Gesellschaft

Narges Mohammadi: Frauen! Leben! Freiheit!

Inhalt:

Narges Mohammadis Buch lässt uns nicht nur am furchtbaren Gefängnisalltag der Frauen teilhaben, sondern auch ihren unbesiegbaren Zusammenhalt miterleben. Die Vorworte namhafter Expertinnen und die erklärenden Fußnoten bringen den Alltag im Iran, Gepflogenheiten und Bräuche sowie politische Strömungen näher, was die Lektüre nicht nur zu einem wichtigen Dokument der Gegenwart macht, sondern auch zu einem Augenöffner über den Iran und seine Menschen, die in Freiheit und Frieden leben wollen und sich weiter gegen ihre Unterdrückung wehren werden. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Die Reaktion eines Systems aus Angst vor Veränderung ist physische und psychische Gewalt gegen jene, die es als Gegner identifiziert und das sind in der theokratischen Diktatur Irans vor allem Frauen, die sich unterdrückt und ihren Freiheiten beraubt und darum betrogen fühlen und dies mindestens seit der iranischen Revolution, die viele Veränderungen zum Schlechteren mit sich brachte. Immer weniger Menschen lassen sich dies gefallen.

Das Regime, nicht fähig zur Veränderung, reagiert heftig und füllt seine Gefängnisse. Wieder sind es vor allem Frauen, die für ihre Rechte einsetzen, die darunter zu leiden haben. Allein, der Widerstand hält an. Auch aus den Gefängnissen des Staates, seines Geheimdienstes, der Revolutionsgarden heraus. Einige von ihnen, allem voran Narges Mohammadi, die 2023 den Friedensnobelpreis für ihren Kampf um die Menschenrechte erhalten hat, erzählen nun ihre Geschichte. So entstand eine Sammlung von Interview-Portraits von Frauen verschiedener Gesellschaftsschichten, Religionsgemeinschaften und Hintergründen, welche zeigt: Der Protest der Frauen im Iran ist vielschichtig und auch eingesperrt, sehr lebendig.

Dem vorangestellt gibt es zunächst eine Einordnung verschiedener Expertinnen für den Iran und der Menschenrechte, auch die Biografie Narges Mohammadi wird bündig dargestellt, um zu verstehen, woher die Kraft dieser und anderer Frauen für die Proteste kommt, die teilweise seit Jahrzehnten geführt werden. Auch verschiedene Arten der in den iranischen Gefängnissen und bei Verhören verwendeter Folter wird eingeordnet und sortiert.

Die körperliche Gewalt von Gefängniswärtern etwa ist das eine, die psychische, etwa durch Einzelhaft und Isolation, sogenannte weiße Folter, ist ein anderer Bestandteil dieses perfiden Systems, welches allzu oft außer Blickfeld gerät.

Die Frauen schildern in den Interviews, die nicht selten aus den Gefängnissen heraus geschmuggelt werden mussten, ihre Wege, die sich oft kreuzten. Lesend entdeckt man Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede und Veränderungen von Verhörsituationen und der Haftsituation, die über die Jahrzehnte mit unterschiedlichen Zielen geführt wurden, an derer nicht wenige zerbrachen. Besonders vermögen beschriebene Momente der Stärke zu beeindrucken. Immer wieder fragt man sich, woher bloß diese Frauen, denen Tag für Tag jede Perspektive vorenthalten wird, diese Kraft nehmen.

Sehr trocken wirken teilweise die für das Vorwort gewählten Texte, in deren Erläuterungen einige Wiederholungen tatsächlich ermüden, doch beim Lesen der Interviews wird klar, dass diese nur dazu dienten um Wichtig- und Dringlichkeit der Beschäftigung mit der Thematik zu verdeutlichen. Die Proteste und der Widerstand der Menschen, insbesondere der Frauen, benötigt Aufmerksamkeit, die bei all den anderen Krisenherden zu kurz kommt. Die Wirkung der Interviews ist mit bedrückend beschrieben noch untertrieben. Es wird einem schlecht beim Lesen der geschilderten unmenschlichen Grausamkeit eines Systems und derer, die es am Leben erhalten.

Solche Sammlungen und Berichte braucht es, auch um die Politik anderer Länder entsprechend in Aufmerksamkeit zu halten und den Menschen die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie benötigen. Nur ein Bruchteil kommen hier natürlich zu Wort, an manchen Stellen sind die Schilderungen auch arg gerafft, doch darf man dabei nicht vergessen, unter welchen Bedingungen diese zustande gekommen sind. Fast schade, dass Rezensionssysteme auch dafür eine Wertung “verlangen”.

Autorin:

Narges Mohammadi wurde 1972 geboren und ist eine iranische Menschenrechtsaktivistin. Sie ist Vizepräsidentin des Defenders of Human Rights Centers und Kritikerin des Hijab- und Keuchheitsprogramms von 2023 2016 wurde sie zu 16 Jahren Haft verurteilt, da sie sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzt. Vor ihrem Engagement studierte sie zunächst Physik und arbeitete als Ingenieurin und begann für eine Studentenzeitung zu schreiben, worauf hin sie erstmals verhaftet wurde. Sie schrieb zunächst für mehrere reformistische Zeitungen und wird seit 1998 immer wieder verhaftet. Sie kritisiert Folter, Einzelhaft und Menschenrechtsverletzungen, bekam 2023 für ihr Engagement den Nobelpreis verliehen. Ihre Familie lebt inzwischen im Exil.

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Alexander Häusser: Karnstedt verschwindet

Inhalt:

Wer in der Schule zu sehr aus der Masse heraussticht, wird schnell zum Außenseiter. Doch für Simon und Karnstedt, die beide gar keine andere Wahl haben, als aufzufallen, bedeutet die Ausgrenzung der Beginn ihrer besonderen Freundschaft. Über zwanzig Jahre später steht Simon vor dem Haus seines Jugendfreundes.

Nach der Schulzeit brach jeglicher Kontakt ab, bis Simon die Nachricht von Karnstedts Verschwinden erreichte. Nun soll sich ausgerechnet Simon um dessen Nachlass kümmern. Als er das Haus betritt, findet er ein heilloses Chaos vor. Und überall dazwischen: Erinnerungen. Von ihm, dem klein gewachsenen Simon, und dem kahlen Karnstedt, der mit seinem Anderssein den Klassenkameraden Tummer und dessen Clique provozierte. Beide teilten damals ein Geheimnis, das der Grund für die rätselhaften Ereignisse zu sein scheint. (Klappentext)

Rezension:

Eine Erzählung, gleichsam wie ein Schrei und doch ganz leise. Das ist “Karnstedt verschwindet” des Schriftstellers Alexander Häusser, dessen Roman sich keinem Genre ausschließlich zuordnen mag. In einer Verbindung einer Coming-of-Age-Geschichte mit einem Kriminalroman und Psychorama erleben wir die Geschichte einer Jungenfreundschaft aus der Sicht dessen, der zurückblicken muss.

Neugierig und ängstlich zu gleich, was er entdecken mag und über diese Verbindung und damit auch über sich selbst herausfinden wird. Der eher kompakt gehaltene Text kommt auf leisen Sohlen daher, wie der Protagonist selbst für sich anhand seiner Umgebung die Vergangenheit aufdröselt, die ihn vielleicht im übertragenen Sinne in den Abgrund führen wird. Genau weiß er das zunächst nicht, auch wir bleiben zu Beginn lesend unwissend.

