Erzählung

John Ironmonger: Der Eisbär und die Hoffnung auf morgen

Inhalt:

In dem gemütlichen Pub eines winzigen Fischerdorfes in Cornwall kommt es am Mittsommerabend zu einer folgenreichen Klimawette zwischen einem Studenten und einem Politiker. Werden bald auch die dreihundertsieben Bewohner des beschaulichen Dorfes zu spüren bekommen, wovor die Welt noch die Augen verschließt?

John Ironmonger erzählt von der dringensten Aufgabe unserer Zeit und von zwei schicksalhaft verbundenen Leben. Können aus Gegnern Verbündete werden, wenn es um unser aller Zukunft geht?
(Klappentext)

Rezension:

Fast scheint es, als ob das Genre des Klimaromans nun entgültig in die Buchhandlungen Einzug gehalten hat, ist doch die Frage, wie wir dem Wandel des Klimas begegnen, eine der drängensten unserer Zeit. Das arktische Eis schmilzt unaufhaltsam.

Die Fragen lauten nur noch, wie schnell, wie hoch wird das freigesetzte Wasser steigen und mit welchen Auswirkungen in Gang gesetzter Kettenreaktionen werden wir und künftige Generationen noch konfrontiert werden? Dies ist der gedankliche Überbau der hier vorliegenden Mischung aus Dystopie, Gesellschafts- und Politroman. Er beginnt mit einer Wette. Jene, die sie beschließen begleiten wir über ihre gesamte Lebensspanne. Wer wird am Ende Recht behalten und ist solch ein Sieg nicht gleichsam eine Niederlage?

Von Beginn an ist klar, wie die Erzählung schließen wird. Das Ende ist nicht überraschend. Spannend ist hier der Weg zum Ziel. Lesend wird man jedoch zunächst eingelullt, die Hauptprotagonisten werden vorgestellt, samt einiger sie umgebender Nebenfiguren. Die Atmosphäre des kleinen Dorfes, der als Touristenort sein Auskommen hat, ist förmlich zu greifen. Die Figuren schließt man schnell ins Herz, positioniert sich entsprechend.

Langsam kommt dann die geschichte ins Rollen, deren Handlungsfäden wir über die Jahrzehnte folgen. Zeitsprünge und Perspektivwechsel geben das Tempo vor, schließlich soll eine gesamte Lebensspanne erzählt werden. Für diese Form ist der Roman relativ kompakt, wenn auch der Autor an teilweise sehr schwülstigen Formulierungen nicht spart und mehrfach die Grenze zum Kitsch um mehr als eine Fußlänge bis ins Unglaubwürdige überschreitet. Da dies jedoch erst ab Mitte der Erzählung geschieht, kann man durchaus augenrollend darüber hinweg sehen.

So turbulent wie das Leben verläuft, so ändern sich auch die Handlungsorte der Protagonisten. Hier hat John Ironmonger ein glückliches Händchen bewiesen, diese so zu beschreiben, dass man sie sich förmlich vorstellen kann. Eben ist man noch im dörflichen Pub, dann in der Umgebung einer kargen Forschungsstation, der Unwirklichkeit unbarmherzigen Eises ausgeliefert. Mit solchen Elementen gelingt es dem Autor eine Stimmung aufzubauen, die in Sicherheit wiegend, promt die nächste Überraschung bereithält, um dann in einem anderen Moment in trügerische Stille hineinzuwechseln.

Bis auf die beiden Protagonisten, die im Verlauf der Handlung ihre Ecken und Kanten bekommen, bleiben beinahe alle, hier wiederum auch nur bis auf eine, Nebenfiguren konturlos. Ironmonger konzentriert sich zumindest hier aufs Wesentliche und tut seiner Geschichte damit einen großen Gefallen, zudem dadurch Gegensätze bereits genug ausgestaltet werden. Klar wird an einigen Stellen sehr stark überzeichnet, doch gelingen auch Verbindungen. Steckt nicht in vielen von uns der Idealismus eines Tom Horsmith, aber auch das Zögern, die Inkonsequenz eines Monty Causley?

