heimat

Pia Volk: Deutschlands schrägste Orte

Inhalt:

Die Geographin und Journalistin Pia Volk hat sich zwischen Wattenmeer und Allgäu, zwischen dem Frankfurter Mainufer und dem Sorbenland umgesehen und ist dabei auf lauter schräger und seltsame Orte gestoßen: eine Eiche mit eigener Adresse; ein fortgespültes Atlantis in der Nordsee; ein Kronleuchter in der Kölner Kanalisation; die letzte noch erhaltene Grenzschleuse für sowjetzonale Agenten. (Klappentext)

Rezension:

Was in der Ferne gut klappt, müsste doch eigentlich auch in unmittelbarer Umgebung funktionieren? Tatsächlich gibt es auch in der Mitte Europas, die von Straßen durchzogen, von Schienensträngen zerschnitten und von ausufernden Städten bestimmt ist, noch allerhand zu entdecken. Und das in einer Zeit, in der Satelliten helfen, uns überall zu orientieren und praktisch jeder Winkel, so meint man, kartografiert ist. Doch auch in der Heimat lohnt ein genauer Blick.

So begab sich die Journalistin Pia Volk auf Reise quer durch Deutschland und erkundete allerhand Kuriositäten. Versammelt sind sie nun in einem Buch.

Keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt diese Mischung aus lexikonartiger Zusammenstellung und kurzweilig kompakter Reiseberichte, die unseren Blick schärfen, für das Ungewöhnliche. Man findet es überall, entdeckt es manchmal erst aus der Vogelperspektive oder mit einem Abstieg in den Untergrund.

Wer weiß etwa von dem Kernkraftwerk, welches keines sein durfte, jedoch zu einem Freizeitparkgelände umgebaut wurde? Das andere, den einzigen Vergnügungspark der DDR und sein Überbleibsel mag man vielleicht kennen. Warum hängt ein Kronleuchter mitten in der Kanalisation Kölns und wo können Autofahrer eigentlich beten, wenn sie sich selbst dank fehlender Geschwindigkeitsbegrenzung überholen?

Pia Volk erkundet die Orte, die dem ersten Blick verborgen bleiben, deren Geschichten auf dem zweiten um so interessanter sind. Viele künden von menschlichen Schaffensdrang. Manche Gegenden haben auch eine unheilvolle Vergangenheit. Was wurde aus den Ideen von Einst, wie geht man mit ihnen heute um und wie können sie unsere Wahrnehmung von Heimat verändern? Kurzweilig und sehr informativ sind die Beschreibungenin der Form von Reiseberichten, so dass man selbst Lust bekommt, die eine oder andere Kuriosität, so sie nicht in diesem Werk vorkommt, selbst zu erkunden oder zu ergänzen, wozu die Autorin ausdrücklich auffordert.

Einiges mag bekannt vorkommen, zumal in näherer Umgebung, anderes zeigt die sozio- und städtegeografische Vielfalt unserer Heimat und ist so gesammelt eine wunderbare Ergänzung im Lexika-Bereich, die zum Schmunzeln und Nachdenken einlädt.

Autorin:

Pia Volk ist eine deutsche Journalistin. Zuvor studierte sie Geografie und Ethnologie und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Zudem veröffentlicht sie regelmäß Beiträge bei Deutschlandfunk Nova und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Mit ihrer Familie lebt sie in Leipzig.

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Hendrik Bolz: Nullerjahre

Inhalt:

Ein Plattenbauviertel in Stralsund um die Jahrtausendwende, der nordöstlichste Winkel Deutschlands. Eine Welt, die, obwohl das Land längst nicht mehr “DDR” heißt, wenig mit dem zu tun hat, was im Westen als Normalität durchgeht. Lediglich das RTL-Nachmittagsprogramm, das im Hintergrund zu hören ist, deutet darauf hin: Es sind die selben Nullerjahre.

