Gesellschaft

Harald Meller/Kai Michel: Das Rätsel der Schamanin

Inhalt:

Eine Frau, ein Kind, Todesumstände ungeklärt. Von den Nazis entdeckt und für ihre zwecke missbraucht, versank das 9000 Jahre alte Grab in Vergessenheit. Nun wird der Cold Case mithilfe modernster Wissenschaft aufgeklärt. Die Ergebnisse machen die Schamanin von Bad Dürrenberg zu einem der aufregendsten archäologischen Funde Europas.

Die Bestsellerautoren Harald Meller und Kai Michel brechen auf zu einer Reise in eine fantastische Welt, in der sich das Schicksal der Menschheit entschied.

Sie präsentieren einen archäologischen Krimi erster Güte, der tiefe Einsichten in unsere Ursprünge bietet. Selten war Menschheitsgeschichte so aktuell und bedeutsam wie im Fall dieser geheimnisvollen Frau. Schon zu Lebzeiten war sie eine Legende – und ihre Macht wirkte weit über den Tod hinaus. (Klappentext)

Rezension:

Funde aus längst vergangenen Zeiten vermögen uns heute noch in Erstaunen zu versetzen, nicht zuletzt, wenn sie in unmittelbarer Umgebung passieren. So geschehen in Sachsen-Anhalt, in der Umgebung von Bad Dürrenberg, wo man in den 1930er Jahren das Grab einer Doppelbestattung aus dem Mesolithikum, der Mittelsteinzeit, fand. Das besondere hier, die Grabbeigaben, woraus die Entdecker ihre eigenen Schlüsse zogen, damals ihrer eigenen Ideologie untergeordnet.

Doch was erzählt uns das Grab der Schamanin wirklich? Wer waren Frau und Kind, die dort gefunden wurden? Wie lebten sie? Warum die zahlreichen Beigaben? Was kann uns dieser Fund über das Gestern und Heute erzählen? Der Retter der Himmelsscheibe von Nebra, Harald Meller und der Autor Kai Michel haben sich auf Spurensuche begeben. Eine spannende Reise, nicht nur zu unseren Anfängen.

Dies ist der Ansatz dieses durchaus thematisch interessanten Sachbuchs, in welchem man der Begeisterung seiner Autoren in jeder einzelnen Zeile nachvollziehen kann. Beschrieben wird zunächst einmal, wie Wissenschaft funktioniert, welche Techniken heute im Gegensatz zu noch vor ein paar Jahren uns heute zur Verfügung stehen, um Fragen zu klären und Erkenntnisse gewinnen, aber auch wie systematische Arbeit eine von Ideologien durchzogene ersetzt hat, um die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.

Mit der notwendigen Expertise gehen die beiden Autoren nicht nur einem Stück Geschichte der Archäologie auf den Grund, sondern dröseln anhand ihrer Erkenntnisse auch das Leben auf, wie es die Begrabenen geführt haben könnten. Erstaunt registriert man da, was heute mit modernster Wissenschaft und Analyse möglich ist, sich zu erschließen.

Natürlich ist aber Archäologie vor allem zunächst einmal das Aufstellen von Theorien und Modellen. Auch dies wird sehr ausführlich dargestellt. Das wirkt sich negativ auf die Lesbarkeit des Textes aus, der vollkommene Konzentration erfordert. Ausschweifend geht es dabei vor allem zu Beginn um die Begrifflichkeit, was ist überhaupt eine Schamanin? Gibt es eine Definition? Darf man diese überhaupt noch so verwenden, wie sie ursprünglich verwendet wurde? Welche Vorstellungen lassen sich damit verbinden? Woher stammen diese? An manchen Stellen führt dies zu einer Überladung, die kurzzeitig zwingt, innezuhalten und sich zu sortieren.

Da hilft es auch nicht, dass eine Auflockerung anhand mehrerer Zeittafeln und ausgewählten Bildmaterials versucht wird. Diese Veröffentlichung bewegt sich an der Grenze zwischen populärwissenschaftlicher und vollkommen fachlich geneigter Literatur, rein von der Lesbarkeit des Textes, was man wissen sollte, bevor man sich darauf einlässt. Der Informationswert ist jedoch unbestritten vorhanden.

Die Autoren schaffen es, Schauplätze, die Mittelsteinzeit an sich und Archäologiegeschichte wieder aufleben zu lassen, zeigen nebenbei wie Wissenschaft und Diskurs in diesem Kontext funktionieren. Das ist vielleicht das größte Verdienst des Werks. Wer beim Lesen sich nicht an manchen Längen stört, wird eine Lektüre mit Gewinn vorfinden. Und neuen Perspektiven, wie sie einst die Schamanin von Bad Dürrenberg ihren Mitmenschen gegeben hat.

Autoren:

Harald Meller wurde 1960 geboren und ist ein deutscher Archäologe und Historiker. 1981 begann er ein Studium der Vor- und Frühgeschichte, provinzialrömischer Archäologie und Ethnologie in München und Berlin, welches er 1987 abschloss. 1993 promovierte er und war seit 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Vor- und Frühgeschichte in Köln.

1995-2001 war er Gebietsreferent im Landesamt für Archäologie Sachsen, anschließend Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, sowie Direktor im Museum für Vorgeschichte in Halle. Seit 2004 ist er Direktor des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, anschließend Honorarprofessor für die Archäologie Europas in Halle. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er im Zusammenhang mit dem Fund der HImmelsscheibe von Nebra bekannt.

Kai Michel wurde 1967 geboren und ist ein deutscher Historiker und Literaturwissenschaftler, der bereits mehrere Werke zu geschichtlichen und archäologischen Themen veröffentlicht hat. Sein Werk “Die Himmelsscheibe von Nebra” ist eines der erfolgreichsten Archäologie-Bücher der letzten Jahre.

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Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

Inhalt:

Waren die Wikinger wirklich die brandschatzenden Seefahrer und gewaltsamen Eroberer aus den Legenden? Der weltweit renommierte Experte Neil Price schreibt gegen die gängigen Vorurteile an und macht sich auf die Suche nach den echten Menschen hinter dem Mythos. Basierend auf neuesten archäologischen Funden, zahllosen Textquellen und nicht zuletzt der nordischen Mythologie selbst zeigt er uns die Wikinger erstmals so, wie sie selbst sich sahen.

Fundiert und überraschend lebendig schildert er ihr Alltagsleben und ihre reiche Kultur: Wie übten sie ihrer Religion aus, wie gestalteten sie Politik? Welche Rolle hatte die Frau, und wie zentral war Gewalt? Von Eirik I., genannt Blutaxt, der sich den norwegischen Thron erkämpfte, bis zur isländischen Entdeckerin Gudrid, die bis nach Amerika reiste, ist dies die definitive Geschichte der Wikinger und ihrer Zeit, opulent ausgestattet und prächtig bebildert. (Klappentext)

Rezension:

“Zuletzt geben die Götter ihnen Namen, ihre Substanz verwandelt sich in Klang. Der Mann ist Akr, die Esche. Die Frau ist Embla, die Ulme. […] Von diesem Paar stammt die gesamte Menschheit ab, durch die Jahrtausende bis in unsere Zeit.”