Die Zeitsprünge sind es, die die Geschichte so besonders machen, ohne größere Lücken entstehen zu lassen. Eher sind es Handlungsmomente, die unglücklich gesetzt sind, und die Erzählung manchmal ins Stocken geraten lassen. Zu Gute halten muss man dem Autoren, dass dieser sich mit der Thematik des Klimawandels ausgiebig beschäftigt hat.

Fazit, welches man ziehen könnte, es bringt nichts den Menschen von Folgen zu erzählen, die vielleicht irgendwo andere treffen werden oder von globalen Maßnahmen zu sprechen, auf die sich ohnehin nicht die gesamte Staatengemeinschaft einigen wird.

Was bedeutet der Klimawandel für mich, für meine Umgebung, für das Land, in dem ich lebe und was kann jeder Einzelne in kleinen Schritten tun? in großen Schritten denken die wenigsten, zumal kaum Politiker, die bereits die Umfragen für die nächsten Wahlen und den nächsten Karriereschritt im Blick haben.

Dem Schreibstil hätten eine gewisse Dynamik und Tempo gut getan. So reiht sich auch dieses Werk unter vielen einen, die durchaus interessant zu lesen sind, aber schnell unter “ferner liefen” abgestellt werden können, zudem wenn man mehreres dieser Art bereits liest. Hier darf man die berechtigte Befürchtung äußern, dass der Roman untergeht, wie der vor sich hinschmelzende Eisberg. Liest man über die Thematik nicht so häufig einen Roman, hat dieser dennoch die Chance, im Gedächtnis zu bleiben.

Zu guter Letzt, die Titelfindung. Sperriger geht es kaum, zudem der Eisbär weder Auslöser noch Konsequenz ist.

Die Grundidee der Geschichte funktioniert, sowie auch die Figuren durchaus Identifikationspotential mit sich bringen, doch schießt der Autor öfter mit Formulierungen und der Ausgestaltung von Szenen übers Ziel hinaus, da helfen dann auch schöne Worte nichts. Wenn es aber hilft, den einen oder anderen, der thematische Überbau existiert ja, zum Nachdenken zu bringen, hat dieser Roman dennoch seine Berechtigung.

Autor:

John W. Ironmonger wurde 1954 in Nairobi, Kenia, geboren und ist ein britischer Schriftsteller. Zunächst studierte er Zoologie in Nottingham und Liverpool, bevor er an der Universität von Illorin, Nigeria, unterrichtete. Danach arbeitete er im Bereich der medizinischen Informatiok in Groß-Britannien. Im Jahr 1994 veröffentlichte er ein Sachbuch. 2012 folgte sein erster Roman. Seine Werke wurden mehrfach nominiert und ausgezeichnet.

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Jan Krauß/Alexander Pavlenko: Faust – Eine Graphic Novel

Inhalt:

Alle Welt kennt Faust, der mit Mephisto einen teuflichen Pakt schließt. Eine Tragödie – so spannend wie ein Thriller. Viele Zitate sind Teil unserer Umgangssprache geworden. Die Graphic Novel FAUST erschließt Goethes zentrales und exemplarisches Meisterwerk mit meisterlich gezeichneten Szenen wie aus einem kühnen Historienfilm sowie sprachlich modernisiert auch heutigen Generationen. Sinnfällig visualisiert, wirbelt der Leser durch verschiedene Sphären, Milieus und Zeiten im Himmel wie auf Erden, trifft auf Menschen, Lehren, Götter, Geister, Hexen und Magie. (Klappentext)

Rezension:

Im Unterricht oft genug zu Tode analysiert, bleibt von der ursprünglichen Magie so viel wie wenig, zuweilen gar nichts übrig, um so wichtiger ist die Übertragung von Klassikern in die Moderne, um Stoffe wie Goethes “Faust” auch in heutiger Zeit zugänglich zu machen. Mit diesem hat es der Zeichner Alexander Pavlenko versucht, in Zusammenarbeit mit Jan Krauß, der den Text behutsam in eine moderne Form übertragen hat. Entstanden ist eine zuweilen der Geschichte bedingt düstere, aber lesenswerte Graphic Novel, die den Geist der Vorlage wunderbar transportiert.