Während die großen Brüder mit Glatze und Bomberjacke den Ton angeben, die Eltern mit eigenen Sorgen beschäftigt sind, stellen sich Hendrik und seine Freunde zwei Herausforderungen: Wie vertreiben sie sich die Zeit – und wie bekommen sie möglichst nicht auf die Fresse? Die Lösung findet sich: hart werden, stumpf werden. Die Mittel auch: Kraftsport, Drogen, Rap. (Klappentext)

Rezension:

Nach der großen Euphorie folgt zunächst die Ernüchterung. Arbeitsplätze brechen weg, wo blühende Landschaften versprochen wurden und so verlieren Hendriks Eltern und die seiner Freunde im Plattenbauviertel Knieper West den Anschluss an die Nachwendegesellschaft, während sich die Kinder und Jugendlichen ihren Platz erkämpfen. Der Weg bis ins Erwachsenenalter hinein ist steinig und voller Hindernisse. Da sind die im Viertel bekannten Schlägertypen noch das geringste Übel, immer öfter jedoch auch große Idole, denen es nachzueifern gilt, möchte man selbst nicht am unteren Ende der Rangordnung stehen. Oder am Boden liegen.

Hendrik Bolz’ biografischer Roman nimmt uns mit durch seine Kindheit und Jugend im Plattenbauviertel, in welchem sich zunächst die Probleme häufen, aber auch die Heranwachsenden ihren Weg erst finden müssen, bevor das Leben in geregelten Bahnen verlaufen kann. Bis dahin wird viel ausprobiert und so befindet sich des Autoren alter Ego hin und hergerissen zwischen Verlockungen, den ältere Jugendliche ihm aufzeigen, bis zu Versuchen, sich durchzusetzen und zwischen Richtig und Falsch zu unterschieden.

Erzählt wird dies in derber Sprache, kurze prägnante Sätze wechseln mit wirren Gedankengängen, Rückblenden und Vorausschauen. Das ist nicht leicht zu lesen, zumal, wenn man vielleicht in der gleichen Zeit, aber in einem etwas anderen Rahmen aufgewachsen ist. Wer etwas behüteter seine Kindheit und Jugend verbracht hat, wird nur bestimmte Dinge nachvollziehen können, denen sich der Protagonist ausgesetzt sieht, teilweise von der einen oder anderen Episode wirklich abgestoßen sein.

Den ersten Alkoholrausch, die erste Prügelei mag man vielleicht noch nachempfinden. Die Gewaltexzesse, die Null-Bock-Mentalität und Perspektivlosigkeit sind dem jugendlichen Ich des Schreibers der Rezension (Mir!) dagegen unbekannt. Vielleicht hatte ich diese damals nur bei anderen aus den Augenwinkeln heraus registriert.

Doch, der Protagonist beweist nicht nur Anpassungs- sondern auch eine gewisse Wandlungsfähigkeit, mausert sich. Das ist bereits zu Beginn klar, anderenfalls wäre die Lektüre stellenweise kaum zu ertragen und man hätte nichts weniger als eine zeitlich nähere Variante der “Kinder vom Bahnhof Zoo”. Wer möchte schon so etwas nochmals lesen?

Im gleichen Genre ist es jedoch angesiedelt. Die Bestsellerliste sagt Sachbuch, Elemente sind jedoch auch aus den Bereichen Biografie oder Roman zu finden. Die Wahrheit liegt da wohl irgendwo in der Mitte, ebenso wie es mehrere Wege der Generation Nullerjahre gibt. Hendrik Bolz beschreibt nur (s)eine Variante von vielen.

Autor:

Hendrik Bolz wurde1988 in Leipzig geboren und ist ein deutscher Rapper. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Stralsund und zog nach dem Abitur nach Berlin, wo er u. a. ein Praktikum bei einem Online-Portal absolvierte und nebenbei die Musik für sich entdeckte. Ein erstes Album erschien 2011, zwei Jahre später die erste EP. 2022 erschien sein erstes literarisches Werk.

