Geschichte

Peter Urban: On Air – Erinnerungen an mein Leben mit der Musik

Inhalt:

Beatles, Bowie, Onkel Pö: Peter Urban erzählt von seinem bewegten Leben mit der Musik.

Seit Jahrzehnten prägt Peter Urban die deutsche Radiolandschaft – als legendärer trockener Kommentator des Eurovision Song Contests, als Moderator verschiedener Musiksendungen, inzwischen auch als Podcaster. Offen und unprätentiös beobachtet er seit fast 50 Jahren als pop-experte die nationale und internationale Musikszene und hat in seiner langen Laufbahn unzählige Pop-Größen getroffen, interviewt und porträtiert – von Keith Richards über Yoko Ono zu David Bowie, Elton John, bruce Springsteen, Joni Mitchell, Paul Simon, Harry Belafonte und Eric Clapton. Mit diesem Buch legt er nun seine Memoiren vor, den Soundtrack eines Lebens, das beruflich wie privat immer von der Musik geprägt war. (Klappentext)

Rezension:

Nahezu alle kennen seine Stimme, ob aus dem Radioprogramm oder aus dem Off, als Kommentar des Eurovision Song Contest, den er seit 1997 bis zu seinem Abschied im Jahr 2003 mit einer Ausnahme begleitete. Doch Urbans Leben mit Musik nahm schon vorher seinen Lauf. Seit seiner Kindheit spielt der 1948 in Bramsche geborene Peter Urban selbst und kam Jahre später eher per Zufall zum Rundfunk und bildete seit dem die Grundlage für so manche Plattensammlung. Nun legt der Moderator und Journalist, ja, auch Musiker, seine Autobiografie vor, in der er nicht nur seine eigene Geschichte festhält.

In einem Interview der NDR-Talkshow hat es Peter Urban einmal in etwa so formuliert, sein ganzes Leben mache oder drehe sich um Musik, aber für den Eurovision Song Contest sei man bekannt. Doch ist das Kommentieren des Musikwettbewerbs nur ein weiterer meilenstein gewesen im bewegten leben, welches er noch einmal Revue passieren lässt. Angefangen hat das alles mit dem heimischen Musizieren im Wohnzimmer der Eltern und dem Beobachten der Techniker, die eine Aufführung aus der Ortskirche seiner Kindheit übertragen sollten. Und so beginnt das Vorspiel, welches ihn von der Heimatregion nach Hamburg, mehrfach nach London und dann rund um die Welt führen sollte. Eindrücklich schildert der Journalist die Suche nach besonderen Platten und Begegnungen mit Künstlerinnen und Künstlern. Mit vielen wird er in Berührung kommen.

Im Laufe der Jahre verändert sich das gesellschaftliche Gefüge in Deutschland und der weklt, mit ihm die Musik. Peter Urban versucht Zeit seines Lebens den Blick über den Tellerrand zu bewahren. In den einzelnen, quasi Musiktiteln nachempfunden überschriebenen Kapiteln schält er besondere ereignisse und Wegmarken heraus, was besonders zu Anfang wirkt wie die Abhandlung eines Lexikon der Musikgeschichte.

Nach und nach, als hätte Urban, der sonst nur das Schreiben von Songtexten, Noten oder Moderationstexte gewöhnt ist, erst einmal in das erzählende Texten hineinfinden müssen, wirkt die Biografie zugänglicher und einfacher zu lesen. Natürlich sei gesagt, dass man quasi nebenher unzählige Titel sich heraussuchen und abspielen kann, hat man doch ebenso mit “On Air” einen Fundus an hörbarer Zeitgeschichte vorliegen. Sicher ist es auch so, dass je nachdem ab wann die gemeinsamen Berührungspunkte größer werden, die Biografie interessanter wird. Das beginnt bei mir, der mit Peter Urban als ESC-Kommentator aufgewachsen ist, eben erst damit.

Faszinierend sind die Hintergründe, die er erläutert. Wie liefen Vorbereitungen für eine Radio-Sendung ab, in der bedingt noch viel improvisiert werden musste, wie entwickelte sich die Technik weiter, zum Segen oder Fluch des Moderierenden. Wie betrachtet Urban die Entwicklung des weltweit größten Musikwettbewerbs ebenso wie die Musikszene selbst, wie betrachtet sie auch ihn und warum noch einmal wirkt manches Kommentar am ESC-Finalabend für manch Zuschauenden so betulich? Wo hätte er selbst einmal kritischer sein können oder gar müssen? Peter Urban gibt sich kritisch, sinniert, jedoch ohne über andere, denen er begegnet, herzuziehen. Eine Biografie mit Respekt und ganz viel Nostalgie ist das, so vielschichtig.

Immer noch beeindruckt, schildert er sehr ausführlich die Begegnungen mit Legenden wie Yoko Ono oder Mick Jagger, Keith Richards, einzelnen Mitgliedern der Beatles oder Udo Lindenberg, ohne die Probleme oder schwierigkeiten des Musik-Business’ außen vor zu lassen. Er kennt sie ja selbst, aus eigener Erfahrung heraus. Peter Urban spielte selbst in einigen Bands, was er bei seinem Interviews zu nutzen wusste. Wer ihn traf, der spürte wohl, hier ist jemand, der sich auskennt, der weiß, wovon er spricht.

Diese Liebe zur Musik kommt in jeder einzelnen Zeile durch und ist daher nur als lesenswert zu empfehlen, auch als einen Aspekt der langjähriger bundesrepublikanischer Geschichte und auch sonst. An manchen Stellen wirkt das zwar sehr theoretisch, fast exerzierend, doch zeigt Urban eben auch, was Musik in der Lage ist in Menschen zu bewirken. Damit ist dann nicht nur gemeint, dass auch unzählige Hörer und Hörerinnen seine Rundfunksendungen als Fenster zum Westen nutzten, teilweise penibel Listen führten, wann welche Titel gespielt wurden und sich so ein Stück Ausbruch aus dem Alltag schufen, noch bevor die Mauer fiel.