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

So endet eine von vielen der Nachwelt überlieferten Sagas und doch bildet sie nur eine Perspektive von außen, auf ein Volk, welches in nur drei Jahrhunderten die skandinavische Welt für immer veränderterte und nicht zuletzt sich dadurch selbst. Doch von einem Volk oder einer Volksgruppe zu sprechen, ist zu vereinfachend.

Die Welt der Wikinger war vielschichtig komplex. Ihre Umgebung und die Menschen, mit denen sie in Berührung kamen, beeinflussten sie nachhaltig, so sehr, dass das Bild von ihnen vornehmlich durch diejenigen entstand, die ihren Einfluss ausgesetzt waren. Positiv und negativ. Wie aber sahen sich die Wikinger selbst? Der englische Historiker und Archäologe Neil Price zeichnet das Bild neu und erzählt ihre Geschichte nun aus der Innenperspektive.

Umrahmt von Kartenmaterial beginnt die Suche nach dem wahren Kern der Wikinger, die es so, wie uns Filme und Serien, Vorstellungen in den Köpfen der Menschen, weißmachen wollen, gar nicht gegeben hat. Tatsächlich war die damalige Welt viel komplexer und die Wikinger auch nicht ein einzelner Stamm, dessen Weg es zu verfolgen gilt.

“Wenn sie sich im Rahmen ihrer Raubzüge nach neuen Siedlungsmöglichkeiten umschauten, waren die Wikingergruppen nie ein zusammenhängendes Ganzes, und ihr Auszug aus Skandinavien war nicht koordiniert.”

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

In seinem nun auf Deutsch vorliegenden Sachbuch führt folgerichtig die Spurensuche von den Gebieten des heutigen Skandinaviens bishin in die äußeren Winkel der damaligen Diaspora von Händlern und Kriegern, ihren Familien, Opfern, aber auch jenen, die von ihnen profitierten und sich letztendlich unabhängig von ihnen machen sollten. Gestützt auf archäologischen Funden, der Rekonstruktion von Gehöften, Seewegen oder etwa dem klischeehaften Langschiff, welches tatsächlich mal so existierte, der Entzifferung von Runentexten von Island bis hinein in das Gebiet der heutigen Ukraine entfaltet sich ein Bild, welches phantastischer ist, als all die Legenden, die es gibt.

“Zumindest die Helme aus Metall galten als so wertvoll, dass sie fast niemals ihre Besitzer mit ins Grab begleiteten. Und selbstverständlich hatte keiner ihrer Helme Hörner.”

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

Der Autor beschreibt sehr detailliert den Weg, den die Wikinger nahmen, durch die Zeit, die sie prägten und durch die sie geprägt wurden, vom Leben in kleinen Gehöften in loser Gemeinschaft, über die Zeit der Seekönige bishin zur Herausbildung des Kerns der skandinavischen Nationen, wie wir sie heute kennen. Nicht immer einfach ist dies zu lesen. Neil Price wechselt ständig zwischen Sagas, der Schilderung archäologischer Stätten hin und her, zeigt auf, wo die damals konkurrierende christliche Religion ihre eigene Sichtweise den Geschehnissen überstülpt und damit den Blick verzehrt, und wo schlicht und einfach noch historische Lücken durch die Wissenschaft zu vervollständigen sind.

Der Text, der durch einen relativ schmalen Farbfototeil kaum aufgelockert wird, ist nur konzentriert zu lesen. Nebenbeilektüre ist es nicht. Für historisch Interessierte gibt es jedoch kaum vergleichbare Lektüre, in die sich ein Blick hineinzuwerfen lohnt. Die Beschreibung der Vielschichtigkeit der damaligen Welt spürt anhand zahlloser Textquellen dabei Politik, Wirtzschaft, Leben, Familie, Religion und Bräuchen nach, nicht zuletzt damaliger Geschlechterrollen, die ebenfalls Auswirkungen auf die Expansion der Wikinger hatten.

“Jenseits aller Stereotypen war die Wikingerzeit (und nicht nur in Skandinavien” eine Zeit entsetzlicher Gewalt und ebenso schrecklicher Strukturen institutionalisierter, patriarchalischer Unterdrückung. Männer und Frauen, dazu Menschen, die über ein bemerkenswert breites Spektrum unterschiedlichster Geschlechtsidentitäten verfügten, lebten in und durch diese Netzwerke […].”

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

Sehr kleinteilig erklärt Neil Price Zusammenhänge und versucht dabei den großen Umriss zu wahren, der zudem einlädt, an seinen Rändern nach weiterer Lektüre zu greifen, wobei es kaum mehr detailreicher geht. Was Simon Sebag-Montefoire im Zusammenhang mit der Geschichte der Romanows gelungen ist oder Alberto Angelo mit den Ereignissen um den Vulkanausbruch bei Pompeji, hat der Historiker hier, vielleicht auch im Gedenken für die Wikinger geschaffen. Die Lektüre, mit all ihren Fascetten, Schwächen und Stärken jedenfalls, muss man sich genau so wie bei den Zuvorgenannten vorstellen. Wer mit dieser Fülle an Informationen sich überfordert fühlt, wird hier nicht glücklich werden.

Allen anderen Lesenden bietet sich hier anschaulich zusammengestelltes Hintergrundwissen, welches ein vergangenes Zeitalter lebendig werden lässt. Danach jedenfalls wird man die Wikinger mit anderen Augen betrachten.

Autor:
Neil Price wurde 1965 geboren und ist ein englischer Archäologe und Historiker. Er studierte zunächst in London Archäologie und promovierte an der Universität Uppsala/Schweden im Jahr 2002. Zwischendurch unternahm er feldforschungen in Groß-Britannien, Deutschland und Malta (u. a.) und veröffentlichte eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten. Seit 2014 ist er Professor für Archäologie und Frühgeschichte in Uppsala und gilt als einer der führenden Experten für Wikinger weltweit.

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Thor Hanson: Von schrumpfenden Tintenfischen und windfesten Eidechsen

Inhalt:

Was haben geschrumpfte Humboldt-Kalmare, Eidechsen im Windkanal und erblasste Korallen gemeinsam? Sie alle haben sich im Angesicht der drohenden Klimakatastrophe gewandelt. Die einen Arten sind damit heute Profiteure der Krise, die anderen zusehends vom Aussterben bedroht.

Feinfühlig, mit großer Neugier und einem seltenen Auge für Details, erzählt der Biologe und Feldforscher Thor Hanson die oft im verborgenen liegenden Geschichten über Hoffnung, Widerstandsfähigkeit und die Risiken, die mit den rapiden Änderungen unserer Umwelt einhergehen. Denn während wir Menschen noch über den Klimawandel diskutieren, musste die Natur längst auf ihn reagieren – und ihre Antworten sind ebenso beunruhigend wie auch faszinierend. (Klappentext)

Rezension:

In Teilen der Welt ist der Wandel des Klimas auch für uns Menschen längst spürbare Alltagsrealität geworden, die sich vor allem in immer häufigere und extreme Wetterwechsel manifestiert, doch ein Großteil von uns sinniert immer noch über Lösungsstrategien für die Zukunft. Nicht immer ganz so flexibel mussten einige Tier- und Pflanzenarten schon längst darauf reagieren. Der amerikanische Biologe Thor Hanson beobachtet seit Jahren die Veränderungen der Natur in seiner Heimat und der Welt, und stellt fest, unzählige Arten sind schon längst dabei, Strategien zu entwickeln. Es geht um nichts weniger als das nackte Überleben.

