und nach den Schrecken vor ihr zu verlieren und schließlich nicht mehr als solche wahrzunehmen? Dabei ist der Direktor des Moskauer Krematoriums Pjotr Nesterenko täglich mit ihr konfrontiert, lässt er doch die Überbleibsel des Stalinschen Terrors von der Bildfläche verschwinden.

Mit jedem Menschen, den Nesterenko verbrennen lässt, zieht sich die Schlinge auch um seinen Hals immer enger zu, bis er schließlich selbst in derer Fänge gerät. Der Geheimdienstoffizier, ihm gegenüber sitzend, bringt ihn zum reden. Nesterenko, der dem Tod so oft ins Auge gesehen hat, spricht, im guten Glauben auch da heil heraus zu kommen, um seines Lebens willen.

Ein Roman funktioniert dann am besten, wenn der Schreibende genau um die Fascetten dessen weiß, worüber er schreibt. Dem belarussischen Schriftsteller Sasha Filipenko gelingt dies ein ums andere Mal, nun wieder. In seiner neuesten Erzählung greift er den Stalinschen Terror auf, dessen Auswirkungen noch heute in vielen russischen Familien zu spüren sind, heute durch die jetzigen Regierenden in anderer Art und Weise, subtiler vielleicht, fortgeführt werden. Mit kurzen prägnanten Sätzen, die nicht zu selten wie gezielte Nadelstiche wirken, eröffnet der Autor ein zu Beginn fast schon amüsant weil surreal wirkendes Kammerspiel, welches sich mehr und mehr zu einem Schachspiel um Leben und Tod wandelt.

Während des Lesens der ersten Hälfte des Romans muss man zuweilen schmunzeln. Das Lachen bleibt im Halse stecken. Wir scheinen schnell zu ahnen, worauf das dargestellte Katz-und-Maus-Spiel hinauslaufen wird. Doch wagen wir zu hoffen, jedem Gedanken um das Unausweichliche beiseite zu schieben. Erzählt wird so ein Zeitraum von wenigen Wochen, der für den Protagonisten mal zu einer atemraubenden Tortur wird, dann wieder in zähflüssiger Langeweile sich zersetzen scheint.

Der Autor öffnet dabei verschlungene Pfade und lässt seine Figur Nesterenko zurückblicken, auf eine Biografie, wie sie ähnlich wohl zu der beschriebenen Zeit viele in Erklärungsnot gebracht haben dürfte. Wir Lesende erfahren so ein bewegendes Stück russischer Geschichte, mit der man auch viel heutiges erklären könnte, bleibt jedoch mit mehr Fragen zurück, als dass man Antworten bekommt.

Nach und nach bekommt die Hauptfigur so Konturen, der Antagonist zeigt indessen sein wahres Gesicht, welches er schon zu Beginn kaum verbirgt. Der hat ein Ziel, der beschriebene Weg und was dies mit seinem Protagonisten macht, ist die Frage, die Filipenko sich stellt und auf deren Beantwortung wir Lesende hinfiebern. Die Intensionen beider Figuren können nachvollzogen werden. Rasant führt die eine den anderen in den Abgrund hinab, den beide aus unterschiedlichen Positionen heraus nur allzu gut kennen.

Die Dynamik im Text entsteht durch gekonnt gesetzte Brüche in Form von verschiedenen Zeitebenen, die sich nur langsam zusammenfügen. Es verdient Anerkennung, das geschrieben zu haben, ohne den Überblick zu verlieren. Dem kommt zu Gute, dass das Figurenensemble überschaubar bleibt. Kein Wort ist hier zu viel, zu wenig gesetzt. Eine Kunst, die Filipenko vollkommen beherrscht. Rückblenden werden gezielt eingewoben. Wäre die beschriebene Zeit jedoch nicht klar, wäre solch ein Verhör, wie dort beschrieben, auch und besonders im heutigen Russland vorstellbar. Abweichung wird nicht geduldet. Damals nicht, heute auch nicht. Und sei sie nur gefühlter Natur.

Zumindest am Anfang nicht ganz so düster daherkommend, wie etwa der Vorgängerroman “Der ehemalige Sohn”, der vordergründig eher ein Familiengefüge beleuchtet hatte, wirkt diese Erzählung an vielen Stellen deutlich leiser. Die Bedrohung packt den Protagonisten an seinen wunden Punkten. Wer liest, dem läuft das kalt den Rücken hinunter. Fast wirkt das, als wäre man selbst der Verhörte, der im Prinzip weiß, redet man, geht man daran zugrunde. Redet man nicht, dann sowie so. Also spricht man, hat natürlich trotzdem oder gerade deswegen die Hoffnung, noch einmal davonzukommen.

