Briefmarken

Autoren-Interview auf der Leipziger Buchmesse 2018: Björn Berge und die Briefmarken

NH: Herzlich willkommen auf der Leipziger Buchmesse. Bei mir ist Björn Berge, Autor des Buches „Atlas der verschwundenen Länder“ (erschienen bei dtv). Sie sammeln Briefmarken und Treibgut, hobbymäßig eher eine ungewöhnliche Kombination. Wie sind Sie auf dieses doch sehr spezielle Sammelgebiet gekommen?

BB: Ich werde langsam älter und habe daher beschlossen, anstatt selbst die Welt zu bereisen, diese zu mir kommen zu lassen. Vor 20 Jahren habe ich damit begonnen, jeden Sommer ein Stück der europäischen Küste entlang zu gehen und wollte mir die ganze Küste Bucht für Bucht, Strand für Strand erwandern. Ich habe im äußersten Norden Dänemarks damit begonnen und bin bis südlich von Le Havre gekommen. Das Ziel war, für mich die Welt zu erobern.

NH: Die Kontinente umrunden und damit zu erfahren?

BB: Genau.

NH: Das Sammelgebiet Briefmarken. Was können uns Briefmarken in Zeiten von E-Mails und WhatsApp heute erzählen?

BB: Briefmarken sind schon immer Propaganda gewesen. Das erste, was ein Herrscher macht, wenn er an die Macht kommt, ist es, Briefmarken zu veröffentlichen, manchmal waren die auch schon vorher fertig, und die stellen das Land natürlich immer so dar, wie er es sehen möchte. Stärker, vielleicht auch netter, demokratischer oder liberaler.

NH: Es geht um Macht und Wirtschaft, Geschichten die sich auf Grundlage der Motive, des Materials, erschließen. Wie sind Sie auf die erste Briefmarke gestoßen? Was war ausschlaggebend dafür, zu sagen, das ist ein interessantes Sammelgebiet, das verfolge ich weiter?

BB: Die Motive können lügen, aber das Material und die Beschaffenheit nicht. Ich beschäftige mich sehr mit den Sinneseindrücken, welche mir eine Briefmarke erzählt. Der Leim, die Beschaffenheit und vielleicht Geruch. Ich habe die Briefmarkensammlung von meinem Vater übernommen. Ich habe sie wieder entdeckt, als ich gemerkt habe, dass ich nicht mehr selbst so um die Welt laufen kann und mir dann diese Sammlung angeschaut. Ich habe gemerkt, was ich da wertvolles habe. Nicht im Sinne von Geld, sondern was ich da für Geschichten in den Händen halte, quasi einen Weltatlas.

9783423281607
Autor: Björn Berge
Titel: Atlas der verschwundenen Länder
Seiten: 239ISBN: 978-3-423-28160-7
Verlag: dtv
Link zur Rezension: hier klicken

NH: Sie beschreiben, dass Sie vor allem gebrauchte Briefmarken sammeln, aus denen Sie die Geschichten ziehen. Ein Sammler sammelt für gewöhnlich neue oder zumindest gut erhaltene Briefmarken. In ihrem Buch stellen Sie Briefmarken vor, die deutliche Gebrauchsspuren haben. Mal ein Riss, mal fehlen Zacken. Ist das auch ein Weg, diese Länder zu erfahren?

BB: Definitiv. Ich bezeichne diese Art von Sammeln als „punksammeln“. Die Benutzung und die Benutzungsspuren sind das, was mich am meisten interessiert.

NH: Welches ist die kurioseste Geschichte, die Sie gefunden haben?

BB: Das ist wohl die der Briefmarke von Helgoland, welches zu dieser Zeit Heligoland hieß und britisch war. Die habe ich von meinem Vater geerbt. 1870 war Helgoland ein bekanntes Heilbad, ein Kurort, wo die Aristokratie aus ganz Europa hinkam.

Sie haben die Gäste mit Pferdewagen an den Strand gefahren, dort zwei Stunden an der frischen Seeluft stehen lassen und dann wieder ins Hotel gebracht. Wenn ich die Briefmarke in meiner Hand erwärme, etwas reibe und daran rieche, kann ich immer noch den Geruch von kräftigem Massage-Öl wahrnehmen, was von dem Kurort zeugt.

NH: Das machen Sie aber nicht oft, da sonst die Briefmarke kaputt geht?

BB: Das sind einzigartige Erinnerungen. Vielleicht ist es sogar die allerletzte Spur des Helgoländer Duftes, da die Insel im Krieg komplett zerbombt wurde.

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NH: Die Geschichte von Helgoland lässt sich anhand von Archiven oder Reiseberichten nachvollziehen, es gibt aber auch Marken, wo es ziemlich schwierig war, deren Geschichten zu erfahren. Wie sind Sie da vorgegangen, um diese zu erfahren?

BB: Ich analysiere zuerst die Motive der Briefmarken und versuche, die Lüge dahinter zu finden und darauf baue ich dann die Geschichten auf, die ich hier erzähle.

