Moral

Ulrich Woelk: Mittsommertage

Inhalt:

Ruth Lember, Professorin in Berlin, soll in den Deutschen Ethikrat berufen werden. Sie scheint am Gipfel ihrer bisherigen Laufbahn. Aber ein Zwischenfall bei ihrer morgendlichen Joggingrunde erweist sich als Auftakt einer ganzen Reihe irritierender Ereignisse. Innerhalb von einer Woche in der sommerlich heißen Stadt gerät Ruths Leben völlig aus dem Takt. Ulrich Woelk erzählt in “Mittsommertage” die spannende Geschichte einer Frau, die sich neu erfinden muss. (Klappentext)

Rezension:

Am Anfang steht ein Hundebiss als eher störende Unannehmlichkeit, doch bringt in Ulrich Woelks neuen Roman “Mittsommertage” ein solcher, das Leben seiner Protagonistin durcheinander. Fragen, die jahrzehntelang verschüttet waren, tauchen nun wieder auf. Gewissheiten sind plötzlich nicht mehr unumstößlich. In dieser Grundstimmung gerät Ruth zunehmend von Tag zu Tag, auch Sicherheiten fallen plötzlich in sich zusammen.

Nachdem Woelks zweite Erzählung “Für ein Leben” in Teilen unrund wirkte, da teilweise zu ausufernd erzählt, knüpft der nun vorliegende Roman wieder an Gegebenheiten an, die mir seinem vorvorletzten Werk in positiver Erinnerung bereithalten.

Zunächst ist da die Beschränkung auf sehr wenige Figuren und ein überschaubarer Handlungsrahmen, der genau zu der ruhigen Art des Erzählens passt, wie der Autor dies schon mit seinem Debüt gezeigt hat. Darauf aufbauend tut die konsequente Ausgestaltung der Protagonistin, durch deren Augen diese Geschichte erzählt wird, sowohl im gegenwärtigen Handlungsrahmen als auch in den Rückblenden, ihr Übriges.

Wir begleiten die Protagonistin nur durch den Zeitraum von einer Woche, die sehr kompakt erzählt wird. Jeder Tag entspricht einem Kapitel, in dem als Folge des Bisses bzw. der Verarbeitung dessen sich neue Gräben auftun, die die innerlichen Grundfesten der Frau erschüttern, die zum überwiegenden Teil versucht, nach außen Stärke zu zeigen. Das gelingt der Protagonistin immer weniger. Risse werden sichtbar.

Woelk bringt hier zwischen den Zeilen viel zur Sprache. Wie lange etwa muss und auch darf die Vergangenheit nachhallen und wie sollten wir damit umgehen? Fragen der Philosophie und der Ethik, nach der Physik, die thematisch in “Der Sommer meiner Mutter” eingearbeitet war, nun der zweite Themenblock, den Woelk studierte und nun einem seiner Figuren als Leidenschaft mit auf den Weg gegeben hat. Das wirkt alles in allem stimmig.

Wie reagieren wir, wenn Sicherheiten in unserer nächsten Umgebung wegfallen, wenn die Vergangenheit uns einholt? Wie auch in Bezug auf die Reaktionen von außen? Wofür und wann lohnt es sich zu kämpfen? Fragen, die heute drängender denn je sind und so ist “Mittsommertage” nicht nur ein Erfahrungs- oder durchaus Großstadtroman, auch der wandel der Umweltbewegung von damals zu heute stellt der Autor gekonnt komprimiert dar.

Letzteres wird dargestellt durch das Gegenüber einer Figur, die als eine zweite vor allem durch Rückblenden zund kurzen Einschüben Konturen bekommt, während die wenigen anderen verleichsweise blass bleiben. Mehr braucht man tatsächlich auch nicht. Der Roman funktioniert auch so. Der Gegensatz zwischen den Zeitsprüngen kommt damit jedoch viel stärker zur Geltung, wobei die Perspektive stets die gleiche bleibt.

Es ergeben sich dabei keine unwirklichen Sprünge oder Brüche, vielmehr könnte alles tatsächlich so passieren. Gerade dies ist das, nicht immer Spannende, aber Tragende dieses Romans, in dem es Ulrich Woelk auch wieder vermehrt gelungen ist, sehr filmisch zu erzählen. Man kann sich in die einzelnen Szenen sehr gut hinein versetzen, auch wenn man sich in die ruhige Art des Erzählens vielleicht erst einfinden muss.