Der Autor stellt jedoch auch ein bedeutendes Stück journalistischer Entwicklungsgeschichte dar, eben so interessant, wie auch wie er sich zukünftig die Rolle der Öffentlich-Rechtlichen, des Rundfunks und überhaupt des Eurovison Song Contests vorstellt, dem er, wie er selbst feststellt, eigentlich ein eigenes Buch widmen könnte. Dieser sehr ausführliche Streifzug, nicht nur durch die Musik, macht viel Freude, diese zu verfolgen, zudem Peter Urban es vermeidet, gezielt offene Wunden zu suchen und die noch einmal zu erweitern. Auch das ein Kennzeichen des Werks, allen Personen, die in seiner Beschreibung vorkommen, zollt er respekt.

So sind es eben nicht nur “Erinnerungen an mein Leben mit der Musik”, sondern viel mehr als das.

Autor:

Peter Urban wurde 1948 in Bramsche geboren und ist ein deutscher Journalist, Musiker und Radiomoderator. Nach der Schule studierte er zunächst in Hamburg Anglistik, Soziologie und Geschichte, bevor er 1977 über Texte anglo-amerikanischer Populärmusik promovierte. Seit 1973 arbeitet er für den Norddeutschen Rundfunk zunächst frei, später fest angestellt. Zudem verwirklichte er diverse Musikprojekte als Musiker und Komponist. 1988 übernahm er eine Stelle als Redakteur der Musikredaktion des NDR.

Von 1995 bis 1988 war er als Station-Voice von NDR 2 tätig, ab 2003 Redakteur für mehrere Sendungen von NDR Info. Ab 1997 kommentierte er den Eurovision Song Vonetst, war verschiedener Weise auch Juror, z. B. 2012 beim Jewrovision in München. 2013 ging er als Redakteur in Rente, arbeitet jedoch als freier Mitarbeiter weiterhin für den NDR. 2023 kommentierte er zum letzten Mal den Eurovision Song Contest.

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Empfehlung: Angela Merkel – Was also ist mein Land?

Was also ist mein Land?

“Ein Land, im dem alle miteinander immer neu lernen. Ein Land, in dem gerade auch die erfahrung von Umbrüchen in familiären Biographien, in dem die Anstrengung, aber auch das Glück, das es bedeuten kann, neu anfangen zu müssen oder zu dürfen, als eine Erfahrung anerkannt wird, die uns gemeinsam Zuversicht und Stärke gibt.”

Drei Reden von Angela Merkel über die Themen ihrer Zeit als Kanzlerin:
Die spezifisch deutsche Verantwortung, die Erfahrung der wiedervereinigung und den Umgang mit Migration. (Klappentext)

Das Amt des Bundeskanzlers oder, in ihrem Falle, der -kanzlerin, ist der härteste Job, den der Politikbetrieb in Berlin zu vergeben hat. Unter Strom und ständiger Beobachtung, immerwährend Kritik ausgesetzt, gezwungen oft auch sehr unpopuläre Entscheidungen zu fällen, die sich nur schwer erklären lassen und erst später zeigen, ob sie durchdacht gewesen sind oder nicht. Das Urteil wird zumeist jedoch bereits vorher gefällt. In Umfragen und Wahlen.

Was bleibt, sind Bilder und Reden.

Auch die erste Bundeskanzlerin der Bundesrepublik hielt derer einige, Wegmarken und Zeichen setzend. Manchmal das einzig Mögliche. Unabhängig davon, was man von Angela Merkels Politik und ihrem Wirken halten mag.

In diesem Büchlein sind der Reden drei versammelt, ausgewählt durch den Verlag, eine Rede zum Tag der Deutschen Einheit, die sie in Halle/Saale hielt, einmal die zur Flüchtlingspolitik, von der vor allem ein Drei-Wort-Satz im Gedächtnis blieb und ihre Rede vor dem israelischen Parlament, der Knesset.

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Daan Heerma van Voss: Die Sache mit der Angst

Inhalt:

“Du hast zu viel Angst vor dem Leben.” Als der Autor Daan Heerma van Voss mit dieser Begründung von seiner Freundin verlassen wird, reist er von Amsterdam über Jakarta nach San Francisco, um die Ursachen seiner Angststörung endlich tiefer zu ergründen. Was ist Angst? Woher kommt sie? Und welche Rolle spielen unsere Gene? Dieses Buch hilft, einen Weg zu finden, Angsgefühle, Panik und Phobien zu verstehen und ihnen etwas entgegenzuhalten. (Klappentext)

Rezension:

Jeder von uns kennt sie, die Angst. Sie schützt uns, doch oft genug dominiert sie auch unser Leben. Seit seiner Kindheit leidet der Autor, Journalist und Historiker Daan Heerma van Voss unter Angstzuständen und hat sich an einem der Wendepunkte seines Lebens, die durch eben diese willkürlich auftretenden Angstattacken markiert sind, aufgemacht, diese zu ergründen.

Sein Weg führte ihn einmal rund um den Globus, quer durch die eigene Familiengeschichte und nicht zuletzt durch einen Schnitt vieler Themengebiete, von der Wissenschaft bishin zur Popkultur. Entstanden ist dabei ein einfühlsamer und informativer Bericht über ein Phänomen, das uns alle betrifft.

In der Medizin ist man sich einig, die Anzahl der Menschen, die unter chronisch immer wiederkehrenden Angstzuständen leiden, wächst seit Jahren, sowie der Medikamentenmarkt, der darauf nicht immer heilvollen Einfluss nimmt. Doch wie kam es dazu, dass heute die verschiedenen Angstzustände als medizinisch zu betrachtende Gegenstände behandelt werden? Wie entwickelte sich die Betrachtung der Angst über die Jahrhunderte bis in unsere heutige Zeit? Woran liegt es, dass einige Ängste, wie bestimmte Phobien gesellschaftlich anerkannt sind, andere nicht?

Anhand dieses sehr persönlichen Sachbuchs holt der Autor eine brisante Thematik aus der Tabuzone und versucht zu verstehen, womit die meisten Menschen irgendwann in ihrem Leben einmal zu känmpfen haben und warum immer mehr von uns sich in einer Spirale gefangen sehen? Was machen wir mit der Angst? Was macht die Angst mit uns.

Entlang des Zeitstrahls der eigenen Familiengeschichte hangelt er sich durch die verschiedenen Arten, dieses Phänomen zu betrachten und ergründet sowohl den historischen Umgang als auch die Schlussfolgerungen für die heutige Zeit. Zunächst ein philosophisches Problem erläutert er die Entwicklung hin zur medizinischen Betrachtung, ergründet die Wahrnehmung chronischer “Angsthasen”, deren Bandbreite von Ängsten vor Spinnen bis hin zu “Angst, dass eine bestimmte Person mein Essen isst.”, reicht.