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Khue Pham: Wo auch immer ihr seid

Inhalt:

Sie ist dreißig jahre alt und heißt Kieu, so wie das Mädchen im berühmtesten Werk der vietnamesischen Literatur. Doch sie nennt sich lieber Kim, weil das einfacher ist für ihre Freunde in Berlin. 1968 waren ihre Eltern aus Vietnam nach Deutschland gekommen. Für das, was sie zurückgelassen haben, hat sich die Journalistin nie interessiert. Im Gegenteil: Oft hat sie sich eine Familie gewünscht, die nicht erst deutsch werden muss, sondern es einfach schon ist.

Bis zu jener Facebook-Nachricht. Sie stammt von ihrem Onkel, der seit seiner Flucht in Kalifornien lebt, Die ganze Familie soll sich zur Testamentseröffnung von Kieus Großmutter treffen. Es wird eine Reise voller Offenbahrungen – über ihre Famile und über sie selbst. (Inhaltsangabe lt. Verlag)

Rezension:

Am besten ist es, man schreibt über das, was man kennt. Nur so wirkt die Geschichte bis ins letzte Detail glaubwürdig. Nur so entgeht man Schnitzern, die sich denen einschleichen, die sich mit der Materie nicht ausreichend beschäftigt haben oder jenen, welchen es nicht gelingt, bestimmte Emotionen auszulösen.

Mit dem vorliegenden Roman “Wo auch immer ihr seid”, von Khue Pham, gibt es nun ein Beispiel, das zeigt, wie wahr diese Regel sein kann. Der deutschen Journalistin gelingt es nämlich ganz ausgezeichnet, eine Familiengeschichte zu zeichnen, über die Zeiten und über verschiedene Perspektiven hinweg.

Es ist ein biografisch angehauchter Roman, der wohl für viele dieser Familienbiografien Pate stehen könnte. Im ältesten Sohn werden alle Hoffnungen gesetzt, ins Ausland geschickt, in die Fremde, um dann mitzuerleben, dass sich die Ereignisse zu Hause überschlagen, Familienzweige sich von einander entfernen und erst eine oder mehrere Generationen später nach dem Warum gefragt werden wird.

Die Hauptprotagonisten selbst ist, genau so wie die Autorin auch, Journalistin, die nach und nach die Geheimnisse dieser Geschichte entdeckt, und damit auch ein wenig ihren eigenen Hintergrund. Dies geschieht zunächst leise, trotz der gleich zu Beginn existierenden Sprünge zwischen den handelnden Charakteren und nicht zuletzt zwischen den Zeitebenen.

Khue Pham hat hier jedoch die richtigen Längen gewählt, so kommt man beim Lesen nicht durcheinander und kann der Erzählung folgen.

Es ist ein kompakt gehaltener Roman, der die ganzen Dramen einer Familie in wenigen Zeilen vereint. Generationsübergreifende Konflikte eben so, wie die Last von Ungesagtem, eben so menschlich kaum zu fassende Tragödien, aber auch das kleine Glück. Gleichzeitig zeigt die Autorin, wie sehr die Wahrnehmung von Außerhalb täuschen kann und Krieg nichts anderes verursacht als Leid in vielen Formen.
Über die Form des Endes der Erzählung kann man diskutieren. Ein härterer Bruch wäre etwas apssender oder ein noch überdeutlicheres offenes Ende. So wirkt dies zu gewollt. Die Protgaonistin fügt damit, gewollt ungewollt, ein neues Familiendrama ihrer eigenen Geschichte hinzu. In dieser Form wirkt das nicht stimmig.

Bis auf dieses kleinen Detail ist es aber unter den ruhigen Erzählungen ein durchaus lesenswerter Roman.