Einige Längen gibt es zwar, doch fallen die nicht groß ins Gewicht, da sie sich auf wenige Seiten beschränken, was jedoch durch eine gekonnte Auflösung am Ende der Handlung mehr als ausgeglichen wird. Mit “Mittsommertage” kommt Ulrich Woelk wieder sehr nah an dem heran, was für mich “Der Sommer meiner Mutter” ausgemacht hat. Und das ist einfach wunderbar.

Autor:

Ulrich Woelk wurde 1960 in Bonn geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Von 1980-1987 an, studierte er physik und Philosophie an der Universität Tübingen. Er arbeitete bis 1995 an der Technischen Universität Berlin, sowie in Göttingen als Astrophysiker. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1990. 1991 promovierte er über Weiße Zwerge in engen Doppelsternsystemen. Seit 1995 lebt Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Er schreibt Theaterstücke, Romane und Hörspiele. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.

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Anatol Regnier: Jeder schreibt für sich allein

Jeder schreibt für sich allein Book Cover
Jeder schreibt für sich allein Anatol Regnier C.H. Beck Erschienen am: 17.09.2020 Seiten: 366 ISBN: 978-3-406-75592-7

Inhalt:

Dieses Buch handelt von Schriftstellern im nationalsozialistischen Deutschland, ihrem Spagat zwischen Anpassung und künstlerischer Integrität unter den Bedingungen der Diktatur.

Opportunisten und Konjunkturritter sind dabei, aber auch Autoren, die nur ihrer Arbeit nachgehen wollten und versuchten, moralisch sauber zu bleiben. Mit leichter Hand verknüpft Anatol Regnier die Biografien von Hans Fallada und Erich Kästner, Agnes Miegel und Ina Seidel, Gottfried Benn, Hanns Johst und Will Vesper. Es sind Geschichten von überraschender Widersprüchlichkeit, die das ganze Spektrum menschlichen Verhaltens im Dritten Reich abbilden. (Klappentext)

Rezension:

Als im Jahr 1933 die Nationalsozialisten an die Macht im Deutschen Reich gelangten, begann gerade im kulturellen Bereich ein beispielloser Exodus. Schriftsteller, wie der Nobelpreisträger Thomas Mann oder Literaturkritiker, wie Alfred Kerr, flohen ins Ausland. Nur zu gut waren ihre Positionen zu den neuen Machthabern bekannt, die ihre Ziele kaum verheimlichten. Mit einem Schlag war Deutschland einem Großteil seines kulturellen Lebens beraubt. Doch, viele SchriftstellerInnen und DichterInnen blieben, da sie nicht fliehen wollten oder konnten. Dies ist ihre Geschichte.

Anatol Regnier, Enkel des im Jahr 1918 verstorbenen Dramatikers Frank Wedekind, hat mit “Jeder schreibt für sich allein” ein bemerkenswertes Porträt geschaffen, jener Zeit, in der man sich teilweise bis zur Unkenntlichkeit verbiegen musste, um bestehen zu bleiben und überleben zu können. Doch, wie weit musste man als Schriftsteller gehen, der ständig durch das Damoklesschwert Schreibverbot bedroht wurde, zudem, jede Zeile, sei sie auch noch so wohlwollend, kritisch beäugt sah.

Wie gingen Literaten, wie Erich Kästner, der bereits weltbekannt war, als die Nazis die Macht erlangten damit um, wie ein psychisch angeschlagener Hans Fallada und was erhofften sich Ina Seidel und Will Vesper? Anatol Regniers dokumentarischer Bericht zeigt anhand der Werke einer Auswahl von Autoren, was die Zwänge der Diktatur mit den Menschen machten, wozu diese teilweise durch das Regime getrieben wurden.

Hier wird detailliert auf einzelne Biografien Bezug genommen. Andere fallen dabei unter den Tisch. Teils, weil sie zu umfangreich wären für einen Gesamtüberblick, da dies nur eine Übersicht darstellen soll, aber auch, da die ganze Blut-und-Boden-Literatur nur gestreift wird. Vielmehr geht es Regnier, um die jenigen, die zwischen den Stühlen standen und sich nach dem Krieg vor Größen, wie Thomas Mann, verteidigen mussten. Für jede Zeile, die auch nur ansatzweise anrüchig klang.