Drei Handlungsstränge braucht es, die zwischen den Zeitebenen und der Genre wechseln. Nachvollziehbar ist das vor allem anfangs nicht immer, doch nach und nach wird zusammengeführt und es ergibt sich ein klares Bild der überschaubaren Hauptfiguren, die der Autor hier aufeinandertreffen lässt. Welche Figur hat auf wen größeren Einfluss? Wer ist wessen Spielball? Wie die Reaktion? So wird eine Gemenglage aufgebaut, die unweigerlich zum Ausbruch führen muss.

Die Geschichte spielt im Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Rückblenden sind die stärksten Elemente der Erzählung, in denen der Ich-Erzähler immer mehr eigene Konturen gewinnt, sein Konterpart im Wechsel zwischen Faszination und Abstoßen ein sehr differenziertes Bild abgibt. Auch der Antagonist bekommt seine Ecken und Kanten. Ruhige Sätze lullen ein, um mit einem lauten Knall zu überfallen. Einige dieser Momente wirken arg gewollt platziert, doch möchte man unbedingt weiterlesen, erfahren. Ein gewisser Sog ist über Strecken nicht abzusprechen.

Der Erzähler nimmt diese Perspektive dauerhaft ein und setzt in seine Erinnerungslücken einzelne Puzzleteile gleichsam den Überbleibseln seines verschwundenen Gegenübers ein, um sein eigenes Bild zu vervollständigen. Immer wieder gibt es zwischen den Zeilen verschiedene Ebene als verbindende Elemente zwischen den Handlungssträngen. Entstehende Längen durchbrechen dann zuweilen den Lesefluss, dem an einigen Stellen mancher Sprung nicht hilft. Mit dem nächsten Satz hat der Autor jedoch wieder packen können.

Eine unterschwellige Spannung ist die ganze Zeit über zu spüren, wenn auch die Wendungen nicht immer überraschen können. Gerade zum Ende hin, funktioniert dies jedoch gut, was daran liegen mag, dass man sich spätestens ab Mitte des Romans in den Erzählstil eingefunden hat. Der in der Vergangenheit liegende Handlungsstrang wird dabei zu Ende am stärksten in Erinnerung bleiben. Punktuell hätte der Geschichte etwas mehr Detailliertheit gut getan, zudem Häusser passagenweise durchaus filmisch zu beschreiben weiß.

Die Perspektive und Position des Erzählenden wird, außerhalb der Zeitebene, von Beginn an sich nicht ändern. Das Gefühlschaos des Protagonisten tut es dagegen stetig. Simon wächst einem ans Herz, ist nachvollziehbar. Karnstedt als zweite Hauptfigur bleibt wie vom Nebelschleier umhüllt. Glaubt man ihm fassen zu können, endgleitet er einem schon wieder.

Egal, welches Buch man lesen möchte, den nicht ganz einfachen Coming-of-Age-Roman, das Psychogram oder den Kriminalroman, mit “Karnstedt verschwindet”, wird man all das bekommen. Ist nur die Frage, was davon am besten funktioniert. Für mich hat sich das entschieden.

Autor:

Alexander Häusser wurde 1960 in Reutlingen geboren und studierte zunächst Germanistik, Philosophie und Geschichte. Für sein Werk, welches mehrere Romane umfasst, erhielt er Auszeichnungen, wie den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg. Häusser wirkt zudem im Rundfunk mit. Sein Roman “Zeppelin!” wurde für das Kino verfilmt.

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Fatih Cevikkollu: Kartonwand

Inhalt:

Sie steht symbolisch für den Traum vom baldigen Glück in der Heimat: eine ganze Wand aus Kartons, in denen alles verstaut wird, was schön und wertvoll ist – für das spätere Leben in der Türkei. Was macht es mit Menschen, wenn sie irgendwann merken: der Traum zurückzukehren hat sich nicht erfüllt? Und das neue Zuhause möchte einen lieber heute als morgen loswerden, egal, wie lange man schon hier lebt und wie sehr man sich auch anstrengt?

Fatih Cevikkollu erzählt von den generationsübergreifenden Wunden, die die Arbeitsmigration gerissen hat, und gibt so einer bisher übersehenen Gruppe eine Stimme: die der sogenannten “Gastarbeiter” und ihrer Familien. (Klappentext)

Rezension:

In einer Mischung aus Familiengeschichte, Biografie, Bericht und Zustandsbeschreibung sucht der Theater- und Fernsehschauspieler Fatih Cevikkollu Antworten auf drängende Fragen, die sich für ihn spätestens seit dem Tod seiner Mutter, hintergründig jedoch schon viel eher gestellt hatten. Wo liegen Ursachen und auslösende Momente der Psychose, die sie ins Unglück stürzten und an denen die Familie augenscheinlich zerbrach und wie weit reichen die Geschehnisse, so sie es tun, in das Tun und Wirken seiner, d. h. der nachfolgenden Generation hinein?

Die Eltern gehören zur ersten Generation der sogenannten Arbeitsmigranten, die in den 1960er Jahren im Rahmen des Abwerbeabkommens mit der Türkei nach Deutschland kamen und so einen bedeuteten Anteil zum Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit beitrugen. Gedankt wurde es ihnen nicht. Der deutsche Staat nicht gewillt, herkommende Menschen zu integrieren, macht es ihnen bis heute nicht leicht, die Gesellschaft ebenso wenig, auch in der ursprünglichen Heimat war später kaum ein Anknüpfen möglich. Und so blieb diese Generation entwurzelt ohne neue Wurzeln schlagen zu können. Dies hatte, ebenso auf sie wie auf die Kinder ihren Einfluss.

Fatih Cevikkollu begibt sich auf die siche, spürt der eigenen Familiengeschichte nach und analysiert zunächst die geschichtlichen Grundlagen und Ausgangsvoraussetzungen, auf die der neue deutsche Staat nach Kriegsende fußte und welche Überlegungen seitens Politik und Gesellschaft den Anwerbeabkommen vorausgingen. Darauf aufbauend nimmt er die eigene Familiengeschichte in Bezug. Lassen sich so seine drängensten Fragen klären? Wie weit gelten sie?

Für die Familie, für die Mutter, die eigentlich psychologischer Hilfe bedurft hätte, aber nie Zugang dazu bekam. Zugleich sachlich und einfühlsam analysiert er in kompakter Form diese Punkte und setzt sie zueinander in Bezug. Anhand von persönlich Erlebten, ob von Familienmitgliedern erzählt oder aus der eigenen Erinnerung heraus, wird das Erzählte verdeutlicht und gibt so einen Einblick in eine Thematik, die bisher kaum registriert wurden ist. Dabei kennt man die Grundproblematik durchaus, in Bezug auf die nachfolgenden Generationen der Überlebenden des Holocausts und der Frage, warum habe ich überlebt? Abgesehen von der Fragestellung ist die Frage, in wie weit Traumata in nachfolgende Generationen hineinreichen, die gleiche.

Der Autor hat sich in “Kartonwand” ein wichtiges Stück der jüngeren Zeitgeschichte vorgenommen, deren Riss sich durch viele Familien in Deutschland und der Türkei zieht und ihre Spuren hinterlassen hat. Von der Ausgangssituation folgen wir seinen Ausführungen über die erste Generation der Migranten bis ins heute zu einem Zeitpunkt, in der deren Kinder längst erwachsen sind und als Folge ihren Platz in der Gesellschaft suchen müssen, was ihnen immernoch erschwert wird.