Diese Parallelen vom Damals zum Heute sind es, die die Erzählung so besonders machen, da so fein ausgearbeitet, selten ein zweites Mal zu lesen sind. Vergleichbares ist schwer zu finden. Gibt es Romane mit dieser Thematik, die einem noch mehr in den Bann ziehen? Man wird in die Handlung hinein gesogen. Zuweilen fühlt man sich, als würde man diesem fast schon intimen “Gespräch”, welcher zu großen Teilen aus einem äußeren, unterbrochen von inneren, Monolog besteht. Das schafft unbedingte Nähe.

Immer wieder einen anderen gesellschaftlichen oder historischen Aspekt der Geschichte Belarus’ und Russlands aufgreifend, hat es Filipenko mit “Kremulator” erneut geschaffen, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, der auch nach Zuschlagen der letzten Seite nachhallt und emotional berührt.

Bei mir schaffen das nicht alle Romane, so in diesem Maße und nicht alle Schreibende so oft und stark, wie Sasha Filipenko, der wieder einmal meine Erwartungshaltung übertreffen konnte. Empfohlen sei die Erzählung allen, die sich für die Zeit des Stalinschen Terrors, dieser gewollt herbeigeführten Gesellschaft interessieren, die durch nichts als Angst zusammengehalten wurde und für jene, die erfahren möchten, warum auch heute noch die oberen Zehntausend Russlands mit den ihnen ausgesetzten Massen praktisch nach Gutdünken verfahren können. Die Geschichte ins Heute übertragen, könnte man sicher für einen Gutteil der dortigen Bevölkerung sagen, die Angst hat bis heute überlebt. Man stellt sich ein Verhör mit ungewiss-gewissen Ausgang auch heute noch so vor.

Schlicht und ergreifend beeindruckend ist das, wie hier Filipenko erneut durch den Spiegel der Historie etwas Modernes erzählt. Schon alleine daher ist “Kremulator” unbedingt zu empfehlen.

Autor:

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren und ist ein belarussischer Schriftsteller, Journalist und TV-Moderator. Er, der auf Russisch schreibt, wurde in über 15 Sprachen übersetzt und studierte nach der Schule zunächst an der Europäischen Humanistischen Universität Minsk und ging anschließend 2004 nach St. Petersburg. Dort schloss er das Studium der Literatur ab und arbeitete für verschiednee unabhängige russische Fernsehsender.

In Belarus ist sein Werk teilweise verboten, zudem er in Opposition zum herrschenden Machtapperat um Lukaschenka steht, sich mit den in seinem Geburtsland stattfindenden Protesten 2020-2021 solidarisierte. Mit seiner Familie lebt er inzwischen im Schweizer Exil. Filipenko schreibt seine Texte weiterhin auf Russisch.

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Julia Cimafiejeva: Minsk. Tagebuch

Inhalt:

Die belarusische Dichterin Julia Cimafiejeva ist inzwischen Writer in Exile in Österreich. Im Rahmen des gleichnamigen Programms lebt sie nun in Graz. Dort hat Cimafiejeva ein tagebuch weitergeführt, das sie in den Tagen vor den Präsidentschaftswahlen in ihrem Land im August 2020 begonnen hatte – es liegt hier erstmals in Deutsch veröffentlicht vor:

Eine Chronik der Ereignisse in eindrücklichen Worten, eine Chronik von Hoffnung und Gewalt. Notizen aus einem Land, das von einem absurden autoritären System in eine offene Diktatur abgleitet – weil sich Belarusinnen und Belarusen sich nicht mehr mit den Lügen der Machthaber abfinden. (abewandelte Verlags-Inhaltsangabe)

Rezension:

Die Studentin beobachtet in ihrem Wohnheim nachts heimlich das Austauschen von Wahlurnen. Die Welt indes schenkt Lukaschenko keine Beachtung. Gerade richtet sich die Aufmerksamkeit auf die einstürzenden Türme des World Trade Centers in New York City und der autoritäre Herrscher zementiert seine Macht. Jahre später ist die Stimmung hoffnungsvoll. Die Opposition hat drei respektable Kandidatinnen. Aufbruch versprechen sie, Wandel. Das Volk geht dafür auf die Straße. Diesmal schaut die Welt zu. Doch das Regime weiß wie man spielt. Mit Unsicherheit und Angst, unter Nutzung von Polizei, Geheimdienst, unter Nutzung von Gewalt.