Der Autor seziert einzelne Werke gründlich. Als Lesender kann man nur vermuten, welche Rechercheleistung dahinter steckt, aber auch die Liebe zur Literatur, die gerade aus dieser Zeit mehrdeutig betrachtet werden muss. Sachlich nüchtern präsentiert der Autor die schreibenden Kollegen jener Zeit, die sich hinterher rechtfertigen mussten und praktisch mit dem Rücken zur Wand standen.

Er zeigt, welchen Einfluss oder auch nicht, einzelne Kulturschaffende hatten, wie diese sich teilweise bei Behörden und Ministern für ihre Kollegen einsetzen und um jede Zeile kämpfen mussten. Mal mehr, mal weniger. Sehr kompakt geschrieben ist dies, trotzdem spürt man auch beim Lesen des Sachbuchs die ständige Bedrohung, der die Schriftsteller im Nationalsozialismus unterlagen.

Was dabei herauskam, lässt sich heute noch anhand ihrer Werke nachvollziehen, wobei es Autoren wie Erich Kästner auch im Nachkriegsdeutschland gelang, wieder Fuß zu fassen. Anderen, berechtigterweise nicht. Der Zwist der Vielen, die dazwischen standen, ist heute fast vergessen. Um so wichtiger, dieses Buch, welches z.B auch parallel zu Volker Weidermanns “Buch der verbrannten Bücher” gelesen werden kann. Einige Autoren finden sich auch dort wieder.

Autor:

Anatol Regnier wurde 1945 in Sankt Heinrich geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, Chansonsänger und Gitarrist. Sein Großvater ist der Dramatiker und Schriftsteller Frank Wedekind, über den er 2008 eine Biografie veröffentlichte.

Regnier selbst, studierte am Royal College of Music in London und dozierte selbst am Konservattorium in München. Mitte der 1980er Jahre lebte er in Australien. Im Jahre 2003 erschien seine Familienbiofie. Zwei Jahre später erhielt er den Ernst-Hoferichter-Preis der Stadt München, sowie den Schwabinger Kunstpreis, 2012. Er ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und lebt heute in München.

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Howard Buten: Burt

Burt Book Cover
Burt Howard Buten btb Erschienen am: 01.01.1997
(antiquarisch)
Seiten: 155 ISBN: 3-442-72110-5 Übersetzerin: Christiane Buchner

Inhalt:

Burt kommt ins Heim für verhaltensgestörte Kinder, da “etwas Schreckliches” mit Jessica angestellt hat, wie der Erwachsenen sagen. Nun sitzt er im Beruhigungszimmer, da er das Bücherregal des Psychiaters umgeworfen hat, statt auf dessen Fragen zu antworten. Hier schreibt er seine Geschichte an die Wand.

Eines Tages trifft er dort einen Mann, der ihn keine quälenden Fragen stellt, der seine Ängste teilt und Verständnis für die sehnsucht des Jungen nach Jessica hat. Ganz langsam fasst Burt Vertrauen zu dem Mann, der seinen brennenden Wunsch, wie ein erwachsener Mensch behandelt zu werden, wider Erwarten ernst nimmt. (eigene Inhaltsangabe)

Rezension:

Nach dem Lesen der ersten Zeilen wird schnell, welch gewaltiges Werk hier vorliegt, mit dem der Kinderpsychiater Howart Buten größere Bekanntheit außerhalb des medizinischen Raums erlangte. Schon die ersten Worte haben es in sich, um so mehr der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte erst nach und nach enthüllt wird.

Erzählt wird sie aus Sicht des achtjährigen Hauptprotagonisten, der sich nach einem, laut der Erwachsenen, “schrecklichen Vorfalls” in einem Heim für psychisch gestörte Kinder wiederfindet und sich gegen die ablehnende Haltung des ihn behandelnden Arztes völlig verschließt. Dessen althergebrachte Methoden stoßen bei Burt an Grenzen, die nur ein jüngerer Kollege mit seiner unkonventionellen Art nach und nach aufbrechen kann. Schritt für Schritt schält sich auch für die Leser der Grund heraus, weshalb der Protagonist sich nun in dieser geschlossenen Einrichtung befindet.

Wie ich fünf war, habe ich mich umgebracht.

Howard Buten: Burt

Ein Roman wie ein Schrei ist es, den uns der Autor hier vorgelegt hat. Die Perspektive eines achtjährigen, sehr ernsten Kindes einnehmend, führt dieses die Leser durch die Geschichte. Schnell, melancholisch und verdichtet wird hier eine Coming of Age Geschichte voller Sehnsucht und Liebe, Melancholie erzählt, über das erschütterte Grundvertrauen eines kleinen Menschen in seine unmittelbare Umgebung.