Wie viel können Menschen aushalten, denen übergreifend immer wieder verdeutlicht wird, dass kein Platz für sie vorgesehen ist. Cevikkollu möchte verstehen, jedoch auch die Aufmerksamkeit schaffen, am Beispiel seiner Familie, welche seelichen Wunden da geschaffen wurden und dass unsere Gesellschaft dies verstehen und danach handeln muss. Zwischen den Zeilen ist berechtigt zu lesen, hier kommt ein Land schlicht und einfach einer Fürsorgepflicht gegenüber denen nach, die alles Recht dazu hätten, dies einzufordern, auch rückwirkend, zumal wenn man sieht, dass es eben doch bei zahlreichen Beispielen funktioniert, wie man z. B. an den ukrainischen Flüchtlingen sieht. Da wurde viel richtig gemacht. Warum nicht so, von Anfang an.

Dies wird nur kurz angesprochen, dem Autoren liegt es fern, Menschen gegeneinander auszuspielen, aber er möchte verdeutlichen und zieht Vergleiche, um zu veranschaulichen. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass er nicht auf Allgemeingültigkeit besteht, sich vor allem auf das Schicksal seiner Mutter und Familie beschränkt und stetig versucht, diesen Fokus aufrechtzuerhalten, um sich so auch viele Gegebenheiten aus seiner Kindheit im Nachhinein zu erklären.

Die detailreiche familienbiografische Analyse, die sich nicht so trocken liest, wie das klingen mag, lässt einem fassungslos zurück, zudem wenn man weiß, wie ein Land und seine Gesellschaft den gleichen Fehler mehrfach begehtm, bis heute. Ausnahmen, siehe oben. “Kartonwand” regt zum Nachdenken an und schafft Grundlage, nicht nur anhand dieser Familiengeschichte etwas aufzuarbeiten, worüber bisher überwiegend geschwiegen wurde. Von beiden Seiten.

In sofern ist dies ein wichtiger, dennoch kurzweilig formulierter, Text, sowohl für Betroffene, vielleicht als Anlass ebenfalls die eigene Familiengeschichte zu verstehen, andererseits die Stimme zu erheben und für die Gesellschaft sollte es ein wichtiger Denkanstoß sein. Vielleicht lassen sich so auch Handlungs- und Denkweisen bestimmter Gruppen nachvollziehen, um künftig Ursachen, die sich so auswirken, gleich aus den Weg räumen. Wenn der Autor mit der Geschichte seiner Familie dazu einen Anstoß gegeben hat, hat er mit “Kartonwand” etwas erreicht.

Autor:

Fatih Cevikkollu wurde 1972 in Köln geboren und ist ein deutscher Theater-, Film- und Fernsehschauspieler und Kabarettist. Er arbeitete zunächst als Theaterschauspieler, bevor er an der Hochschule Ernst Busch in Berlin studierte und ans Düsseldorfer Schauspielhaus ging.

Später übernahm er eine Rolle in der Fernsehserie “Alles Atze”, spielte auch verschiedene Film- und Fernsehrollen. Seit Mitte der 1990er Jahre war er zudem Mitglied der Hip-Hop-Gruppe Shakkah. 2006 bekam er den Jurypreis Prix Pantheon und 2008 folgte die Veröffentlichung seines ersten Buches, dem weitere folgten. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet.

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Thomas Edler: Reisebus & Pflaumenmus

Inhalt:

Jahre nach der Matura ergibt sich für die beiden Freunde Hannes und Thomas die Gelegenheit, mit einem Reisebus von Indien nach Europa zu fahren. Die Gelegenheit, aus dem Alltag auszubrechen, ist ein großes Abenteuer, doch schon bei der Einreise nach Pakistan kommt es zu Schwierigkeiten, die den gesamten Trip infrage stellen. Wenn sie es innerhalb der nächsten Tage schaffen, über die Grenze zu gelangen, waren alle Vorbereitungen umsonst.

Unterwegs auf einer Transitroute, die seit jeher Europa mit Asien verbindet, begegnen die beiden Freunden verschiedenen Kulturen, Menschen und Geschichten aus längst vergangenen Tagen. (abgewandelter Klappentext)

Rezension:

Es ist eine dieser Gelegenheiten, die sich nur selten im Leben, vielleicht nur einmal, ergibt und so ergreifen zwei Freunde die Chance, zwischen den Kulturen zu reisen. Ihr Weg führt sie entlang einer alten Handelsroute, späteren Hippie-Trail, in umgekehrter Richtung vom rastlosen Indien wieder zurück in die Heimat nach Österreich. Unterwegs mit einem VW Bus, kommen sie mit den Menschen ins Gespräch, Einheimische und andere Reisende, lassen sich deren Geschichten erzählen und spüren einer Vergangenheit nach, die auch heute noch Tempo und Empfindungen der durchquerten Regionen bestimmt.

Den modernen Reisebericht muss der Spagat gelingen, sowohl einerseits jene mitzunehmen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, nicht zu verklären oder in Klischees zu versinken, das Fernweh wecken und die Faszination der beteiligten Akteure zu transportieren. Nichts ist schlimmer als mit rosaroter Brille zu erzählen und dabei ein Publikum zu verlieren oder gar überhaupt nicht zu gewinnen.

Eventuell kennt jeder die eine oder andere Erzählung, gar längere Foto- oder Videovorführungen im Bekanntenkreis, die im Grunde nur für den jeweils Beteiligten Erinnerungen wecken, jedoch für andere eher den Stellenwert einer Hintergrundberieselung innehaben. Dieses Phänomen lässt sich nicht selten auf Texte übertragen. Thomas Edler gelingt in seiner Mischung aus Reportage und Bericht jedoch der Drahtseilakt, die Faszination herüberzubringen und sehr einnehmend von seinem großen Abenteuer zu erzählen.

Zum einen ist da der Bericht über die Fahrt selbst und die Schilderung von Begegnungen entlang des Weges, die ergänzt werden durch Blenden in die Geschichte der bereisten Orte, sowie Einblicke den Alltag der Menschen heute. Ergänzt durch rein informative Absätze, durchmischt mit Kuriosa von landestypischen Gerichten bis hin zur Teppichkunde, ist mit “Reisebus & Pflaumenbus” das Porträt einer Reise gelungen, die man gerne nachverfolgt, zumal anhand von Fotos und der obligatorisch abgedruckten Routenkarte.

In ruhiger Tonalität erzählt Thomas Edler von einer Reise voller Unwägbarkeiten und faszinierenden Begegnungen, welche auf Gegenseitigkeit beruhen. Wohltuend hebt sich der positive Blick auf Gegebenheiten und Unterschiede hervor, immer im Vertrauen, dass der Reisetrip schon irgendwie vorangehen wird, schließlich ist man auf geschichtsträchtigen Routen unterwegs und das Gefährt hat ja den Weg in die andere Richtung auch ohne größere Probleme gemeistert.