Über den Inhalt gibt es nicht mehr viel zu sagen. Auch hier sind es zwei Gegensätze, die verhandelt werden und Protagonisten mit mehr als den bloßen Ecken und Kanten, die miteinander und gegeneinander ringen, dabei die Grenzen des Möglichen austesten und erweitern. Sehen wir uns zuerst den Text an, sind sämtliche Dialoge und Aussprüche in die Moderne übertragen wurden, jedoch so vorsichtig, dass es nicht unangenehm auffällt, sondern im Gegenteil man hineingesogen wird in die Handlung, die all das Trockene verliert, was mitunter das klassische Drama für uns heutige Lesenden hat.

Der Kunstform Graphic Novel bedingt, fällt natürlich das bekannte Versmaß weg. Der Texter hat sich hier um eine geeignete Form bemüht, die funktioneirt, vielleicht auch verständlicher wirkt, ohne die Ebenen der Interpretationsspielräume, die uns Goethe nach Lehrmeinung hinterlassen hat, zu verlieren. Die kann man mitlesen, muss dies jedoch nicht, so dass ich geneigt bin, den Klappentext des Verlags zuzustimmen. Ja, diese Form funktioniert tatsächlich wie ein moderner Krimi. Handlungsstränge wurden entwirrt, Tempo durch Konzentration aufs Wesentliche hinein gebracht.

Träger sind hier die Zeichnungen aus der Feder von Alexander Pavlenko, der hier abgesehen von ebenso für andere Werke des Verlags gestalteten Covern im Scherenschnittstil hier sein ganzes Können zeigen darf. Düster sind die einzelnen Panels gehalten, welches die Grundstimmung, zuweilen die Unruhe und Getriebenheit der Hauptfigur unterstreicht, welche sich vom oft schwarz gehaltenen Hintergrund abhebt. Wichtiges wird durch Detailreichtum hervorgehoben, während anderes manchmal fast nur schematisch gehalten wird. Pavlenko hat hier mit schnellen Strich und beschränkter Farbpalette gearbeitet. Es braucht nicht viel, um zu beeindrucken. Hier ist weniger mehr und das funktioniert gut.

Die Handlung orientiert sich an der Vorlage, während der Spagat, diese in die Morderne zu übertragen in diesem Zusammenspiel gelingt, ohne die Idee zu verraten oder gar, auch schon gesehen, ins Satirische abzugleiten. Auch wenn es ein wenig Wunschdenken ist, würde man diese Version, vielleicht nicht stattdessen aber parallel im Schulischen behandeln, kann ich mir durchaus vorstellen, dass Goethes Drama auch heute noch zugänglich ist. Ohne Interpretationshilfen bedienen zu müssen oder einen Text so sehr auseinander zu nehmen, bis dieser nicht mehr lebt. Pavlenko und Krauß erreichen mit ihrer Version genau das Gegenteil.

Autoren:

Alexander Pavlenko wurde 1963 in Ryazan geboren und studierte zunächst Trickfilmkunst, bevor er für verschiedene Filmstudios in Moskau arbeitete. Seit 1992 lebt er in Deutschland und illustrierte Comics, Science-Fiction und Abenteuerromane, die in verschiedenen Ländern veröffentlicht wurden. Seine Zeichnungen waren zudem Stücke verschiedener Ausstellungen.

Jan Krauß studierte Politologie, Romanistik und Philosophie und veröffentlichte mehrere Werke, wie z. B. das Kinderbuch “Thors Hammer”. Er lebt in Frankfurt/Main.

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Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord

Inhalt:

Ein wohlsituierter New Yorker Geschäftsmann stürzt urplötzlich in eine mentale Krise. Um zu gesunden, so spürt er, muss er seinen von grauem erfolg geprägten Alltag hinter sich lassen, und kurzerhand tritt er eine Schiffsreise an. Doch nachdem der Aufenthalt an Bord des Frachters Arabella ihm zunächst tatsächlich Erleichterung verschafft, reicht ein einziger falscher Schritt, um all seine Gewissheiten infrage zu stellen … (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Es wird sich schon alles im Guten auflösen, denkt sich der Protagonist zunächst, der noch nicht weiß, dass mit seinem eben gemachten Schritt all seine Gewissheiten in ihren Grundfesten erschüttert werden. Henry Preston Standish, gerade noch auf dem Boden des Frachters Arabella stehend, ist ausgerutscht, über Bord gegangen und muss nun mit ansehen, wie sich das Schiff langsam immer weiter von ihm entfernt.