Abschnittsweise wechseln hier Zeitebenen, sowie die Sichtweisen der greifbaren erwachsenen Protagonisten, hier vor allem die mit ihren Behandlungsmethoden konkurrierenden Ärzte, welche klare Sympathie- und Antipathiepole schaffen. Diese Gegensätzlichkeit nach und nach klar herauszuarbeiten, ist eine der Stärken des Autoren, der zudem eine bemerkenswerte Arbeit geschaffen hat, wenn man bedenkt, dass sich gerade erst zur Entstehungszeit des Werkes viel in der Behandlung der Kinder- und Jugendpsychiatrie begonnen hat zu verändern.

Howard Buten schafft es hier, mit Burt einen kindlichen Sympathieträger zu schaffen, der in dieser Erzählung für Erwachsene funktioniert und bleibt dabei sehr ernst seiner erfundenen Figur als auch den Lesern gegenüber. Klar und deutlich merkt man hier, dass die Erfahrungen seiner Arbeiten mit Kindern in diesem Roman eingeflossen sind, zudem welche Wirkung verschiedene Herangehensweisen haben können.

Die gesamte Handlung spielt sich schlüssig auf einer Ebene ab, zumal auch am gleichen Ort, wobei in Rückblenden wir Burts Weg Richtung Katastrophe (so die Erwachsenensicht) verfolgen können. Gleichsam tritt der Autor jedoch mit dieser Erzählung auch dafür ein, Kindern ebenso die Gefühle Erwachsener zu zu gestehen. Auch das war Anfang der 1990er Jahre, zumal im englischsprachigen Raum noch nicht weit verbreitet.

Ich habe im Schlafanzug dagestanden. Ich habe in das Zimmer von meinen Eltern geschaut, aber es war dunkel. Ich habe gehorcht, aber ich habe überhaupt nichts gehört. Und dann hab ich was gesagt, da uf dem Gang ganz leise: Ist denn da keiner?

Howard Buten: Burt

Nachhaltig beeindruckt, beinahe bedrückt geht ein Lesender aus dieser Lektüre und wird foh darüber sein, wenn auch vielleicht Burts Tat unterschiedlich gewertet wird, je nach Moralvorstellung, dass der medizinisch psycholgische Ansatz heute ein anderer ist als noch vor ein paar Jahrzehnten.

Wenn das ein Punkt ist, und wenn Buten es schafft, für Kinder wie Burt eine basis des Verständnisses zu schaffen, wenigstens ihnen zuhören zu können, dann ist schon viel gewonnen. In diesem Sinne auch heute noch eine brandaktuelle Lektüre. Für alle anderen ein sehr bewegender Roman.

Autor:

Howard Buten wurde 1950 in Detrot, Michigan, geboren und ist ein amerikanischer Autor. Als Psychologe arbeitete er lange mit autistischen Kindern, zudem betätigt er sich auch als Clown und schriftsteller. Sein erstes Buch wurde 1981 geboren und 1994 verfilmt. Ende der 1990er jahre wurde sein Werk schließlich auch ins Deutsche übersetzt. als Therapeut und klinischer Psychologe arbeitet er in Frankreich, wo auch die meisten seiner Werke erschienen. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet.

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Simon Lelic: Das Kind, das tötet

Das Kind, das tötet Book Cover
Das Kind, das tötet Simon Lelic Droemer Erschienen am: 01.08.2013 Seiten: 350 ISBN: 978-3-426-19943-5

Inhalt:

Leo Curtice scheint das große Los gezogen zu haben. Der bisher wenig erfolgreiche Anwalt wird Pflichtverteidiger in einem spektakulären Fall: Ein erst zwölfjähriger Junge hat auf brutale Weise eine Elfjährige ermordet.

Wider Erwarten packt Leo der Ehrgeiz, dem Jungen wirklich helfen zu wollen. Doch er rechnet nicht mit der Hexenjagd, die nun beginnt. Und dann kommt es zur Katastrophe, die sein Leben auf immer verändern wird. (Klappentext)

Rezension:

Daniel Blake ist zwölf Jahre alt, unnahbar und Störenfried par excellence. Von mehreren Schulen geflogen, aus einer schwierigen Familie kommend, steht er nun vor den Scherbenhaufen seiner größten und widerwärtigsten Tat. Der Junge hat Blut an seinen Händen, ein ein Jahr jüngeres Mädchen ermordet.