Die Dichterin, die längst Texte veröffentlicht, lebt in der belarusischen Hauptstadt, hofft und bangt, möchte etwas tun, demonstrieren vielleicht. Man muss auf der Hut sein. In diesen Tagen werden unzählige Menschen verhaftet, von der Straße weg, wenn sie mit der Opposition in Verbindung gebracht werden. Und sei es nur, weil die Socken deren Farbgebung haben.

Ihre Waffe ist das Wort, ein Stift und ein kleines Heft. Es entsteht ein Tagebuch der Proteste. Zunächst voller Hoffnung, vielleicht Zukunftspläne mischen. Was wäre, wenn sich diesmal wirklich etwas ändert? Schnell wird dies verdrängt. Immer öfter nehmen Ängste überhand, je heftiger sich das Regime wehrt. Schließlich der Drang, zu gehen. Erst im Exil ist sie wieder vorhanden, Luft zum Atmen.

Julia Cimafiejeva beschreibt eindrucksvoll die persönliche Sicht auf einen Konflikt, der regelmäßig aufbricht, kurze Zeit Aufmerksamkeit erlangt, um dann dem Vergessen anheim zu fallen. Wer erinnert sich denn noch regelmäßig an die Ereignisse des gescheiterten Versuchs eines Volkes, ein Land zu verändern? Wer hat sich damals, wer interessiert sich heute für die Folgen dieser Tage? Nie zuvor stand das belarusische Regime so sehr mit dem Rücken zur Wand? Nie wehrte es sich so heftig, um dann gefestigter denn je daraus hervorzugehen.

Immer wieder schweift die Beobachterin ab, in ihre Gedankenwelt, nur um dann selbst Akteurin der Ereignisse zu werden. Man hält den Atem an, wenn sie berichtet, wie sie vor Protesten flieht, in Hausaufgänge, Innenhöfe hinein, in das nächste Geschäft. Die Erleichterung ist zu greifen, wenn sie wieder einmal den Häschern entkommen ist. Dann wieder Ängste. Gefühlswelten wechseln innerhalb des Textes, der zunehmend immer bedrohlicher wirkt. Die Gefahr wandelt sich in eine Schreibblockade um. Gedichte zu schaffen, scheint der Autorin unmöglich. Erst außerhalb Belarus wird sich dies lösen.

“Manchmal denke ich, dass sie mit imaginären Feinden kämpfen: grausam, brutal, stark, bis an die Zähne bewaffnet, echte Superkriminelle – die nur in den Köpfen der belarusischen Machthaber existieren. Vielleicht haben sie sich solche echten Gegner immer gewünscht…”

Julia Cimafiejeva: Minsk. Tagebuch

Schließlich das Exil. In Graz gibt es zu dieser Zeit noch keine belarussische Community. Die ist in der österreichischen Hauptstadt viel größer. Doch, im Ausland wird der Konflikt schnell verdrängt. Ernüchternde Erkenntnis, vermischt mit der Erleichterung, der Tristesse, der ständigen Bedrohungen entkommen zu sein. Und wieder schreiben zu können. Frei. Die Einträge im Tagebuch werden leichter. Lesen sich leichter. Die Autorin schafft zum Ende hin nicht nur mit ihrem Text ein Stück Protest.

Der Text, der im Nachhinein entstand, transportiert diese Stimmungen. Die Sätze, mal kompakt, mal ausschweifend, machen deutlich, wie inmitten Europas ein Land und sein Herrscher einem Volk die Luft zum Atmen nimmt. Das Regime kann sich darauf verlassen, dass der Blick Europas schnell in andere Richtungen zeigt. Das Lebensglück der Menschen indes wird verspielt. Ernüchterung, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit. Je nach Abschnitt, es gibt derer drei, kommt mal dieses, mal jenes Gefühl zum Tragen. Die Autorin hat sich diese Tage ins Gedächtnis eingeschrieben, gegen das Vergessen. Damit das wenigstens jemand tut.

Autorin:

Julia Cimafiejeva wurde 1982 geboren und ist eine belarusische Dichterin und Übersetzerin. Zunächst studierte sie Englisch, schrieb selbst an mehreren Büchern und Gedichten, veröffentlicht regelmäßig Texte. Ende 2020 lebte sie für längere Zeit in Graz und ist Teil des Programms Writer in Exile, in Österreich. Sie ist Mitglied des Belarusischen PEN und der Vereinigung belarusischer Autoren und Autorinnen.