Kurzweilig wirken die einzelnen Kapitel, in denen der Autor von den einzelnen Reiseabschnitten erzählt. Diese nehmen so ein, dass man sich gut vorstellen kann, diese Reise oder zumindest einzelne Teilstücke dieser selbst einmal nachzuvollziehen und ein Stück von dieser Faszination der beiden Freunde mitzunehmen, zumal ein gewichtiger Teil des Trips durch Länder folgt, von denen uns hier sonst nur bestimmte Bilder erreichen. Alleine deshalb schon ist dieser Bericht empfehlenswert. Entlang der einstigen altertümlichen Handeslrouten herrscht noch immer geschäftiges Treiben und lassen sich noch Abenteuer erleben.

Auch sprachlich schafft es “Reisebus & Pflaumenmus” den Bogen zwischen Bericht und Informativen zu schlagen, wenn sich auch abschnittsweise einzelne Sätze das eine oder andere Mal wiederholen. Das kann jedoch auch meinen Lesegewohnheiten geschuldet sein, ist ohnehin nur ein Abzug in der B-Note, schließlich liegt der Fokus bei dieser Art von Reportagen auch woanders. Tatsächlich wünsche ich mir mehr solche Texte, die die Faszination für andere Länder und Kulturen wecken, dabei einen Rundumblick versuchen und Lust darauf machen, selbst Abenteuer zu erleben.

Autor:

Thomas Edler wurde 1971 geboren und ist ein österreichischer Projektmanager und Autor. Zunächst studierter er in Granz Betriebswissenschaften, bevor er im Bereich der erneuerbaren Energien tätig wurde. Nebenher schreibt er Texte über die Schulzeit und über das Reisen, versucht diese mit kulturellen Erfahrungen und historischen Gegebenheiten zu verbinden. In “Reisebus & Pflaumenmus” erzählt er von seinem 2008 mit einem Freund unternommenen Trip von Indien nach Österreich.

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Linda Segtnan: Das achte Haus

Inhalt:

An einem Maiabend im Jahr 1948 verschwindet die neunjährige Birgitta Sivander zwischen den Bäumen eines schwedischen waldes und kehrt nicht mehr zurück. Kurz vor Sonnenaufgang wird sie tot in einem graben gefunden. Siebzig Jahre später liest Linda Segtnan zufällig einen Zeitungsartikel über den ungeklärten Mord. Etwas veranlasst sie, Birgittas Schicksal näher zu erforschen. Sie beginnt, in Archiven zu recherchieren, doch auch vor dem Unergründlichen dieses Falls schreckt sie nicht zurück. Ihre Besessenheit wird immer größer – während gleichzeitig in ihrem Bauch Leben heranwächst. Ein Mädchen. Wie hält man es aus, ein Kind in eine Welt zu setzen, die so bodenlos grausam sein kann? Wie erträgt man die Gefahren, die eine Tochter bedrohen? (Klappentext) 

Rezension:

Es ist das wohl schrecklichste aller Szenarien, wenn dem eigenen Kind etwas angetan wird, wenn dieses plötzlich verschwindet und später tot aufgefunden wird. Welten brechen damit zusammen und nicht nur für die Eltern ist danach nichts mehr, wie zuvor. Am Ende bleiben Verzweiflung, Hilflosigkeit, Ermittlungsakten und Zeitungsartikel. Auf letzteren stößt zufällig Linda Segtnan bei der Vorbereitung einer ihrer Stadtführungen, nicht ahnend, dass bald die Recherche nach den Hintergründen sie in Abgründe stößt, denen sie sich nur schwer entziehen wird können.

Der Kriminalfall an sich gilt aus damaliger Sicht als schnell gelöst. Die schuldige Person ist schnell ausgemacht. Lücken und Differenzen, die aus heutiger Sicht kaum zu übersehen sind, werden als nichtig abgetan, doch stößt man sich unweigerlich daran, wenn man sich heute damit beschäftigt. Wurden bestimmte Aspekte zu Gunsten einer einfachen Lösung damals außer Acht gelassen, da entweder untersuchungstechnische Mittel nicht zur Verfügung oder gesellschaftliche zwänge im Wege standen? 

Mit diesem Spagat hat sich die Autorin beschäftigt und damit eine Besonderheit im Bereich des True Crime geschaffen, eben nicht nur nüchtern einen Fall nacherzählt. Segtnan wollte erfahren, warum handelnde Personen wie ermittelnde Beamte  bestimmte Entscheidungen trafen und was dies mit den Familien des Opfers, des Verdächtigen und mit ihrer Umgebung machte, zugleich schildert sie, was die Erkenntnisse mit ihr selbst machten, was dieser Fall auch Jahrzehnte später noch auszulösen vermag.

Im Wechsel zwischen den Zeiten, einmal die Nachstellung damaliger Szenen, wie sie sich abgespielt haben müssen, dann wieder wie die Recherche nach Fakten und weiterführenden Informationen in das eigene Leben hineingreifen, schildert sie diesen Kriminalfall, versucht nach und nach ein Puzzle zusammen zu setzen. Je klarer sich Konturen, Ecken und Kanten ergeben, um so unerträglicher wird es, zumal Familie und Privatleben, was sich daraus ergibt. Zunächst besteht die Recherche da nur aus dem Zusammensuchen von Zeitungsartikeln, später Archivmaterial bis hin zur Kontaktaufnahme mit Zeitzeugen und Ortsbegehungen. Nicht nur diese Schilderungen sind es, die eine Dynamik beim Lesen erzeugen, der man sich ebenso wie die Autorin kaum entziehen mag.

Linda Segtnan legt sich dabei nicht fest, stellt mehrere Perspektiven dar, um ein vielschichtiges Bild aufzuzeigen. Wie war das gesellschaftliche Gefüge der örtlichen Gemeinschaft, in deren Nähe dieses Verbrechen geschah, wie der stand der einzelnen Familien und Personen, sowohl des Opfers als auch des Verdächtigen und wie der Umgang mit beiden, der so in alle Richtungen heute nicht mehr vorkommen würde? Welche Auswirkungen hatte dies auf die Ermittlungen und wie wirkt das in der Nachbetrachtung heute?

Gegensätze werden dabei sehr detailliert herausgearbeitet. Es ist aber eben auch spannend zu erfahren, wie die Autorin mit dem Wissen umgegangen ist, und dieses verarbeitet hat, wenn auch die spiritistischen Einsprengsel manchmal ein Zu viel des Guten gewesen sind, sollte man sich doch eigentlich über die Vorgehensweise der ermittelnden Beamten aufregen, die den Fall von Beginn an in eine bestimmte Richtung gelenkt haben, ohne andere Facetten überhaupt in Betracht zu ziehen, anstatt über die Autorin selbst. 

Manchmal fragt man sich beim Lesen schon, wie ernst man die Autorin noch nehmen kann, wenn wiederholt die App erwähnt wird, die auf ihrem Smartphone aufgespielt, angeblich die Anwesenheit von Geisterwesen anzeigt. Diese Erwähnungen einmal bitte ausklammern und nach dem Lesen schnell vergessen, um den Fokus auf andere Aspekte, nämlich die Beschäftigung und Vereinnahmung des Falls, legen, dann ist “Das achte Haus” allemal eine spannende Lektüre wert.

Trotzdem mögen alle für sich bestimmte Anknüpfungspunkte finden. Fans von True Crime kommen hier auf ihre Kosten, ebenso wie an Psychologie interessierte Menschen, aber auch jene, die sich gerne mit Historie und gesellschaftliche Zusammenhänge vergangener Zeiten beschäftigen möchten. 