Und Leo wird sein Pflichtverteidiger. Ein Fall, bei dem es für seinen Mandanten nichts zu gewinnen, für seine Karriere schon (oder alles zu Verlieren) gibt. Er nimmt die Herausforderung an, ihn packt der Ehrgeiz. Doch der Weg zu den Jungen führt geradewegs in die Katastrophe.

Es ist eine der großen Fragen der Gesellschaft, die immer wieder auftaucht, wenn einmal mehr ein schrecklicher Fall von Jugendgewalt an die Oberfläche dringt. Für welche Taten ist welche Strafe angemessen? Verdienen Täter, so jung sie auch sind, eine gute Verteidigung?

Wie sieht es mit ihrer Behandlung im Strafvollzug und Einrichtungen für jugendliche Kriminelle aus? Wie soll man mit ihnen umgehen, vor Gericht und auch danach? Wo liegt die Altersgrenze, sollte man diese herabsetzen, um junge Täter zu verurteilen? Und, sind nicht mindestens zwei Leben zerstört, durch eine begangene Tat? Das Leben vom Opfer und Täter?

Der Brite Simon Lelic wirft diese Fragen in den Raum und stellt sie im Rahmen eines interessant geschriebenen Romanes zur Diskussion. Ohne dabei allzu sehr sich in die Hintergründe des Täters oder dem Verhandlungsszenario, ja selbst in die Gedankengänge des Täters zu stürzen.

Hauptfigur ist der einzige wirkliche Sympathieträger Leo Curtice, Rechtsanwalt. Er, der anfangs nur seinen Job machen möchte, ordentlich und gründlich, später von der Brisanz des Falles jedoch überollt wird. Wobei nicht nur er zu Schaden kommt.

Man bekommt Mitleid mit ihm, kommt ins Zweifeln ob der gesetzlichen Regelungen, die derzeit gelten.

Wobei natürlich der Unterschied zum festlandeuropäischen Rechtsverständnis auszumachen ist. Im anglikanischen Raum stellt man den Täter an den Pranger, versucht nicht Ursachen zu finden um diese zu beseitigen, zu resozialisieren.

Der Leser wird am Ende des Romans alleine gelassen. Die Fragen sind nicht vollständig geklärt, das muss man selbstständig tun. Eine perfekte vollständige Lösung gibt es nicht. Nicht für Daniel, Leo, dem Opfer oder irgendjemanden.

Doch, die Gesellschaft muss immer wieder gezwungen werden, darüber nachzudenken. Wenn Simon Lelic dies mit seinem Roman erreicht, ist schon ein gewaltiger Schritt getan. Packend, unblutig und zum Nachdenken anregend, eine gesellschaftliche Frage anstoßend, das sind Simon Lelics Bücher, die unter die Haut gehen.

Hin- und hergerissen wird man die Geschichte verfolgen, empfindet mal für die eine, dann wieder für die andere Seite Sympathie. In wenigen Zeilen eine Grundsatzdiskussion anregend, die es zu führen gilt. Großartig.

Nur hat die Geschichten einige Längen dort, wo man sie nicht braucht. Anderswo fehlen Ausführungen, wo man sie sich wünschen würde.

Hundert bis zweihundert Seiten mehr, auch mehr Perspektivwechsel, hätten dem Roman gut getan, doch Lelic steht fast noch am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere, von der sich der Leser nur wünschen kann, dass der Brite sie ausbaut.

Nach “Ein toter Lehrer” und “Das Kind das tötet” darf man gespannt sein, welches brisante Thema der Autor als nächstes anpackt. Wahrscheinlich wird es sich wieder lohnen.

Autor:

Simon Lelic wurde 1976 in Brighton geboren und lebt dort mit seiner Familie. Er studierte nach der Schule Geschichte und arbeitete als Journalist.

Der Brite leitet eine exportfirma und schreibt nebenher Romane. In seinem Heimatland wurde das Debüt “Ein toter Lehrer” 2010 veröffentlicht und bekam zahlreiche Preise und Nominierungen. 2013 wurde sein Roman “Das Kind das tötet” in Deutschland veröffentlicht.