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Michaela Küpper: Der Kinderzug

Der Kinderzug Book Cover
Der Kinderzug Rezensionsexemplar/Roman Droemer Hardcover Seiten: 348 ISBN: 978-3-426-28218-2

Inhalt:
Im jahr 1943 begleitet Barbara, Lehrerin, eine Gruppe Mädchen im Rahmen der sog. Kinderlandverschickung. Angst, gespannte Unruhe, begleitet die Gedanken der Kinder, die nicht wissen, was sie erwartet.

Eine Odyssee beginnt, die nicht nur die Kinder, sondern auch Barbara an ihre Grenzen führt. Immer mehr werden die Realität und die grausamen Methoden der Nationalsozialisten deutlicht. Schließlich verschwindet eines der Mädchen und ein polnischer Zwangsarbeiter wird verdächtigt. Barbara muss sich entscheiden. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Im Jahr 1943 bekamen die Deutschen entgültig die Auswirkungen des von ihnen verursachten Weltkrieges zu spüren. Städte wurden zerbombt, Lebensmittel waren schon längst rationiert, die Armeen an allen Fronten befanden sich auf den Rückzug.

Um Zugriff auf die Kleinsten zu haben, aber auch um sie zu schützen, wurden hunderte Kinder im Rahmen der sog. Kinderlandverschickung von ihren Eltern getrennt und beinahe schulklassenweise in vermeintlich sichere, zumeist ländliche, Gebiete verteilt. Ein großer Umbruch im Leben der Kinder und Jugendliche, die später diese als schönste oder schlimmste zeit ihres Lebens empfinden würde, ganz abhängig vom Erlebten.

So viel zur wahren Geschichte und zum Szenario, welches sich Michaela Küpper für ihren neuesten Roman “Der Kinderzug” vorgenommen hat. Der Leser begleitet eine Gruppe von Kindern, doch vor allem eine ihr zugeteilte Lehrkraft quer durch die Lande und erlebt die Schrecken dieser Zeit praktisch hautnah mit.

Erzählt wird die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, in Form der Draufschau eines Tagebucheintrages etwa oder und vor allem durch die Ich-Erzählerin, die junge Lehrerin, Barbara, die als Identifikationsfigur dient.

Zum Greifen nah ist die Spannung der Ungewissheit sonderbarer Zeit und das Abwiegen zwischen der Notwendigkeit, einen gewissen Alltag zu leben und sich der sonderbaren Lage anzupassen. Letzteres vor allem, wenn Erwachsene und Kinder mit den Auswirkungen der großen Politik konfrontiert und von deren schlimmster Sorte zum Spielball degradiert werden.

Wie weit darf, muss man mitgehen, wann Haltung bewahren oder Kompromisse machen, um sich selbst und seine Schutzbefohlenen zu schützen? Michaela Küpper hat sich diesen Spannungsbogen vorgenommen und erzählt, zunächst langsam, was auch beim Lesen einige Längen verursacht, dann in einem immer schnelleren Tempo, die Geschichte.

Erzählt wird von den Auswirkungen einer menschenverachtenden ideologie auf das Leben der Jüngsten, die später einmal unsere Groß- und Urgroßeltern werden sollten, in Romanform.

Zur Geltung kommt aber auch das Engagement vieler Lehrkräfte, die sich für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendliche bis hinein in den letzten Kriegstagen einsetzten. In kurzweiligen Kapiteln, nur anfangs stört ein etwas flacher Erzählstil das gesamte Bild, gibt sich dann jedoch später, orientiert sich Michaela Küpper am roten Faden der Geschichte und erzählt die von ihr gesponnene.

Mit zunehmender Seitenzahl findet die Autorin mittel und Wege zu beschreiben, Emotionen aufkeimen und wirken zu lassen und wird von Zeile zu Zeile stärker.

Die große Politik und die Auswirkungen des Krieges, die die Welt in eine Katastrophe stürzte, wird hier geschickt in eine gut nachvollziehbare Romanhandlung verpackt. In allen Perspektiven.

Unterstützt wird der Roman durch ein starkes Nachwort der Autorin, ebenso wie ein Quellenverzeichnis, welches in Auszügen die Recherchearbeit im Vorfeld des Schreibens verdeutlicht. Bitte mehr von solchen Romanen und auch von Michaela Küpper, von der ich gespannt wäre, noch mehr zu lesen.

Autorin:
Michaele Küpper ist eine deutsche Autorin. Nach einer Jugend in Bonn, studierte sie in Marburg Soziologie, Psychologie, Politik und Pädagogik. Nach einem Volontariat war sie als Projektmanagerin für einen Verlag tätig. Heute arbeitet sie als freie Autori und Illustratorin.

