Gedächtnis

Masha Gessen/Misha Friedmann: Vergessen

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Vergessen Masha Gessen/Misha Friedmann dtv Erschienen am: 28.02.2019 Seiten: 160 ISBN: 978-3-423-28172-0

Inhalt:

In Kolyma, im Osten Sibiriens, leben Menschen, die die Geschichte vergessen zu haben scheint. Unter stalin als Zwangsarbeiter in die Uranminen deportiert, konnten sie sich dei Heimreise nach der Freilassung nicht leisten und leben bis heute neben den verfallenden Ruinen des Massenmords. Die preisgekrönte Journalistin Masha Gessen und der Fotograf Misha Friedman sind auf der Suche nach den Spuren des Gulag nach Russland gereist.

Sie haben die letzten Überlebenden und Angehörige der Opfer in Kolyma getroffen, haben in der Strafkolonie Perm aufgespürt, was heute noch vom System der Unterdrückung zu finden ist, und waren in den Todeswäldern Kareliens. mit den Mitteln des genau beobachtenden Journalismus und der Schwarzweißfotografie halten Gessen und Friedman fest, was im heutigen Russland, dem Putin ein Bild von Macht und Herrlichkeit verordnet hat, keinen Platz findet. “Vergessen” ist ein Mahnmal der Erinnerung an den Archipel Gulag. (Klappentext)

Rezension:

Vergleichsweise schmal kommt dieser Band daher und präsentiert sich als Coffe Table Book, mit seinen schönen, jedoch sehr erdrückenden Schwarzweisfotografien. Doch, anders als die Wohlfühlbücher mancher Kataloge, erzählen die Bilder und dazugehörigen Texte die Geschichte von Verzweiflung und Leid, der in der Stalinzeit Verurteilten und in die verbannung geschickten Bevölkerung.

Jeden konnte es treffen, ob Parteimitglied, einfacher Angestellter, Bauer, ganz egal. Die Schätzungen der Opferzahlen reichen von Hunderttausenden bis hin zu Millionen. Viele verschwanden in den Lagern Sibiriens. Kolyma, ein Schreckens(w)ort.

Als der Nachfolger des “Stählernen”, Chruschtschow, die Verbrechen öffentlich machte, viele Häftlinge, längst nicht alle amnestierte, standen diese vor dem nichts. Viele konnten nicht mehr in ihre alte Heimat zurück. Sie blieben dort, wo sie waren. Ihre Nachfahren leben zum Teil heute noch dort.

Die Journalistin Masha Gessen und der Fotograf haben sich aufgemacht, in die Wälder Kareliens und in den sibierischen Osten des Landes, stießen auf Überreste des Schreckes und den Versuch, Erinnerung zu wahren und zu interpretieren.

Wie gedenkt man den Opfern der Stalinzeit im heutigen Russland, welchen Umgang pflegt man mit den taten und warum fällt eine Aufarbeitung dessen, was geschah, so schwer? Mit den Blick für’s Wesentliche besuchten die beiden Autoren Nachfahren der Verbannten und Menschen, die die offizielle Politik Russlands übernommen haben und so die Gedinkrichtung des Landes bestimmen.

Ein Gang durch einen Park gestürzter Skulpturen gehört ebenso dazu, wie eine Lagerstätte, die zum Süpielplatz mit historischen Kolorit für Putins Nationalisten avancierte.

Was bleibt übrig und welcher Umgang mit Geschichte ist der Richtige? Wie Gedenken in einem Land, in der es zu viele Täter gab, die Opfer waren und umgekehrt? Der Eindruck eines eigenwilligen und bezeichnenden Geschichtsverständnisses, gekoppelt mit den Schicksal der Menschen, auf deren Rücken ein Konflikt um die historische Wahrhaftigkeit ausgefochten wird.

Der Leser bleibt indes ratlos zurück. Für ihr Werk haben Gessen und Friedman den Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung 2019 bekommen, und werfen damit mehr Fragen auf, als sie beantworten können. Immerhin wird das Blickfeld ungemein erweitert. Aber, ob das ausreicht?

Autoren:

Masha Gessen wurde 1967 in Moskau geboren und emigrierte Anfang der 1980er Jahre mit ihren Eltern in die USA. Nach Ende der Sowjetunion berichtete sie als Journalistin aus der russischen Hauptstadt und gilt als eine der Stimmen der Opposition gegen Wladimir Putin.

Ihre Biografie über ihn war ein internationaler Bestseller. Sie bekam den National Book Award verliehen und den Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung (2019). Sie lebt mit Frau und zwei Kindern in New York City und schreibt für The New Yorker und The New York Times.

Misha Friedman wurde 1977 geboren, auf den Gebiet der heutigen Republik Moldau. Auch er emigirerte, studierte zunächst Wirtschaft und Internationale Beziehungen in Großbritannien und den USA. On seiner Arbeit als Fotograf beschäftigt er sich mit der Ukraine und Russland, mit Korruption und Patriotismus.

