Holocaust

Richard Overy: Weltenbrand

Inhalt:

Richard Overy zeichnet ein neues Bild des Zweiten Weltkriegs – als das letzte Aufbäumen des Imperialismus. Er zeigt ihn als den alles Vorausgegangene übertreffenden imperialistischen Krieg – in dem Achsenmächte ebenso wie Alliierte danach strebten, Imperien zu festigen, zu verteidigen, zu erweitern oder auch erst zu schaffen.

Ein weltumspannendes, zeitlich weit ausgreifendes Geschehen und eine Perspektive, in der etwa der Krieg im Pazifik stärker als bisher üblich in den Blick gerät; beginnend bereits 1931 mit dem Einfall des Japanischen Kaiserreichs in die Mandschurei, der die Richtung vorgab für das exzessive Expansionsstreben Italiens und Nazideutschlands. Overy schildert die Ereignisse, die in die Katastrophe führten, ebenso wie die Folgen für die neue Weltordnung nach 1945; er zeigt die geopolitisch-strategische wie die menschliche Dimension dieses Krieges, mit dem das imperialistische Zeitalter sein Ende finden sollte.

Das Opus magnum eines der bedeutendsten Historiker des Zweiten Weltkriegs, das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung – und eine Neubewertung dieses zerstörerischsten aller Kriege, die uns auch unsere Gegenwart mit anderen Augen sehen lässt. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Der eurozentrische Blick bestimmt bis heute den Diskurs über den Zweiten Weltkrieg. Beginnend mit den politischen Umwälzungen in Mitteleuropa, der Machtübernahme der Faschisten in Italien, der Nationalsozialisten in Deutschland und dem Spanischen Bürgerkrieg rückt das Jahr 1939 mit all seinem Vorgeplänkel in das Blickfeld, doch der Krieg, der so zerstörerisch, so mörderisch wie kein anderer zuvor werden sollte, begann auf der anderen Seite der Erdkugel bereits viel eher.

Der britische Historiker Richard Overy bringt als einer der wenigen ausführlich auch uns weit entfernt scheinende Schauplätze näher und zeigt, dass bereits 1931 Vorläufer eines Krieges begannen, der weltumspannend zum letzten Aufbäumen des imperialen Zeitalters in seiner alten Form führen sollte.

In der Einführung dieses weit umspannenden Werks geht es zunächst um die Definition nach alter Lesart, um welche Art von Imperien die einzelnen Akteure kämpften bzw. welche sie zu erschaffen oder zu verhindern suchten, bevor es dann in chronologischer Abfolge zunächst um bekannte Abläufe geht. Schon in diesen ersten drei, dem eigentlichen Hauptwerk vorangehenden Kapiteln kommen Orte und Geschehnisse zum Tragen, die in der Mehrzahl der hier zu findenden Werke beinahe vernachlässigt werden.

Overy geht zum einen sehr kritisch mit der britischen Führung unter Churchill um, auch das ist eher selten zu lesen, zum anderen beleuchtet er das imperialistische Streben Japans in Asien ausführlich, vor allem die langwierigen und zermürbenden Auseinandersetzungen in China, die bei uns kaum zur Sprache kommen, werden in “Weltenbrand” analysiert.

Auch betrachtet der Historiker sehr detailliert die Auseinandersetzung innerhalb der alliierten Partner, bei denen es nicht nur zwischen den Hauptakteuren zu Auseinandersetzungen kam, die nach 1945 beinahe nahtlos in den Kalten Krieg hinein führten, auch zeigt Overy die Bruchlinien zwischen Briten und Amerikanern, die diametral entgegengesetzte Ansichten zur künftigen Handhabung im Umgang mit dem imperialen Erbe hegten.

Akteure wie Indien, Australien oder Kanada, die einen Gutteil der britischen Streitmacht stellten werden in späteren Kapiteln beleuchtet, wie auch die inneren Konflikte der POC in der amerikanischen Armee. Alleine diese Punkte machen das Werk zu etwas besonderen, welches sich von der Masse an Lektüren abhebt, die über diese Zeitspanne, zudem auch ein kritischer Blick auf das Vorgehen der Alliierten selten zu finden ist.

Nach drei Kapiteln werden die Betrachtungen nach einem historischen Zeitstrahl verlassen und einzelne Themenkomplexe nochmals gesondert analysiert. Dies liest sich interessanter, da so auf zuvor vernachlässigte Aspekte nun noch einmal genauer eingegangen wird, wie etwa das komplexe Gebiet der Kriegswirtschaft, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Alliierten sowie den Achsenmächten, aber auch Kriegsführung, zuvor Mobilisierung oder die emotionale Geografie des Krieges werden beleuchtet.

Overy nimmt sich die Zeit, dies auszuführen, was innerhalb der Lektüre teilweise zwar zu erheblichen Längen führt und auch Wiederholungen und Bezugnahmen beinhaltet, doch in der Gesamtheit ergibt sich dadurch ein stimmigeres Bild, welches den zuvor erfolgten kurzen historischen Abriss noch einmal ergänzt.

“Weltenbrand – Der große imperiale Krieg 1931-1945” zeigt, wie die alte imperiale Welt den schlimmsten aller Wege ging, um zu ihrem Ende zu kommen und daraus neue Akteure entstanden, die das Weltgeschehen fortan bestimmten und auch eine neue Definition von Imperien anstelle der alten trat. Zwar ergänzt durch mehrere Fototeile ist dieses Sachbuch mehr Standardwerk als es der populärwissenschaftlichen Lektüre dient und so liest es sich dann auch. Stellenweise doch trocken.

Unterfüttert werden die Ausführungen durch zahlreiche Quellen, die aus jahrzehntelanger Archivarbeit resultieren und einem Kartenteil, der auch wieder Bezug nimmt auf das anfangs erwähnte erweiterte Blickfeld, was eine intensive Beschäftigung mit der Thematik ermöglicht. Overys Blick auf die einzelnen Aspekte und deren unterschiedlichen Wirken an verschiedenen Schauplätzen, Vergleiche und daraus gezogene Schlussfolgerungen lassen eine gelungene Lektüre geschehen, aus der man mit mehr Wissen als vorher herausgeht.

Autor:
Richard James Overy wurde 1947 in London geboren und ist ein britischer Historiker. Er studierte zunächst in Cambridge, bevor er nach verschiedenen Stationen 1992 eine Professur für Moderne Geschichte am King’s College in London annahm. 2004 wechselte er an die University of Exeter, wo er ebenfalls Geschichte lehrt.

Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Wolfson History Prize und der Duke of Wellingon Medal for Military History. Seine Werke gelten als Standardwerke. 2014 wandte er sich gegen die Behauptung, die Bombardements gegen die deutsche Zivilbevölkerung hätten entscheidend zum Sieg der Alliierten beigetragen.

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Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur

Inhalt:
Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren. (Klappentext)

Rezension:

In letzter Minute hat Heinrich Mann es geschafft, die Grenze ohne Aufsehen zu überqueren, Teil des kulturellen Exodus’, der das Deutsche Reich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, erfasste. Auch andere, die sich politisch mit Werk und Worten gegen die neuen Machthaber positionierten, mussten fliehen. Viele Intellektuelle und Schriftsteller fanden sich darauf hin in Frankreich wieder.

Doch auch hier holt der Krieg jene, die sich in Sicherheit glaubten, ein. 1940 ist Frankreich besiegt, zerstückelt. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, Leib und Leben zu riskieren, sich außer Reichweite der Häscher zu bringen. In der unbesetzten Zone wird die Stadt Marseille zum Schicksalsort, an dem sich alles entscheidet.

