Petr Ginz

Bücher gegen das Vergessen #01

In zwölf Teilen soll es hier um besondere Bücher zu geschichtlichen Themen gehen, die gegen das Vergessen geschrieben und veröffentlicht wurden. Es ist eine unvollständige, vollkommen subjektive Auswahl und es gibt sicher noch viel mehr von dieser Sorte zu lesen. Diese Rubrik soll daher nur ein Anstoß sein, sich damit zu beschäftigen.

Dies ist Teil 1.

Die Tagebücher des Petr Ginz

Nicht wenigen dürften, zumindest als Schullektüre, “Die Tagebücher der Anne Frank” bekannt sein, die das jüdische Mädchen in ihrem Amsterdamer Versteck geschrieben hatte, worin sich die Familie vor ihrer Entdeckung durch die Nazis während der Besetzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg zurückziehen musste.

Doch, auch andere Kinder schrieben das alltäglich Erlebte, das Grauen, auf, welches in besonderen Zeiten Aufsehen erregt hätte, jedoch ein Zustand wurde, mit denen sie versuchten, zurecht zu kommen. Viel davon ist beeindruckend zu lesen und bei Lektüre regelrecht erdrückend.

Petr Ginz: Prager Tagebuch 1941-1942
Bloomsbury, 192 Seiten, ISBN: 978-3-8270-5245-2 (antiquarisch)

Das tschechische Äquivalent zu Anne Frank sind die Tagebücher des Prager Jungen Petr Ginz, der 1928 geboren wurde und als Zwölfjähriger begann, das Erlebte aufzuschreiben. Seine kleinere Schwester und er wuchsen liebevoll umsorgt in der tschechisch-slowakischen Hauptstadt auf, die mit als erste zu spüren bekam, was es bedeutete, von den Nationalsozialisten besetzt worden zu sein.

Petr zeichnete sich dabei durch eine sehr genaue und nachhaltige Beobachtungsgabe aus.

Juden müssen ein Abzeichen tragen. Auf dem Weg zur Schule habe ich 69 ‘Sheriffs’ gezählt, Mama hat über Hunderte gesehen.

Petr Ginz: Prager Tagebuch 1941-1942

Der Junge schrieb auf, was Alltag wurde. Anders als Anne Frank, kurz und knapp, fast journalistisch genau, ohne Gefühle ausführlich zu beschreiben, die nur hin und wieder durchscheinen. Es war ja ursprünglich nur für ihn selbst gedacht. Sicher dachte er nicht daran, dass einmal seine Erinnerungen veröffentlicht werden würden. Die Gefühle kommen dann eher in seinen zahlreichen Zeichnungen, kolorierten Linolschnitten oder Gedichten zum Vorschein. Ein feinfühliger, sensibler und mental starker Junge, so scheint es den heutigen Lesern.

Die Familie versteckte sich nicht. Seine Schwester Eva und er kamen später nach Terezin/Theresienstadt. Eva überlebte. Petr wurde nach Auschwitz deportiert und dort wie viele andere ermordet.

Nachdem Absturz der Raumfähre Columbia, in die der israelische Astronaut Ilan Ramon die Kopie einer Zeichnung von Petr Ginz mitgenommen hatte, die zeigte, wie sich der Junge die Mondlandschaft vorstellte, erhielt seine Schwester die Nachricht vom Fund seiner Tagebücher in Prag, zusammen mit anderen kreativen Werken Petrs.

Petr Ginz: Mondlandschaft

Im Jahr 2006 wurden sie erstmals veröffentlicht.

Derzeit ist die Ausgabe der Prager Tagebücher 1941-42 nur antiquarisch zu bekommen. Doch, wer Tschechien, insbesondere Prag besucht, findet überall Spuren, nicht nur den Stolperstein vor der ehemaligen Wohnadresse. In einer Prager Synagoge sind die Namen all der Hauptstadteinwohner aufgeführt, die den Holocaust nicht überlebten, in einer anderen findet man ein Bild, welches Petr im Tereziner Ghetto gezeichnet hatte.

Auch in Theresienstadt selbst, wo Petr und andere Jungen die Untergrundzeitung Vedem verfasste, gibt es Werke von ihm zu sehen.

Von Petr Ginz geschriebenes und von Nizza Thobi vertontes Gedicht.

Wer sich mit der Geschichte der Prager Juden beschäftigen möchte, wird unweigerlich auf die von Petr Ginz stoßen, der in anderer Zeit ein großer Journalist, Schriftsteller oder Wissenschaftler hätte werden können. Wer kann, besorge sich die antiquarische Ausgabe des Tagebuchs eines Jungen, der auch Geschichten im Stil von Jules Verne schrieb, den er bewunderte. Heute würde man von einer der ersten Fanfictions sprechen. Leider wurde diese bisher nicht übersetzt.

Seine Prager Tagebücher, die denen in der Beobachtungsgabe von Anne Frank in nichts nachstehen, jedoch schon. Sie seiem jedem zur Lektüre empfohlen.