NH: Wir haben hier Geschichten von Kolonialherren, Herrschern und Hochstaplern. Heutzutage werden immer weniger Briefe oder Postkarten verschickt. Wenn die Briefmarke aus unserem Alltag verschwindet, was fehlt dann künftig?

BB: Das ist sehr schade, denn Briefmarken sind Teil einer sehr intimen Kommunikation.

NH: In ihrem Buch stellen Sie nicht nur die Geschichten hinter den Marken vor, sondern auch Reiseberichte oder auch Kochrezepte aus den jeweiligen Ländern. Wo war jetzt die Recherche besonders schwierig?

BB: Es war eine phantastische Entdeckungsreise, dieses Buch zu schreiben. Fast jeden Morgen bin ich quasi in einem anderen Land aufgewacht, ohne genau zu wissen, wo ich hinkam. Im Dschungel, an den Stränden oder in Eis und Schnee.

NH: In ihrem Buch stellen Sie exemplarisch 50 Briefmarken vor. Die Geschichte ist sicher noch nicht zu Ende erzählt. Das Sammelgebiet ist riesig. Haben Sie einen Überblick, wie viel ihnen noch ungefähr fehlt?

BB: Ich habe das mal ausgerechnet. Es gibt ungefähr 1175 Länder, die seit dem Erscheinen der ersten Briefmarke, der „One Penny Black“ von 1840, Marken herausgegeben haben. Ich besitze ungefähr 750 davon.

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Die Briefmarke von Heligoland. (dtv)

NH: Also wird das Sammeln dieser Marken noch eine Weile beschäftigen. Gibt es noch andere Sammler, mit denen Sie sich austauschen können? Die jetzt dieses spezielle Sammelgebiet haben?

BB: Meine Methode zu sammeln ist wirklich einzigartig. Ich kann mich da nicht mit konservativen Briefmarkensammlern austauschen. Bei denen muss alles perfekt sein. Die Perforation, der Stempel muss richtig sitzen, sie sollen möglichst wenig Gebrauchsspuren vorweisen. Meine Sammlung ist das krasse Gegenteil davon. Das ist für mich ein großer Vorteil, da ich sie günstig bekomme, manchmal sogar geschenkt.

NH: Sie gehen auf die Farbe ein, den Leim, das Papier. Gibt es so etwas wie eine Entwicklung, dass jetzt z.B. in Europa ein bestimmter Leim verwendet wurde, in Asien wieder etwas anderes?

BB: Es ist gleichzeitig eine Kulturgeschichte der Briefmarke und der technischen Historie des Druckes. Nicht gerade chronologisch, aber das war ja auch nicht meine Absicht.

NH: Dieses Buch enthält nur eine kleine Auswahl an Briefmarken, im Gegensatz zu ihrer Sammlung. Es gibt sicher noch viele interessante Geschichten zu erzählen. Gibt es diesbezüglich Pläne?

BB: Die Auswahl der Briefmarken ist ein wenig zufällig, aber ich habe versucht, sie sowohl geografisch als auch zeitlich über den Globus zu verteilen, damit es nicht zu einseitig wird und wirklich eine Art Weltgeschichte daraus entsteht. Dadurch ist eine Art Parallelgeschichte zu der offiziellen entstanden, da sie aus der Perspektive der Länder erzählt wird, die schlicht und einfach zu kurz gekommen sind, da sie untergegangen sind. Es ist eine Art Gegenstück zu Darwins „Survival of the Fittest“.

Link zur Leseprobe. (dtv)

NH: Sie haben von der Geschichte Helgolands gesprochen. Gab es eine Geschichte, die Sie besonders überrascht hat, von der Sie nicht geahnt hätten, dass Sie so passiert ist?

BB: Eine schwierige Frage, denn ich war an sich fast immer überrascht. Die Reise war improvisiert, und eigentlich habe ich nur meine eigene persönliche Erfahrung erzählt.

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Der Autor Björn Berge über Briefmarken und die faszination für ihre Eigenschaften.

NH: Gibt es so etwas wie einen Favoriten unter Ihren Briefmarken?

BB: Auch hier sind die Briefmarken genannt, an denen ich die meisten Spuren entdecken kann. Deshalb gehört die Marke von Heligoland zu den Favoriten, aber es gibt natürlich auch noch andere. Die, die die schönsten Geschichten erzählen.

NH: Ist es frustrierend, ein Sammelgebiet zu haben, was man praktisch nicht vollenden kann oder glauben Sie daran, dass Sie das schaffen?

BB: Es ist ähnlich meinem Strandprojekt. Ich bin ungefähr zwei Prozent meines Weges gekommen, aber die Erfahrung kann ich nutzen, um meinen eigenen Maßstab anzulegen, die Welt zu erkunden.

NH: Der Weg ist das Ziel?

BB: Genau.

NH: Herr Berge, ich bedanke mich für das Gespräch.

Das Interview ist redaktionsrechtlich geschützt und darf ohne Genehmigung weder kopiert, noch andersweitig vervielfältigt oder verwertet werden. Alle Rechte liegen bei dtv und findosbuecher.com.