Nach seinem Werk “Februar 33 – Der Winter der Literatur” nimmt sich der Autor Uwe Wittstock nun erneut einen kulturellen Wendepunkt an, der der Erzählung des Exodus des intellektuellen Lebens nach der Machtergreifung Hitlers in nichts nachsteht. Spannend, erzählt er die Geschichte derer, die sich versuchen, in Sicherheit vor den Zugriff der Nazis zu bringen, und derer, die dies ermöglichen. Biografien werden verwoben, wie Wege, die sich kreuzen. Ausgangspunkte sind ein Schriftsteller-Kongress im Exil, die Beobachtung ausbrechender Gewalt, Tatendrang und unermüdliche Hilfsbereitschaft.

Im Mittelpunkt der Journalist Varian Fry, der es mit seinen Mitstreitern schafft, in aller Kürze ein kleines aber effektives Netzwerk aufzubauen, in Frankreich später selbst die Fäden in den Händen halten muss, welche nicht nur durch das dortige Vichy-Regime unter Druck geraten. Akribisch folgen wir seinen Spuren und derer, denen er die Flucht verhilft.

Alma Mahler Werfel und Franz Werfel, Heinrich Mann, Anna Seghers und viele andere werden so gerettet. Fry und seine Unterstützer werden für einen entscheidenden Moment der Geschichte zu besonderen Menschen in einer besonderen Zeit.

Wie bereits in seinem vorangegangenen Werk werden die dicht gedrängten Ereignisse in Tagebuchform aufgefächert, welche das Drängen, die Eile und nicht selten die Ungewissheiten der Akteure herausstellt, deren Schicksale sich von einem auf dem anderen Tage ändern konnte.

Wieder sind es ausgewählte Personen, deren Wege hier beschrieben werden, stellvertretend für viele, die zwangsweise namenlos bleiben müssen, da wir zu wenig wissen, um von ihnen zu erzählen. Gleich zu Beginn wird dies vom Autoren selbst herausgestellt, dem der Spagat gelungen ist, ein zweites Mal ein literarisches, zudem in unseren Zeiten hoch nachdenklich machendes, Sachbuch zu schaffen.

Anhand von Tagebuchaufzeichnungen, nach dem Krieg niedergeschriebenen Erinnerungen oder Briefen, auf denen sich eine puzzleartige Recherche, die auch nach Marseille selbst führte, stützt, ist damit ein kulturelles Portrait entstanden. Kurzbiografien am Ende des Buches geben über das weitere Schicksal Aufschluss. Aufgelockert wird die Lektüre durch Kartenmaterial in den Innenseiten und zahlreichen Abbildungen, welche im Zusammenspiel diese Tage lebendig werden lassen.

Auch hier hat man, wie in “Februar 33” erneut das Gefühl, allen Personen so nahe zu sein, als würde man daneben stehen, gegen alle Widrigkeiten Fluchten zu organisieren oder zu bestreiten. Diese Chronologie geht unter die Haut, mit einem sogar noch etwas flüssiger wirkenden Schreibstil als beim Vorgänger. Ein Buch über Menschlichkeit und Mut, über unwägbare Faktoren und Sekunden, die über Gelingen oder Scheitern entschieden.

Eine unbedingte Leseempfehlung.

Autor:

Uwe Wittstock wurde 1955 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Zunächst arbeitete er als Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 der Literaturredaktion angehörte, danach wirkte er als Lektor beim S. Fischer Verlag.

Zur gleichen Zeit war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. Im Jahr 2000 wurde er stellvertretender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, zwei Jahre später Kulturkorrespondent in Frankfurt/Main. Bis 2017 arbeitete er als Literaturchef des Magazins Focus. Zu seinen Werken zählen mehrere Sachbücher. 1989 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Journalismus.

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Lore Hepner Halberstam: Antwort an Albert …

Inhalt:

Im Juli 1939 verließen der Rechtsanwalt Dr. Heinrich Hepner, seine Frau Käthe mit den Kindern Klaus, Ernst und Nesthäckchen Lore in Vaparaiso, Chile das Schiff. Über einen langen, verschlungenen Weg hatte es die Berliner Familie in letzter Sekunde nach Chile geschagfft, wo sie nun im Exil ein neues Leben aufzubauen versuchte.

Die heute 92-jährige ehemalige Journalistin Lore Hepner erzählt anschaulich und spannen den Werdegang ihrer jüdischen Familie: von der assimilation in deutschland und der behüteten, im Wohlstand erlebten Berliner Kindheit über ihre Flucht aus Nazideutschland bis zum Neuanfang im südamerikanischen Exil.

Lore Hepner Halberstam kam als staunende Europäerin, als Kind mit leuchtenden Augen in die fremde Welt und berichtet in ihrem Buch auch von ihren Erfahrungen der Integration, des Sprachlernens und der Existenzgründung auf diesem fernen Kontinent – Südamerika.

Rezension:

Kurz bevor der Zweite Weltkrieg allzu vielen Menschen die letzten Möglichkeiten nahm, sich in Sicherheit zu bringen und diesen der unmenschlichen Katastrophe des Holocausts ausgesetzt waren, zum Opfer fielen, schafften es die Eltern von Lore Hepner ihre Kinder und sich in Sicherheit zu bringen. Verschlungene Wege und eine Irrfahrt per Schiff führten ins Ausland, anders als jedoch die Passagiere der St. Louis ist diese Fahrt jedoch nicht gescheitert, sondern eröffnete der Familie die Chance auf ein neues Leben, in Chile, Südamerika.

Für das junge Mädchen ein Abenteuer, ein fremdes Land und eine andere Sprache, in der es hineinwuchs, sich ihren Platz erkämpfte. Jahre später schrieb sie erstmals die Geschichte der Familie und ihrer selbst auf. Nun ist diese kleine Familienbiografie auch dem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich.

In fast zu nüchterner Berichtsform, das Vorwort der Lektorin wirkt stellenweise emotionaler, erzählt die Autorin von den Wegen ihrer Vorfahren bis nach Berlin, später von Verfolgung und Ausgrenzung, der Flucht, Momenten der Ungewissheit und des kleinen Glücks. Es ist ein Text gegen das Vergessen, der um so wichtiger wird, je extremer auch hierzulande Diskurse laufen und desto weniger Zeitzeugen noch aus dem eigenen Erleben heraus erzählen können. Zahlreiche Fotos unterstützen dieses kleine Denkmal, welches die Autorin ihrer Familie hier setzt.

Zu viel gibt es dazu nicht zu sagen. Was will man auch die Biografie eines Menschen bewerten oder eine Geschichte, die sich gezwungenermaßen so abspielen musste. Zum Text selbst ist ebenso alles gesagt. An manchen Stellen fehlt die Emotionalität und das Ausführliche, was jedoch dem Verarbeitungsprozess geschuldet sein kann. Einige Male wirkt es so, als wollte die Autorin nur schnell festhalten, um sich dann wieder anderen Dingen zu widmen, da vieles verständlicherweise schmerzt. Auch und vor allem in der Nachbetrachtung. Der Text wurde schließlich nur wenige Jahrzehnte nach dem Krieg, in den 1980er Jahren, veröffentlicht. So groß ist die Zeitspanne also nicht. Andere konnten erst viel später mit der Verarbeitung des Erlebten beginnen.

Dennoch ist diese Veröffentlichung wichtig. Jede solche und andere Familiengeschichten müssen in Erinnerung behalten werden. Menschen wie Lore Hepner Halberstam schreiben gegen das Vergessen an und es ist schön, dass sich hierzulande der Ariella Verlag diesem Text angenommen hat. Hoffen wir, dass auch dieser die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient.

Hinweis: Die Bewertung bezieht sich hier vor allem auf die Kompaktheit des Textes und die Berichtsform, die in diesem Falle zu viel von dem nimmt, was der Text eigentlich mit einem Lesenden hätte machen, wie dieser noch hätte wirken können.