Sie werden schon den fehlenden Passagier bemerken und zu seiner Rettung umkehren, denkt er sich, zu Beginn noch optimistisch gestimmt. In der Weite des Ozeans beginnen bald nicht nur seine Gedanken zu kreisen.

So beginnt der erstmals 1937 veröffentlichte Roman des amerikanischen Journalisten Herbert Clyde Lewis, dem Zeit seines Lebens eine gewisse Unruhe umtrieb und der seinen Protagonisten eben dieser zumindest gedanklich aussetzt, damit eine Dynamik sich entfalten lässt, die einem schaurigen Kammerspiel gleicht.

Mit kompakten Formulierungen hat der Autor Zeile für Zeile ein Szenario aufgebaut, welches mit wenigen Figuren und auf beschränkten Raum auskommt, dennoch über die gesamte Handlungslänge eine Spannung hält, die zwischen grausamer Faszination und fast angenehmen Nervenkitzel schwankt, ist doch das beschriebene Szenario einer der Alpträume schlechthin.

Getrieben wird die handlung hauptsächlich durch die Gedanken der Protagonisten. Wechseleitig erfahren wir die von Standish selbst, der ein Wechselbad seiner Gefühle durchleben und sich dabei über Wasser halten muss, dann die der Passagiere und Besatzung des Frachters, die die Abwesenheit von einem der ihren zunächst nicht bemerken.

Das alles wird sehr punktuell erzählt. Kein überflüssiges Wort zu viel. Man hofft und bangt mit dem Hauptprotagonisten. Der Kontrast zu den Nebenfiguren steigert sich. Die Handlung indes ist damit schnell erzählt, das Ende lässt sich dennoch nicht erahnen. Es sind die Gedankengänge der Figuren, die die Handlung am Leben und die Lesenden bei der Stange halten werden.

Nebenbei hat Lewis es geschafft, auf solch engen Raum auch eine gehörige Portion amerikanischer Gesellschaftskritik einzubauen, verkörpert durch die Gegensätzlichkeit der Protagonisten.

Da der vom Erfolg verwöhnte Geschäftsmann, der plötzlich den Boden unter seinen Füßen verliert, die Weltwirtschaftskrise ist so lang nicht her, der New Deal zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans noch nicht ganz durch, auf den Frachter selbst noch ein anderer Passagier, Farmer, der mit etwas Handfesten im Alltag hantiert, dennoch eine gewisse Faszination für Standish aufbringen kann, der die Zukunft des amerikanischen Wirtschaftssystems darstellt. Solche Anspielungen gibt es viele in diesem Roman, in allerhand Nebensätzen, zwischen den Zeilen. Manchmal nur ein Wort, welches da aufblitzt.

Immer dramatischer zeigt sich die Situation für den ins Wasser gefallenen. Der im Zeitraum von wenigen Stunden spielende Roman nimmt einem mit. Der Autor schafft es, einem selbst die Panikattacke, den versehentlichen Schluck salzwasser etwa spüren zu lassen, der den durst des Protagonisten nur noch vergrößern wird.

Während die Figuren sich immer mehr voneinander entfernen, behält der Autor alles im Blick. Aus Mangel an Alternativen ist er es, der die Erzählerrolle einnimmt, damit Distanz aufbaut und doch so die Dramatik seiner Hauptfigur noch mehr herausstellt. Erzählerische Lücken, unlogische Brüche enfallen. Ob die Geschichte die erhoffte Wendung nimmt, bleibt bis zum Ende offen. Es bleibt spannend bis zuletzt.

Der Hauptprotagonist ist gezwungen, Bilanz zu ziehen, auch die sich in Sicherheit befindenden Figuren werden mit einer gewissen Unausweichlichkeit konfrontiert. Man mag sich dieses Szenario nicht in der Realität vorstellen, wohl wissend, dass es auch heute immer mal wieder vorkommt.

Lewis gelingt es, die Bilder vor dem inneren Auge aufzubauen, die zunächst ruhige Wasseroberfläche, das Nass, welches sich lauwarm anfühlt, die Sonne, deren Farben Standish in einer nie wahrgenommenen Intensität zu sehen bekommt. Welche Gedanken machen wir uns am Ende unserer Tage? Welche Bilanz ziehen wir? Wer denkt dann noch an uns und vor allem, wie? Fast philosophisch ist der Schriftsteller den Fragen mit diesem sehr punktuell gehaltenen Text begegnet, den man das Gefühl hat, langsam zu lesen und doch durch die Handlung rennt. Es geht ja schließlich ums Leben. Ums Überleben.