Im Jahr 2011 wurde sie für den NordMordAward nominiert, ein Jahr zuvor erhielt sie die Nominierung für den Krimipreis der Stadt Frauenfeld (Schweiz). Neben Kurzgeschichten schrieb sie bereits mehrere Romane. Heute lebt sie wieder mit ihrer Familie im Rheinland.

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Margaret Atwood: Die Zeuginnen

Die Zeuginnen Book Cover
Die Zeuginnen Margaret Atwood Rezensionsexemplar/Roman Piper/berlin Verlag Hardcover Seiten: 576 ISBN: 978-3-8270-1404-7

Inhalt:
Fünfzehn Jahre nach “Der Report der Magd” erzählt die Autorin Margaret Atwood die Geschichte weiter. Drei Zeugenaussagen dreier Erzählerinnen aus dem totalitären Schreckensstaat Gilead zeigen, wie eines zum anderen führte und welchen Verlauf Desfreds Schicksal nahm. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:
Wenn ich von Verlagen offensichtliche Fortsetzungen von Erzählungen angetragen bekomme, erkundige ich mich danach, ob diese auch ohne Kenntnis des Vorgängerbandes zu lesen sind? Wenn dies der Fall ist, teste ich es gerne aus, mich in die Geschichte hinein zu finden, mit den Protagonisten Bekanntschaft zu schließen und ihren Weg zu verfolgen.

Nur dann macht ein vollständiges Eintauchen in das Geschehen Sinn. Auch hier hatte ich darum gebeten, mir nur dass Rezensionsexemplar zukommen zu lassen, wenn dies möglich sei. Ich bekam es.

Mit “Die Zeuginnen” legt Margaret Atwood die von vielen Fans ersehente Fortsetzung zum “Report der Magd” hin, deren Geschichte serienmäßig erfolgreich verfilmt wurde. fünfzehn Jahre nachdem die Buchdeckel zugeklappt sind, erfahren die Leser nun, was nach Handlungsende passierte. Der rote Faden aus dem totalitären theokratischen Phantasiestaat Gilead wird wieder aufgenommen und in Form von drei Zeugenaussagen, die einen stetigen Perspektivwechsel ergeben, weiter erzählt.

Das funktioniert für alle Leser von Beginn an, so sie mit dem Vorgänger-Werk vertraut sind, jedoch nicht für Leser, die erst jetzt auf das von Atwood geschaffene Konstrukt stoßen. Nur schwer gelingt dann der Einstieg, nur schwer die Zuordnung und Benennung, auch Einordnung der einzelnen Protagonisten. Erst im weiteren Verlauf gibt es eine kleine Auffrischung, für Neuleser Einführung in die Welt Gileads. Viel zu spät, auch im Vergleich mit anderen Fortsetzungsromanen.

Am ehesten liest sich “Die Zeuginnen” noch als Parabel auf das Leben und Funktionieren einer theokratischen Diktatur, wie es sie in verschiedenen Formen in der realen Welt noch gibt. Die Autorin konstruiert eine Welt aus Lügen, Intrigen und Verrat und erzählt, was passieren kann, wenn einzelne Karten aus dem Kartenaus verschoben oder gar entfernt werden. Eine Lawine ungeahnten Ausmaßes wird losgetreten, die alles im Weg stehende mit sich reißt. Ohne Rücksicht auf Verluste. Die gibt es auch hier.

Der Perspektivwechsel trägt zur Verwirrung bei Erstlesern bei, denen unbedingt empfohlen sei, den Vorgängerband zuerst zu lesen. So, wie ich das getan habe, ist die Geschichte nicht zu konsumieren und dabei stellt sich dann auch kein Lesegenuss ein.

Ich kann praktisch nur auf die Beschreibungen der Diktatur als die von Atwood geschaffene Welt mich beziehen. Die Protagonisten indes blieben mir fremd und auch Hanndlungs- und Spannungsbögen, waren zwar erkennbar, doch für mich mit allzu großen Lücken durchsetzt.

Das reicht nicht aus, um mich bei Stange zu halten. Wahrscheinlich müssen jetzt erst einmal ein paar Jahre vergehen, ehe ich es wieder mit Margaret Atwood versuche. Vielleicht bleibt es aber auch nur bei diesem einen, erfolglosen Versuch. Andere Autoren teilen dieses Schicksal. Auch dafür gibt es Zeuginnen.