Autorin:

Lore Hepner Halberstam wurde in Berlin geboren und ist eine chilenische Journalistin und Autorin. In ihrem Buch erzählt sie die Geschichte ihrer Familie und nicht zuletzt ihrer selbst.

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Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Inhalt:

Ein Sommer in der Normandie, in den 1980er Jahren. Der zehnjährige Erzähler verbringt die Ferien mit seiner Großmutter am Meer. Er ist noch in diesem Zustand der Kindheit, wo man alles intensiv erlebt, wo man noch nicht genau weiß, wer man ist oder wo der eigene Körper beginnt, wo eine Ameiseninvasion der Erklärung eines Kriegs gleichkommt, den man mit all seinen Kräften wird führen müssen. Eines Tages trifft er einen anderen Jungen am Strand, der ihm die Freundschaft anbietet, eine Freundschaft, die auf einem Ungleichgewicht beruht. Denn Baptiste ist ein »richtiger Junge«, hat eine »richtige Familie« – für den Erzähler der Inbegriff eines Glücks, das er dort erstmals findet und das er in jedem Moment wieder zu verlieren fürchtet.

Seine geliebte Großmutter, die den Holocaust überlebte und deren Schtetl-Akzent ihn vor den anderen Familien am Strand mit Scham erfüllt, und seine verhasste »monströse« Tante bedeuten für ihn zugleich widerwillige Geborgenheit und die beständige Gegenwart einer Vergangenheit, deren Trauma auf seinen Schultern liegt.

In so gefühlvoller wie genauer Sprache erzählt Hugo Lindenberg diesen Roman in einer Reihe von Szenen des Sommers, der Stille, des Lichts, der Begegnungen, in einer Stimmung sich dem Ende zuneigender Sommerferien und doch durchzogen von einer Unheimlichkeit und Bewegungslosigkeit, die unter die Haut gehen. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Es ist ein unbestimmtes, nicht zu erklärendes und doch alles beschreibende Gefühl im Inneren, welches der Junge besitzt, welches ihm besitzt und mit ihm unzähliger Nachfahren von jenen, die dem Schrecken nicht entkamen. Warum lebe ich? Warum haben es andere Linien meiner Familie nicht geschafft, konnten den Unheil nicht entkommen?

In der Psychologie spricht man da vom transgenerationalem Trauma, szenischem Erinnern, welches selbst jene erfasst, die die unmittelbaren Schläge aufgrund schon des Abstands zur Historie nicht erlebt haben können. Eine von vielen Problemstellungen, mit denen die Nachfahren Holocaust-Überlebender zu kämpfen haben. Was schon in der Theorie schwierig ist, zu erfassen, hat der französische Autor Hugo Lindenberg in eine Erzählung zu gießen versucht. Dabei herausgekommen ist ein erdrückender und zugleich berührender Debütroman.

Dieser wird aus der Sicht des Protagonisten erzählt, einen namenlosen Jungen, der seine Ferien am Strand verbringt, bei seiner Großmutter und Tante, jedoch zumeist sich selbst überlassen. Dort beobachtet er die Menschen, die ihn umgeben. Familien faszinieren ihn und er stellt sich vor, ein Teil von ihnen zu sein. Vollständige Familien sind für ihn, der das nicht hat, Inbegriff des Glücks und so denkt er sich in die Leben anderer hinein, bleibt dennoch unsichtbar.

Seit meiner Ankunft, eigentlich serit immer schon habe ich mit meiner Großmutter mit niemandem geredet.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Ein Junge, der keine Stimme findet, wie soll er auch, wird kaum auch von anderen bemerkt. Bis auf einem, der das Spiel unterbricht. Zusammen töten beide Quallen am Strand. Der Junge aber beginnt einen Sommer lang zu leben.

Nichts ist mir fremder als Jungen in meinem Alter.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Sätze, die sich in die Netzhaut einbrennen, sind es, die der Autor gekonnt setzt, um seine Geschichte und die unzähliger Menschen zu erzählen. Selten wurde Leere so schön beschrieben, doch erreichen die Worte hier auch die Lesenden. Können sie auch nicht anders, doch diese Traurigkeit, Melancholie, die im nächsten Moment in die Unsicherheit des Jungen zu kippen droht, muss man aushalten können. Da die Gefühlswelt für diesen kaum zu beschreiben ist, verlegt er sich aufs Sachliche und versucht doch eine Normalität zu erreichen, die ihm nicht gegeben ist.

Ich muss mich konzentrieren, damit man mir meine Aufregung nicht anmerkt, damit ich wie ein kleiner Junge wirke, der Zärtlichkeit gewohnt ist.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Der kleine Protagonist gewinnt so, mit zunehmender Seitenzahl an Ecken und Kanten, derer viele. Die sich aufbauende Jungenfreundschaft symbolisiert das Durchbrechen. Es scheint, als wäre gefühlsmäßig zum ersten Mal für den Jungen etwas greifbar. Die Angst, das zu verlieren, schimmert Zeile für Zeile durch. Leuchtet hell.

Beschrieben wird ein unbestimmter Zeitraum von wenigen Tagen bis ein paar Wochen. Genauer wird es nicht, ist auch nicht wichtig, in der Kindheit verläuft die Wahrnehmung von Zeit ohnehin anders. Dieses Gefühl wiederzugeben ist Hugo Lindenberg gelungen, wie auch der Aufbau der anderen Figuren, von denen nur zwei, die der Großmutter und der Tante, Konturen bekommen. Sie umkreisen den Jungen, sind nah und doch so fern. Baptiste ist hingegen das, was der Junge sich wünscht, der seinerseits die Ferienbekanntschaft ebenso faszinierend findet.

Der Gegensatz ist folglich keine Gegenüberstellung aus Gut und Böse, eher unterschiedlicher Vorstellung von Leben. Was wäre, wenn? Was ist mit mir? Was mit meiner Familie? Große Fragen, versammelt in diesem sehr kompakt gehaltenen Roman. Kein Wort ist hier zu viel.

Der kleine Hauptprotagonist lässt uns seinen Gedanken folgen. Gesprochene Sätze fallen auf, da sie so rar gesät sind. Wie Nadelstiche oder Sandkörner auf der Haut fühlt sich das an. Nach und nach enthüllt sich die Traurigkeit der Hauptfigur, die nur in Rollen lebt, die sie zu spielen zu müssen meint. Was aber genau macht das mit einem? Diese Frage seziert der Autor und lässt sie den Jungen ergründen. Oberflächlich passiert nicht viel. Aus Kindersicht um so mehr. Zu viel für die schmalen Schultern der Hauptfigur?

Normalerweise fragten die anderen, wo ist denn deine Mutter, und ich wusste, dass sie es wussten, abver sie wollten den Tod hören, wegen dem Nervenkitzel. […] Sie blieben, solange der Nervenkitzel anhielt, dann wandten sie sich leicht angeekelt ab.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Nur in Bruchstücken erfährt man Hintergründe, wie auch der Junge nur lose Fetzen Erinnerungsstücke festhält. Der Vater abwesend, keine Mutter mehr vorhanden und die ihn direkt umgebenden Erwachsenen haben ja auch keine Worte. Für ihn, das Kind, ohnehin nicht. Der Protagonist ahnt nur, weshalb er leidet.

Ich kenne meine Rolle genau. Zehn Jahre alt, hasenzähne, große schwarze Locken und lange Wimpern, Sommersprossen auf der Nase, ziemlich schüchtern, brave Kleider, einen kleinen Strauß Magnolien in der Hand. Ich bin das Leben.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

In beinahe poetischer, dann wieder ins Nüchterne wechselnde Sprache hat Hugo Lindenberg diese Erzählung, gleichsam eine Novelle aufgebaut, die einem auch nach Umblättern der letzten Seite kaum loslassen wird. Zunächst wird man hineingesogen in die Geschichte, spürt den Sand unter die Zehen knirschen, den Lärm der Umgebung, der ausgeblendet wird, wenn sich der Protagonist fokussiert. Mit dieser Dichte die hintergründige Thematik veranschaulicht zu bekommen, ist selten in dieser Form zu lesen.