Der Roman bleibt im Gedächtnis, selbst wenn man nur die Erzählung selbst und nicht zwischen den Zeilen liest, die Anspielungen, auch die auf den Autoren, der seine Ruhelosigkeit in den Protganisten mit hinein geschrieben hat, gleichzeitig aber auch diesen zu sich selbst in Kontrast setzte, einmal unter die Wasseroberfläche sinken lässt. In diesem sehr reduzierten Stil erzielt der Autor dennoch eine enorme Wirkung. Vielleicht ist es daher der richtige Zeitpunkt, dass jetzt dieser Roman auch im deutschsprachigen Raum zugänglich ist.

Autor:

Herbert Clyde Lewis wurde 1909 in New York City, New York, geboren und war ein amerikanischer Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor. Zunächst arbeitete er als Reporter, und Redakteur bei verschiedenenen Zeitungen, zudem bei einer Werbeagentur. 1937 veröffentlichte er seinen ersten Roman, dem weitere folgten. Zwei Jahre später begann er als Drehbuchautor für Hollywood zu arbeiten, später für das Time Magazin. Lewis starb 1950 an Herzinfarkt.

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Sylvia Frank: Nur einmal mit den Vögeln ziehn

Inhalt:

Ein Picknick mit Mozart vom Grammophon mitten zwischen Feldern in Thüringen wird zu “Jenseits von Afrika”, in der kaserne bauen sie illegal Marihuana an und in einem alten Kino spielen sie zu “The Band – The Last Waltz” eigenhändig Blues … sylvia Frank erzählt spannend und authentisch die Geschichte von Siv, Aki, Anna Maria, Jens und Ivo, fünf Jugendliche, die in der DDR in ganz unterschiedlichen familiären Verhältnissen aufwachsen und die historischen Ereignisse der friedlichen Revolution, der Grenzöffnung und der deutschen Einheit als junge Erwachsene miterleben. Ereignisse, die ihr Leben verändern. (Klappentext)

Rezension:

Vielleicht hat er bis dato gefehlt, dieser Roman, der nicht verklären aber auch nicht verteufeln tut, der die Schwarzmalerei unterlässt, jedoch auch nicht die Schattenseiten der jüngeren Geschichte unterschlägt. Hier ist er also, aus der Feder des Autorenpaars Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert, die stellvertretend für eine ganze Generation eine handvoll Protagonisten unterschiedliche Wege gehen lassen, dabei menschliche Abgründe aufzeigen, aber eben auch Momente des Glücks im Kleinen, sowie natürlich auch im Großen. Aus wechselnder Sicht wird erzählt, wie der vielzitierte Mantel der Geschichte sich öffnete und die Menschen diese Chance ergriffen und vollzogen.

Das geschieht in sehr kompakter Form, die überraschend ist, da die erzählte Zeitspanne doch schon 1977 ansetzt und allen Figuren, die wir von Kindesbeinen an verfolgen, genug raum eingeräumt wird. Aus wechselnder Perspektive heraus werden dabei nicht nur die großen historischen Momente aufgerollt, sondern liebevoll Alltagsszenen auserzählt, die eine ganze Generation prägten. Nicht genug, auch wechseln die Handlungsorte quer durch die DDR, um so sehr effektvoll, doch ohne großes Geschrei Differenzen, Widersprüche und Wandel aufzuzeigen, von der innerdeutschen Grenze ins ländliche Thüringen, von Leipzig bis nach Berlin.

Viel zu viel möchte man meinen für so wenig Seiten, gibt doch all das viel mehr Erzählstoff her, doch die Schreibenden lassen ihren Protagonisten Spielraum, ohne jedoch zu Gunsten von wenigen, andere Handlungsstränge zu verlieren. Wer die Zeit bewusst erlebt hat, findet sich da sicher irgendwo wieder, wer nicht taucht ein und erlebt Geschichte. Frank und Meierewert lassen Orte vor dem inneren Auge entstehen, so dass es wirkt, als würde man selbst im Verhörraum der Stasi sitzen oder im Kirchenraum, im Ungewissen, was nach der Predigt gleich passieren wird. Anderes hat sich längst ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, selbst wer das nicht aus eigenem Erleben heraus erfahren hat.