Autorin:

Khue Pham wurde 1982 in Berlin geboren und ist eine deutsche Journalistin und Autorin. Nach der Schule studierte sie in London Soziologie und arbeitete anschließend für mehrere Zeitungen und Zeitschriften, sowie als freie Journalistin, bevor sie 2009/2010 eine Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule absolvierte. Im Jahr 2010 begann sie als Politredakteurin bei der Zeitung “Die Zeit”. Für ihre Reportagen wurde sie bereits mehrfach für verschiedene Preise nomininiert. Gemeinsam mit Alice Bota und Özlem Topcu veröffentlichte sie das Buch “Wir neuen Deutschen”, im Jahr 20212. “Wo auch immer ihr seid”, ist ihr erster Roman.

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Alan Gratz: Vor uns das Meer

Vor uns das Meer Book Cover
Vor uns das Meer Alan Gratz Erschienen am: 17.02.2020 Hanser Seiten: 301 ISBN: 978-3-446-26613-1 Übersetzerin: Meritxell Janina Piel

Inhalt:

Wenn das eigene Zuhause zu einem Ort der Angst und Unmenschlichkeit wird, ist es kein Zuhause mehr.

Josef ist 11, als er 1939 mit seiner Familie aus Deutschland vor den Nazis fliehen muss. Isabel lebt im Jahr 1994 in Kuba und leidet Hunger – auch sie begibt sich auf eine gefährliche Reise in das verheißungsvolle Amerika. Und der 12-jährige Mahmoud verlässt im Jahr 2015 seine zerstörte Heimatstadt Aleppo, um in Deutschland neu anzufangen.

Alan Gratz verwebt geschickt und ungemein spannend die Geschichten und Schicksale dreier Kinder aus unterschiedlichen Zeiten. Ein zeitloses Buch über Vertreibung und Hoffnung, über die Sehnsucht nach Heimat und Ankommen. (Klappentext)

Rezension:

Unerwartet taucht zwischen den Büchern in den Regalen manchmal ein Juwel auf, was nachhaltig beeindruckt. Rar und kostbar, wenn die Protagonisten berühren und der Schreibende es schafft, seine Leser zu fesseln und nachdenklich zu stimmen. Ein solches Kunststück ist Alan Gratz gelungen. Der amerikanische Autor bringt wie kaum jemand anderes drei Geschichten, drei Zeitebenen, drei Handlungsstränge zusammen und versucht so, kaum zu Erklärendes begreifbar zu machen.

Kapitelweise wechselt die Perspektive zwischen den Zeiten. Die drei Hauptprotagonisten erzählen aus der Ich-Perspektive vom Grauen, welches sie erleben, ihren Sehnsüchten, Träumen. Wir Leser erleben, wenn Hoffnung in Verzweiflung umschlägt und Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden müssen, von jenen, die eigentlich noch Kinder sind, aber viel zu schnell erwachsen werden müssen. 1933 übernehmen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht. Die jüdische Bevölkerung wird an den Rand gedrängt.

Auch Josefs Familie sucht einen Ausweg und ergattert Tickets für das Schiff St. Louis nach Kuba. Jahrzehnte später sucht auch Isabels Familie, die in Kuba hungert und politisch bedrängt wird, nach einem Ausweg und schließlich muss 2015 auch Mahmouds Familie den Kriegswirren in Syrien entfliehen. Verbindendes Element sind Sehnsüchte und Hoffnungen, eine böse Ahnung von Gefahr, falls die Flucht schiefgehen sollte. Werden die drei Jugendlichen ihr Ziel erreichen?

Spannend und einfühlsam beschreibt Alan Gratz den Weg der drei, der anhand von gezeichneten Karten im Anhang des Romans nachvollzogen werdne, nicht zuletzt durch eine historische Einordnung des Autoren im Nachwort. Der Lesende wird mitfiebern, mitleiden.

Unerträglich die Spannung, nur ganz karg blitzen sie auf, die kleinen Momente des Glücks, das Hervorscheinen einer viel zu schnell beendeten Kindheit, nur damit das Schicksal im nächsten Moment wieder mit aller Härte zurückschlagen kann. Ja, so könnte die Geschichte von drei Kindern tatsächlich verlaufen sein. Nachvollziehbar ehrlich geht Gratz mit der Zielgruppe um, wenn auch ein paar Momente ganz klar over the top sind und nicht so recht passen mögen.