Zunächst jedoch wirft der Autor einen Blick in die Geschichte und stellt dabei sehr verdichtet mehrere Hauptursachen dar, dessen, was wir heute als ausschlaggebend für den Klimawandel ansehen. Das beginnt bei der Entdeckung von Kohlenstoffdioxid und seiner Wirkung über die Zusammensetzung der Atmosphäre und ihrer in der Erdgeschichte fortlaufenden Veränderung, bis hin zu der durch unseren technologischen Wandel verursachten Beschleunigung, mit der wir in naher Zukunft selbst zu kämpfen haben werden. Niederschwellig werden hier Ursache und Wirkung erklärt.

Zugleich erklärt Hanson seinen Hintergrund, der im Laufe der Jahre von der Naturschutzbiologie hin zum immer wichtiger werdenden Thema Klimawandel seine eigenen Beobachtungen anstellte.

Dieser liegt in die Betrachtung der Reaktion der umgebenden Tier- und Pflanzenwelt, den Austausch mit anderen und verwandten wissenschaftlichen Disziplinen, um die Auswirkungen dieser auf den Papier sehr theoretischen Materie zu verstehen. Hier beginnt der Biologe sehr schnell mit Beispielen diese Problematik zu veranschaulichen, die sonst so sehr abstrakt bleibt.

Welche Risiken ergeben sich etwa, wenn sich Insekten schneller an durchschnittlich wärmere Temperaturen anpassen als die Pflanzen, die sie bestäuben? Wie reagiert Fauna, wenn die natürlichen Verbreiter ihrer Samenkörner verschwinden und welche Möglichkeiten der Flexibilität bleibt in einer immer mehr unbeständigeren Welt?

So vielfältig wie die Natur, so unterschiedlich sind die Lösungsstrategien, die der Autor der Übersicht halber in kurzfristige und langfristige unterteilt und ihre Vor- und Nachteile unter verschiedenen Gesichtspunkten darstellt. Mit welchem Grundproblem konfrontiert, begegnet man am besten mit welcher Strategie und sichert diese wirklich längerfristig das Überleben? Ist Spezialisierung oder Opportunismus das Ideal? Gibt es einen Königsweg?

Welche neuen Fragen oder Problemstellungen werden dadurch aufgeworfen? Welche Folgen hat der Klimawandel schon jetzt und auch in Zukunft für die Tier- und Pflanzenwelt, abseits unserer Modellierungen?

Thor Hanson verfällt dabei nicht in den allseits umgreifenden Alarmismus, sondern analysiert sehr nüchtern, was war und stellt den Ist-Zustand dar, sehr fasziniert von seinen Beobachtungsgegenständen. Er zeigt an Beispielen, wie die Natur mit Veränderungen umgeht und warum es sich auch für uns lohnen sollte, Strategien und Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel und mit den nicht mehr unumkehrbaren Auswirkungen, zu entwickeln. Diese wiederum sind bereits vielfach Gegenstand anderer Literatur. Der Autor behält stringent seinen Fokus bei, der nur mit noch mehr spannenden Beispielen aus der Tier- und Pflanzenwelt hätte gespickt sein können.

Diese hat der Biologe in beide Richtungen, sowohl für geglückte als auch fehlgeleitete Strategien, die einmal mehr die Vielschichtigkeit der Problematik verdeutlichen, ohne den erhobenen Zeigefinger oder die Holzhammermethode anzuwenden. tatsächlich ist die Art der Darstellung sehr ruhig, was das Lesen erleichtert.

Fachbegriffe und Ergänzungen werden dabei in einem sehr umfangreichen Glossar und Anmerkungsverzeichnis ergänzt. Zusammen mit dem gut recherchierten Quellenverzeichnis ergibt sich ein gut zu lesendes Sachbuch, welches die Wichtigkeit der Beschäftigung mit dieser Thematik unterstreicht. Dieser Ansatz ist vor allem für jene geeignet, die mit abstrakten Modellen nichts anfangen können und einen anderen Zugang benötigen.

Die Botschaft ist von Beginn an klar: In der Natur kämpfen die Arten bereits darum, welche auch zukünftig existieren. Auch wir sollten uns langsam aber sicher die Frage stellen, ob wir dazugehören wollen.

Autor:

Thor Hanson ist ein amerikanischer Naturschutzbiologe, Umweltschützer und Wissenschaftskommunikator. Zunächst studierte er Biologie und arbeitete für ein Tourismusprojekt in Bezug auf Braunbären für den US Forest Service, nachdem er als Freiwilliger in Uganda arbeitete. Er betrieb Feldforschung zur Ökologie tropischer Bäume, Waldfragmentierung und deren Auswirkungen auf Vogelnestprädation, sowie zur Biodiversität. Er ist verantwortlich für zahlreiche Dokumentationen und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften und hat bereits mehrere Sachbücher veröffentlicht. Hanson ist Träger der John-Borrough-Medaille und des AAAs/Subaru-Science-Prize.

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Eric Vuillard: Die Tagesordnung

Inhalt:

20. Februar 1933: Auf Einladung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring finden sich 24 hochrangige Vertreter der Industrie zu einem Treffen mit Adolf Hitler ein, um über mögliche Unterstützungen für die nationalsozialistische Politik zu beraten.

Mit virtuoser Eindringlichkeit und satirischem Biss seziert Vuillard die Mechanismen des Aufstiegs der Nationalsozialisten und macht deutlich: Die Deals, die an den runden Tischen der Welt geschlossen werden, sind faul, unser Verständnis von Geschichte beruht auf Propagandabildern. (Klappentext)

Rezension:

Nach Anhören oder Lesen einiger Rezensionen riet mir ein erster Impuls damals von der Lektüre ab, doch fiel mir später die Taschenbuchausgabe in die Hände. Meine Gedanken zu diesem Werk hatte ich dato längst verdrängt. Manchmal ist das Vergessen von Sachverhalten ja etwas Wunderbares, kann man sich doch so, in diesem Falle dem Text, einmal unbefangen nähern. Und so griff ich “Die Tagesordnung” aus meinem Regal heraus und begann zu lesen.

Schon mit dem Lesen der ersten Abschnitte stellt sich die Frage, was dieses Werk eigentlich sein will? Sein soll? Ein Roman ist das nicht, dafür wirkt die Form zu starr. Die Kategorisierung Sachbuch trifft hier ebenso wenig zu. Vielleicht hat uns Eric Vuillard hier eine Mischform aufgetischt? Im Fernsehen würde man wohl Doku-Spiel dazu sagen. Tatsächliches Geschehen noch einmal nachgespielt. Hier eben in Textform. Bekannte Szenen aus der Anfangszeit des NS-Regimes als Postkartenmotiv in Hochglanzform.

Und das ist ein Problem. Das Ausgangsmaterial hat beinahe Jeder bereits in aller Ausführlichkeit im Geschichtsunterricht serviert bekommen. Auch die Ergebnisse sind bekannt. Nichts Neues an Erkenntnissen gewinnt man, wenn das alles noch einmal umgeschrieben zu lesen ist.