Dieses Bild von mir würde ich nicht mehr loswerden, das wusste ich. Und tatsächlich bin ich es bis heute nicht losgeworden.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Sowohl sprachlich, damit ist nicht gemeint, dass man praktisch jeden zweiten Satz sich anstreichen und herausschreiben möchte, als auch erzählerisch zieht einem die Lektüre hinein und wirft die Lesenden dann um. Heftiger kann eine ruhige Erzählung kaum wirken. Nur im ersten Moment meint man eine Coming of Age Geschichte vor sich zu haben, doch entdeckt darunter noch so viel mehr. Sachbücher gibt es wohl einige, die sich mit dem Übertragen von Traumata in die nachfolgenden Generationen beschäftigen. In Romanform ist zumindest mir dies so noch nicht untergekommen.

Von der sich dadurch umgebenden Heftigkeit sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen. Es ist ja gerade dadurch auch eine wunderbare Lektüre. Hier ist Hugo Lindenberg ein tolles Debüt gelungen, auf Grundlage dessen, was sich in vielen Familiengeschichten wieder findet. Ungesagtem eine Stimme zu geben, hat hier wunderbar funktioniert.

Eine absolute Lese-Empfehlung.

Autor:
Hugo Lindenberg wurde 1978 gebopren und ist ein französischer Journalist. “Eines Tages wird es leer sein”, iost sein erster Roman, der bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Der Autor lebt in Paris.

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Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Inhalt:

Ilse Koch war eine der wenigen verurteilten NS-Täterinnen. 1947 wurde ihr von einem US-, 1951 von einem deutschen Gericht der Prozess gemacht. Ausgiebig berichtete die internationale Presse über die als besonders grausam geltende ehemalige SS-Ehefrau. Die Historikerin Alexandra Przyrembel skizziert in einer fundierten Spurensuche Ilse Kochs frühe Mitgliedschaft in der NSDAP und das Leben der Familie Koch in der SS-Führersiedlung in Buchenwald.

Sie beschreibt die Nachkriegsprozesse gegen Ilse Koch und die internationale Berichterstattung darüber sowie Kochs Zeit im Frauengefängnis in Aichach, die Unterstützung der ‘Stillen Hilfe’ und ihre Korrespondenz mit den Kindern. Eine kluge, erhellende Studie der Erzählungen über das ‘Böse’, das von der Nachkriegsgesellschaft außerhalb der menschlichen Sphäre verortet wurde.

(Klappentext)

Rezension:

In der Erzählung unmenschlicher Grausamkeiten gelten die begangenen und vermeintlichen Taten von Ilse Koch als Ausdruck des absolut unfassbaren Grauen, Abgrund des Bösen. Die Frau des Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald soll gezielt Häftlinge gesucht haben, diese töten lassen, um deren tätowierte Haut für Gebrauchsgegenstände wie Buchumschläge und Lampenschirme verarbeiten zu lassen.

Vor zwei Gerichten wurde dies und anderes in der unmittelbaren Nachkriegszeit verhandelt. Für den Mythos allein fehlten letztlich die Beweise. Die Bestandteile des Lampenschirms konnten nicht zweifelsfrei bestimmt werden. Dennoch blieb genug Unmenschliches, um eine der wenigen NS-Täterinnen nicht nur einmal zu lebenslänglicher Haft zu verurteilen.

Wer war Ilse Koch? Diese Frage stellt sich die Geschichtswissenschaftlerin Alexandra Przyrembel und legt nun nach jahrelanger Recherche ein umfassendes Werk der Zusammenfassung ihrer Studien vor, welches versucht das Ungreifbare fassbar zu machen. Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die qua ihres Ranges außerhalb des Systems stand, dem sie diente, was jedoch ihre Taten in der Nachbetrachtung noch grausamer erscheinen lässt, als sie es ohnehin schon sind.

Die Historikerin exerziert zudem ein Stück internationaler Mediengeschichte, zudem die Schaffung eines Geschichtsbildes und das Einspannen für die systemischen Zwecke in der Gesellschaft beider sich nach dem Krieg konstituierender deutscher Staaten.

Der Fall Koch beschreibt die Verflechtungen der SS-Ehefrauen mit der Welt der Konzentrationslager: als Partnerin und Gefährtin, als Mutter und vor allem als Staatsbürgerin des ‘Dritten Reichs’. Ilse Kochs Handeln hatte allerdings nur deshalb eine juristische Aufarbeitung zur Folge, weil sie sich außerhalb der als “normal” betrachteten Ordnung bewegte […].

Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Dieser Teil der Rezeption nimmt einen bedeutenden Teil der Biografie ein. beschreibt zudem ein wichtiges Stück Justizgeschichte, sowie medienpolitische Betrachtung und den Versuch der Deutungen Herr zu werden, diese einzuordnen. So ist auch die Kapitelordnung zu verstehen, wenn sie in Bezug zu den Taten Ilse Kochs genommen wird, trotzdem liest sich das zuweilen sehr theoretisch, um im nächsten Moment den Lesenden um so mehr die Schrecken vor Augen zu führen.

Alexandra Przyrembel gelingt der Spagat einerseits einer Wegbeschreibung, andererseits einer nüchternen Einordnung im Kontext der Zeitgeschichte, zugleich jedoch Mythen aus dem Weg zu räumen und Verarbeitungsprozesse näher zu beleuchten.

Alles in allem lässt sich also festhalten, dass sich vor Gericht sowohl Menschen wiederfanden, die […] als Juristen mit Partei- oder SS-Mitgliedschaften in das nationalsozialistische Deutschland verstrickt waren, als auch solche, die zu den Verfolgten des NS-Regimes und Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager gehörten. Möglicherweise liegt hierin, nämlich in seiner Inszenierung als demokratisch, die eigentliche Leistung des Gerichtsverfahrens gegen Ilse Koch, und nicht in der konkreten justiziellen Aufarbeitung von Schuld […].

Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Eine unideologische Betrachtung Ilse Kochs hat für die geschichtsinteressierten Laien bis dato gefehlt, was nun hiermit geschaffen sein dürfte. Keineswegs eine einfache Lektüre sollte dieser Ausarbeitung künftig einen gewissen Stellenwert zukommen, innerhalb der Sachliteratur gegen das Vergessen.

Dafür muss man sich Zeit nehmen, da zwischen Theoretischem und geschichtlicher Einordnung, Betrachtung, hin- und hergesprungen wird. Es ist eben alles miteinander verwoben. Wer sich darauf einlässt, vervollständigt sein Geschichtsbild um einen weiteren Aspekt. Das Grauen und wozu ein Mensch in dafür geschaffenen Zeiten fähig ist, bleibt unfassbar.

Autorin:

Alexandra Przyrembel wurde 1965 geboren und ist eine deutsche Historikerin. Seit 2015 ist sie Universitätsprofessorin und Leiterin des Lehrgebiets Geschichte der Europäischen Moderne an der Fernuniversität Hagen. Nach ihrer Promotion 2001 an der TU Berlin beschäftigte sie sich mit der Globalgeschichte des Wissens im 19. und frühren 20. Jahrhundert. 2010 habilitierte sie sich in Göttingen zur Geschichte des Tabus und forscht zur transnationalen Geschichte Europas.