Was auf den ersten Blick humorvoll klingt, manifestiert sich in soziale Einschränkungen, die der autopr ebenfalls versucht, nachzuvollziehen, zudem jenen zu erläutern, die nicht betroffen sind.

Das mündet hier in eine Art Verständnis schaffendes Geschichtsbuch. Ein Ratgeber ist das nicht und hebt sich somit wohltuend ab von der Sparte Selbsthilfebücher, die mehr zerstören als aufbauen und eher in die Esoterikecke gesteckt werden sollten, mit Warnzeichen versehen.

Wenn es ein Kritikpunkt gibt, ist es bezogen auf medizinische Begrifflichkeiten zu empfehlen, sich sehr auf die Lektüre zu konzentrieren und den einen oder anderen Sachverhalt nochmals nachzuschlagen. Spätestens beim dritten genannten Wirkstoff von Medikamenten gerät man durchaus etwas ins Trudeln, sofern man sich damit noch nicht beschäftigen musste und dann das Hintergrundwissen zumindest in Ansätzen fehlt. Ansonsten jedoch ist das sehr informative Sachbuch zu empfehlen, vielleicht um sich selbst, in jedem Fall Betroffene besser in ihren Ängsten nachvollziehen und verstehen zu können.

Autor:

Daan Heerma van Voss wurde 1986 geboren und ist ein niederländischer Autor, Jozurnalist und Historiker. Er schreibt regelmäßig für internationale Magazine und Zeitschriften. Seine journalistischen Texte wurden mit dem De Tegel-Preis ausgezeichnet. Dies ist sein erstes Sachbuch.

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Karin Hofmann (Übers.): DK History – Momente der Geschichte

Inhalt:

Von den jubelnden Menschen bei den antiken Olympischen Spielen über den Ausbruch des Vesuv, der die Stadt Pompeji erschüttert, bis zum verqualmten Maschinenraum der Titanic. Erlebe die bedeutensten Momente der Geschichte hautnah und staune über atemberaubende 3-D-szenen, die Ruinen, Wracks und Ausgrabungsstätten zum Leben erwecken! (Klappentext)

Rezension:

Begeben wir uns auf eine Reise durch die Zeit, können wir einem spannenden Ritterturnier bewohnen, erleben, wie Piraten im Auge des Sturms gegen das Sinken ihres Schiffes ankämpfen oder Mongolen versuchen, das Bollwerk der chinesischen Mauer zu überwinden. Unsere Geschichte steckt voller faszinierender Momente. Inzwischen gibt es zahlreiche Sachbücher für Kinder, die diese lebendig werden lassen. Dorling Kindersley ist einer der Verlage, die sich im schwierigen Sachbuchsegment auch da einen Namen gemacht haben und für die wir vom üblichen Rezensionsschema abweichen müssen.

DK History: Momente der Geschichte – Vom Bau der Pyramiden bis zum, Untergang der Titanic, Buchtrailer (Verlagsvideo)

Coffee Table Books sind die dort erscheinenden Werke beinahe allesamt. Bücher also, die schon ein Blickfang sind, wenn man sie auch nur von außen betrachtet und in die man versinken kann, sobald man sie aufblättert. Und das gilt, nicht nur hiermit, durchgehend für alle Altersgruppen. Tatsächlich funktioniert dieses Werk für jeden, der sich für Geschichte begeistern kann. Herausgestellt werden 21 Momente und Ereignisse, vom Anbeginn der Menschen bis hin zum Ersten Weltkrieg.

Jedes Ereignis nimmt einen Rahmen von nur wenigen Seiten ein. Großflächige Darstellungen, Zeichnungen und zahlreiche Fotos werden ergänzt durch Textboxen, in denen das Gezeigte erläutert wird. Man kann das sich in einem Rutsch zu Gemüte führen, immer wieder hin- und herspringen, sich in Details verlieren oder den Überblick über das Große und Ganze behalten. Gerade jüngere Kinder, die noch nicht die Aufmerksamkeitsspanne für detaillierte und ausführliche Texte behalten können, werden ihre Freude damit haben, egal ob vorgelesen wird oder erstes flüssiges Selbstlesen stattfindet. Es ist ein Buch, was gemeinsam so gut funktioniert wie allein.

Gut recherchiert ist es außerdem. Erste Wissensgrundlagen werden gelegt oder vertieft, zudem die Reihe mit dem kommenden Verlagsprogramm fortgesetzt wird. Dass es im Übrigen nicht nur für Kinder funktioniert, brauche ich wohl nicht mehr zu schreiben, ich tue es aber dennoch. Es ist sehr lobenswert, dass auch weniger bekannte historische Ereignisse dargestellt werden. Immer folgen auf eine Überblicksseite eine oder mehrere Seiten, die nochmal den Blick für Details öffnen.

Übersetzung:
Karin Hofmann ist freiberufliche Übersetzerin.

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Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Inhalt:

Ilse Koch war eine der wenigen verurteilten NS-Täterinnen. 1947 wurde ihr von einem US-, 1951 von einem deutschen Gericht der Prozess gemacht. Ausgiebig berichtete die internationale Presse über die als besonders grausam geltende ehemalige SS-Ehefrau. Die Historikerin Alexandra Przyrembel skizziert in einer fundierten Spurensuche Ilse Kochs frühe Mitgliedschaft in der NSDAP und das Leben der Familie Koch in der SS-Führersiedlung in Buchenwald.

Sie beschreibt die Nachkriegsprozesse gegen Ilse Koch und die internationale Berichterstattung darüber sowie Kochs Zeit im Frauengefängnis in Aichach, die Unterstützung der ‘Stillen Hilfe’ und ihre Korrespondenz mit den Kindern. Eine kluge, erhellende Studie der Erzählungen über das ‘Böse’, das von der Nachkriegsgesellschaft außerhalb der menschlichen Sphäre verortet wurde.

(Klappentext)

Rezension:

In der Erzählung unmenschlicher Grausamkeiten gelten die begangenen und vermeintlichen Taten von Ilse Koch als Ausdruck des absolut unfassbaren Grauen, Abgrund des Bösen. Die Frau des Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald soll gezielt Häftlinge gesucht haben, diese töten lassen, um deren tätowierte Haut für Gebrauchsgegenstände wie Buchumschläge und Lampenschirme verarbeiten zu lassen.