Es fehlt, glücklicherweise, der zu sehr melancholisch alles übertünchende Mehltau, der zumindest in der romanhaften skandinavischen Kriminalliteratur immer noch häufig anzutreffen ist. Im True Crime Bereich gleicht “Das achte Haus” in etwa Michelle McNamaras “Ich ging in die Dunkelheit”, welches die Autorin sowohl als Vorbild nennt, jedoch auch in den Folgen für McNamara als abschreckendes Beispiel. Dieser Gefahr des sich in etwas Hineinsteigern hat Segtnan förmlich versucht zu vermeiden. Ob dies ihr gelungen ist, bitte einmal selbst herausfinden.

Auf der einen Seite die Schilderung des Falls, auf der anderen die des Verarbeitungsprozesses als Kontrapunkt zeichnen sich verantwortlich für die Dynamik und das Erzähltempo, den man sich kaum entziehen kann. Als gelernte Stadtführerin kann die Autorin zudem detailreich Orte bildlich vor dem inneren Auge entstehen lassen, was dann beinahe eine gewisse literarische Qualität besitzt, ohne jedoch diesen Anspruch haben zu wollen. Zuweilen wirkt das so, als würde man den Besprechungen, Begehungen beiwohnen. So schafft die Autorin Nähe zu sich selbst und auch zum recherchierten Geschehen.

Für Fans von True Crime, die auch einmal einer anderen Herangehensweise als im englischsprachigen Raum offen gegenüberstehen, ist “Das achte Haus” als Lektüre zu empfehlen, ebenso für jene, die die sich auch mit hierzulande unbekannteren Fällen beschäftigen möchten. Der besondere Aspekt des beschriebenen Vereinahmung- und Verarbeitungsprozesses bringt noch einmal eine andere Komponente mit hinein, auf die man sich einlassen können muss.

Alleine der Zugang zu den spiritistischen Einsprengseln geht mir persönlich ab und hätte es wirklich nicht gebraucht. Viel spannender waren da die Schilderungen historischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge, für die sich dann doch alleine schon die Lektüre lohnt. Unter diesen Gesichtspunkten kann ich “Das achte Haus” empfehlen. 

Autorin:

Linda Segtnan wurde 1986 geboren und ist eine schwedische Historikerin und Autorin. Sie hat Audio-Horrorgeschichten mit historischem Bezug zu Orten in Schweden recherchiert, geschrieben und aufgenommen. Das achte Haus ist ihr erstes Buch, es erschien im schwedischen Original im September 2022. Segtnan lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Stockholm.

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Pia Volk: Deutschlands schrägste Orte

Inhalt:

Die Geographin und Journalistin Pia Volk hat sich zwischen Wattenmeer und Allgäu, zwischen dem Frankfurter Mainufer und dem Sorbenland umgesehen und ist dabei auf lauter schräger und seltsame Orte gestoßen: eine Eiche mit eigener Adresse; ein fortgespültes Atlantis in der Nordsee; ein Kronleuchter in der Kölner Kanalisation; die letzte noch erhaltene Grenzschleuse für sowjetzonale Agenten. (Klappentext)

Rezension:

Was in der Ferne gut klappt, müsste doch eigentlich auch in unmittelbarer Umgebung funktionieren? Tatsächlich gibt es auch in der Mitte Europas, die von Straßen durchzogen, von Schienensträngen zerschnitten und von ausufernden Städten bestimmt ist, noch allerhand zu entdecken. Und das in einer Zeit, in der Satelliten helfen, uns überall zu orientieren und praktisch jeder Winkel, so meint man, kartografiert ist. Doch auch in der Heimat lohnt ein genauer Blick.

So begab sich die Journalistin Pia Volk auf Reise quer durch Deutschland und erkundete allerhand Kuriositäten. Versammelt sind sie nun in einem Buch.

Keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt diese Mischung aus lexikonartiger Zusammenstellung und kurzweilig kompakter Reiseberichte, die unseren Blick schärfen, für das Ungewöhnliche. Man findet es überall, entdeckt es manchmal erst aus der Vogelperspektive oder mit einem Abstieg in den Untergrund.

Wer weiß etwa von dem Kernkraftwerk, welches keines sein durfte, jedoch zu einem Freizeitparkgelände umgebaut wurde? Das andere, den einzigen Vergnügungspark der DDR und sein Überbleibsel mag man vielleicht kennen. Warum hängt ein Kronleuchter mitten in der Kanalisation Kölns und wo können Autofahrer eigentlich beten, wenn sie sich selbst dank fehlender Geschwindigkeitsbegrenzung überholen?

Pia Volk erkundet die Orte, die dem ersten Blick verborgen bleiben, deren Geschichten auf dem zweiten um so interessanter sind. Viele künden von menschlichen Schaffensdrang. Manche Gegenden haben auch eine unheilvolle Vergangenheit. Was wurde aus den Ideen von Einst, wie geht man mit ihnen heute um und wie können sie unsere Wahrnehmung von Heimat verändern? Kurzweilig und sehr informativ sind die Beschreibungenin der Form von Reiseberichten, so dass man selbst Lust bekommt, die eine oder andere Kuriosität, so sie nicht in diesem Werk vorkommt, selbst zu erkunden oder zu ergänzen, wozu die Autorin ausdrücklich auffordert.

Einiges mag bekannt vorkommen, zumal in näherer Umgebung, anderes zeigt die sozio- und städtegeografische Vielfalt unserer Heimat und ist so gesammelt eine wunderbare Ergänzung im Lexika-Bereich, die zum Schmunzeln und Nachdenken einlädt.

Autorin:

Pia Volk ist eine deutsche Journalistin. Zuvor studierte sie Geografie und Ethnologie und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Zudem veröffentlicht sie regelmäß Beiträge bei Deutschlandfunk Nova und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Mit ihrer Familie lebt sie in Leipzig.

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Lena Gilhaus: Verschickungskinder

Inhalt:

Über 15 Millionen Mal wurden Kinder in der BRD und der DDR seit 1945 zur Kur geschickt. Für viele von ihnen waren diese Wochen prägend – und danach haben sie kaum darüber geredet. Wie haben sie diese Zeit erlebt? Wer hat sie dort betreut? Was haben sie davon mitgenommen? Und welche Tiefenwirkungen hatte das für die Gesellschaft der Nachkriegszeit? (Klappentext)

Rezension:

Ein Gefühl der Unsicherheit und Beklemmung beschleichen dem Vater von Lena Gilhaus, der sich zusammen mit seiner Schwester und Tochter aufmacht, um die Spuren weniger Wochen auszumachen, die sein Leben im Unterbewusstsein für immer verändert haben. Auf Sylt waren die Geschwister in ihrer Kindheit auf Kur, von den Eltern getrennt. Danach sollte nichts mehr so sein, wie zuvor. Über die Reise und Recherche veröffentlichte die Autorin kurz darauf einen Artikel und brachte damit eine Lawine ins Rollen. Lena Gilhaus stieß auf immer mehr Geschichten von Menschen, die sich bei ihr meldeten oder in Foren sich selbst auf Spurensuche begeben hatten und auf Mauern des Schweigens stießen. Das nun vorliegende Werk erzählt die Geschichte einiger von ihnen.