Der rote Faden, der Lauf der Geschichte, den hat Vuillard hier ausgefranzt. Mal passen Szenen nicht zueinander, Übergänge, die diese schleichende Machtergreifung noch mehr verdeutlichen könnten, wie sie die Nationalsozialisten fabrizierten, fehlen zu Teilen gänzlich. Das ist handwerklich schlecht gemacht und trägt der Brisanz nicht unbedingt Rechnung.

Zudem darf sich der Autor die Frage gefallen lassen, warum mitten im Geschehen der Text endet. Und der Verlag, warum man nicht nochmals über den Klappentext geschaut hat. Letzterer beschreibt eine Szene von vielen, leider von zu wenigen, die in diesem Werk vorkommen könnten.

Bei Ersteren, ja, es wird die Vereinnahmung Österreichs beschrieben, der Anklang der Münchener Konferenz, der die Tschechoslowakei zum Opfer fallen sollte, aber mehr eben auch nicht. Warum nicht? Warum hat Vuillard nicht mehr aus den Stoff herausgeholt, dem ihn die Geschichte bietet? Keine Lust, weiterzuschreiben, wenn wir einmal bei dem Text an sich sind, sich wenigstens zu entscheiden, ob man einen Roman, eine Novelle vielleicht oder doch ein literarisches Sachbuch machen möchte?

Nun liegt das Werk eben so vor. Es lässt sich auch leicht lesen, zumal alles jedem darin bekannt sein dürfte. Danach bleibt jedoch auch nichts mehr übrig. Nicht mehr als ein Vergleich zumindest. Zu Pandemie-Zeiten haben einige von uns erfahren müssen, wie es ist, zu essen und nichts zu schmecken. Man wird vielleicht satt, aber das war es dann halt auch.

Vielleicht demnächst wieder ein Sachbuch oder einen richtigen Roman.

Autor:

Eric Vuillard wurde 1968 in Lyon geboren und ist ein französischer Schriftsteller und Filmemacher. Er studierte Jura, Politikwissenschaften, Philosophie, Anthropologie und Geschichte an der Elitehochschule EHESSS und veröffentlichte 1999 erste Erzählungen. Dem folgten weitere Texte, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Im Jahr 2017 erhielt er den Prix Goncourt für “Die Tagesordnung”.

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Oliver Rathkolb: Schirach – Eine Generation zwischen Goethe und Hitler

Inhalt:

Baldur von Schirach sprach von Blut und Ehre, vom Wunder der Kameradschaft und von der Kraft der Fahne. Und er machte Adolf Hitler zum geliebten “Führer”, der das deutsche Volk groß, frei und glücklich machen würde. Eine ganze Generation sang seine Lieder, trommelte und turnte und marschierte mit ihm. Als Reichstatthalter hielt er Hof in Wien, die Deportation der jüdischen Bevölkerung sah er als seinen “aktiven Beitrag zur europäischen Kultur”. Oliver Rathkolb gibt die Geschichte einer schillernden NS-Karriere wieder, die unmittelbar in das Herz des “Dritten Reiches” führt und viele Fragen aufwirft. (Klappentext)

Rezension:

Während andere Biografien viel mehr Aufarbeitung erfahren, sich mit Lebenswegen auf verschiedene Art und Weise auseinandergesetzt wurde, erfuhren andere bisher wenig Beachtung, wobei auch deren Aspekte wichtig sind, um zu verstehen, wie ein Regime wie das der Nationalsozialisten in Deutschland entstehen und seine Macht festigen, die Welt in eine Katastrophe stürzen konnte. In diesem Falle ist ein ganz entscheidender Baustein die Indoktrinierung der Jugend gewesen. Der österreichische Historiker Oliver Rathkolb hat sich nun aufgemacht, Aufstieg und Fall von Baldur von Schirach zu beleuchten, der dies zu verantworten hatte.

Einfach aufgrund der Auswahl der Thematik schon ist dieses Sachbuch sehr besonders, da im Gegensatz zu etwa Hitler selbst, Hitler oder Sperr, die Rolle des Mannes vergleichsweise im Dunkeln liegt, der kurzzeitig als eine der Nachwuchshoffnungen des Dritten Reiches galt und auch dazu beitrug, dass sich dieses grausame Regime so lange halten konnte.

Der Historiker hat sich dabei entlang eines Zeitstrahles gehangelt und geht in die Familiengeschichte von Schirachs weit vor dessen Geburt zurück, um die Hintergründe darzustellen, die Übernahme und Weiterentwicklung damaliger antisemitischer Vorstellungen, wie sie in verschiedenen Gesellschaftsschichten populär waren, aber auch einen der Grundsteine aufzuzeigen, die später Hitlers Paladin als einem der Punkte der Verteidigungsstrategie im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess dienen sollte, was dazu führte, dass von Schirach nicht zum Tode verurteilt wurde.

Minutiös wird die Annäherung an Hitler dargestellt, ebenso die Ideologisierung, aber auch der stetige Konkurrenzkampf und die Intrigen innerhalb der Führungsriege des Regimes. Zugleich erläutert der Autor hier Brüche ausführlich und zeigt, warum die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gerade im Wien nach dem Krieg mit Problemen behaftet war. Auch dafür liegen die Grundlagen in von Schirachs Wirken.

Dies ist so detailreich wie einprägsam dargestellt, dass es eine lohnend ergänzende Lektüre zur bereits vorhandenen Aufarbeitungsliteratur ist. Auch versteht man dadurch, warum gerade von einer ganzen Generation indoktrinierter Jugendlicher in den letzten Kriegstagen an einigen Orten grausame Taten ausgeübt wurden, die sich im kollektiven Gedächtnis eingebrannt haben.

Sachlich und nüchtern hat hier Oliver Rathkolb das zwiespältige Porträt eines Menschen zusammengestellt, der ausschlaggebend für die Ideologisierung eines verbrecherischen Regimes war, sowie für den Tod von Hunderttausenden. Interessant ist zudem der noch zu wenig beleuchtete Kunstraub der Nazis und die Vereinnahmung kulturellen Lebens, welches ebenso ausführlich beleuchtet wird. Alleine dies schon ein Kapitel, weshalb sich die gesamte Lektüre lohnt.

Autor:

Oliver Rathkolb wurde 1955 in Wien geboren und ist ein österreichischer Historiker. Nach Studien der Rechtswissenschaften und Geschichte in Wien war er wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Bruno Kreisky Archiv und übernahm 1992 die Funktion des dortigen Wissenschaftskoordinators.

1984 bis 2005 war er wissenschaftlicher Angestellter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft, 1993 habilitierte er und übernahm die Lehrbefugnis als Dozent für Neuere Geschichte unter Berücksichtigung für Zeitgeschichte im Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Nach verschiedenen Funktionen übernahm er eine Forschungsprofessur der Universität Havard. Er verfasste mehrere Beiträge und Expertisen für Fach- und populärwissenschaftliche Medien und Zeitschriften.

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Ian McEwan: Lektionen

Inhalt:

Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1958 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat. Sowohl episch als auch intim – ein bewegender, zutiefst menschlicher Roman über Liebe, Verlust, Kunst und Versöhnung. (Klappentext)

Rezension:

Wer sich in eine Geschichte hinein begibt, kommt darin um. Zumindest manchmal. Zumindest dann, wenn Erwartungshaltung und, in diesem Falle, Gelesenes weit auseinanderklaffen. Dabei beginnt diese Erzählung aus der Feder des britischen Schriftstellers Ian McEwan recht vielversprechend, beinhaltet sie doch alle Elemente, die für sich genommen und in mancherlei Zusammenspiel gut funktionieren.