Vor zwei Gerichten wurde dies und anderes in der unmittelbaren Nachkriegszeit verhandelt. Für den Mythos allein fehlten letztlich die Beweise. Die Bestandteile des Lampenschirms konnten nicht zweifelsfrei bestimmt werden. Dennoch blieb genug Unmenschliches, um eine der wenigen NS-Täterinnen nicht nur einmal zu lebenslänglicher Haft zu verurteilen.

Wer war Ilse Koch? Diese Frage stellt sich die Geschichtswissenschaftlerin Alexandra Przyrembel und legt nun nach jahrelanger Recherche ein umfassendes Werk der Zusammenfassung ihrer Studien vor, welches versucht das Ungreifbare fassbar zu machen. Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die qua ihres Ranges außerhalb des Systems stand, dem sie diente, was jedoch ihre Taten in der Nachbetrachtung noch grausamer erscheinen lässt, als sie es ohnehin schon sind.

Die Historikerin exerziert zudem ein Stück internationaler Mediengeschichte, zudem die Schaffung eines Geschichtsbildes und das Einspannen für die systemischen Zwecke in der Gesellschaft beider sich nach dem Krieg konstituierender deutscher Staaten.

Der Fall Koch beschreibt die Verflechtungen der SS-Ehefrauen mit der Welt der Konzentrationslager: als Partnerin und Gefährtin, als Mutter und vor allem als Staatsbürgerin des ‘Dritten Reichs’. Ilse Kochs Handeln hatte allerdings nur deshalb eine juristische Aufarbeitung zur Folge, weil sie sich außerhalb der als “normal” betrachteten Ordnung bewegte […].

Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Dieser Teil der Rezeption nimmt einen bedeutenden Teil der Biografie ein. beschreibt zudem ein wichtiges Stück Justizgeschichte, sowie medienpolitische Betrachtung und den Versuch der Deutungen Herr zu werden, diese einzuordnen. So ist auch die Kapitelordnung zu verstehen, wenn sie in Bezug zu den Taten Ilse Kochs genommen wird, trotzdem liest sich das zuweilen sehr theoretisch, um im nächsten Moment den Lesenden um so mehr die Schrecken vor Augen zu führen.

Alexandra Przyrembel gelingt der Spagat einerseits einer Wegbeschreibung, andererseits einer nüchternen Einordnung im Kontext der Zeitgeschichte, zugleich jedoch Mythen aus dem Weg zu räumen und Verarbeitungsprozesse näher zu beleuchten.

Alles in allem lässt sich also festhalten, dass sich vor Gericht sowohl Menschen wiederfanden, die […] als Juristen mit Partei- oder SS-Mitgliedschaften in das nationalsozialistische Deutschland verstrickt waren, als auch solche, die zu den Verfolgten des NS-Regimes und Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager gehörten. Möglicherweise liegt hierin, nämlich in seiner Inszenierung als demokratisch, die eigentliche Leistung des Gerichtsverfahrens gegen Ilse Koch, und nicht in der konkreten justiziellen Aufarbeitung von Schuld […].

Alexandra Przyrembel: Im Bann des Bösen – Ilse Koch

Eine unideologische Betrachtung Ilse Kochs hat für die geschichtsinteressierten Laien bis dato gefehlt, was nun hiermit geschaffen sein dürfte. Keineswegs eine einfache Lektüre sollte dieser Ausarbeitung künftig einen gewissen Stellenwert zukommen, innerhalb der Sachliteratur gegen das Vergessen.

Dafür muss man sich Zeit nehmen, da zwischen Theoretischem und geschichtlicher Einordnung, Betrachtung, hin- und hergesprungen wird. Es ist eben alles miteinander verwoben. Wer sich darauf einlässt, vervollständigt sein Geschichtsbild um einen weiteren Aspekt. Das Grauen und wozu ein Mensch in dafür geschaffenen Zeiten fähig ist, bleibt unfassbar.

Autorin:

Alexandra Przyrembel wurde 1965 geboren und ist eine deutsche Historikerin. Seit 2015 ist sie Universitätsprofessorin und Leiterin des Lehrgebiets Geschichte der Europäischen Moderne an der Fernuniversität Hagen. Nach ihrer Promotion 2001 an der TU Berlin beschäftigte sie sich mit der Globalgeschichte des Wissens im 19. und frühren 20. Jahrhundert. 2010 habilitierte sie sich in Göttingen zur Geschichte des Tabus und forscht zur transnationalen Geschichte Europas.

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Camilla Townsend: Fünfte Sonne

Inhalt:

Im November 1519 kommt es zur weltberühmten Begegnung von Hernando Cortes mit dem Aztekenherrscher Moctezuma. Was damals passierte und was danach geschah, ist oft erzählt worden, aber vor allem so, wie die Spanier es uns präsentiert haben. Camilla townsend stellt in ihrem glänzend erzählten, preisgekrönten Buch die faszinierende, vielschichtige Geschichte der Azteken konsequent aus deren eigener Perspektive dar. (Klappentext)

Rezension:

Der Gewinner bestimmt die Sichtweise. So war es für lange Zeit. Doch seit einigen Jahren nimmt die korrigierende Geschichtsschreibung einen immer größeren und gewichtigeren Raum ein. Das ist so in Bezug der Interpretion der Kolonialhistorie Afrikas der Fall, kürzlich auch in Blick auf Tahiti und Polynesiens geschehen. Nur konsequent ist es daher, dass nun auch die eurozentrische Sichtweise auf die Azteken und ihre Kultur korrigiert wird, zumal für das Selbstverständnis ihrer Nachfahren.

Camilla Townsend, ihres Zeichens Historikerin, widmet sich seit langem dieser Aufgabe und hat dazu die Texte studiert, die uns die Indigenen, die sich selbst Mexica nannten, studiert. Nach der Ankunft der Spanier nutzten diese das lateinische Alphabet, um ihre Geschichte in der ihnen eignen Sprache Nahuatl aufzuschreiben. Heute ergibt sich daraus das Portät einer sehr wundersamen und herausfordernden Zeit, sowie ein menschlicheres Bild als das, welches immer noch in unseren Köpfen vorherrschend ist.