Das schmälert die Lektüre nicht und so ist dieses Werk auf einer Linie mit z.B. “Damals war es Friedrich”, von Hans Peter Richter zu nennen, wenn auch Gratz gleich mehrere Zeitebenen zu fassen bekommt. Der kontinuierliche Spannungsbogen aller drei Geschichten lässt bis zum Ende nicht locker, wird unscheinbar miteinander verwoben. Die Auflösung selbst vermag zu überraschen, wirkt wie ein Schrei und schüttelt die Leser förmlich.

Wir haben es in der Hand, nicht mehr zu zu lassen, dass sich solche Geschichte wiederholt. Alleine, uns gelingt dies nicht, wie die jüngste der drei Zeitebenen zeigt.

Wie ist das, die Heimat, die gewohnte Umgebung, Spielkameraden, eine Perspektive aufzugeben und dann ständig auf der Hut zu sein? Immer die Gefahr vor Augen, beim nächsten falschen Wort, mit der nächsten falschen Bewegung umzukommen? Beieindruckend in der Lektüre, nachhallend wie kaum anderes.

Eine unbedingte Leseempfehlung.

Autor:

Alan Gratz wurde 1972 in Knoxville, Tennessee, und ist ein amerikanischer Schriftsteller. Er studierte Kreatives Schreiben und veröffentlichte 2006 sein erstes Jugendbuch. Weitere folgten. 2017 gewann er den National Jewish Book Award. Der Autor lebt in Asheville, North Carolina.

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Sasa Stanisic: Herkunft

Autor: Sasa Stanisic

Titel: Herkunft

Seiten: 366

Genre: Biografie/Rezensionsexemplar

Format: Hardcover

ISBN: 978-3-630-87473-9

Verlag: Luchterhand

Inhalt:
“Herkunft” ist ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt. (Klappentext)

Rezension:
Einem Autoren, der den Deutschen Buchpreis bekommen hat, sollte man grundsätzlich misstrauen. So jedenfalls scheint es, wenn man die Meinungen von Feuilleton, Buchhandel und Leserschaft gegenüber stellt. Gerade Stanisics Werke polarisieren.

Doch ist es nicht die vornehmste Aufgabe eines Schriftstellers, die Leser zu zwingen, Stellung zu beziehen? Genau das tut Sasa Stanisic in seinem semibiografischen Werk “Herkunft”, welches als loses Puzzle beginnt, sich erst nach und nach zu einem schlüssigen Gesamtbild zu fügen.

Dabei sind die Themen, aus denen der im ehemaligen Jugoslawien geborene Schriftsteller schöpfen kann, vielfältig. Familie natürlich, spielt immer eine Rolle. Der Begriff “Heimat, was ist das überhaupt, sowie so.

Der Zerfall eines Staates in seine Einzelteile, sowie das Erlangen der Sprache, das Spielen mit der selben und natürlich Biografie, seine selbst und die der Großmutter, die noch in einer anderen Zeit aufgewachsen ist, bedingt durch ihr schwindendes Gedächtnis nur dort wieder Zuflucht findet.

Stanisic zeigt, was es heißt, Heimat zu verlieren, zu gewinnen, aus der Herkunft Kraft zu ziehen und das Leben zu lieben. Trotz der Unwägbarkeiten, oder gerade deshalb.

Das ist zunächst nur schwer zugänglich. Das gekonnte Spielen mit der Sprache, die nicht die erste ist, Zeitsprünge, denen man sich als Leser ausgesetzt sieht, die anfangs nur schwer nachzuvollziehen sind, Puzzelteile, die kein klares Bild ergeben.

Die ersten Seiten muss man sich erkämpfen, das erste Drittel des Werkes auf sich wirken und Schreib- und Erzählstil wirken lassen. Sasa Stanisics Perspektive ist die des Kindes, des Jugendlichen, des Erwachsenen und immer die des Suchenden. Verwirrend ist das, aber gerade zu genial.