Vzpominka na Prahu – Petr Ginz

Weiterführende Links:

Website über Petr Ginz – Mehr Informationen

The last flight of Petr Ginz

Schule – Judentum / Petr Ginz

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Matteo Corradini: Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge

Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge Book Cover
Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge Matteo Corradini cbj Verlag Erschienen am: 10.04.2017 Seiten: 288 ISBN: 978-3-570-40355-6 Übersetzerin: Ingrid Ickler

Inhalt:

Theresienstadt 1942: Die Nazis haben ein Lager für Juden errichtet, das zeitweise als Vorzeigelager dient. Doch es ist nur eine Station auf dem Weg in die Vernichtungslager. Inmitten dieser Hoffnungslosigkeit gründen Kinder eine Zeitschrift, um gegen das Grauen anzuschreiben.

Sie treffen sich heimlich und verfassen Berichte über das Lager. Aber sie zeichnen auch Bilder, führen Interviews oder schreiben Gedichte. Matteo Corradini bringt dem Leser auf berührende Weise das Schicksal dieser Kinder nahe. (Klappentext)

Rezension:

Nur mit Bleistift und Papier, ein wenig Tinte, ihren Worten, Zeichnungen und dem Talent zur Beobachtungsgabe haben sich die Kinder von Theresienstadt zur Wehr gesetzt. Gegen die Tyrannei und dem Vernichtungswillen der Nazis, denen sie am Ende nicht entkommen konnten, doch für ein paar Augenblicke schien die Geschichte still zu stehen.

Das Schicksal abwendbar. Die Mädchen taten dies vornehmlich mit der Inszenierung des Theaterstückes “Brundibar”, die Jungen aus dem Haus 1 Terezins schrieben gegen ihre Angst an. Sie gründeten die Zeitschrift Vedem und sammelten dort ihre Eindrücke von den Geschehnissen um sie herum.

Corradini hat sie aufgeschrieben. In Romanform Hanus Hachenburg, Petr Ginz, Jiri Volk, Zdenek Ornest, Josef Taussig (hier Josif) und anderen ein literarisches Denkmal gesetzt. Es ist ein eindrückliches Stück Literatur, zumal, wenn man sich mit Terezin und seinen Kindern beschäftigt. Der Leser weiß, dass nur wenige Kinder dem Tod der Gaskammern der Vernichtungslager entkamen.

Die mutigen Jungen, die gegen jedwedes Verbot anschrieben und kreativ Zeugnis von den Ungeheuerlichkeiten ablegten, die sie umgaben, wussten es nicht. Ahnten es nur. Und zwischendrin das kleine Glück.

Eine Kartoffelschale extra, ein geklauter Apfel, die erste Liebe, die in den Mauern der ehemaligen Garnisonsstadt keine Chance hat. Corradini beschreibt aus der Sicht eines der Jungen (Pavel Friedmann) das Treiben der Jungen. Gefühlvoll, doch der Spirale des Todes, die sich immer schneller dreht, entkommen sie nicht.

Petr Ginz ist der Mittelpunkt der Geschehnisse. Das tschechoslowakische Gegenstück zu Anne Frank. Er führte Tagebuch, welches seine Schwester Jahrzehnte nach seinem Tode in Auschwitz veröffentlichte, von den anderen Jungen blieben ebenso nur ihre Gedichte, Berichte und Zeichnungen, die sie in “Vedem” veröffentlichten.

Immer mit der Angst, von den Nazis entdeckt und dafür bestraft zu werden. Matteo Corradini tut ihnen den Gefallen und schreibt ihre Geschichte auf, so wie sie sich alltagsmäßig abgespielt haben könnte.

Es ist kein historisches Sachbuch aber an der Wahrheit, so viel wie wir aus Berichten von Überlebenden dieser Gruppe von Jungen wissen, nah dran. So nah, dass man sie, allesamt zehn bis fünfzehn Jahre alt, festhalten und retten möchte, mit dem Wissen, dass das nicht mehr geht.

Die Welt hat durch die Ermordung dieser Kinder großartige Talente verloren. Wer einmal sich die Sammlungen in Terezin anschaut, weiß, welch kreatives Schaffen selbst die Kleinsten der Nachwelt hinterlassen haben. Ohne es zu wollen, natürlich.

Für die meisten war es ein Ventil gegen die Angst, die Stimmen kindlicher Unschuld, die kein anderes Verbrechen begangen haben als jüdischen Glaubens zu sein und in dieser Zeit aufzuwachsen. Gegen Ende nimmt Corradinis ruhiger Schreibstil an Fahrt auf.

Die Geschehnisse überschlagen sich und die Jungen beginnen zu begreifen. Im original Tagebuch von Petr Ginz wird dessen Schrift immer zittriger, am Ende geht er wie viele andere in die Gaskammer Auschwitzes. Dem Autor ist es gelungen, sein Schicksal und das seiner Freunde würdig in Erinnerung zu halten und zu bewahren. Es bleibt daher zu hoffen, dass dieser Roman viele Leser finden wird.

Autor:

Matteo Corradini wurde 1975 in Italien geboren und ist ein Schriftsteller und Hebraist. Er beschäftigt sich mit der Didaktik der Shoah und arbeitet an verschiedenen Kunstprojekten. Zudem ist er Autor von Kinder- und Jugendbüchern.

Er ist Kurator für das Literatur-Festival Scrittorincitta in Cuneo/Italien und hält Kurse an verschiendenen Privatuniversitäten. Zudem organisiert er als Theaterdirektor verschiedene Musical-Inszenierungen. Er beschäftigt sich mit der Geschichte Terezins (Theresienstadt) und von Auschwitz.

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