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Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Inhalt:

Großartig und nervtötend, liebevoll und erdrückend, aufopfernd, aber auch übergriffig – Michel Bergmann liebt seine Mutter Charlotte und hält sie manchmal nicht aus. Und erzählt in diesem Buch, in dem er nichts und niemanden schont, die Geschichte einer eigenwilligen, starken Frau: ihre Vertreibung aus Deutschland, der Verlust fast der gesamten Familie, das Glück, ihren künftigen Ehemann wiederzufinden, und dennoch ein Schicksal, bei dem sie allzu oft ganz auf sich allein gestellt ist.

Ein bewegendes Buch über eine faszinierende Frau und Mutter. (Klappentext)

Rezension:

“Woody Allen hat gesagt: Das schlechte Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Recht hat er.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

“Dafür nun habe ich überlebt.”, so oder ähnlich klingen die Vorwürfe, die sich Michel Bergmann Zeit seines Lebens anhören muss, aus dem Munde derjenigen, die ihm am nächsten stehen sollte. Das tut sie auch, doch das Leben spielte der Mutter, wie allzu vieler ihrer Generation übel mit. Geschehnisse, die lange danach noch Wirkung zeigen, in den Familien übergreifend. Der Autor schaut, Jahre nach dem Tod, zurück, sucht die Wegmarker und Wendepunkte und damit, seine Mutter mehr zu verstehen als er es zu ihren Lebzeiten konnte. Entstanden ist eine Mischung aus Romanbiografie, Familienepos, Ode und Psychogram, hart zu der Frau, die er zu seiner Hauptprotagonistin macht, aber auch sich selbst nicht schonend.

Der Filmemacher weiß sich unterschiedlicher Genre zu bedienen und setzt deren Elemente gekonnt um. Der Handlungsverlauf gleicht im Spannungsverlauf eben dem eines guten Films, während dessen er sich an den biografischen und neuralgischen Punkten des Lebens seiner Mutter entlang hangelt. Zuweilen ist das fast wie ein Krimi zu lesen, aber eben in Romanform erzählt Michel Bergmann liebevoll aus dem Leben seiner Mutter. Ihre und seine Perspektive sind die bestimmenden Elemente, die Abwechslung in diese kurzweilige Erzählung bringen. Die Kapitel sind benannt nach den einzelnen Stationen dieser bewegten Biografie, bei der man immer wieder innehalten muss. Um zu schmunzeln, laut loszulachen, auf das einem das Lachen im nächsten Moment im Halse stecken bleibt.

Erzählt wird die Geschichte der Mutter über die gesamte Lebensspanne, konzentriert auf die neuralgischen Punkte. Der Autor könnte noch viel mehr erzählen, doch beherrscht er des Berufs wegen die Kunst des Reduzierens. Auf die Leinwand kann man schließlich auch nicht alles bringen, was man gerne möchte. Überflüssige Zeilen gibt es hier auch zwischen den Buchdeckeln nicht. Dabei lässt Michel Bergmann die unterschiedlichsten Handlungsorte vor dem inneren Auge entstehen. Wir folgen der Protagonistin, deren Ansichten sich über die Jahre verhärten werden, in der Rückschau wird das Schicksal sie verbittern lassen, durch Deutschland in seiner schlimmsten, später auch in seiner besten Zeit, in die Schweiz und nach Frankreich. Wenige Worte genügen hier manchmal, um ganze Welten lebendig erscheinen zu lassen.

Hauptfiguren bilden der Erzähler selbst und seine Protagonistin, die wie zwei gegensätzliche Pole einander abstoßen, aber doch nicht ohne einander können. Diese Konstellation kommt aber auch bei den Nebencharakteren zum Tragen, doch während der Sohn mit dem Abstand der Generation das Konfliktpotenzial sieht und zu bewältigen weiß, kann sich die Mutter nicht davon befreien.

“Und die Ingredienzen dieses neuen Lebens durch Überleben haben nicht nur psychische Schäden verursacht. Sie haben Krankheiten und Todesursachen provoziert und letztlich auch die Gene verändert, die an uns weitergegeben wurden. Bis heute werden die Auswirkungen dieser schweren, lebensbedrohlichen Jahre der Schoah unterschätzt. Wir alle wären andere. Und unserer Kinder ebenfalls. Davon bin ich zutiefst überzeugt.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Brüche in der Erzählung ergeben sich durch die Protagonisten selbst, nicht zuletzt durch den Erzählenden, der zwischen den Zeiten springt, um damit andere Punkte dieser Geschichte unterfüttern. Im Lesefluss selbst ist das keinesfalls störend. Es ergibt sich sogar eine gewisse Dynamik und ein Erzähltempo, welches es verhindert, dass man vollends in nicht enden wollende Melancholie hinabstürzt, aus der man nicht wieder hinausfinden würde. Dem Lesenden wachsen die Figuren mit all ihren Ecken und Kanten ans Herz. Vielleicht sollten wir alle uns die Geschichte unserer Eltern anschauen, mag man hinterher meinen, um sie zu begreifen, um sich selbst besser zu verstehen.

Der Autor weiß die Wirkung von Sätzen und sprachlichen Bildern zu nutzen, setzt sie gekonnt und nicht über die Maßen ein, setzt damit seiner Mutter, die er zur Hauptprotagonistin macht, ein Denkmal, nicht ohne dieses selbst zu hinterfragen. Immer wieder steht die Frage im Raum, was wäre wenn, um im gleichem Atemzuge beantwortet zu werden, mit: “So. Und nicht anders.” Diesem Stil kann man sich nicht entziehen, möchte man auch nach wenigen Seiten schon nicht, trotz einer Figur, die in Teilen unnahbar, manchmal fast unangenehm bleiben wird.

“Ich lehne mich zurück, atme tief durch. Was für eine Geschichte! Meine Mutter ist aber auch schrecklich. Ich muss lachen. Ich liebe sie.”

Michel Bergmann: Mameleben oder das gestohlene Glück

Es ist ein Buch über ein Blick hinter die Fassade eines Menschen und auch die Suche des Autoren nach sich selbst. Am Ende scheint Michel Bergmann auf viele seiner Fragen Antworten gefunden zu haben. Diesen Weg zu verfolgen, durch sprichwörtlich viel zu viele und zu tiefe Täler, immer wieder aber auch Berge des Glücks, okay, das klingt jetzt kitschig, war interessant und lesenswert. Gelernt hat man am Ende auch etwas dabei und sei es nur eine ganze Reihe jüdischer Ausdrücke und Begrifflichkeiten, die Bergmann am Ende des Romans, der eigentlich eine Biografie, eine Suche und auch sonst darstellt, erläutert. Ein Text der so viel schafft, den Autoren sicherlich und nicht zuletzt, die Lesenden selbst herausfordert, den kann man nur empfehlen.

Autor:

Michel Bergmann wurde 1945 in Basel geboren und ist ein schweizerisch-deutscher Filmproduzent, Regisseur und Schriftsteller. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung bei der Frankfurter Rundschau und war anschließend als freier Journalist tätig.

Später wechselte er in die Filmbranche und arbeitet seither als Drehbuchschreiber, Regisseur und Produzent. Sein erster Roman wurde im Jahr 2010 veröffentlicht, weitere folgten, 2021 seine erster Kriminalroman. Er erhielt u. a. den Deutschen Industriefilmpreis und den New York Film Award.

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Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Inhalt:

1940 ist Chiune “Sempo” Sugihara offiziell der japanische Vizekonsul in Litauen. Tatsächlich aber spioniert er als Agent seines Außenministeriums deutsche und russische Truppenbewegungen aus. Seit seinen Lehrjahren in japanischen Kolonien ein entschiedener Gegner von Tyrannei und Unterdrückung, nimmt er sich der jüdischen Flüchtlinge an, die eines Tages beginnen, sein Konsulat zu belagern. Gemeinsam mit einem kreativen holländischen Konsul und einem profitorientierten russsischen Kommunisten heckt er einen wahnwitzigen Plan aus, ihnen mit Visa zweifelhafter Gültigkeit die freie Passage nach Japan zu ermöglichen.