Es ist der 7. März 2018 in Visegrad, Bosnien und Herzegowina. Großmutter ist siebenundachtzig Jahre alt und elf Jahre alt.

Sasa Stanisic: “Herkunft”

Wer die dadurch entstandenen Hürden überwindet, entdeckt eine wunderbare Erzählung, zieht Parallelen zur heutigen Zeit. Wie mag es den hunderten Flüchtlingen heute gehen, die natürlich eine Herkunft haben, eine Heimat verloren haben und eine neue suchen?

Was ist das überhaupt, Heimat? Essentielle Fragen, auf die es keine einfache, keine eindeutige Antwort geben kann. Dies zu verdeutlichen, ist Stanisics Stärke, natürlich im Zusammenhang mit dem Spiel der Sprache.

Die Stile vermischen sich. Mal biografische Erzählung, mal Aufsatz, mal Roman und am Ende gar Spielbuch. Entscheide du, wie das Geschriebene endet. Als loses Puzzle, also so, wie “Herkunft” begann, als Phantasiegeschichte des Enkels, der Großmutter oder eben als schlüssiger Roman, der es in sich hat.

Je nach Stimmung, kann man probieren, was für sich funktioniert. Toll. In Bezugnahme auf frühere Texte Stanisics, Reden, Kapitel aus anderen Büchern, zeigt dieses Werk, was so vieles sein soll, so vieles ist, dass hier ein Schriftsteller Träger des deutschen Buchpreises zurecht ist.

Der Lesende wird aus der Lektüre mit mehr Fragen entlassen, als Antworten zu bekommen. In diesem Falle, eine große Stärke.

Autor:

Sasa Stanisic wurde 1978 in Visegrad, Jugoslawien, geboren und ist ein deutschsprachiger Schriftsteller. 1992 flüchtete er mit seiner Familie nach Deutschland und studierte nachder Schule Literatur.

Für Erzählungen und Romane, erhielt er u.a. den Preis der Leipziger Buchmesse, sowie zuletzt den Deutschen Buchpreis. 2019 kritisierte er die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke.

Er ist Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg und des PEN-Zentrums Deutschland. Stanisic lebt mit seiner Familie in Hamburg. Seit 2013 ist er deutscher Staatsbürger.

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Anne-Laure Bondoux: Die Zeit der Wunder

Die Zeit der Wunder Book Cover
Die Zeit der Wunder Anne-Laure Bondoux Übersetzung: Maja von Vogel Carlsen Taschenbuch Seiten: 189 ISBN: 978-3-551-31285-3

Inhalt:

Koumail ist Franzose, so hat seine Ziehmutter es ihm erzählt. Zusammen fliehen sie vor den Kriegswirren des Kaukasus nach Frankreich, ins Land der Menschenrechte. Dabei hat er ein klares Ziel: seine Mutter wiederfinden. Eine lange Odyssee liegt vor ihm, doch Koumail verliert nie den Mut – und auch nicht den Glauben an das Glück. (Klappentext)

Rezension:

Ein junger Mann sitzt in der Abflughalle eines Flughafens und zieht einen Brief aus der Tasche und seinen Pass. Und erinnert sich. An seine Vergangenheit, seine Kindheit.

Koumail ist 12 Jahre alt als er auf der Flucht von der französischen Polizei aufgegriffen wird und hat für sein Alter schon eine Menge erlebt. Der Junge kennt nichts anderes als Chaos, Krieg, Hunger und die Ungewissheit, wie der nächste Tag sein wird, doch eigentlich sollte ihn das nicht schrecken.

Denn, eigentlich heißt er ja Blaise, Blaise Fortune und ist Bürger der französischen Republik. Doch, seine Kindheit liegt in den Kriegswirren des Kaukasus, eine Region, die man nicht verstehen kann, die er nicht verstehen muss, so seine Ziehmutter Gloria, die sich um ihn kümmert, ihn antreibt und Hoffnung gibt, dass sich eines Tages alles ändern wird, wenn sie es schaffen vor den Milizen zu fliehen.