Produkt dieser ausgiebigen Recherchen, die nur der Beginn weiterer Forschungsarbeiten sein können, ist das hier vorliegende sehr ausführliche Sachbuch, welches zunächst einen Einblick in das Werden der aztekischen Gesellschaft in der Zeit vor der Entdeckung durch die Europäer gibt, ihr Leben und ihre Kultur darstellt. Entlang eines Zeitstrahls werden dann erste Aufeinandertreffen geschildert, und die Neuordnung der mittelamerikanischen Gesellschaft über die kommenden Jahrhunderte.

Schnell wird klar, die Geschichte der Azteken, sie hat nie geendet. Anhand der in den von den Indigenen verfassten Texten dargestellten Personen, stellt die Autorin einen Wandel dar und zeigt, dass die Indigenen schnell die Unterschiede zwischen den Europäern und sich selbst erkannten, aber auch im Laufe von Generationen Technologien übernahmen und politische Loyalitäten neu ausrichteten, um zu überleben. Dennoch hatten die spanische Konquista und von ihr eingeschleppte, bis dahin unbekannte Krankheiten, verheerende Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Bevölkerung dort und damit auch Einfluss auf das Leben der aztekischen Gesellschaft. Auch dies wird nicht unterschlagen.

Jede Geschichte der azteken muss die erfahrungen eines einst mächtigen Volkes erforschen, das mit einer ungeheuren Katastrophe konfrontiert war und irgendwie überleben musste. Die Konquista war, trotz ihrer Bedeutung, weder ein Beginn noch ein absolutes Ende. Die Azteken lebten jahrhundertelang vor der Katastrophe und sie sind immer noch unter uns.

Camilla Townsend: Fünfte Sonne

Camilla Townsends Schilderungen sind immer dann stark, wenn sie die Perspektive bestimmter Personalbiografien einnimmt und Konfrontations- und Reibungspunkte beschreibt. Nur dort, wo uns die Texte der Mexica kaum oder nur wenig Auskunft geben können oder gar gänzlich lückenhaft sind, greift sie auf die, in manchen Teilen doch tendenziösen Hinterlassenschaften der Europäer zurück, trotzdem verliert sie nicht den Blick und kommt immer wieder sehr schnell darauf zurück, die ursprüngliche Perspektive wieder einzunehmen.

Das liest sich zuweilen ungewohnt, eröffnet jedoch eine neue Facette, die wir künftig mitdenken sollten. Die Mexica waren eben nicht nur die menschenopfernden Krieger, die alle um sie herum lebenden Völker unterdrückten, sie sind auch nicht mit dem Auftauchen der Spanier spurlos verschwunden. Im Gegenteil, es gibt sie heute noch. Über eine Million Menschen können z. B. heute noch ihre sprache verstehen und mitunter sprechen.

Zuweilen ergeben sich bei dieser Art von Darstellung Längen, was nicht nur am Schreibstil liegt, sondern auch aufgrund des durch die intensive Recherche entstandenen Detailgrads, der seines Gleichen sucht. Man muss schon den Willen und die Konzentration für die Lektüre aufbringen, wenn sie gewinnbringend sein soll, doch lohnt sich das, da Townsend auch von sehr vielen spannenden Ereignissen und Momenten dieser Geschichte zu berichten weiß.

Die “Fremdlinge für uns Menschen hier”, rücken während des Lesens aber in jedem Fall näher.

Autorin:

Camilla Townsend wurde 1965 geboren und ist eine US-amerikanische Historikerin und Professorin für Geschichte an der Rutgers University. Zunächst studierte sie am Bryn Mawr College und promovierte an der Rutgers University in vergleichende Geschichte. Von 1995-2006 lehrte sie Geschichte an der Colgate University in Hamiliton, New York und begann sich in die Sprache Nahatl einzuarbeiten.

2010 erhielt sie ein Guggenheim-Stipendium und studierte die historischen Primär- und Sekundäquellen, der in dieser Sprache von den Azteken verfassten Texte und spezialisierte sich damit auf die Historie und Frühgeschichte amerikanischer Ureinwohner, sowie die Geschichte Lateinamerikas. Ihr Sachbuch wurde 2020 mit dem Cundill History Prize ausgezeichnet.

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Ina Conzen: Pablo Picasso

Inhalt:
Pablo Picasso (1881-1973) gehört zu den bedeutensten Künstlern des 20. jahrhunderts. Fantasievoll und experiementierfreudig hinterließ er ein atemberaubend umfangreiches OEuvre in nahezu allen Medien. Bis heute fasziniert die stilistische Wandelbarkeit seiner Werke, aber auch deren spannende Verankerung in Picassos Biografie. Souverän und kenntnisreich zeichnet Ina Conzen im vorliegenden Band Leben und Werk dieses Ausnahmekünstlers nach. (Klappentext)

Rezension:

Reduziert auf Schwarz-, Weiß- und Grautöne wirkt das Wandbild nur auf den ersten Blick als eine wirre Kombinationen aus Formen und Symbolen, doch erschließt es sich nach und nach den Betrachtenden. Es symbolisiert die Schrecken des Krieges und gilt bis heute als bedeutenstes Werk des spanischen Künstlers Pablo Picasso. “Guernica”, welches dieser im Auftrag für die Weltausstellung 1937 unter den Eindrücken des Spanischen Bürgerkriegs anfertigte, ist heute in Madrid zu sehen, doch nicht nur dieses Werk ist im kollektiven Gedächtnis geblieben. Die Konservatorin und Autorin Ina Conzen hat sich auf Spurensuche begegeben. Entstanden ist dabei ein mehr als eindrucksvolles Porträt.

Wer mit relativ wenig Aufwand kompaktes Überblickwissen erlangen möchte ist mit Bänden der vorliegenden Reihe gut bedient. Das gilt für viele Themen, eben auch für die Kunst und so reiht sich nun dieses Bändchen mit ein, in welchem ein bedeutender Ausnahmekünstler beleuchtet wird. Diese Formulierung aus dem Klappentext darf man ruhig wörtlich nehmen, wenn gleich sich die Autorin sehr nüchtern der Biografie und dem Werk Picassos nähert. Sie verfolgt die Spuren dessen, der als Porträtmaler began und später die Grenzen des Künstlerischen Schritt für Schritt erweiterte, sich mitunter selbst zum Objekt seiner Betrachtung machte, von dessen Kindheit an. So gelingt ein eindrucksvoller Rundumblick.