Vor allem die Unaufgeregtheit, mit der die Schreibenden dies aufgerollt haben, trägt dazu bei, dass ein Sog entsteht, den man sich nicht entziehen mag. Dabei wird das Erzähltempo stetig gehalten, zudem wird man wahrscheinlich in allen Figuren etwas von sich und anderen finden. Man rollt manchmal die Augen über die Protagonisten und schließt sie doch ins Herz.

Gegensätze und Kontraste werden hier durch die erzählten unterschiedlichen Lebenswege, sowie durch die Zeit selbst aufgebaut, die noch zu Beginn des, nennen wir es einmal Gesellschaftsroman, die Protagonisten vor sich hertreibt, bis sich dieses Verhältnis umkehrt. Das funktioniert oft gut, manches hätte ich mir noch mehr auserzählt gewünscht. Nur mit zwei Szenen sind die Schreibenden hier ins Kitschige abgerutscht. Da hat jedoch der Perspektivwechsel im jeweils nächsten Kapitel entgegen gewirkt. Zum Glück, es wäre sonst durchaus schade gewesen.

Somit ist “Nur einmal mit den Vögeln ziehn”, was man sinnbildlich verstehen darf, eine durchgehend schlüssige, vergelichsweise ruhige Erzählung, über eine doch bewegte Zeit, ein Roman über ostdeutsche Perspektive, ohne bestimmte Narritive zu bedienen, die heute auch einmal ganz gerne populistisch genutzt werden, was hier sehr wohltuend wirkt. Zudem hat man das Gefühl, keinen wichtigen geschichtlichen Moment ausgespart zu haben, aber eben auch die Protagonisten nicht verliert, für mich als an der Historie interessierten Menschen auch sehr spannend zu lesen.

Wie dreht sich diese Perspektive wohl für mich, wenn dann weiter erzählt wird, und die Handlung meinen Erinnerungsraum beginnt zu berühren? Eine Fortsetzung des Romans ist zumindest angedacht. Man darf gespannt bleiben. Bis dato ist es ein Roman für jene, die diese Zeit bewusst erlebten, ob ost- oder westdeutsch und jene, die darum wissen und zumindest diese kleine Zeitreise unternehmen möchten.

Die Protagonisten, deren Handlungsstränge mal mehr, mal weniger verwoben sind, dann auseinanderlaufen, um sich in anderer Beziehung später zu überkreuzen, erzeugen eine Dynamik, die man vielleicht nicht immer wahrnimmt, welche jedoch keine Monotonie aufkommen lässt. Manchmal fehlen vielleicht ein paar Ecken und Kanten, bei Figuren, wovon andere wieder mehr als genug haben. Welche das sind, werden jedoch für alle Lesenden andere sein. Eventuell lohnt die Lektüre alleine dafür, das herauszufinden.

Autorin:

Sylvia Frank ist das Pseudonym des Schriftstellerpaares Sylvia Vandermeer und Frank Meierewert. Sylvia Vandermeer wurde 1968 geboren und studierte Betriebswirtschaftsleere in Passau. Im Jahr 2007 wurde sie an der Wirtschaftsuniversität Wien habilitiert. Darüber hinaus studierte sie Biologie, Bildende Kunst und Psychologie. Frank Meierewert wurde in Brandenburg a. d. Havel geboren und studierte Drehbuch an der Filmhochschule Wien, sowie Sozial- und kulturanthropologie, ebenfalls dort. Er ist ebenfalls als freiberuflicher Autor tätig.