Dann ist Gloria plötzlich verschwunden und er allein. Zum ersten Mal hat Koumail/Blaise das Gefühl, von seinem Glück in Stich gelassen worden zu sein. Eine anrührende geschichte von brutaler Aktualität ist das, was uns hier Anne-Laure Bondoux vorlegt. Eine Geschichte, die für Kinder und Jugendliche geschrieben wurde, um die Problematik begreifbarer zu machen. Falls das überhaupt möglich ist.

Und sie spricht ein Thema an, welches in den Debatten über Flüchtlingszahlen, Quoten und Unterkünften untergeht und mehr Beachtung finden muss. Egal welcher Konflikt, egal wer die Flüchtlinge sind, am meisten leiden Kinder darunter, die viel zu schnell erwachsen werden müssen und um ihre Unbekümmertheit betrogen werden.

Weil die Erwachsenen Konflikte auf ihren Rücken austrägt. Und so gibt es dann auch immer Kinder, die Eltern verlieren, die nur Krieg kennenlernen und gar unbegleitet flüchten müssen. In der Hoffnung, dass sich ihrer jemand annimmt. Auf der Flucht und irgendwann im fernen Zielland.

Traumatisch und nichts beschönigend, aus Kinderaugen, schildert Anne-Laure Bondoux ein Kinderschicksal, wie es sich zu allen Zeiten, in allen Krisenregionen der Welt abspielen könnte. Ja, gerade jetzt hundertfach abspielt. Und jetzt. Und jetzt. Und in Zukunft.

Dieser kleine Roman ist eine Mahnung an die Erwachsenen, was sie mit ihren Konflikten gerade den jungen Menschen auf dieser Welt antun und ein Fingerzeig auf die Scharfmacher, die zu gern Zahlenspiele und Schreckenszenarien durchspielen, den einzelnen Menschen dahinter nicht sehen. Eine Mahnung, einmal inne zu halten und mehr “Zeit der Wunder” zu zulassen, gerade die Jüngsten unter den Flüchtlingen aufzunehmen und willkommen zu heißen.

Der Schreibstil lässt flüssiges Lesen zu, ist einfühlsam und ehrlich. Nichts wird beschönigt. Bondoux lässt aber dem Protagonisten den Glauben an eine bessere Zukunft und dem Leser das Gefühl, dass es wichtig ist, nie aufzugeben und immer zu hoffen.

Ein Roman zu einer schwierigen Thematik und dennoch überwiegend positiven Grundstimmung, bei der man nicht umhin kann, den Protagonisten Koumail/Blaise ins Herz zu schließen. Zwar weiß man schon am Anfang die Lösung, doch der Weg Koumails ist hier das Ziel und um so beeindruckender dargestellt.

Natürlich ist es eine erfundene Geschichte, doch sie findet so oder ähnlich praktisch täglich statt. Sollte nicht dafür gesorgt werden, dass diese einen positiven Ausgang finden?

Autorin:

Anne-Laure Bondoux wurde am 23. April 1971 in Box-Colombes, Frankreich, geboren und ist eine französische Schriftstellerin. Sie studierte Moderne Literaturwissenschaften und arbeitete seit 1996 für verschiedene Literatur-Fachzeitschriften.

Seit 2000 ist sie selbstständige Autorin und setzt sich für die Förderung von Lesen und Schreiben bei verhaltensauffälligen Kindern ein und veranstaltet für diese Schreibwerkstätte. Ihre Werke wurden mehrfach übersetzt und vielfach ausgezeichnet.