Autorin:
Margaret Atwood wurde 1939 in Ottawageboren und ist eine kanadische Schriftstellerin und Dichterin. Merfach ausgezeichnet, schrieb sie zahlreiche Romane, Essays und vielseitige Lyrik. “Der Report der Magd” wurde vielfach ausgezeichnet und als Serie verfilmt. 2017 erhielt Atwood den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sie Ist Mitglied des Schriftstellerverbandes PEN.

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Rüdiger Frank: Nordkorea – Innenansichten eines totalen Staates

Nordkorea - Innenansichten eines totalen Staates Book Cover
Nordkorea – Innenansichten eines totalen Staates Rüdiger Frank Pantheon Verlag Seiten: 461 Broschur ISBN: 978-3-570-55293-3

Inhalt:

Nordkorea und seine diktatorischen Machthaber aus der Kim-Familie werden gefürchtet und verlacht. Gefürchtet, weil das Regime mit Atomkrieg droht und die Bevölkerung im letzten staatssozialistischen System der Erde unterjocht. Verlacht, weil auf westliche Betrachte Rückständigkeit und Massenaufmärche vor allem kurios wirken. Aber das wird dem Land kaum gerecht.

Rüdiger Frank, einer der besten Kenner Nordkoreas, der regelmäßig dorthin reist, versucht in diesem Buch eine Annäherung an das abgeschottete Land, aus dem nur wenig verlässliche Nachrichten dringen. Aus seiner reichen Erfahrung heraus erklärt er Geschichte und Selbstverständnis, die Machtstrukturen und die seit einiger Zeit zu beobachtenden Änderungen im Alltag und in den wirtschaftlichen Verhätlnissen.

Und er wagt einen Ausblick auf die Frage einer möglichen Wiedervereinigung mit Südkorea. (Klappentext)

Rezension:
Nordkorea ist als kleines Land die große Unbekannte unter den Staaten Asiens. Über kaum ein Land dringt so wenig nach Außen, über kaum ein Land gibt es so wenige Informationen und wird so einseitig berichtet, wie dieses auf der koreanischen Halbinsel.

Doch, abseits von Halbwissen und Begrifflichkeiten wie der “Achse des Bösen”, wozu die Vereinigten Staaten das Land zählen, “Atomtests” und “Hungersnöte”, fragt sich der westliche Beobachter, wie es den Land bis heute gelingt, zu existieren, während andere Länder mit ähnlichen Staatssystemen zusammenbrachen oder zumindest wirtschaftlich eine 180-Gradwende vollzogen, allen voran Nordkoreas großer Nachbar China.

Wie gelang es dem Regime sich trotz Hungersnöte und technologischen Rückstand zu halten? Wir alle haben die Satellitenbilder im Kopf, die ein dunkles Nordkorea zeigen, umgeben von durch Elektrizität hell erleuchteten Nachbarstaaten. Worauf baut der Staat auf? Welche Ideologien stecken dahinter und sind diese wirklich so starr, wie es scheint?

Oder durchlebt der Nachbar Südkoreas gerade eine Phase des langsamen, aber kontinuierlichen Umbruchs? Wie gestaltet sich die Gesellschaft Nordkoreas ihren Alltag? Gibt es ein Umdenken im Umgang mit den Regime und den Nachbarn?

Weshalb ist die Teilung Koreas und dem zu Folge eine mögliche Wiederveinigung nicht mit der Deutschlands zu vergleichen, auch wenn beide Staaten nach Berlin schauen und die Wiedervereinigung Fernziel für beide ist? Und, wo liegen die Fallstricke?

Rüdiger Frank, der beide koreanische Staaten vom Äußern und insbesondere vom Inneren her kennt, analysiert Korea und zeichnet das Bild eines Staates, welches mehr interessante Fragen bereithält, als dass es Fragen beantwortet.

Zu spannend ist es, zu beobachten, was derzeit in Nordkorea passiert, wenn es sich auch für den Beobachter, der jetzt nur die Beiträge aus den westlichen Medien kennt, selten so zu erkennen gibt. Man muss schon dorthin reisen und Kontakte in beide koreanische Staaten haben, um analysieren zu können und genau dies tut Frank in diesem Buch.

Zunächst beschäftigt sich der Autor mit der Geschichte Koreas, die in die Teilung von Außen heraus führte und folgend mit den ideologischen Überbau, der als erstaunlich wandlungs- und interpretationsfähig beschrieben wird. Sowohl von der staatlichen Seite als auch von der Bevölkerung selbst. Das politische System wird, soweit möglich, aufgegliedert und die wackelige Wirtschaft analysiert.