Für die Juden beginnt eine aufreibende Odyssee durchs eiskalte Sibirien und über die raue japanische See in die Freiheit. Für Sugihara folgen Kriegsgefangenschaft, die unehrenhafte Entlassung aus dem Staatsdienst, Gelegenheitsjobs in Japan und Russland. Erst Jahrzehnte später erfährt er, dass sein Plan aufgegangen ist, und erst kurz vor seinem Tod wird er von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad vashem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. (Klappentext)

Rezension:

War Chiune Sigihara der japanische Schindler? Dass er seit Bekanntwerden seiner Taten immer wieder mit diesem wenig originellen Titel bedacht wird, ist so unglücklich wie verständlich. Auch ohne Vorkenntnisse hat man bei einer derart griffigen Verschlagwortung sofort eine ungefähre Vorstellung von der historischen Rolle, die ihm zukommt. Gleichwohl ist eine solche Bezugnahme auf eine andere historische Persönlichkeit auch immer eine Reduzierung.

Der japanische Schindler ist eben nicht das Original. Mit einer derartigen Größe verglichen zu werden ist einerseits sicherlich eine Ehre, klingt andererseits jedoch nach einem Trostpreis. Eine Hitparade der Holocaust-Helden wäre unschicklich, und darüber hinaus hat Chiune Sugihara es verdient, nicht nur im Schatten eines anderen geehrt zu werden.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Der in Japan lebende Journalist und Autor Andreas Neuenkirchen tut dies in einem recht eindrucksvollen Porträt, welches er über den japanischen Diplomaten, der durch seine Postion getarnt, eigentlich für seine Regierung die Truppenbewegung der Deutschen und der Sowjetunion ausspionieren sollte, dem jedoch per Aufenthaltsort eine bedeutende Rolle zukommen sollte, in Bezug auf die Menschen, deren Leben er rettete. Entstanden ist eine eindrucksvolle Biografie einer hier in Europa fast vergessenen, in Japan erst spät gewürdigten Persönlichkeit, ein wichtiges Werk in der Reihe der Bücher gegen das Vergessen.

Die Geschichte von Chiune Sugihara beginnt der Journalist mit einem Blick auf dessen Elternhaus, Kindheit und Jugend, die schließlich in einem Weg mündete, abseits dessen, welchen der Vater für seinen Sohn erdacht hatte. Wichtige Schlüsselmomente und Stationen werden dargestellt, um darauf später zurückzukommen und die Motivation für das spätere Handeln Sugiharas wenigstens im Ansatz zu klären.

Neuenkirchen begab sich nicht auf die Spuren eines Unternehmers, der zunächst nur günstige Arbeitskräfte für seine Fabriken brauchte, für den dann im Laufe der Zeit die menschlichen Leben einen höheren Stellenwert erhielten oder der Männer, die im Auftrag ansonsten neutraler Regierungen, wie dies etwa in Schweden der Fall gewesen ist, Verfolgte vor dem Schlimmsten bewahren sollten. Chiune Sugihara war im Auftrag der japanischen Regierung in Europa unterwegs.

Wenngleich die Rettung Tausender jüdischer Flüchtlinge die Sugiharas in Deutschland nicht in Bedrängnis bringen sollte, so dauerte es dennoch nicht lange, bis sich der Himmel über ihrem Schicksal verfinsterte.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Nach Lehrjahren in der Mandschurei zunächst in Moskau, später dann in Kaunas, vor allem um die Truppenbewegungen der eigentlich verbündeten Deutschen und derer Gegner auszuspionieren. Neuenkirchen hat den auslösenden Moment für eine menschliche Großtat und den Weg Sugiharas, sowie den Umgang mit dem historischen Erbe gesucht.

Für die zahlreichen Geschichte, ja für diese eine, wirkt der Text auf den ersten Blick beinahe zu kompaktm, doch Neuenkirchen wagt keine Ausschweifungen, hat sich beim Schreiben aufs Wesentliche konzentriert. Die Wirklichkeit ist spannend genug. Sie bedarf keinerlei Ausschmückung. Gestützt auf Archivarbeit, Interviews und Zeitzeugenberichten, Zeitungsartikeln verfolgt er den Weg eines außergewöhnlichen Menschen und der jenigen, deren Leben Sugihara rettete.

Als sich der Zug in Bewegung setzte, zückte Sugihara ein letztes Mal auf litauischem Boden Feder und Papier. Die letzten behelfsmäßigen Visa warf er aus dem fenster des fahrenden Zuges, in die Hände derer, die ihn laufend begleiteten, so lange es ging. Erschöpft und verzweifelt rief er: “Ich kann nicht mehr schreiben, bitte vergebt mir!” Dann sank er in seinen Sitz und schlief sofort ein.

Andreas Neuenkirchen: Codename – Sempo

Eindrucksvoll werden einzelne Momente herausgestellt. Fast wirkt es so, als wäre man inmitten eines Dokuspiels und doch ist dies ein sehr flüssig zu lesendes Sachbuch, welches einmal einen anderen erinnerungswerten Aspekt zur Sprache bringt, als dies normalerweise der Fall ist. Ansonsten hätte man schon öfter von Chiune Siguhara gehört.

Andreas Neuenkirchen versteht es Familien- und Personengeschichte, sowie ein gesellschaftlichs Porträt miteinander zu verknüpfen, ebenso Nachwirkungen und den Umgang mit der Vergangenheit darzustellen. Ein Sachbuch, welches sich von der durch das wirkliche Geschehen verursachten Dramaturgie wie ein spannender Roman liest, ist das. Und fast genau so aufgebaut. Im forderen Teil gibt es ein Personenregister. Aber auch die Nachbetrachtungen sind sehr überlegt und kenntnisreich. Sie runden die Thematik gut ab.

Der Ausgang der Geschichte von Chiune Sugiharas Taten ist bekannt, doch noch viel zu wenig beschrieben. Dieser Text ändert das nun.

Autor:

Andreas Neuenkirchen wurde 1969 in Bremen geboren und arbeitet seit 1993 als Journalist. Zunächst zuständig für Bremer Stadtmagazine und Tageszeitungen, arbeitete er von 1998 bis 2016 als Redakteur in München. Nebenher arbeitete er als Autor für Hörspiele, Heftromane, Rundfunkreklame, Bücher und Filme. Die meisten haben Japan-Bezug. Seit 2016 lebt er mit seiner japanischen Frau und der gemeinsamen Tochter in Tokio.

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Walter Chmielewski: Mein Leben als Sohn des Teufels von Gusen

Inhalt:

Walter Chmielewskis Vater ist Kommandant des KZ Gusen, einer Außenstelle des KZ Mauthausen, eingestuft als Vernichtungslager. Der Horror ist dem Jungen allgegenwärtig. In den letzten Kriegstagen gerät der jugendliche Walter selbst an die Front, wird gefangengenommen… Der Autor erzählt in seiner Autobiografie vom grausamen Vater ebenso wie von der mitfühlenden Mutter, dem Großvater, einen Widerständler, den Kriegsgräuel und der folgenden Zeit des Friedens und Aufbaus bis heute. Die Schuld seines Vaters sollte ihn allerdings ein Leben lang verfolgen. (Klappentext)

Rezension:

Niemand kann etwas für die Vergangenheit einzelner Familienmitglieder, doch ist gut daran getan, dass manches nicht in Vergessenheit gerät. So ist es wichtig, dass Zeitzeugen Ereignisse dokumentieren, um sie so für die Nachwelt zu erhalten. Doch wie bewertet man so etwas, zumal literarisch, da jene, die dies niedergeschrieben haben, nicht unbefangen waren und die heute Lesenden ebenso automatisch eine Position beziehen? Ja, vielleicht beziehen müssen.