Unter den Deckmantel von Gesundheitsprävention und Erholungskuren wurden Schätzungen zufolge bis zu 15 Millionen Kinder wochenlang ihren Familien entnommen, in die Berge oder ans Meer geschickt, doch war der systemische Eingriff behördlicher Institutionen nichts anderes als die Kontrolle über Kinder aus milieugefährdeten Familien oder solcher, die man dafür hielt. Bis hinein in die 1980er Jahre sahen sich schon Kleinstkinder mit einem in der Gesellschaft verwurzelten System schwarzer Pädagogik konfrontiert, welches sich seit Weimarer Zeit etabliert hatte, sich jedweder Kontrolle entzog und sich nur langsam wandelte.

Wenige haben diese Wochen positiv in Erinnerung. Zu sehr bestimmten fernab der eltern physisische und psychische Gewalt den Alltag in oftmals maroden, unterfinanzierten Einrichtungen, in denen Personalmangel und veraltete Ansichten nicht nur zu Zwangsernährung oder Isolation führen konnten. Auch zu Missbrauchs- und Todesfällen kam es, über die Verbände und Behörden nur allzu oft einen Mantel des Schweigens legten.

Wie konnte sich ein solches System so viele Jahre in beiden deutschen Staaten halten? Woraus ist es entstanden? Welche Leitlinien folgten Heimleitungen, Behörden und Vereine, denen die Einrichtungen unterstanden? Warum begann der Prozess der Aufarbeitung erst so viel später und steht immernoch am Beginn? Diese und andere Fragen zu beantworten, Geschichten aufzuspüren und für Klarheit zu sorgen, begibt sich seit einigen Jahren die Journalistin Lena Gilhaus auf Spurensuche, nicht zuletzt, um auch für ihren Vater ein Stück Klarheit zu erwirken.

Entlang von Berichten Betroffener, im persönlichen Interview und noch viel zu seltener Akteneinsichten spürt sie der Geschichte der Kinderverschickung auf, die noch vor dem Ersten Weltkrieg beginnt, unter Kontrolle und anderen Vorzeichen im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreicht und dann, teils mit den gleichen Akteuren unter anderen Namen von Beginn der Nachkriegszeit an fortgeführt wird? Welchen Nutzen hatte dies für Behörden und eingebundenen Vereinen? Welche Folgen trugen Betroffene davon?

Die Journalistin berichtet im vorliegenden Sachbuch von Institutionen, die heute nichts mehr von ihrer dunklen Vergangenheit wissen möchten, verweigerten Zugang zu Archiven und die tiefenpsychologische Wirkung von Verarbeitungsprozessen, die so keinen Abschluss finden werden, stellt das System der Verschickung jedoch auch im Kontext der jeweiligen Zeit dar, in dem sie geschah. Lena Gilhaus erzählt von einfühlsamen Gesprächen und einer Spurensuche auf schwierigen Pfaden.

Was macht es mit den Menschen, teilweise ohne die Gründe dafür zu kennen, schon im Kleinkindalter von Eltern und Verwandten für Wochen getrennt zu werden, um dann einen vollkommenen Bruch zu erleben, der an Gewalt oder Empathielosigkeit kaum zu überbieten ist? Weshalb griffen nach Bekanntwerden einiger Missstände weder Behörden noch, viel wichtiger, zahlreiche Eltern nicht ein? Wie steht es um das System der Kinderkuren heute? Welchen Wandel hat es durchlaufen?

In kleinteiliger und mühevoller Recherche voller Hindernisse stellt Gilhaus ein dunkles, kaum bekanntes Kapitel deutscher Geschichte detailliert dar und verdeutlicht dies anhand des Parallstranges der Erlebnisse ihres Vaters, sowie immer wieder eingewoben, den Berichten anderer Betroffener aus West und Ost. Welche Unterschiede gab es, welche Gemeinsamkeiten? Wer waren die Akteure?

Die Autorin verleiht den ehemaligen Verschickungskindern ihre Stimme, bleibt trotz der Emotionalität der Thematik sehr sachlich, ohne dass die Darstellung zu trocken wäre. Dazu ist diese zu erschreckend, zu wichtig. Klar ist jedoch auch, dass dieses Sachbuch nur der Anfang einer gesellschaftlichen Diskussion, sofern heute noch aktive oder die Nachfolgeinstitutionen der Verschickung sich bedeckt und ihre Archive geschlossen halten. Eine Auseinandersetzung ist längst überfällig. Dies ist ihr sehr wichtiger Beginn.

Autorin:

Lena Gilhaus, geboren 1985, studierte Politikwissenschaften in Greifswald und Bonn. Sie lebt seit 2009 in Köln als freie Radio- und Fernsehautorin für Wellen der ARD, meist den WDR und Deutschlandradio. Ihre DLF-Radioreportage “Albtraum Kinderkur” wurde 2017 vom Grimme Institut unter die drei besten Reportagen für den Deutschen Radiopreis 2017 gewählt. 2022 gehörte ihr Folgebeitrag “Trauma Kinderverschickung – Das lange Schweigen der Politik” zu den Nominierten für den Alternativen Medienpreis 2022 in der Kategorie “Geschichte”.

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Ulrich Woelk: Mittsommertage

Inhalt:

Ruth Lember, Professorin in Berlin, soll in den Deutschen Ethikrat berufen werden. Sie scheint am Gipfel ihrer bisherigen Laufbahn. Aber ein Zwischenfall bei ihrer morgendlichen Joggingrunde erweist sich als Auftakt einer ganzen Reihe irritierender Ereignisse. Innerhalb von einer Woche in der sommerlich heißen Stadt gerät Ruths Leben völlig aus dem Takt. Ulrich Woelk erzählt in “Mittsommertage” die spannende Geschichte einer Frau, die sich neu erfinden muss. (Klappentext)

Rezension:

Am Anfang steht ein Hundebiss als eher störende Unannehmlichkeit, doch bringt in Ulrich Woelks neuen Roman “Mittsommertage” ein solcher, das Leben seiner Protagonistin durcheinander. Fragen, die jahrzehntelang verschüttet waren, tauchen nun wieder auf. Gewissheiten sind plötzlich nicht mehr unumstößlich. In dieser Grundstimmung gerät Ruth zunehmend von Tag zu Tag, auch Sicherheiten fallen plötzlich in sich zusammen.

Nachdem Woelks zweite Erzählung “Für ein Leben” in Teilen unrund wirkte, da teilweise zu ausufernd erzählt, knüpft der nun vorliegende Roman wieder an Gegebenheiten an, die mir seinem vorvorletzten Werk in positiver Erinnerung bereithalten.

Zunächst ist da die Beschränkung auf sehr wenige Figuren und ein überschaubarer Handlungsrahmen, der genau zu der ruhigen Art des Erzählens passt, wie der Autor dies schon mit seinem Debüt gezeigt hat. Darauf aufbauend tut die konsequente Ausgestaltung der Protagonistin, durch deren Augen diese Geschichte erzählt wird, sowohl im gegenwärtigen Handlungsrahmen als auch in den Rückblenden, ihr Übriges.

Wir begleiten die Protagonistin nur durch den Zeitraum von einer Woche, die sehr kompakt erzählt wird. Jeder Tag entspricht einem Kapitel, in dem als Folge des Bisses bzw. der Verarbeitung dessen sich neue Gräben auftun, die die innerlichen Grundfesten der Frau erschüttern, die zum überwiegenden Teil versucht, nach außen Stärke zu zeigen. Das gelingt der Protagonistin immer weniger. Risse werden sichtbar.