Der Autor beschreibt den Wandel Nordkoreas anhand von Reformversuchen des Regimes, zeigt, was funktioniert und was trotz Scheitern, etwa der Remormen 2002, trotzdem zurückbleibt und eines Tages helfen könnte, zu einem völligen Wandel beizutragen. Mit oder ohne den derzeitigen Machthabern.

Rüdiger Frank geht noch einen Schritt weiter und schildert die Rolle der Sonderwirtschaftszonen und die Rolle des derzeitigen Machthabers Kim-Jong-Un im staatlichen System Nordkoreas, sowie, wie Propaganda als Sonderweg zwischen Russland bzw. der ehemaligen Sowjetunion, China und den Erfeind USA funktioniert. Er wagt aber auch zugleich einen Blick in die Glaskugel, bezüglich Varianten einer Wiederveinigung beider koreanischen Staaten.

So gegliedert, ergibt sich ein ausgiebiges und detailliertes Standardwerk über die aktuelle Situation Nordkoreas und ein anderes Bild, abseits der üblichen Medien-Berichte, welches man unbedingt verinnerlichen sollte.

Rüdiger Frank zeigt auf, wo das Regime an sich selbst scheitert, aber auch, was funktioniert und welche roten Linien die internationale Staatengemeinschaft überdenken sollte, die sich zu sehr auf’s einseitige Handeln verlegt hat und damit alle Chancen der Annäherung verspielt, wenngleich Nordkorea nicht unschuldig daran ist.

Der Autor gibt einen sehr differenzierten und interessierten Einblick, der auf jeden Fall das Wissen über Nordkorea erweitert und dazu anstößt, sich eben nicht mit zweiminütigen Berichten in der Tagesschau zufrieden zu geben, sondern mehr zu erfahren.

In klarer und verständlicher Sprache zeichnet der Autor dieses Bild, dennoch verlangt das Lesen Konzentration ab, die man halten muss. Es ist kein Werk zum Nebenherlesen, aber so spannend beschrieben, wie Geschichte, Politik und Wirtschaft sonst nicht sein können. Dafür und für eine etwas klarerer Sicht auf ein, uns so unbekanntes, Land, lohnt sich die Lektüre.

Autor:
Rüdiger Frank wurde 1969 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Wirtschafts- und Ostasienwissenschaftler. 1991/92 verbrachte er ein einsemestriges Sprachstudium an der Kim-Il-Sung-Universität im nordkoreanischen Pjörnjang, finanziert vom Deutschen Akademischen Austauschdienst und studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Koreanistik, sowie Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen.

Später lehrte er in New York, wurde 2007 zum Professort für “East Asian Economy and Society” an der Universität Wien ernannt und ist seit 2012 Vorstand des Instituts für Ostasienwissenschaften in Wien. In Seoul ist er als außerplanmäßiger Professor tätig und besucht beide Staaten regelmäßig. Er war Mitglied mehrerer EU-Delegationen und des World Economic Forum.

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Robert Harris: Vaterland

Vaterland Book Cover
Vaterland Robert Harris Heyne Erschienen am: 13.03.2017 Seiten: 383 ISBN: 978-3-453-42171-4 Übersetzer: Hanswilhelm Haefs

Inhalt:

Hitler hat den Krieg gewonnen. Großdeutschland, das vom Rhein bis zum Ural reicht, dominiert Europa. Ständige Partisanenkämpfe und der Kalte Krieg mit den USA zermürben das Reich.

In Berlin geschieht der brutale Mord an einem hohen Parteibonzen – und Kripo-Sturmbannführer März gerät im zuge seiner Ermittlungen gefährlich nah an die Wahrheit. (Klappentext)

Rezension:

Historische Schreckensszenarien vermögen zu faszinieren, besonders, wenn sich der Leser bewusst wird, wie leicht Ungeheuerlichkeiten hätten wahr werden können. Robert harris hat mit seinem ersten Roman ein solches Bild erschaffen und versetzt uns in die Zeit der 60er Jahre.

Auch hier stehen sich zwei Blöcke gegenübe. Auch hier gibt es einen US-Präsidenten, der Zeichen setzen möchte. Auch hier ist der Schauplatz die Stadt an der Spree. Alleine, die ausgangssituation ist eine andere als es die tatsächlich gewesenen Geschehnisse waren.

Das Dritte Reich hat den Krieg gewonnen und dominiert Europa bis hin zum Ural.