Walter Chmielewski ist solch ein Zeitzeuge, der seine Geschichte und die seines Vaters für die Nachwelt festgehalten hat. Für einige Dokumentationen und Zeitungen stand er für Interviews zur Verfügung, seine Erinnerungen an Kindheit und Jugend sind festgehalten, in diesem Buch. Und jene, an seinen Vater. Dieser machte im NS-Apparat Karriere, stieg schnell auf und wurde schließlich Leiter des Konzentrationslagers Gusen. Brutal, unberechenbar und unerbittlich. Welche Differenz zu der Vaterfigur, die der Junge nicht recht einordnen konnte, mit dem die Mutter, die sich mit den Jahren in der Beziehung immer unwohler fühlte, bald brach.

Der Autor erinnert sich an noch mehr, erzählt von seiner Kindheit und Jugend, seinem Leben als Erwachsener, bis hinein ins hohe Alter. Und davon, wie die Vergangenheit ihn trotz Erfolg, Gesundheit und persönlichen Glücks ihn immer wieder einholt.

Dies ist der interessantere Teil dieses sehr kompakten Werks, welcher an einigen Stellen sehr holprig wirkt. fast scheint es, als müssen die liebevoller Mutter, die das Unheil der Katastrophe bereits mit der Machtergreifung der Nazis kommen sieht, sowie die Großvaterfigur als Rechtfertigung für das unverständliche Handeln des Vaters herhalten. Und natürlich war auch das Kind Walter Chmielewski selbst nicht überzeugt vom NS-Regime. Geht das? Wo doch so viele Kinder und Jugendliche diese Ideologie nahezu ungefragt übernahmen, nicht dass sie eine Wahl gehabt hätten. Zumal, wenn man wie der Autor selbst ein Jahr unter der Knute der NAPOLA-Schule gestanden hat.

Das scheint alles sehr dünn und hätte hier einer ausführlicheren Erläuterung bedürft. Tatsächlich wirkt der Text wie eine versuchte Aufarbeitung der Familiengeschichte, bei der man dann lieber doch in ruhigere Fahrwasser sich bewegen möchte. Möglichst schnell. Hier hätte ein gutes Lektorat oder eine entsprechende Beratung Wunder gewirkt, so fällt eine an sich wertvoll festgehaltene Erinnerung literarisch ins Waser.

Die von mir erwähnten “ruhigen Fahrwasser” hätte sich der Autor jedoch vollkommen sparen können. Sie machen die zweite Hälfte des Werks aus. Hier beschäftigt sich Walter Chmielewski nicht mehr mit der Geschichte seines Vaters, seiner eigenen oder die seiner Familie, was zum Titel und durch den Klappentext suggerierten Inhalt passen würde. Tatsächlich ist zu empfehlen, das Buch danach zur Seite zu legen und den Rest ungelesen zu lassen.

Anfangs scheint es, als hätte der Schreibende versucht anhand von Parallelen in unserer heutigen Gesellschaft zu erläutern, warum er heute unsere Demokratie und Freiheiten gefährdet sieht. Schnell ist dabei jedoch daraus eine Abrechnung geworden. Mit Land, Wirtschaft, Gesellschaft, der heutigen Zeit. Alles ist Mist. Alles läuft schief.

Dass es eben nicht so ist und neben vielen Dingen, die natürlich Diskussionen und Änderungen bedürfen, auch ganz viel existiert, was gut läuft, was funktioniert und was sich eben in den Jahren seit Kriegsende gewandelt hat, sieht er nicht. Will er nicht sehen. Davon abgesehen wäre das Stoff für ein eigenes separates Werk und gehört so nicht in eine Autobiografie oder den Versuch ein zeithistorisches Gedächtnis für die Nachwelt zu erschaffen.

Zurück zur Eingangsfrage. Wie bewertet man so etwas? Wie bewerte ich so etwas? Das Leben des Autors möchte ich nicht einordnen. Ich hoffe, er konnte mit dem Niederschreiben den grausamen Teil seiner Familiengeschichte irgendwie verarbeiten, möchte ihn auch gerne seine Unbeeindrucktheit (Gibt es dafür ein Wort?) gegenüber einer Ideologie abnehmen, sowie dass dies der Vater in seiner Familie, mit diesem Hintergrund so hingenommen hat.

Ein großer Schreiber ist an Chmielewski nicht verloren gegangen. Es fehlen Details, Übergänge. Zu kompakt ist der Text. Dieses Abrutschen ins Polemische im zweiten Teil, praktisch zwei Werke ungetrennt zu schreiben, ist zudem kein glücklicher Zug. Zu viele Punkte sind dort auch rein faktisch unausgegoren. Das ist noch sehr weit entfernt, vom literarischen Schund eines gewissen ehemaligen Berliner Politikers, aber schon zu viel des Schlechten.

Einfach schade.

Autor:

Walter Chmielweski wurde 1929 geboren und war Sohn des späteren KZ-Kommandanten Karl Chmielewski. Nach dem Krieg arbeitete er in verschiedenen Unternehmen und wurde mehrfach als Zeitzeuge interviewt. Der Kontakt zum Vater brach noch während des Krieges ab. Dies sind seine Erinnerungen.

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Oliver Rathkolb: Schirach – Eine Generation zwischen Goethe und Hitler

Inhalt:

Baldur von Schirach sprach von Blut und Ehre, vom Wunder der Kameradschaft und von der Kraft der Fahne. Und er machte Adolf Hitler zum geliebten “Führer”, der das deutsche Volk groß, frei und glücklich machen würde. Eine ganze Generation sang seine Lieder, trommelte und turnte und marschierte mit ihm. Als Reichstatthalter hielt er Hof in Wien, die Deportation der jüdischen Bevölkerung sah er als seinen “aktiven Beitrag zur europäischen Kultur”. Oliver Rathkolb gibt die Geschichte einer schillernden NS-Karriere wieder, die unmittelbar in das Herz des “Dritten Reiches” führt und viele Fragen aufwirft. (Klappentext)

Rezension:

Während andere Biografien viel mehr Aufarbeitung erfahren, sich mit Lebenswegen auf verschiedene Art und Weise auseinandergesetzt wurde, erfuhren andere bisher wenig Beachtung, wobei auch deren Aspekte wichtig sind, um zu verstehen, wie ein Regime wie das der Nationalsozialisten in Deutschland entstehen und seine Macht festigen, die Welt in eine Katastrophe stürzen konnte. In diesem Falle ist ein ganz entscheidender Baustein die Indoktrinierung der Jugend gewesen. Der österreichische Historiker Oliver Rathkolb hat sich nun aufgemacht, Aufstieg und Fall von Baldur von Schirach zu beleuchten, der dies zu verantworten hatte.

Einfach aufgrund der Auswahl der Thematik schon ist dieses Sachbuch sehr besonders, da im Gegensatz zu etwa Hitler selbst, Hitler oder Sperr, die Rolle des Mannes vergleichsweise im Dunkeln liegt, der kurzzeitig als eine der Nachwuchshoffnungen des Dritten Reiches galt und auch dazu beitrug, dass sich dieses grausame Regime so lange halten konnte.

Der Historiker hat sich dabei entlang eines Zeitstrahles gehangelt und geht in die Familiengeschichte von Schirachs weit vor dessen Geburt zurück, um die Hintergründe darzustellen, die Übernahme und Weiterentwicklung damaliger antisemitischer Vorstellungen, wie sie in verschiedenen Gesellschaftsschichten populär waren, aber auch einen der Grundsteine aufzuzeigen, die später Hitlers Paladin als einem der Punkte der Verteidigungsstrategie im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess dienen sollte, was dazu führte, dass von Schirach nicht zum Tode verurteilt wurde.