Der Roman ist eine Mischung aus zunächst Coming of Age, im Rahmen einer Internatsgeschichte nach alter englischer Tradition, wandelt sich dann zu einer Geschichte über Missbrauch und Vereinnahmung, um zu einer fiktionalen Biografie, einem Familienepos vor zeithistorischer Kulisse, gewürzt mit einer gehörigen Portion Gesellschaftskritik, zu werden. Eingebettet in einem fast zu ruhigen Erzählstil passiert zu Beginn nicht viel, um dann jedoch unerwartet zu zuschlagen, womit in dieser sehr ausufernden Erzählung schon bald eine Kerbe eingeschlagen wird, die wir Lesenden für den Rest der Geschichte im Hinterkopf behalten und nicht wieder loswerden.

Das liegt nicht an der Ausgestaltung der wichtigen beiden Hauptprotagonisten. Diese ist dem Autor gelungen, weißt doch der zunächst Elfjährige Ecken und Kanten auf, die er die gesamte Handlung über behalten wird, verstärkt und noch stärker in den Fokus gerückt, durch seinem Gegenpart, deren Handeln Ursache für alles ist, was folgt. An diesen beiden Figuren hat Ian McEwan eine Missbrauchsgeschichte erarbeitet, wie man sie seltener liest. Hier ist das Opfer ein Junge, der Täter eine Frau, die so berechnend wie perfide ihren Schüler zuerst unsittlich berühren, dann vereinnahmen wird, was Auswirkungen auf das gesamte Leben von Roland.

Der erkennt den Missbrauch erst spät als solchen oder kann ihn nach Jahrzehnten erst als solchen benennen, hat die Chance, seine Peinigerin nach Jahrzehnten zur Rechenschaft zu ziehen und vertut diese Chance. Beide Protagonisten haben ja schließlich damit ihre Leben verpfuscht und dennoch gelebt, wozu also die Vergangenheit noch einmal aufrollen?

Das ist nur ein Teil dieser noch über mehrere hundert Seiten gehenden Erzählung, doch überdeckt er alles andere. Natürlich sind Geschichten mit dieser Thematik immer schwierig zu entwickeln und irgendjemanden wird, egal wie die Geschichte gedreht und gewendet wird, sich daran stoßen, aber alleine das Gefühl zu erzeugen, zu sagen, Missbrauch ist okay, wenn er von Frauen ausgeht, ist die Ahndung auch nach Jahrzehnten nicht wert, selbst wenn das nicht vom Schreibenden so beabsichtigt ist, schafft ein Geschmäckle. Wäre die Figurenkonstellation eine andere, der Missbrauchende ein Mann, das Opfer ein Mädchen, mit dieser Schlussfolgerung, der Aufschrei des Feuilletons wäre dem Roman sicher.

Und da nützt es auch nichts, dass dies nur ein, zumindest hier so empfundener, Aspekt dieser Erzählung ist und der Rest zähflüssig vor der Kulisse beinahe aller historischer Kulisse verläuft, die die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu bieten hat. Ian McEwan fährt von Kubakrise über Tschernobyl und Mauerfall bis hin zur Pandemie wirklich alles auf. Natürlich, ein langes Leben nimmt halt vieles mit, aber hier hätten noch mehr persönliche Spannungsformulier ausformuliert gereicht, um die Tragweite der Handlung voran zu bringen.

Die Stärke des Autoren liegt in der Ausarbeitung der Charaktere, wenn auch konsequent nur die Perspektive der Hauptfigur dominiert. Nebenfiguren nehmen diese Rolle immer dann ein, wenn es um Rückblenden und Zeitsprünge geht, diese zu verdeutlichen. Aber eben auch das hilft nicht gerade, wenn die ganze Zeit wirklich alles eben auf diesen Missbrauchsmoment heruntergebrochen werden kann und letztlich keine Konsequenzen folgen.

Schauplätze dagegen werden sehr plastisch beschrieben und für die Lesenden zum Leben erweckt. Auch sei zu erwähnen, dass der Autor einen winzig kleinen Teil seiner eigenen Biografie mit eingewoben hat. Die Antagonistin ist dies jedoch nicht.

Und so bleibt ein Werk, welches ich aufgrund eines Aspekts und wenn ich damit Geisterfahrer zu anderen Rezensenten bin oder ich das “falsch” verstanden habe (Wenn dem so ist, dann hätte man diesen Fallstrick beim Schreiben des Romans bemerken müssen.), einfach nicht empfehlen kann. Für Sprache und Figurenausarbeitung möchte ich hier jedoch die Pluspunkte sehen.

Autor:

Ian McEwan wurde 1948 geboren und ist ein britischer Schriftsteller. Zunächst studierte er englische und französische Philologie und schloss das Studium anschließend mit einem Bachelor of Arts in englischer Literatur ab. Während des Studiums besuchte er einen Kurs für Kreatives Schreiben und unterrichtete später selbst.

1975 veröffentlichte er eine Kurzgeschichtensammlung, danach weitere Erzählungen und Romane. Mehrere seiner Werke wurden verfilmt und vielfach übersetzt. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, im deutschsprachigen Raum u. A. mit dem Deutschen Buchpreis und der Goethe-Medaille.

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Andreas Steinhöfel/Melanie Garanin: Völlig meschugge?!

Inhalt:

Benny, die Umweltaktivistin Charlie und Hamid, der 2015 als Flüchtlingskind aus Syrien kam, sind dickste Freunde. Nichts kann sie auseinander bringen. Nichts? Als Benny von seinem Opa eine Kette mit Davidstern erbt, finden die drei sich in einem Strudel aus Antisemitismus, Mobbing und Gewalt wieder, der sie mit sich reißt und ihre Freundschaft zu zerstören droht. (Klappentext)

Rezension:

Die Geschichte der drei Freunde beginnt mit ihrem Ende. Der zwölfjährige Benny wird verletzt aufgefunden, aus einer alten Höhle geborgen, in der er zuvor gestürzt war. Noch einmal ist er mit den Schrecken davongekommen, doch was war zuvor passiert? Eine beeindruckende Graphic Novel ist hier parallel zur gleichnamigen Jugendserie der Fernsehsender ZDF und Kika erschienen, die mit ihrem Inhalt das Werk in die Reihe der Bücher gegen das Vergessen rückt.

Erzählt wird die Geschichte dreier Freunde. Benny ist Mittelpunkt der Gruppe, sportlich und mitreißend. Charlie gehört nicht nur die Modelleisenbahn, um die sich die Gruppe regelmäßig versammelt, in gelben Gummistiefeln engagiert sich die Vegetarierin zudem für Umwelt- und Naturschutz. Der Dritte im Bunde ist Hamid, der 2015 mit seiner Familie aus Syrien nach Deutschland kam und seine Gedanken und Gefühle in Zeichnungen verarbeitet.