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Selma Lagerlöf: Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden

Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden Book Cover
Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden Selma Lagerlöf Verlag: Die andere Bibliothek Hardcover Seiten: 704 ISBN: 978-3-8477-1359-3 Übersetzer: Thomas Steinfeld

Handlung:

Endlich kann Nils Holgersson reisen, wie es sich Selma Lagerlöf gewünscht hat: der Welterfolg der Literaturnobelpreisträgerin liegt nun neu und erstmals vollständig in einer Übertragung von Thomas Steinfeld vor, die das wunderbare Schwedisch einer vergangenen Epoche bewahrt.

Bereichert ist diese Ausgabe mit den Zeichnungen von Bertil Lybeck aus dem Jahr 1962. (Klappentext)

Rezension:

Die Handlung dieses Werkes dürfte bekannt sein. Ein Junge, cholerisch, Streiche spielend, nur Unsinn im Kopf, ein Tierquäler und Faulpelz wird zur Strafe für seine Untaten auf Wichtelgröße geschrumpft und reist fortan mit der zahmen Hausgans Marten und einer Schar Wildgänse durch das weite Schweden.

Und lernt in Konfrontation mit neuen Feinden wie dem bösartigen Fuchs Smirre, einer Schar Krähen oder einer Horde Ratten, wie es ist, sich richtig zu verhalten, überlegt zu handeln und sich gut und achtsam anderen gegenüber zu verhandeln.

Eine Charakterwandlung die am Ende als Belohnung mit dem Wiedererlangen der normalen Körpergröße und der freudigen Zusammenkunft mit seinen Eltern belohnt wird.

Doch, wer bisher Übersetzungen aus dem Schwedischen in den Händen gehalten hat, hat nicht die gesamte Reise Nils Holgerssons mitbekommen, denn den meisten Übersetzungen lagen selbst gekürzte Ausgaben des Originals zu Grudne, von denen Selma Lagerlöf auch einige verfasste.

Ursprünglich war ihr Auftrag, ein Schulbuch zu schreiben, was umfassend über die geographischen Gegebenheiten des Landes informieren sollte. Zudem sollte es unterhaltsam sein und eine Sagensammlung aller Landesteile und wurde dabei schlicht zu umfangreich.

Also kürzte die Autorin selbst, schrieb eine neue Fassung für den Unterricht und auch heute noch wird an den schwedischen Vorlagen herumgeschraubt. Da werden Sätze, ganze Seiten zusammengestrichen, Handlungen und Landschaftsbeschreibungen gekürzt, teilweise gar etwas dazu geschrieben, was so niemals im Original drinnen stand.

So ist es auch nicht verwudnerlich, dass es zumindest eine deutsche Fassung früheren Datums gibt, die von sich behauptet, vollständig zu sein. Selbst da fehlt einiges. Nämlich an die 15 % des ursprünglichen Textes, wie im Nachwort zu lesen ist.

Und so liegt nun, mit der Übersetzung von Thomas Steinfeld, erstmals eine wirklich vollständige Ausgabe im deutschen Sprachraum vor, die dafür für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 nominiert war.

Der Übersetzer gibt vor, sich so nah wie nur irgend möglich am schwedischen Original von 1906 gehalten zu haben. Illustiriert ist das Werk mit den Zeichnungen von Bertil Lybeck, die dem schwedischen Druck von 1962 entnommen und dort inzwischen ebenfalls Allgemeingut geworden sind.

Im Nachwort meldet sich der Übersetzer selbst zu Wort, berichtet von der Entstehung des Originals und der Geschichte aller bisherigen Übersetzungen, die sich fast genau so spannend liest wie Nils Holgerssons Reise selbst.

Wer eine wunderschöne und vollständige, illustrierte und informative, unterhaltende und literarisch wertvolle Ausgabe dieser schwedischen Geschichte im Regal stehen haben oder, noch besser, lesen möchte, sollte sich diese Ausgabe unbedingt zulegen.

Autorin:

Selma Lagerlöf wurde 1858 auf Gut Marbacka, im heutigen Sunne, Värmland in Schweden geboren und starb 1940 am selben Ort. Die schwedische Schriftstellerin war zunächst Lehrerin an einer Mädchenschule und schlug damit einen für Frauen damalig ungewöhnliche fast akademischen Weg ein.

1909 erhielt sie als erste Frau den Nobelpreis für Literatur und wurde 1914 in die Schwedische Akademie aufgenommen. 1906 schrieb sie “Nils Hogerssons wunderbare Reise durch Schweden”, ihr Debut gab sie mit “Gösta Berling”, welches in Schweden 1891 erschien.

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