Minutiös wird die Annäherung an Hitler dargestellt, ebenso die Ideologisierung, aber auch der stetige Konkurrenzkampf und die Intrigen innerhalb der Führungsriege des Regimes. Zugleich erläutert der Autor hier Brüche ausführlich und zeigt, warum die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gerade im Wien nach dem Krieg mit Problemen behaftet war. Auch dafür liegen die Grundlagen in von Schirachs Wirken.

Dies ist so detailreich wie einprägsam dargestellt, dass es eine lohnend ergänzende Lektüre zur bereits vorhandenen Aufarbeitungsliteratur ist. Auch versteht man dadurch, warum gerade von einer ganzen Generation indoktrinierter Jugendlicher in den letzten Kriegstagen an einigen Orten grausame Taten ausgeübt wurden, die sich im kollektiven Gedächtnis eingebrannt haben.

Sachlich und nüchtern hat hier Oliver Rathkolb das zwiespältige Porträt eines Menschen zusammengestellt, der ausschlaggebend für die Ideologisierung eines verbrecherischen Regimes war, sowie für den Tod von Hunderttausenden. Interessant ist zudem der noch zu wenig beleuchtete Kunstraub der Nazis und die Vereinnahmung kulturellen Lebens, welches ebenso ausführlich beleuchtet wird. Alleine dies schon ein Kapitel, weshalb sich die gesamte Lektüre lohnt.

Autor:

Oliver Rathkolb wurde 1955 in Wien geboren und ist ein österreichischer Historiker. Nach Studien der Rechtswissenschaften und Geschichte in Wien war er wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Bruno Kreisky Archiv und übernahm 1992 die Funktion des dortigen Wissenschaftskoordinators.

1984 bis 2005 war er wissenschaftlicher Angestellter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft, 1993 habilitierte er und übernahm die Lehrbefugnis als Dozent für Neuere Geschichte unter Berücksichtigung für Zeitgeschichte im Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Nach verschiedenen Funktionen übernahm er eine Forschungsprofessur der Universität Havard. Er verfasste mehrere Beiträge und Expertisen für Fach- und populärwissenschaftliche Medien und Zeitschriften.

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Peter Englund: Momentum – November 1942

Inhalt:

Im November 1942 drängt alles auf Entscheidung: Auf der Pazifikinsel Guadalcanal schlagen US-Streitkräfte die japanischen Besatzer zurück; in der Schlacht von El Alamein, Ägypten, werden die deutsch-italienischen Truppen zum Rückzug gezwungen; in Stalingrad wird die deutsche 6. Armee eingekreist.

Peter Englund schildert die Ereignisse in diesem entscheidenden Monat aus der Sicht derer, die sie erlebt haben: darunter ein deutscher U-Boot-Kommandant im Nordatlantik, ein zwölfjähriges Mädchen in Shanghai, ein sowjetischer Infanterist in Stalingrad, ein Partisan in den belarussischen Wäldern, eine Journalistin in Berlin, eine Hausfrau auf Long Island – neben bekannten Figuren wie Sophie Scholl, Ernst Jünger oder Albert Camus. Ein episches Geschichtswerk, das die existenzielle Dimension des Krieges erfahrbar macht. (Klappentext)

Rezension:

Nach der Erzählung eines spannenden Stücks skandinavischer Kriminalgeschichte hat sich der schwedische Historiker und Journalist Peter Englund einem Wendepunkt der Geschichte vorgenommen und seziert die wenigen Wochen, die sich rückblickend als mit entscheidend für den Ausgang des Zweiten Weltkriegs darstellen.

Der November 1942 ließ den Mythos der unbesiegbaren Deutschen ebenso bröckeln, wie die über alles erhabene Weltsicht einiger japanischer Militärs. Zugleich zeigte sich das Organisationstalent und die wirtschaftliche Stärke Amerikas, die zum entscheidenden Faktor des Krieges werden sollte, aber auch der unbedingte Durchhaltewillen der sowjetischen Streitkräfte, die bei Stalingrad auf Entscheidung drängten, sowie die brutale Unmenschlichkeit der Vernichtungslager.

Der Autor berichtet mit der Form des literarischen Sachbuchs und bringt die Perspektiven verschiedener Beteiligter rund um den Globus zur Sprache. Beinahe liest man dies wie einen Roman, hat jedoch ein auf gründlicher Recherche gestütztes Werk, welches unzählige Facetten beleuchtet. So verfolgen wir auch die ersten Schritte auf den Weg zur Atombombe, ebenso wie Leben in ihrem Exil, sowie nur scheinbar fernab aller Fronten die Auswirkungen des Krieges spürend.

Peter Englund beschreibt die Auswirkungen des Krieges auf die von ihm gewählten Protagonisten. Fast nüchtern verfolgt er deren Weg, nimmt sich Zeit, ohne Fäden und Biografien aus den Augen zu verlieren. Eine Karte, die das Innere der beiden Buchdeckel verkleidet, verdeutlicht Dimensionen, zwei Bildteile visualisieren das Erzählte. Die Gefahr, ausschweifend zu werden, ist der Autor durch ständige Perspektivwechsel umgangen, die jedoch zuweilen zum Innehalten zwingen, da zu viele Personen es mit sich bringen, durcheinander gebracht zu werden.

Der erzählte Zeitraum ist übersichtlich, doch ist in den Wochen des November 1942 so viel passiert, dass es sich lohnt, diesen gesondert zu betrachten, wie man es mit ähnlichen zeitlichen Abschnitten des Zweiten Weltkrieges bereits getan hat, oft beschränkt auf nur einem geografischen Raum, Land oder Personenkreis.

Diese Art der Betrachtung so geführt ist dagegen nicht so häufig und kann jene ansprechen, die sonst vor Mammutwerken nüchterner Sachliteratur zurückschrecken, zugleich werden auch in Europa eher unbekanntere Ereignisse zur Sprache gebracht. Wie viel wissen wir denn tatsächlich von den Kriegsgeschehen im asiatischen Raum und dem dadurch beeinflussten Alltag der Menschen, etwa in Shanghai oder Burma, wie viel von den Kämpfen auf den Inseln im Pazifischen Ozean?

So bringt der Autor bekannte und unbekanntere neue Facetten zusammen und gibt einen Überblick, der zwar genug detailschärfe besitzt, sich jedoch nicht im Klein-Klein verliert. Dies ist eine Schwäche seines Werks, zugleich jedoch dessen größte Stärke. Anders erzählt, müsste man sich auf nur einen Schauplatz beschränken oder diese Art des Erzählens zu Gunsten eines sachlicheren Stils aufgeben. Peter Englund ist der Spagat gelungen.

Autor:

Peter Englund wurde 1957 im schwedischen Ort Boden geboren und ist ein skandinavischer Historiker und Schriftsteller. Nach Abitur und Wehrdienst studierte er Archäologie, theoretische Philosophie und Geschichte, arbeitete danach im Nachrichtendienst der schwedischen Armee. 1988 veröffentlichte er ein Buch über die Schlacht bei Poltawa, ein Jahr danach promovierte er mit einer Untersuchung des Weltbilds des schwedischen Adels im 17. Jahrhundert.


Danach war er als Journalist und Korrespondent für verschiedene Zeitungen in Kriegs- und Krisengebieten tätig, veröffentlichte zahlreiche historische Werke und war u.a. Kommentator für Dokumentationen im schwedischen Fernsehen. Seit 2009 war er Mitglied der Schwedischen Akademie, die den Nobelpreis vergibt. Ein Amt, welches er is 2015 innehatte. Mehrere seiner Werke wurden in rund zwanzig Sprachen übersetzt.

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