Nicht immer ist das zugänglich. Zwar lockern hier mehrere Bildteile den Text auf, doch sollte man sich zuweilen schon auskennen mit verschiedenen Stilrichtungen der Kunst, die Laien zunächst kaum etwas sagen werden. Was ist das besondere an dem Punkt, wenn Picasso den Bereich des Gegenständlichen verlässt, um ins Surrealistische und Kubistische zu wechseln, um dann später wieder sich einer anderen Form des Gegenständlichen zu widmen? Diesen Zugang muss man sich selbst zusammenrecherchieren. Nicht an jeder Stelle ist hier ein Text für Laien gelungen, wenn man auch mit mehr Wissen aus der lektüre herausgeht, als man eingestiegen ist.

Die Autorin hangelt sich entlang der Perioden künstlerischen Schaffens Picassos, welcher dankenswert die Interpretationen gleich mitgeliefert hat, zuweilen für seine Zeitgenossen unverständlich, die teilweise fassungslos der Tatsache ins Auge sehen mussten, dass für scheinbar einfache Pinselstriche Millionen hingeblättert wurden. Schon zu Lebzeiten war der Künstler mehr als erfolgreich.

Im Privaten unruhig, blieb auch Picassos Kunst immer in Entwicklung. Auch mit den damaligen neuen Medien, der Fotografie, des Films experimentierte er ausgiebig. Auch diesen Aspekt seines Schaffens analysiert die Autorin mit Kennerblick, zeigt jedoch auch, dass Picasso nicht nur von Pinsel, Farbe oder Modellierung etwas verstand, sondern auch von Selbstvermarktung. Alle Aspekte werden in kompakter Form zueinander ins Verhältnis gesetzt, woraus sich ein Gesamtbild für die Lesenden ergibt, welches dazu einlädt die Werke Picassos einmal näher zu betrachten, sich damit zu beschäftigen. Ina Conzen lässt dabei jedoch nicht auch die Widersprüchlichkeiten der Charakterzüge Picassos außer Acht, gibt sich zuweilen kritisch, doch immer auch fasziniert von der Künstlernatur, die für jene, die mit ihm zu tun hatten, nicht immer ganz einfach gewesen sein muss.

Vielleicht ist genau dieser Band nicht unbedingt geeignet, in Leben und Werk Pablo Picassos einzusteigen. Zuvor sollte man zumindest einige von der Anschauung her kennen und vielleicht eine Idee der Grundzüge verschiedener künstlerischer Stile besitzen. Dann kann man sich dieser Lektüre annehmen und sie mit Gewinn sich zu Gemüte führen. Vorher wird man jedoch mehr als einmal über bestimmte Begrifflichkeiten stolpern. Später jedoch ergibt sich ein anderer Blick und dann erschließt sich auch die nüchterne faszination Ina Conzens für Pablo Picasso, der nicht nur mit “Guernica” ein Werk für die Historie geschaffen hat.

Autorin:

Ina Conzen war bis 2021 Hauptkonservatorin für Kunst der Klassischen Moderne an der Staatsgalerie Stuttgart.

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Thomas Seiterich: Letzte Wege in die Freiheit

Inhalt:

Sommer 1940. Die deutsche Wehrmacht besetzt das Elsass, aber es gibt Widerstand: In der Straßburger katholischen Pfarrei St. Jean gründen sechs französische Pfadfinderinnen eine Untergrundfluchthilfe für Regimegegner, Juden, Kommunisten, Militärs. Sie erkunden geheime Wege über die Vogesen und retten viele Menschenleben. Bevor die Gestapo sie 1942 aufgreift, bringen sie ungefähr 500 Menschen in Sicherheit. Thomas Seiterich hat sich auf Spurensuche nach diesen beeindruckenden Frauen des Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime begeben und mit den letzten Zeitzeuginnen gesprochen. (Klappentext)

Rezension:

Jenseits der Grenze wird er nun immer häufiger diskutiert, das Gewicht und die Rolle der Frauen in der Resistance, des französischen Widerstands gegen die Deutschen während der Besatzung des Landes im Zweiten Weltkrieg. Deren Wirken war vielfältig, doch auch dort noch vergleichsweise wenig wahrgenommen, spielt er in der hießigen Betrachtung der Historie unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.

Der Autor und Soziologe Thomas Seiterich hat sich nun der Thematik angenommen, um dieses beinahe vergessene Stück Geschichte auch einem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Dabei entstanden ist ein umfassendes Porträt sechs beeindruckender Frauen, die mit ihren Taten ihr Leben riskierten, um das anderer zu retten.

Beleuchtet wird die düstere Zeit der deutschen Besatzung des Elsass, zunächst mit den daraus resultierenden Auswirkungen und der Rolle der Kirche in dieser Region, im Gegensatz zum übrigen Frankreich. Der Autor folgt dem Zusammenfinden der Frauen, ebenso den Entschluss, viele Menschenleben durch persönlichen Einsatz zu retten und zeigt auf, wie diese Art des Widerstands auch im Zusammenspiel mit der damals dort lebenden Bevölkerung funktioniert hat.

An manchen Stellen liest sich das zuweilen wie ein Krimi, was die Thematik bedingt, doch verliert der Autor nie seinen fachlichen Blick. Einige Zeilen lassen doch sehr den theologischen Hintergrund von Thomas Seiterich durchscheinen, damit auch seinen Zugang zur Gedankenwelt der von ihm beleuchteten Frauen, doch driftet die Betrachtung nie ins allzu Religiöse ab. Die Gefahr hier eine theologische Abhandlung anhand eines positiven Beispiels sich hier zu Gemüte führen zu müssen, worauf man bei Klappentext und Kurzbiografie durchaus kommen könnte, ist nicht gegeben. Stattdessn ergänzt der Autor unser Geschichtsbild um einen weiteren wichtigen Aspekt gegen das Vergessen.

Nüchterne Absätze oder gar Kapitel erzeugen einige Längen, doch holt der Autor die Lesenden immer wieder zurück, mit einem dann doch sehr kompakten Stil, der wichtiges auf den Punkt bringt. Nur ein relativ überschaubarer Zeitraum wird in diesem Sachbuch besprochen und immer wieder das Handeln der Frauen im Kontext der Geschehnisse eingeordnet. Vorausgegangen sind dem zahlreiche Gespräche mit zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches noch lebenden Zeiitzeugen und Zeitzeuginnen, sowie das durchforsten von Archivmaterial, soweit vorhanden.