Nichts kann die drei auseinander bringen, doch in der weiterführenden Schule geht es rau zu. Handys verschwinden, Mobbing und Ausgrenzung sind an der Tagesordnung. Als Benny offen eine Kette mit Davidstern trägt, stellt dies auch die Freundschaft zu Hamid in Frage, dem sein älterer Bruder einige krude Gedanken in den Kopf gesetzt hat. Ein Strudel, der sich immer heftiger auftürmenden Gewalt beginnt die Freundschaft der drei zu zerreißen.

Soviel zum Inhalt der Geschichte, die sich trotz der thematischen Schwere leicht lesen und diskutieren lässt, was nicht nur an der grafischen Aufbereitung durch Melanie Garanin liegt, sondern auch an der einfühlsamen Erzählweise durch Steinhöfel, der wie kaum ein anderer deutschsprachiger Kinderbuchautor es schafft, wichtige Fragen aufs Tableau zu bringen, dabei keine Fäden der Handlungsstränge zu verlieren oder ins Klischeehafte abzurutschen. In einer Mischung aus Comic- und Mangastil werden Mobbing, Antisemitismus und Ausgrenzung, Freundschaft und Mut so aufbereitet, dass sich dies gemeinsam, z. B. im Unterricht oder alleine gut lesen lässt, finden doch alle entsprechende Äquivalente in der realen Welt.

Vergleichsweise ausführlich orientiert sich das Werk sehr eng an der gleichnamigen, ebenfalls sehenswerten TV-Serie, die parallel dazu entstand. Die Kapiteleinteilung entspricht der Benennung der einzelnen Folgen. Durch die Erzählweise entfallen in beiden Medien Längen. Zudem fehlt der erhobene Zeigefinger fast gänzlich.

In der Serie sind die Charaktere wechselseitig perspektivgebend, während die Graphic Novel vor allem aus der Sicht von Charlie erzählt wird. Doch die drei Hauptcharaktere sind hier wunderbar ausgestaltet, haben allesamt Ecken und Kanten, in ihren Reaktionen nachvollziehbar. Der erzählte Zeitraum ist unbestimmt, es kann sich dabei jedoch nur um wenige Wochen handeln. der Handlungsort könnte überall in Deutschland sein. Gegensätzliche Protagonisten sind klar definiert gehalten, aber auch deren abstruse Beweggründe sind ausreichend ausgearbeitet, so dass sich eine Dynamik zwischen den Figuren entfaltet, die dem Werk eine gewisse Geschwindigkeit und Brisanz verleiht.

Interessant bei solcher Lektüre ist immer auch die Farbgebung. Kontraste ergeben sich durch die warmen Farben, wenn aus der Sicht etwa von Benny erzählt wird, und den eher dunkelblau gehaltenen Tönen, wenn von Hamid die Rede ist, der seine Gedanken mit sich herumträgt. Zudem sind auch hier die Zeichnungen innerhalb der Zeichnung zu erwähnen, da der Junge parallel zur Handlung das Erlebte selbst malerisch verarbeitet. Große Freistellen wechseln sich zudem ab mit witzigen Randbewegungen, so dass zwischen all dem Ernst es genug auflockernde Momente gibt.

Diese Graphic Novel behandelt all die Themen, die alle Schüler/innen in der einen oder anderen Form kennen, sei es, da sie selbst Betroffene sind oder in derer Umgebung bestimmte Dinge passieren, über die gesprochen werden muss. Dafür bietet das Werk eine Grundlage und kann sicher als Aufhänger und Diskussionsgegenstand im Unterricht genutzt werden. Der Vergleich zur Ringparabel in Lessings Werk “Nathan der Weise” drängt sich auf. Moderner kann man eine Thematik kaum aufbereiten.

Gerade in unserer Zeit, in der extreme Richtungen wieder Zulauf erhalten und Glaube immer noch zur Konfrontation missbraucht wird oder als Aufhänger, auszugrenzen, ist solch ein Werk gerade für Jüngere wichtig, um zu zeigen, dass es auch anders geht, dass Freundschaft, Mut und Zusammenhalt ideologische Grenzen überwinden können. Auch eine Botschaft, wie sie sich durch einige von Steinhöfels Werken zieht.

Dieses Werk, was junge Lesende ernst nimmt und in der Lage ist, neue Perspektiven zu geben, ist damit unbedingt empfehlenswert.

Autoren:

Andreas Steinhöfel wurde 1962 geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Nach dem Abitur begann er ein Studium der Biologie und Englisch auf Lehramt, bevor er zu Medienwissenschaften, Anglistik und Amerikanistik wechselte. 1991 erschien sein erstes Kinderbuch, seit 2016 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Er ist Autor mehrerer ausgezeichneter Kinder- und Jugendbücher, schreibt Drehbücher. Sein Werk wurde bereits mehrfach verfilmt.

Melanie Garanin wurde 1972 geboren und ist eine deutsche Illustratorin, Kinderbuchautorin und Comiczeichnerin. Zunächst studierte sie in Potsdam-Babelsberg Animationsfilm. Seit 1998 arbeitet sie als freiberufliche Animatorin und Illustratorin für eigene Werke und die anderer Titel. 2020 erschien ihre erste autobiografische Graphic Novel, in der sie den Tod ihres Sohnes verarbeitete. Sowohl eigene als auch die von ihr illustrierten Titel anderer Autoren wurden in mehrere Sprachen übertragen.

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Arne Kohlweyer: Ostkind

Inhalt:

1992 am östlichen Rand Berlins: Der neunjährige Marko hat es endgültig satt, wie ein kleiner Junge behandelt zu werden und will allen beweisen, wie erwachsen er sein kann. Er schreibt eine Liste mit Dingen, die man so macht als Erwachsener: Kaffee trinken, dicke Bücher lesen, den Walfang stoppen, rauchen und Anna heiraten. Anfangs läuft bei der Umsetzung noch alles nach Plan, doch das Erwachsensein stellt Marko zusehends vor große Probleme. (Umschlagstext)

Rezension:

Zunächst erscheint alles als heile Welt, in dem vorliegenden Romandebüt des Filmemachers Arne Kohlweyer, dessen Erzählung “Ostkind” zwischen Coming of Age und Novelle pendelt. Wie jedes Jahr unternimmt die Familie des frisch neunjährigen Marko zu dessen Geburtstag einen Ausflug an den heimischen Badesee.

Mit seinem Geschenk, einem Schnorchel-Set, lässt sich der Protagonist fotografieren. Doch, die heile Welt bekommt bald Risse. 1992 steckt das ehemals geteilte Berlin noch inmitten der unmittelbaren Nachwirkungen der Wendezeit, in derer sich unzählige Biografien von einem Tag auf den anderen ändern. Markos Vater, zuvor Professor für Marxismus-Leninismus fährt nun Taxi. Der Junge registriert die Veränderungen um sich herum, ohne sie zu begreifen. Nur ernst genommen werden, möchte er und dafür so schnell wie möglich erwachsen werden.

Während er dafür eine Liste erstellt, mit Dingen, die man als Erwachsener eben so tut, brauen sich, ohne dass Marko es zunächst bemerkt, noch mehr dunkle Wolken am Himmel über die Familie zusammen. Dinge, die nicht einmal die wirklich Erwachsenen zu händeln wissen.