Woelk bringt hier zwischen den Zeilen viel zur Sprache. Wie lange etwa muss und auch darf die Vergangenheit nachhallen und wie sollten wir damit umgehen? Fragen der Philosophie und der Ethik, nach der Physik, die thematisch in “Der Sommer meiner Mutter” eingearbeitet war, nun der zweite Themenblock, den Woelk studierte und nun einem seiner Figuren als Leidenschaft mit auf den Weg gegeben hat. Das wirkt alles in allem stimmig.

Wie reagieren wir, wenn Sicherheiten in unserer nächsten Umgebung wegfallen, wenn die Vergangenheit uns einholt? Wie auch in Bezug auf die Reaktionen von außen? Wofür und wann lohnt es sich zu kämpfen? Fragen, die heute drängender denn je sind und so ist “Mittsommertage” nicht nur ein Erfahrungs- oder durchaus Großstadtroman, auch der wandel der Umweltbewegung von damals zu heute stellt der Autor gekonnt komprimiert dar.

Letzteres wird dargestellt durch das Gegenüber einer Figur, die als eine zweite vor allem durch Rückblenden zund kurzen Einschüben Konturen bekommt, während die wenigen anderen verleichsweise blass bleiben. Mehr braucht man tatsächlich auch nicht. Der Roman funktioniert auch so. Der Gegensatz zwischen den Zeitsprüngen kommt damit jedoch viel stärker zur Geltung, wobei die Perspektive stets die gleiche bleibt.

Es ergeben sich dabei keine unwirklichen Sprünge oder Brüche, vielmehr könnte alles tatsächlich so passieren. Gerade dies ist das, nicht immer Spannende, aber Tragende dieses Romans, in dem es Ulrich Woelk auch wieder vermehrt gelungen ist, sehr filmisch zu erzählen. Man kann sich in die einzelnen Szenen sehr gut hinein versetzen, auch wenn man sich in die ruhige Art des Erzählens vielleicht erst einfinden muss.

Einige Längen gibt es zwar, doch fallen die nicht groß ins Gewicht, da sie sich auf wenige Seiten beschränken, was jedoch durch eine gekonnte Auflösung am Ende der Handlung mehr als ausgeglichen wird. Mit “Mittsommertage” kommt Ulrich Woelk wieder sehr nah an dem heran, was für mich “Der Sommer meiner Mutter” ausgemacht hat. Und das ist einfach wunderbar.

Autor:

Ulrich Woelk wurde 1960 in Bonn geboren und ist ein deutscher Schriftsteller. Von 1980-1987 an, studierte er physik und Philosophie an der Universität Tübingen. Er arbeitete bis 1995 an der Technischen Universität Berlin, sowie in Göttingen als Astrophysiker. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1990. 1991 promovierte er über Weiße Zwerge in engen Doppelsternsystemen. Seit 1995 lebt Woelk als freier Schriftsteller in Berlin. Er schreibt Theaterstücke, Romane und Hörspiele. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.

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Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

Inhalt:

Johanna ist keine gute Tochter. Um sich zu retten, hat sie die Familie verlassen. Jetzt, dreißig Jahre später, ist sie wieder zu Hause. Sie sucht Nähe, sie will den Kontakt zur Mutter erzwingen, doch die verweigert sich kühl jeder Annäherung. Heimgesucht von den Erinnerungen an die Kindheit zieht Johanna sich in eine einsame Hütte am Fjord zurück, wo es an ihr ist, die Verhältnisse zu ordnen und sich aus den familiären Zwängen zu befreien.

Vigdis Hjorth erzählt drastisch von unseren zerrütteten Beziehungen, von Sehnsucht und Enttäuschung und davon, wie man der Vergangenheit begegnet, ohne sich selbst aufzugeben. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Familiäre Gräben sind tief und breit, kaum zu überbücken. Johanna selbst steht vor einem solchen, als sie in das Land, die Stadt, zurückkehrt, in der sie aufwuchs. Längst ist aus der jungen Frau, die ihrer Heimat einst aufwuchs, eine erfolgreiche Künstlerin geworden. Der Auftakt dazu jedoch war scheinbar der größte Stein, der den Bruch mit den unnahbaren Eltern vor Jahrzehnten mehr als offensichtlich machte. Doch, lassen sich Wunden heilen? Der Mutter, der fremd gewordenen Schwester, die eigenen? Johanna möchte dies versuchen, möchte verstehen und tritt dabei eine innere Lawine los, die sie bald nicht mehr aufzuhalten vermag.

Der neue Roman “Die Wahrheiten meiner Mutter”, der norwegischen Autorin Vigdis Hjorth, beschreibt den Versuch einer Annäherung, von der man bereits zu Beginn ahnt, wie sie ausgehen wird. Der beschrieben Weg ist das Ziel, welches in mit der Seitenzahl zunehmenden Erzähltempo erreicht wird. Zugleich schauen wir ins Innere der Protagonistin, deren Psychogram nach und nach Konturen bekommt, die die Figur zunächst verständig und sympathisch wirken lässt, jedoch auch das Gegenteil von der Inhaltsangabe suggerierenden Wirkung erzielen kann. Nicht nur Wahrheiten verschieben sich langsam, später immer schneller.

Im inneren Monolog sucht die Protagonistin nach Antworten, erkennt die Unüberwindbarkeit der familiären Zerrüttung nicht und greift, um zu verstehen, zu immer drastischeren Maßnahmen. Da wird observiert, verfolgt, sich in eine ausweglose Situation hinein manövriert, die Schuldfrage nur einseitig beleuchtet. Die Protagonistin wird, das ist gleich zu Beginn klar, den Wandel nicht schaffen, nicht erkennen auch, wann man aufhören sollte zu suchen.

Sehr gewöhnungsbedürftig ist dies zu lesen, zu weilen wirken einzelne Kapitel wie eisige Wasserstrahlen. Unangenehm, fast abstoßend. Kurze, kompakt geschriebene Kapitel entfalten dennoch einen Sog, den man sich nicht entziehen mag, zudem wenn das Erzähltempo selbst anzieht. Darin zu versinken ist dennoch nur in der richtigen Stimmung zu empfehlen.

Die Handlung wird konsequent auf einen Zeitraum von wenigen Wochen beschränkt, auch das kleingehaltene Figurenensemble tragen zur Dramatik bei, wenn auch bis auf die Hauptprotagonistin selbst alle anderen vergleichsweise blass gezeichnet werden.Trotzdem bilden sich schnell Gegenpole, die man zumindest lesend nachvollziehen, wenn auch nicht unbedingt gutheißen, kann, was jedoch nichts daran ändert, dass sich das anfangs geschaffene Bild der Hauptprotagonistin schnell ändert. Womit wir beim Interpretieren wären, was man ja bei Kunstwerken gerne mal macht, oberflächlicher Kulminationspunkt des beschriebenen Familienzwists. 