Riesige Autobahnen durchziehen das Land, Bahnen mit einer Spurbreite von 4 Metern bringen die Herrenmenschen in die entfernten Winkel des Reiches. Doch, an den Grenzen im Osten gärt es.

Immer wieder kommt es zu Anschlägen durch Partisanen, wogegen die Bevölkerung sich längst im gleichmachenden Alltag eingerichtet hat. Nur ab und zu scheren einzelne Personen aus der Masse aus. Diese jedoch, überleben in dem Staat der totalen Kontrolle nicht lange.

Eingebunden in einem, gleichsam nach Ian Kershaw klingenden Szenario, erlebt der Leser die geschichte aus der Sicht des nicht ganz so linientreuen Kripo-Sturmbannführers März, der zunächst in einem, wie es scheint, einfachen Mordfall ermittelt.

März, angezählt durch die Weigerung, der Partei beizutreten und allzu unbequem zu agieren, wird der Fall entzogen, als sich herausstellt, dass das Opfer ein einst hohes Parteimitglied der ersten Stunde gewesen ist, doch der Polizist ist neugierig. Warum sind gewisse Stellen so sehr daran interessiert, den Mordfall zu vertuschen?

Warum wird der einzige Zeuge wenig später ebenfalls ermordet? Warum gerade jetzt, kurz vor dem geburtstag des Führers und den Besuch des amerikanischen Präsidenten? Jede neue Frage wirft weitere Fragen auf. Und bald geht es nicht nur um die Beweggründe des Opfers oder seiner Täter. Bald ist auch März in allerhöchster Gefahr.

Problematisch sind historische Romane immer dann, wenn sie geschichtliche Wahrheiten so sehr mit Fiktion vermischen, dass man Lüge und Dichtung nicht mehr von einander unterscheiden kann.

Dies wird hier umgangen, denn natürlich und zum Glück ist der hier geschilderte Fall eines Sieges der Nazis über die Welt nicht eingetreten, zudem hat der autor über die Grundlage der fakten gut recherchiert. Wie hätte ien Leben im Führerstaat ausgesehen?

Wie Berlin nach einer Umgestaltung im Sinne Albert Speers? Welche realen Personen führten welche Korrespondenzen und wie hätte dies ausgesehn, im von Harris beschriebenen Falle?

Fragen, die dicht aufeinanderfolgend, ein gruseliges Szenario ergeben, welches einem beim genaueren Durchdenken kalt den Rücken herunter läuft. Der Spannungsbogen, langsam auf den ersten Seiten aufgebaut, hält und steigert sich zunehmend.

Der Leser kommt indes in der moralischen zwickmühle einen Nazi (auch wenn sich der Protagonist, wie oben erwähnt, nicht gerade als linientreu erweist) als sympathisch zu empfinden, doch auch hier sind die Hauptfiguren zumindest so wandlungsfähig, dass es gerade noch erträglich ist.

Die Nebenfiguren sind zwar teilweise brutal, bleiben aber ansonsten blaß.

Der Ausgang der Geschichte selbst ist zwar offen, jedoch durchdenk- und leider auch zum Schluss recht vorhersehbar. Trotzdem ist Harris ein sehr lesenswerter und lebendiger Roman gelungen, der gerade heute gelesen werden sollte.

In diesem Sinne kann man über kleinere Schwächen, und dies ist Meckern auf hohen Niveau, großzügig hinwegsehen. Dann bekommt man einen spannenden Historien-, Politthriller, Kriminalroman und, wenn man auch die Anmerkungen, die auf die tatsächlichen Geschehnisse hinweisen, beachtet, eine geschichtliche Lehrstunde in ihrer einprägsamsten Form.

Autor:

Robert Dennis Harris wurde 1957 in Nottingham, Engalnd, geboren und ist ein britischer Journalist, Sachbuchautor und Schriftsteller. Nach der Schule studierte er in Cambridge Englische Literatur und arbeitete zunächst als Reporter für die BBC und als politischer Redakteur für verschiedene Zeitungen.

Seinen ersten Roamn veröffentlichte er 1992 in seiner Heimat, in Deutschland fand sich ob der Thematik zunächst kein Verlag. erst 1996 wurde “Vaterland” ins Deutsche übersetzt. Mehrere seiner Werke wurden verfilmt, und mehrfach ausgezeichnet.

Die Handlungen seiner Romane sind meist geprägt durch historische Szenarien, die leicht abgewandelt werden. Harris ist verwandt mit Nick Hornby, ebenfalls Schriftsteller, und lebt derzeit in Berkshire.

Robert Harris: Vaterland Read More »