So viel zum Inhalt dieses zunächst sehr unscheinbaren, aber in allen Aspekten großartigen Romandebüts, welches die Lesenden auf eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle mitnimmt. Nichts ist, wie es scheint und so werden die zunächst kaum sichtbaren Risse bald unfassbar groß, zu groß für den liebevoll ausgestalteten Protagonisten, der sich nichts sehnlicher wünscht als wahr- und ernstgenommen zu werden, aber noch zu klein für die damit verbundenen Konsequenzen ist.

“Da war es wieder! Dieses ,Das verstehst du noch nicht’, das sich manchmal als ein ,Dafür bist du noch zu jung’ verkleidete. Je älter Marko wurde und je mehr er in der Schule lernte, desto häufiger schmetterten die Erwachsenen es ihm entgegen. Genau wie letztens auf seine Frage, wie denn eine Hand bitteschön treu sein könne …”

Arne Kohlweyer: Ostkind

Der behutsam ausgearbeitete Handlungsstrang deckt einen Zeitraum von gerade mal zwei Wochen ab. Trotz der sehr kompakten Art des Erzählens hat es der Autor geschafft, so viel an Themen hinein zu packen, dass es schwerfällt, die überschaubare Seitenzahl zunächst ernst zu nehmen. Das funktioniert jedoch wunderbar, können sich doch fast alle in die Hauptfigur hineinversetzen, die man einfach nur in den Arm nehmen und schützen möchte. Arne Kohlweyer hat Marko als wachen, intelligenten Jungen geschaffen, dessen Kindlichkeit feinfühlig ausgearbeitet, genauso wie die Hilflosigkeit der Erwachsenen ausgestaltet, die der Hauptfigur eine heile Welt erhalten wollen, ohne zu bemerken, dass nicht nur für sie die Situation immer mehr ins Unkontrollierbare kippt.

Die bereits angesprochene Themenvielfalt ist glaubhaft, ebenso wie das gesetzte Zeitkolorit, welches nur ein Hintergrundrauschen darstellt, und schafft einen eigentümlichen Roman, der sowohl als Jugendbuch, wenn bereits ein wenig Wssen vorhanden ist, gelesen werden kann als auch als Novelle, die es in sich hat. Kinder sehen, begreifen viel mehr, als das die Erwachsenen denken. Auch schmerzhafte Wahrheiten können sie erfassen. Die Katastrophe aber stellt sich dann an, wenn dieser Aspekt unberücksichtigt gelassen wird, zumal wenn es ein enges Familienmitglied betrifft.

Arne Kohlweyers liebevolles Plädoyer kann nicht gelesen werden, ohne zwischendurch tief durchzuatmen, die Seiten einmal kurz wegzulegen und lohnt sich dennoch. Auch szenemäßig umgesetzt ist dies hervorragend. Hier merkt man das Fachgebiet des Autoren an. Fast ist es so als hätte man eine Mini-Serie in Buchform vor sich. So komponiert ist das großartig.

Autor:

Arne Kohlweyer ist ein deutscher Regisseur und Drehbuchautor, der zunächst Filmregie in Prag studierte, ebenso Fotografie, Literaturwissenschaft und Filmtheorie. Er führte Regie bei mehreren TV-Auftragsproduktionen und wurde 2017 als Autor und Regisseur für den Grimme-Preis nominiert. Seit 2010 ist Kohlweyer Mitglied im Verband Deutscher Drehbuchautoren und arbeitet heute als freiberuflicher Autor, dramaturgischer Berater und Associate Producer. “Ostkind”, ist sein Romandebüt.

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Charles Lewinsky: Sein Sohn

Inhalt:

Louis Chabos wächst in einem Kinderheim in Mailand auf. Nachdem er in Napoleons Russlandfeldzug den Krieg kennengelernt hat, möchte er nur noch eins: endlich zu einem menschenwürdigen Leben finden und Teil einer Familie werden. In Graubünden erlangt er ein kleines Stück des erhofften Glücks. Doch das verspielt er, als die Sehnsucht nach dem unbekannten Vater ihn nach Paris ruft und er zwischen Prunk und Schmutz seine Bestimmung sucht. (Klappentext)

Rezension:

Zwischen Realität und Fiktion schwankt diese Geschichte, in derer dem Hauptprotagonisten in seinem Leben gleich mehrere Schläge in die Magengrube gegeben werden. Dies ist die Grundlage vieler Erzählungen um fiktive und verbürgte Waisenkinder, die in diesem und nächstliegenden Zeitkolorit gesetzt werden, zumal seit “Oliver Twist” von Charles Dickens. Nun gibt es eine ähnliche Geschichte aus der Feder eines Namensvetters (nur vom Vornamen her). Diese entführt uns Lesende nach Zentraleuropa.

Zuweilen nicht ganz so düster wie im englischen Vorbild wirkt Charles Lewinskys Roman “Sein Sohn” und dessen Hauptfigur Louis Chabos, der zunächst das Glück für sich gepachtet zu haben scheint und der Suche nach seiner Herkunft immer wieder ein Stück weit näher kommt. Die Härte des Waisenhauses kommt Louis Chabos schon früh zu Gute, nicht zuletzt begegnet er den richtigen Menschen, durchbricht die Heimatlosigkeit gar. Vollkommen ist mit dem Finden einer Familie jedoch noch lange nichts. Für die Suche nach seinem Vater setzt er dann alles aufs Spiel.

So viel zur Geschichte, die so aufgeschrieben, viel harmloser wirkt, als sich der Text letztendlich liest. Der vom Autor ausgestaltete Hauptprotagonist hat im ersten der dreiteiligen Erzählung alle Sympathien auf seiner Seite, was sich im weiteren Handlungsverlauf verfestigt, gleichwohl schon da Widersprüche eingewoben werden, die im letzten Drittel des Romans aufbrechen. Der tiefe Fall folgt auf einem langen steinigen Weg zum Glück, welches Louis Chabos sogar in Großteilen verspielt.

Hier ist man lesend in der besseren Position. Man ahnt mit jeder Zeile mehr, mit jeder gelesenen Seite, dass das Unglück naht. Möchte den Protagonisten schütteln, stoßen. Der erwachsene Protagonist wirft weg, was das Kind Oliver Twist im gleichnamigen Vorbildroman mit allen Händen festhalten kann, sobald es das einmal erreicht hat. In dieser Warte schaut man lesend voraus, hofft dennoch auf eine Wendung, doch noch die glückliche Fügung, weiß, dass das alles nicht so enden wird, wie man sich es wünscht.

Nur eine Sichtweise verfolgt Charles Lewinsky, nicht alles wird gesagt. Viele Bilder entstehen trotz eines fast nüchternen klaren Schreibstils im Kopf. Ruhig wird dieses, ja fast Märchen erzählt, welches inmitten von drei in Umbrüchen befindlichen Ländern spielt. Der Protagonist nimmt Blick auf seine Umgebung. Einzelne Gegenstände, Häuser, Personen bekommen so Konturen. Nebensächliches verblasst dagegen. Wer auf ausschweifende Erzählweise Wert legt, wird enttäuscht werden. Es bleibt jedoch auch so genug Stoff im Kopf hängen, um den Gedanken nachzugehen.