Für seine Arbeit erhielt er u.a, den Preis des Pulitzer Center on Crisis Reporting. Friedman lebt ebenfalls mit seiner Familie in New York City, arbeitet für diverse Zeitungen und Zeitschriften. In Deutschland erschienen seine Arbeiten u.a. in der Zeitschrift Der Spiegel.

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Andreas Steinhöfel: Anders

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Anders Andreas Steinhöfel Koenigskinder/Carlsen Erschienen am: 21.10.2014 Seiten: 237 ISBN: 978-3-551-56006-3

Handlung:

Nach dem Unfall sind Zeit und Welt aus den Fugen. 263 Tage liegt Felix Winter im Koma, exakt die Anzahl jener Tage, die seine Mutter vor elf Jahren mit ihm schwanger war. Dann erleben die Menschen um ihn herum ein Wunder: An einem prächtigen Sommertag kehrt der Winterjunge zurück ins Leben.

Und nennt sich von nun an anders, nämlich Anders. Er hat keinerlei Erinnerung mehr an die Zeit vor dem Unfall oder an den Unfall selbst … Und es gibt jemanden, der alles dafür tun wird, dass das so bleibt. (Klappentext)

Rezension:

Es ist der Fluch aller guten Autoren, dass man sie an ihren größten erfolgen misst. Auch Andreas Steinhöfel kann wahrscheinlich ein Lied davon singen.

Seine “Rico, Oskar und…”-Reihe ist witzige und anspruchsvoll unterhaltende Kinder- und frühe Jugendliteratur, die schon vor der Verfilmung des ersten Teils populär gewesen ist und dadurch noch einmal einen ungeheuren Schub bekommen hat.

Daneben laufen nicht weniger gute Werke, folgt man der Vielzahl von Rezensionen wie etwa “Beschützer der Diebe” oder “Dirk und ich”, sein Erstling und nun auch noch “Anders”. Wobei “Anders” wirklich anders ist.

Die Geschichte um den verunfallten Jungen, der ins Leben zurückkehrt, die Welt um sich herum anders wahrnimmt und infolge dessen, ebenso anders wahrgenommen wird, ist Abenteuer, Roman, ein wenig Krimi und vor allem ein gutes Jungenbuch für Groß und vor allem Klein.

Der Schreibstil lässt ein Lesen ohne Stolperfallen zu, es wird dennoch kein Blatt vor den Mund genommen und die Seiten fliegen nur so dahin.

Tatsächlich dürften selbst langsame Leser diesen Kinder-Roman innerhalb weniger Tage durch haben und dabei erleben, wie es sich für Felix und seine Umgebung anfüllt, wenn er nicht mehr Felix ist.

Sondern Anders.  

Der Autor schafft es hier, für ein Kinderbuch beinahe mit Seltenheitswert, die Figuren vielschichtig zu gestalten, niemand ist nur gut oder böse, selbst Felix nicht, seine Freunde oder die Erwachsenen.

Alltagsprobleme, wie die Beziehungsprobleme der Eltern werden nicht unter den Teppich gekehrt. Eine Sache mit der sich heutzutage viele Kinder herumschlagen müssen und nicht zuletzt die Entscheidung zwischen Richtig oder Falsch, die auch Felix “Anders” treffen muss. Ohne dass Steinhöfel einen Zeigefinger erhebt.  

Als wäre das nicht alles Grund genug dafür, es zu lesen, empfehle ich dieses Werk auch wegen seiner Illustrationen und der Aufmachung. Peter Schössow hat hier ganze Arbeit geleistet.

Angefangen vom Titelbild, den goldfarbenen Schriftzügen und Seitenzahlen und den gelb-schwarzen Bildern am Anfang eines jeden Kapitels bis hin zum goldenen Lesebändchenist das auch ein eleganter Hingucker im Regal.

Andreas Steinhöfel hat geschafft, was er mit diesem Buch erreichen wollte. Nämlich nicht nur der Vater von Rico und Oskar zu sein sondern auch mal der Vater von jemand “Anders”.

Autor:

Andreas Steinhöfel wurde 1962 in Battenberg, Hessen, geboren und studierte später Biologie und Englisch auf Lehramt. Danach wechselte er zu Anglistik, Amerikanistik und Medienwissenschaften an der Universiät Marburg. Sein erstes Jugendbuch “Dirk und ich” erschien 1991.

Seine bekanntesten Werke sind “Paul Vier und die Schröders”, die Rico-und-Oskar-Reihe. Er übersetzte zudem zahlreiche Kinder- und Jugendbücher ins Deutsche, einige seiner Werke wurden inzwischen verfilmt und gewannen, wie seine Bücher (Deutscher Jugendliteraturpreis 2009) einige bedeutsame Auszeichnungen. Heute lebt er im mittelhessischen Biedenkopf.

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