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Steffen Möller: Viva Warszawa

Viva Warszawa Book Cover
Viva Warszawa Steffen Möller Malik Erschienen am: 01.08.2016 Seiten: 296 ISBN: 978-3-89029-459-9

Inhalt:

Lässige Strandbars am Flussufer, phantasievolle Biomärkte, eine kochende Klubszene und über 400 Kilometer Radwege, nicht zu vergessen der schönste Wolkenkratzer diesseits des Atlantiks! Steffen Möller, der sich vor gut zwanzig Jahren in Polen verliebte, lädt uns in seine Wahlheimat ein, die heute so attraktiv ist wie nie zuvor.

Er verrät, warum die Warschauer über ihre Einmachgläser lachen und in ganz Polen als trickreiche Kombinierer gelten. Wer schon einmal über die Grenze geschaut, aber außer Zigaretten eigentlich nichts mitgebracht hat, bekommt jetzt eine zweite Chance…

Rezension:

Es gibt wohl kaum ein Land im östlichen Europa, was bei uns Deutschen mit so vielen Vorurteilen zu kämpfen hat, wie Polen. Ich selbst kenne eine Geschichte, tatsächlich passiert, wo übernacht von einer Baustelle ein ganzer Baukran verschwand und auch dem polnischen Tourismusverband wird ja der Spruch angelastet: “Reisen Sie nach Polen.

Ihr Auto ist schon dort.” Und so hat das Land an der Weichsel einen einigermaßen schweren Stand, zumal der Hauptgrund nach Polen zu fahren, jahrelang der günstige Handel an der Grenze war und nicht etwa die malerischen Strände und Buchten an der Ostsee oder die ursprünglichen Dörfer und Wälder im Landesinneren.

Auch die Städte Polens waren nicht unbedingt Reiseziel Nr. 1, doch dieses Land hat all das und vieles mehr zu bieten. Allen voran Warschau. Die quirlige Metropole erstaunt Touristen, verärgert nicht-hauptstädtische Polen, provoziert und begeistert, zeigt seine Facetten nicht gleich, sondern erst auf dem zweiten Blick.

Steffen Möller nimmt uns mit auf eine phantastische Führung in einer der verkanntesten Städte Europas. Der Autor gibt Ausflugs- und Geheimdienst, läd ein, sich mit der Geschichte der stadt zu beschäftigen und erläuert Kuriositäten.

Warum ist die Altstadt alles, nur nicht alt? Wo gibt es die besten Pfannkuchen in ganz Polen? Die Liebe zu Chopin und die Lieblingsfeindschaft Krakau-Warschau.

Der Unterschied zwischen Deutschen und Polen und warum man sich eigentlich ganz ähnlich ist und welche unbekannten Episoden der Geschichte jedes polnische Schulkind zu nennen weiß, von denen ein Deutscher keine Ahnung hat?

Warum ist der Koloss von Warschau so beliebt und weshalb wächst inmitten der stadt eine Palme? Bei diesem Klima.

Der Autor reiht Episode an Episode, nie langweilig, immer authentisch, manchmal spannend, oft witzig aneinander und hat mit “Viva Warszawa” ein Buch für beide geschrieben. Polen und Deutsche, die sich näher sind als sie denken.

Früher führte man Kriege, heute pflegt man Kontakte und wirtschaftliche Beziehungen, lernt voneinander und kennt doch den Nachbarn nur wenig. Möller nimmt mit seinem Buch, welches man zur Unterhaltung, als Einstimmung auf den nächsten Städtetrip, Tippgeber, gar als Reiseführer lesen kann in diese pulsierende Stadt, die zu faszinieren vermag.

Dem Leser wird danach das Reisefieber packen und die Lust, all das selbst anzusehen und zu erleben.

Autor:

Steffen Möller wurde 1969 in Wolfhagen geboren und wuchs in Wuppertal auf. Er zog 1994 nach Warschau. Als Schauspieler und Entertainer ist er der bekannteste Deutsche in Polen, war vorher als Deutschlehrer tätig.

Für sein Wirken um die deutsch-polnische Verständigung wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Er ist Autor mehrerer Bücher und lebt seit 2010 teils in der deutschen, teils in der polnischen Hauptstadt.

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