Warum wurde bisher noch nicht mehr über diesen Aspekt der, ja auch französisch-deutschen Geschichte gesprochen? Thomas Seiterich würdigt sehr gelungen die Frauen, die so unzählige Menschenleben retteten und dabei am Ende selbst in die Fänge eines mörderischen Regimes gerieten. Man will sich das alles nicht vorstellen, die Beschreibungen lassen jedoch sehr genaue Bilder entstehen von Schauplätzen. Wie ist es, plötzlich vor Stacheldraht einer streng bewachten Grenze zu stehen, im Verhör oder in einer Zelle auf die Vollstreckung eines Todesurteils zu warten, wie das Erkunden neuer Fluchtwege? Diese Beschreibungen werden hier gut transportiert.

An der einen oder anderen Stelle hätte man formulierungstechnisch durchaus vor Veröffentlichung noch feilen dürfen und hoffentlich, vor weiteren Auflagen, noch den einen oder anderen Rechtschreib- und Grammatikfehler ausgebessert. Das hält sich in grenzen und stört nicht so sehr im Lesefluss, wie vielleicht die eine oder andere Länge. Über allem und positiv steht das Aufgreifen eines hier nur selten diskutierten Aspekts der Geschichte und natürlich dem nun gesetzten schriftlichen Denkmal dieser Frauen. Wer also seinen Blick über den sonst üblichen Tellerrand hinaus erweitern möchte, sei die Lektüre dennoch empfohlen.

Autor:

Thomas Seiterich studierte Geschichte, Soziologie und Theologie in Freiburg, Fribourg und Jerusalem, sowie Frankfurt. Er ist Herausgeber der “Frankfurter Hefter” und war von 1980 bis 2020 Redakteuer der kritisch-linkschristlichen Zeitschrift “Publik Forum”. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Seiterich lebt in Ulm.

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Valeria Shashenok: 24. Februar und der Himmel war nicht mehr blau

Inhalt:

“Als Russland mein Land, die Ukraine, überfiel, flüchteten meine Eltern, mein Hund und ich in einen mir mehr als skurril erscheinenen Bombenschutzkeller. Und weil es dort WLAN gab und die Tage verdammt lange und auch langweilig waren, postete ich Videos, die mein neues Zuhause vorstellen sollten – manche davon gingen dann sogar um die Welt.

Aber meine Geschichte ist eigentlich eine ganz andere: Es ist die eines jungen Mädchens voll mit großen Träumen, das die Welt entdecken wollte und den Krieg für einen schlechten Scherz hielt- Bis zu dem Tag, an dem ich erkennen musste, dass ich mittendrin bin im größten Alptraum meines Lebens.”

Valeria Shashenok

Valeria beschließt, der Welt ihre Heimatstadt Tschernihiw zu zeigen und die wahren Geschichten zu erzählen. Es sind Bilder und Geschichten, die wir uns alle im 21. Jahrhundert mitten in Europa nicht vorstellen konnten und wollten.

Und das Grauen endet nicht einmal mit ihrer Flucht nach Mailand, denn dort angekommen, holen Putins Bomben sie ein und treffen sie mitten ins Herz. (Klappentext)

Rezension:

Wie macht man Außenstehenden begreiflich, was man selbst kaum zu verstehen vermag? Lange Zeit hielt sie es ja selbst kaum für möglich. Gesprochen wurde immer wieder darüber, gedacht haben es viele. Doch irgendwo war da immer die Hoffnung, dass sich die schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheiten sollten. Dennoch, sie taten es. Am 24. Februar 2022 beginnt für die in der Ukraine lebenden Menschen ein wahrer Alptraum. Bomben fallen. Schüsse sind zu hören. Russland versucht sich des Landes zu bemächtigen. Und Valeria, Tochter, junge Frau, dokumentiert das Grauen, was ihren Geburtsort und ihre Heimatstadt Kiew überkommt. Bis sie schließlich sich selbst entschließt, zu fliehen. Doch auch in der Ferne lässt sie das Grauen nicht los.

Gerade in unseren Zeiten ist es wichtig, dass solche Berichte eine große Öffentlichkeit finden, gerade wenn in Zeiten von Fake News aus einem zweifelhaften Weltbild heraus, bestimmte Gruppen auf Propaganda-Züge aufspringen und gar nicht so schnell schauen können, wie sie für sehr krude Zwecke eingespannt und nicht zuletzt gelenkt werden. Am Eindrücklichsten gelingt das, wenn man vom Unmittelbaren erzählt, die Auswirkungen auf einem selbst versucht zu verdeutlichen. Genau dies versucht Valeria Shashenok mit Videos und Bildern, die sie von Beginn des Kriegs gegen die Ukraine in den sozialen Netzwerken postet. Diese Schnipsel hat sie nun versucht, zusammenzusetzen. Entstanden ist dieser nahegehende Bericht.

Es ist eine Art Tagebuch, welches hier vorgelegt wird. Nicht in großen Worten wird hier beschrieben, die Autorin, so hat man beim Lesen das Gefühl, hat noch während des Schreibens versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Voller Emotionen, erschüttert natürlich über das Erlebte, schildert sie von der Zeit des Krieges und ihrer Flucht, aber auch von den Tragödien, die sie einholen werden, als sie sich bereits im sicheren Italien befindet. Wir können hier die Zeilen einer jungen Frau voller Träume lesen, die gerade noch zu Beginn eher irritiert beobachtet, versucht einzuordnen und eigentlich immer noch nicht fassen kann, was da gerade passiert. Mit ihr, ihrer Umgebung, den Menschen, die sie liebt. Allein auf dieser Ebene ist es gut, dass Shashenok dies dokumentiert, was man auch als Versuch einer Verarbeitung und Einordnung lesen kann.