Die Stärke des Autors liegt hier vor allem im Einweben des historischen Kolorits. In die Zeit Napoleons einzutauchen, ebenso, wie die Zeit der Restauration wird ebenso möglich, wie auch den Bezug zu unserer Zeit. Nur schlägt hier die Cholera Schneisen des Leides durch Landschaften und Städte. Zeitweise ist es interessanter, dem nachzugehen, als dem Empfinden des Hauptprotagonisten. Nur um dann dem nächsten Schicksalsschlag ausgeliefert zu sein. Vorsicht, in welcher Stimmung man das liest.

Autor:

Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren und ist ein Schweizer Drehbuchautor und Schriftsteller. Zunächst studierter er Germanistik und Theaterwissenschaft in Zürich und Berlin, bevor er als Dramaturk und Regisseur am Theater, sowie als Redakteur des Schweizer Fernsehens tätigt wurde. 1984 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Es folgten weitere Bücher und Produktionen, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2011 wurde Lewinsky erstmals für den Schweier, 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Sein Werk wird in mehr als 14 Sprachen übersetzt.

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Nadja Tomoum: Das Geheimnis des Tutanchamun

Inhalt:

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit – und manchmal birgt er “Wunderbare Dinge”: Mehr als 3300 Jahre hatte niemand gewagt, die Ruhe des Pharao im Tal der Könige zu stören. Dann – am 26. November 1922 – öffnete der britische Archäologe Howard Carter die Gruft des Tutanchamun. Die Schätze, die Carter ans Tageslicht brachte, machten aus seiner Entdeckung ein Jahrhundertereignis.

Sie lieferten Stoff für Schauermärchen über den Fluch des Pharao, Inspirationen für die Glamourwelt der Golden Twenties und Impulse für bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse. Dass sie nichts von ihrem Zauber verloren haben, wird in diesem spannenden Buch über die konfliktbeladene Welt des Tutanchamun, die Suche nach dem goldenen Pharao, die erste globale Mediensensation und die aktuelle Forschung deutlich. (Klappentext)

Rezension:

Das Tal der Könige, Grabstatt mächtiger Herrscher des Alten Ägypten. Seit Jahrhunderten graben hier die Menschen nach den Schätzen längst vergangener Zeiten. Im November 1922 stoßen Arbeiter bei Untersuchungen der Grabstädte Rhamses VI. auf in Stein gehauene Stufen einer mit Schutt verhüllten Treppe. Freigelegt, eine vermauerte Türöffnung mit intakten Siegel.

Der britische Archäologe telegraphiert sofort an seinen Geldgeber, der zuvor für die Finanzierung einer letzten Grabungssaison hatte überredet werden müssen: “Habe endlich wunderbare Entdeckung gemacht. […]” Ein Satz der in die Geschichte eingehen wird, übertroffen nur von den Funden selbst. Als Herrscher unbedeutend, für die Archäologie ist das Auffinden der Grabstätte des Tutanchamun und dessen Erforschung eine Sensation. Über den Kindkönig, die Entdeckung, deren Auswirkungen und der Erforschung, die bis heute anhält, liegt nun dieses sehr interessante Sachbuch vor.

In ihrer detaillierten Dokumentation beschäftigt sich die deutsche Ägyptologin Nadja Tomoum zunächst mit dem Zeitalter der Pharaonen selbst, bevor sie auf den eigentlichen Hauptgegenstand ihres Werks eingeht. Die Familie des jungen Pharaos wird ebenso beleuchtet, wie dessen kurzes Leben und die Frage, warum ein Grab so lange Zeit beinahe unentdeckt bleiben konnte, während andere Ruhestätten über die Jahrtausende hinweg fast vollständig geplündert wurden.

Danach beleuchtet sie das Leben derer, die diese letztendlich finden sollten, sowie die Auswirkungen auf die Menschen, die nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges die Entdeckungen als willkommene Ablenkung aufnehmen würden. Ein kritischer Blick auf die nahezu erste globale Mediensensation wird ebenso geworfen, wie aufgezeigt, wie akribisch und sorgsam Howard Carter und sein Team mit den aufgefundenen Schätzen umgingen.

In ihrem Sachbuch beschreibt Nadja Tomoum die faszinierende Begeisterungsfähigkeit und nicht zuletzt Pionierarbeit Carters und dessen Team, die bis heute fortgesetzt wird, detailliert geht sie auch auf die Auswirkung dieser ersten globalen Mediensensation ein und den Umgang mit den Funden im Vergleich damals zu heute.

Etwa der Frage, ob es bei den sehr fragilen Funden und angesichts der Unwiederbringlichkeit der Schätze nicht besser ist, heuer einen täuschend echt aussehnenden Nachbau der Grabkammer zu besichtigen als das Original, dessen Wandmalereien durch die Feuchtigkeit und den Staub, den die Besuchermassen mit sich bringen, akut gefährdet sind? Müssen auch die Grabbeigaben um die halbe Welt reisen oder sollte man sie nicht besser in Ägypten selbst besichtigen und sich in New York und anderswo nicht mit Repliken begnügen?

Die Autorin stellt in ihrem Buch damit nicht nur das Leben eines Herrschers oder die Arbeiten dessen Entdeckern dar, sondern auch die Grundfragen, denen sich forscher und museale Institutionen auf der ganzen Welt gegenüber sehen. Wie umgehen mit in der Historie, unter welchen Umständen auch immer, außer Landes gebrachten Fundstücken, die zweifellos zum kulturellen Erbe ihrer Herkunftsorte gehören? Wie erhalten, was durch Beschädigungen unwiederbringlich verloren ginge? Welche Methoden damaliger archäologischer Arbeiten sind zu hinterfragen, welche wissenschaftlichen Leistungen gar nicht hoch genug zu honorieren? Zumal Ausgrabungen immer auch mit wissenschaftlicher Grundlagenarbeit verbunden sind und gerade in dieser Zeit ein Umbruch erfolgte, im Umgang mit den Funden.

Sehr kompakt ist die Darstellung, ohne wichtige Details aus den Blick zu verlieren, auch eine einseitige Betrachtung umgeht Tomoum, da viele Perspektiven beleuchtet werden. Hier dreht es sich eben nicht alleine um das Leben des Pharao selbst, oder die Perspektive seines Entdeckers, auch auf die historische und heutige Sicht Ägyptens auf sein kulturelles Erbe wird Bezug genommen. Der Umgang mit den Schätzen alter Herrscher, sie hatte schon immer auch eine politische Komponente. Das ist bis heute so.

Ergänzt wird das aufschlussreiche Sachbuch durch einen farbfototeil und einer Zeittafel, anhand derer sich die Regierungszeit von Tutanchamun einordnen lässt, was noch einmal die Brisanz des Fundes einordnen lässt. Ein umfangreiches Quellenverzeichnis rundet die sehr genaue, doch nicht emotionsfreie, Ausarbeitung an, die ein faszinierendes Stück Entdeckergeschichte einem breiten Publikum zugänglich macht.

Ausschnitt aus “100 Jahre – Der Countdown 1922 – Das Grab des Tutanchamun”

Autorin:

Dr. Nadja Tomoum ist Ägyptologie und Kunsthistorikerin und Ägyptologin. Sie hat viele Jahre in Kairo gearbeitet und war als Museums- und Projektleiterin in In- und Ausland tätig. Ihre langjährige Erfahrung nutzt sie heute als Kulturschaffende und Ausstellungsmacherin im interkulturellen Kontext.

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