Im Gesamtpaket ist dies verständlich und in sich schlüssig. Grrößere Stolpersteine gibt es nicht, alleine die Art des Umgangs der Figuren miteinander ist für jemanden, der zwar in einer chaotischen und auch durchaus mal streitenden Familie lebt, nicht immer nachvollziehbar. Überraschende Wendungen sind dünn gesät, dann jedoch sehr gezielt wirken, wie auch die Rückblenden sehr wirkungsvoll gesetzt sind. Die Form kompakter Kapitel bringt zudem die Beschrnkung auf wenige Details mit sich, gerade so, dass ein inneres Bild entsteht. Auch und gerade vom Straßenzug einer skandinavischen Stadt oder der in der dortigen Natur befindlichen Waldhütte. Vigdis Hjorth zeigt hier die Stärke innere Zerissenheit, ebenso einnehmende Szenenbilder zu zeichnen.

“Die Wahrheiten meiner Mutter” ist ein sehr interessanter Roman über dysfunktionale Familienverhältnisse, zu großen Teilen schwere Kost, da es die Autorin nicht in allen Facetten uns Lesende leicht macht, die Hauptprotagonistin zu mögen. Immer wieder gibt es da Momente zum Überlegen, ob man da jetzt wirklich noch weiterlesen möchte. Ein interessantes Rezept, was jedoch in jedem Fall in Erinnerung bleiben wird. Ob im Guten oder Schlechten liegt daran, wie man sich zur Hauptfigur positioniert.

Ohne skandinavischen Mehltau, die Prise Melancholie ist hier erträglich, hat Vigdis Hjorth einen sehr ambivalenten Roman geschaffen, bei dem, alle Faktoren zusammen genommen, das Fazit schwerfällt. Rein sprachlich und handwerklich ein guter Text, damit auch mal Lob an die Übersetzerin Gabriele Haefs. Von der Handlung der Protagonistin her, so manches Mal zum Haare raufen.

Autorin:

Vigdis Hjorth wurde 1959 in Oslo geboren und ist eine norwegische Schriftstellerin. Sie studierte Ideengeschichte, Politikwissenschaften und Literatur und veröffentlichte zunächst ein Kinderbuch, lebte in Kopenhagen, Bergen, Schweiz und Frankreich. Es folgten weitere Romane, die mehrfach ausgezeichnet, übersetzt und verfilmt wurden. Sie war für den National Book Award sowie den Literaturpreis des Nordischen Ratzes nominiert.

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Tim Staffel: Südstern

Inhalt:

Vanessa ist Pharmakologin. Sie liefert Substanzen, die für Erfolg und Glück sorgen. Ihre Kunden sind Sportler, Krankenpflegerinnen und Politiker. Deniz ist Streifenpolizist. Er fährt Doppelschicht und pfelgt seinen parkinsonkranken Vater. Jeden Tag suchen Vanessa und Deniz verlorene Menschen auf, doch dann treffen sie sich. Ein zarter Großstadtroman, der danach fragt: Wie halten wir dem Druck stand? Wie wollen wir leben, und wie können wir lieben? (Klappentext)

Rezension:

Großstädtisches Leben mit all den Problemen und Herausforderungen zu erzählen, ist dem Autor Tim Staffel mit seinem neuen Roman “Südstern” gelungen, der heruntergebrochen auf wenige Figuren, den Finger in die Wunde legt. Dreh- und Angelpunkt sind die Leben der beiden im Klappentext erwähnten Hauptfiguren, die jeweils auf ihre Weise mit den immer imens werdenden Druck des gesellschaftlichen gefüges zu kämpfen haben, welches das System im Allgemeinen und das Leben im hauptstädtischen Moloch zu bieten haben.

Deniz, etwa wird zerrissen zwischen zwei Systemmängeln, sowohl der Notwendigkeit der Pflege seines Vaters, der er nicht gerecht werden kann, sowie den Personalmangel im Dienst, der ihn oft genug an Unterstützung bei heiklen Einsätzen fehlen lässt. Vanessa dagegen sorgt sich um ihren durch frühere Bundeswehr-Einsätze traumatisierten Bruder und ist inmitten einer Beziehung, in der sich ihr Partner, ein Abgeordneter und sie selbst immer mehr voneinander entfernen.

Diese Gemengenlage ist Ausgangspunkt der sehr kompakt gehaltenen Erzählung, deren zwei Stränge sich unweigerlich kreuzen werden. Auch die Großstadt ist ein Dorf. Feinfühlig zeichnet der Autor hier seine Figuren, die sich zunächst langsam umkreisen, um später nicht mehr ohne einander zu können.

Kurze prägnante Sätze kennzeichnen den Stil, abwechselnd mit detaillierter szenischer Gestaltung, die beinahe etwas filmisches hat. Bilder entstehen vor dem inneren Auge. Gerade, wer vielleicht selbst aufgerieben, lebt, erkennt wie viel Tim Staffel hier mit vergleichsweise wenigen Worten erzählt. Da wird Systemkritik verknüpft mit privatem Dilemma, eine explosive Mischung, die nur darauf wartet, sich zu entladen.

Erzählt wird ein überschaubarer Zeitraum so, dass man sich in die einzelnen Szenen, zudem in die beiden Protagonisten hineinversetzen kann. Ihre Handlungen sind nachvollziehbar, weder schwarz, noch weiß. Ihre Wege müssen grau sein, um zu bestehen. Der Autor versteht, dies gekonnt umzusetzen.

Dabei wechselt der Autor zwischen beiden Perspektiven hin und her, wobei Übergänge zum Teil fließend sind. Das führt zwangsläufig dazu, hin und wieder einmal innezuhalten, zwischen zarten Momenten voller Gefühle, Verzweiflung, Melancholie und der einen oder anderen Spitze Humor. Tim Staffel hat es vermieden, dass seine Erzählung trotz aller Ernsthaftigkeit allzu erdrückend wirkt.

Das macht es möglich, sich in die Figuren hineinzuversetzen. In irgendeiner Art und Weise kennt jeder anteilig den Druck, den nicht nur das Leben in den Großstädten heute bereithält.

Ohne größere Lücken und Sprüngen entfaltet sich hier ein Berlin-Panorama, welches ungeschönt die Lesenden in sich einsaugt, mit wenigen Worten so viel aufs Tableau bringt.

Man kann sich das alles gut vorstellen, sowohl die Figuren, als auch Szenarien und einzelne Schauplätze. Nur das Ende wird dem nicht gerecht. Während Tim Staffel für den Handlungsverlauf das richtige Maß zwischen Detailliert- und Kompaktheit gefunden hat, was der Erzählung einfach gut tut, scheint das Ende zu einfach.

Als hätte der Autor hier einen Verlagstermin unbedingt einhalten müssen und es einfach nicht mehr geschafft, die notwendige Detailarbeit seinen letzten Szenen angedeien zu lassen. Hier wäre dann doch ein wenig mehr Ausformulierung wünschenswert gewesen. Das ist jedoch Meckern auf hohem Niveau. Es geht hier schlicht und einfach um Abzug in der B-Note. Ansonsten hat man mit “Südstern” eine eindringliche Erzählung, die sich zu lesen lohnt.

Autor:

Tim Staffel wurde 1965 in Kassel geboren und ist ein deutscher Schriftsteller und Hörspielregisseur. Er studierte zunächst Theaterwissenschaft in Gießen und veröffentlichte seinen ersten Roman im Jahr 1998. Von 2017-2019 war er Dozent für Szenische Künste an der Universität Hildesheim, zuvor veröffentlichte er weitere Romane und schreib an mehreren Theaterstücken und Hörspielen. 1996 bekam er das Alfred-Döblin-Stipendium. Sein Roman “Südstern” steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023.

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