Sprachlich wirkt das leider wie ein besserer Schulaufsatz, mehr nicht, wie ich an anderer Stelle in einer Rezension lesen musste. Dem kann ich nicht widersprechen. Das ist zuweilen recht anstrengend, an anderer Stelle liest sich das fast belanglos, was schade ist. Schließlich hat der Text seine Berechtigung und natürlich auch Relevanz, da ist dann dieser Abstrich, den man an der Stelle hinnehmen muss, unschön. Hier funktioniert es nicht Erwartungsmanagement und Relevanz in Übereinklang zu bringen. Vielleicht wirkt der Text noch mehr, wenn man die Instagram-Posts und Tiktoks dazu beachtet. Fotos zumindest gibt es ein paar. Doch reicht das leider nicht, um den Bericht, der hier in einer Art Tagebuchform vorliegt, vollständig abzurunden.

Eventuell liest sich das jedoch in ein paar Jahren anders. Das vermag ich nicht auszuschließen.

Autorin:

Valeria Shashenok wurde 2002 im Norden der Ukraine geboren und arbeitet als freiberufliche Fotografin. Den Angriff und ihre Flucht aus der Ukraine dokumentierte sie in den sozialen Netzwerken, worauf weltweit Medien auf sie aufmerksam wurden. Sie gab mehrere Interviews und damit den Menschen aus der Ukraine eine Stimme und ein Gesicht.

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Jens Soentgen: Staub – Alles über fast nichts

Inhalt:

Wenn wir über Staub sprechen, dann gibt es meist ein Problem: Hausstaub löst Allergien aus, Feinstaub belastet die Stadtluft, Aerosole transportieren gefährliche Viren. Doch die kleinen Teilchen können noch viel mehr: Staubböden sind sehr fruchtbar, der Amazonasregenwald ist auf die Düngung durch Saharastaub angewiesen und ohne Staub in der Luft wäre es um einiges finsterer auf der Erde, da er das Sonnenlicht in die entlegensten Winkel spiegelt. Auch meteorologische Phänomene wie Regen oder Schnee könnte es ohne kleine Partikel in der Luft nicht geben – was wäre als unser Leben ohne Staub?

Klug, witzig und eloquent berichtet der Chemiker und Philosoph Jens Stoetgen von den nützlichen Quälgeistern, die uns täglich umgeben – ein ganz besonderes Lesevergnügen. (Klappentext)

Rezension:

Die Evolutionsgeschichte des Menschen ist zugleich die kleinster gemeinsamer Teilchen. Schon die ersten Menschen haben ihn beobachten können, wenn ein klarer Sonnenstrahl in dunkle Höhleneingänge fiel. Mit Beginn der Nutzung des Feuers hat auch der Staub eine immer rasantere Entwicklung genommen. In der Masse wurde er seither immer mehr. Verschwinden lassen wird uns nie zur Gänze gelingen und selbst in den unendlichen Weiten des Weltalls ist er uns bereits gefolgt. Der Chemiker und Autor Jens Soentgen ist seinen Spuren und Sporen gefolgt, lässt uns eintauchen in die faszinierende Welt des Fast-Nichts.

Wer glaubt, seine Wohnung gründlich gereinigt zu haben, muss nur in die Ecken schauen, den Blick entlang von Kanten und Rändern schweifen lassen. Irgendwo wird man ihn immer entdecken, den man gerade noch geglaubt hat, vollständig beseitigt zu haben. Eine zur Gänze lückenlose Beseitigung des Staubs, der uns umgibt, ist beinahe unmöglich. Doch wäre das überhaupt wünschenswert, wenn man jetzt einmal den ästhetischen Gedanken beiseite schieben würde? Das hier vorliegende faszinierende Sachbuch lädt dazu ein, einen etwas anderen Blickwinkel auf Staubflusen und Wollmäuse einzunehmen. Erzählt vom Leben eines Staubpartikels und was das mit uns macht oder was uns fehlen würde, wäre die Welt zur Gänze staubfrei.

So ungewöhnlich die Thematik des Werks, so liebevoll die Sprache über eine Thematik, der wir uns sonst in vielerlei Hinsicht nur kritisch annähern. Neben allen kritischen Punkten, die ebenfalls beleuchtet werden, wird auch der positive Effekt betrachtet, wenn es etwa um die Rolle des Staubs bei der Fruchtbarkeit von Böden, der Verbreitung von Leben oder es schlicht und einfach darum geht, die Welt ein wenig zu erhellen. Staubfrei bedeutet nämlich, zumindest in der Natur, eine dunklere und nicht ganz so farbenfroh leuchtende Umgebung. Abwechselnd fast wissenschaftlich, dann wieder ganz im Stil des Nature Writing beschreibt der Autor eine Hassliebe, die wir zwar im ersten Moment am liebsten los wären, ohne die wir jedoch nicht sein würden, was wir sind.

In sehr kompakten Kapitel stellt Soentgen die Rolle des Staubs in unserer Welt dar, unterstützt durch zu Weilen urkomische Illustrationen aus der Feder von Katja Spitzer und führt uns dabei nicht nur durch ein imaginäres Museum für die Evolutionsgeschichte der Wollmaus, welche die manchmal “staubtrockene” Thematik auflockern, sondern zeigt, wie Staub, Natur und Mensch miteinander zusammenhängen.

Schon das hier konzentrierte Faktenwissen ist hier interessant zu lesen, auch die Einordnung nützlichen und nicht ganz so positiver Spielarten, sowie die historische Betrachtung sind sehr spannend zu lesen. Es ist eben nicht nur ein bloßes Abfallprodukt, womit wir uns hier beschäftigen, sondern zugleich eines der kleinsten noch mit bloßen Auge sichtbaren Teilchen, welches viele Geheimnisse verbirgt, doch auch so viel über uns selbst verraten kann.

Längst überfällig war diese popolärwissenschaftliche Aufbereitung eines Sachverhalts, der nicht nur die Reinigungsindustrie stetig beschäftigt, sondern inzwischen auch einige Künstler. Wir können dem Staub ja eh nicht entkommen. Wo wir sind, ist auch er. Zeit also, einmal in Ruhe eine im Licht schwebende Staubfluse zu betrachten. Jens Soentgen zeigt, wie.

Autor:

Jens Soentgen wurde 1967 in Bernsberg geboren und ist ein deutscher Chemiker und Philosoph, sowie Autor verschiedener Sachbücher. Zunächst studierte er Chemie und promovierte anschließend in Philosophie, bevor er verschiedene Lehraufträge annahm. 1999/2000 war er Gastdozent in Brasilien. Seit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg, wo er 2015 habilitierte. Er ist Autor mehrerer Werke, für die er u. a. den Emy Sachbuchpreis erhielt (2016).

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