Ich danke den Verlag und seinen freundlichen Mitarbeitern, den Übersetzer, ohne den das Interview nicht zustande gekommen wäre und nicht zuletzt Björn Berge für diese spannende halbe Stunde.

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Björn Berge: Atlas der verschwundenen Länder

Atlas der verschwundenen Länder Book Cover
Atlas der verschwundenen Länder Björn Berge Verlag: dtv Erschienen am: 09.03.2018 Seiten: 239 ISBN: 978-3-423-28160-7

Inhalt:

Es gibt unzählige Länder, die im Laufe der Zeit wieder von den Landkarten verschwunden sind, und von vielen ist nichts geblieben. Björn Berge hat sich für diesen Atlas der anderen Art von seiner Briefmarkensammlung inspirieren lassen.

Angeregt von diesen kleinsten Dokumenten der Welt hat er sich auf eine spannende Spurensuche begeben und lässt alte Länder und Zeiten wieder auferstehen. Es finden sich bekannte Namen wie Helgoland, Schleswig und Danzig ebenso wie extische, darunter Inini, Sazan oder Kap Juby. (Klappentext)

Rezension:
Es gibt viele Arten Macht auszuüben und zu zeigen, Briefmarken heraus- und in den Druck zu geben, war viele Jahrhunderte eine davon. Sie zeigen, wer gerade zu jener Zeit die politische und wirtschaftliche Macht innehatte, die Art des Druckes lässt auf die Eigenheiten jener Regionen, den Wünschen und Vorstellungen ihrer politischen Führer, Ansprüche erkennen.

Das Material z.B. der Farbe, des Papiers, des Klebers auf die Voraussetzungen, auf die man sich örtliche einlassen musste. Ein gefülltes Briefmarkenalbum erzählt Geschichten von Städten, Ländern, und Politik, in aller erster Linie jedoch von denen, die sie benutzten.

Björn Berge hat sein Briefmarkenalbum hervorgeholt und dabei besondere Wertzeichen genauer unter die Lupe genommen. Der Autor nimmt seine Leser mit in längst vergessene Zeiten, Länder, die es nicht mehr gibt. Wie mit dem in etwa vergleichbaren “Atlas der erfundenen Orte” von Edward Brooke-Hitching, ist mit den vorliegenden Werk dem dtv-Verlag ein erneuter Coup gelungen.

Das Sachbuch, welches sich auf den ersten Blick mit einem etwas langweiligeren Thema bechäftigt, offenbart, wie einst die Welt ausgesehen hat und welche Macht- und Ränkespiele sich überall auf unseren Planeten über die jahrhunderte lang abgespielt haben.

In Form von Postwertzeichen, nicht unbedingt wertvoll, gebraucht und zerschlissen sowie so, erzählt der Autor ihre Geschichte, die heute fast vergessen ist. In kurzweiligen, jeweils gerade einmal ein paar Seiten langen Kapiteln, begibt sich der norwegische Autor auf Spurensuche.

Ergänzt durch Personengeschichte und immer mit Quellenangabe weiterführender Literatur, manchmal auch ortsüblichen Kochrezepten und Berichten von damals dort lebenden Personen, ist eine bunte Mischung von Geschichten entstanden, die vom kurzen oder längeren Leben der Länder erzählen, die sich so selbstsicher fühlten, um eigene Briefmarken herauszugeben, und doch heute im Nirvana der Geschichte verschwunden sind.

Detailliert beschreibt der Autor die im Mittelpunkt stehenden Marken und offenbart, dass sie keineswegs nur dröges Papier darstellen, sondern Gegenstände, die etwas zu erzählen haben.

Es ist ein Buch für Sammler und Fans mitunter kurioser, aber immer auch spannender Geschichtsschreibung, die von wechselhaften Mächteverhältnissen, Glücksrittern und Pechvögeln, kolonialen Größenwahn und Entdeckerstolz erzählt, aber auch von den Unglücken, mitunter in recht kurzer Zeit, von den Landkarten und damit vom Tableau der Weltgeschichte zu verschwinden.

Immer mit Weitblick, so manches Mal mit Stirnrunzeln und oft mit einer Brise Scharfsinn und Humor liegt mit dem “Atlas der verschwundenen Länder” ein besonderes Geschichtsbuch vor, welches dazu anregt, seine eigene (oder geerbte) Briefmarkensammlung hervorzuholen und auf Entdeckungstour zu gehen.

Vielleicht finden sich ja noch mehr spannende Geschichten, die es zu erzählen gilt?

Autor:
Björn Berge ist ein norwegischer Architekt und Wissenschaftler, der eine Leidenschaft für’s Wandern und dem Sammeln von Treibgut hegt. Sein zweites großes Projekt ist eine Sammlung von Briefmarken, von allen Ländern, die je auf der Erde existiert und welche herausgegeben haben.

Im vorliegenden Buch stellt er eine Auswahl von Briefmarken und deren Geschichten vor.

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