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Reinhard Kuhnert: Was unvergessen bleibt

Inhalt:

Fergus Monahan ist tot. Oder vielleicht doch nicht? Seine Frau Maeve jedenfalls ist fest davon überzeugt, dass er sich allerbester Gesundheit erfreut …

Ein höchst wundersames Geschehen in der westirischen Provinz Connemara, ein familienzwist in der Klassikerstadt Weimar, zwei Männer an einem Grab und die Geschichte von Josef, der sich einem Gedächtnistest unterziehen soll – vier Erzählungen über das Erinnern und Vergessen und über das, was unvergessen bleibt. (Klappentext)

Rezension:

Herausfordernd sind die Geschichten, denen die Schreibenden nur wenige Worte zugestehen, die auf begrenzten Raum eine Wirkung entfalten müssen und so ist die Kurzgeschichte eine sehr eigenwillige Form, die oft genug daran scheitert, dass entweder Protagonisten nicht ausreichend ausgestaltet worden sind oder Situationen nicht genug Zeilen bekommen, um ihre Wirkung zu entfalten. Das gelingt am besten, wenn Autor oder Autorin die Kunst der Auslassung beherrschen oder die der Konzentration auf ein bestimmtes Motiv. Ein positives Beispiel dafür ist der hier von Reinhard Kuhnert vorliegende Erzählband “Was unvergessen bleibt”.

Mit vier sehr verschiedenen Kurzgeschichten nähert sich der Autor und Regisseur den großen Themen des sich Erinnerns und des Vergessens, die wie ein roter Faden das Werk durchziehen und in unterschiedlicher Gewichtung ihre Wirkung entfalten. Nehmen wir die Geschichte zweier Brüder, deren eigene Geschichte zugleich die der Teilung Deutschlands ist, damit einhergehende Entfremdung, aber auch der Frage nach Schuld und Schuldigkeit.

Unter der Oberfläche des Erzählten entdeckt man lesend einige Facetten, an denen einige Familiengeschichten heute noch zu tragen haben dürften, gleichwohl Mauerfall und Wiedervereinigung schon vor über dreißig Jahren stattgefunden haben. Oder, in einer der anderen Geschichten die Gewichtung der Vergangenheit als höher bei der älteren Generation und die Frage nach der Zukunft bei der jüngeren. Starke Motive werden mit wenigen Worten zur Sprache gebracht, die Reinhard Kuhnert nicht nur als Autor virtuos beherrscht.

In jeder Geschichte konzentriert sich der Autor nur auf wenige Protagonisten, gibt zudem dem Davor und Danach verschiedene Schwerpunkte, so dass ein jeder lesend wohl eine Erzählung finden wird, mit der man sich identifizieren kann, die in abgewandelter Form vielleicht auch in der eigenen Familie, im eigenen Leben stattgefunden hat. Sehr kompakt aufgebaut, jede Handlung umfasst im Schnitt nicht mehr als vierzig bis fünfzig Seiten, entfalten die Kurzgeschichten ihre Wirkung und erzählen doch zuweilen größere Zeitspannen, als man dies für möglich halten würde, dass das in dieser Form so funktioniert.

Allesamt spielen sie im nicht nur der Historie schwierigen Gegensatz und Miteinander zwischen Ost und West. Eine perfekte Grundlage, um auch mit beiden Motiven dergestalt spielen zu können. Dabei verliert der Autor nicht einmal seine Protagonisten aus dem Blick, welche er in nur wenigen Zeilen auch mit Ecken und Kanten ausgestaltet hat. Lücken wurden nicht unbewusst gesetzt, auch unlogische Brüche sind in keiner einzigen der Erzählungen zu finden. Persönlich hat es mich positiv gestimmt, dass es doch noch Kurzgeschichten gibt, die für mich funktionieren, was ja aus genannten Gründen oft genug nicht der Fall ist.

Wenige Worte reichen dem Autoren hier aus, um Bilder vor den inneren Augen der Lesenden zu erzeugen und in die Protagonisten hineinzufühlen. Faszinierend, dass es bei fast jeder Erzählung gelingt, eine Identifikationsfigur zu finden und den anderen dennoch nachvollziehbare Handlungsmotive zu zugestehen. Wirkliche Antagonisten braucht es nicht, das Drama, zuweilen aus Zeitsprüngen und Rückblenden bestehend, funktioniert auch so. Hier merkt man Reinhard Kuhnerts Hintergrund des Theaters und Films.

Nadelstiche, so sie denn gesetzt sind, widerum, wirken wahrscheinlich eher bei einem älteren Lesepublikum. Mir fehlt rein der Erlebnishorizont, um um die Wirkung zu wissen, hätte ich die Wendezeit und das davor bewusst erlebt. Wie ist es für jene die Szene des Protagonisten zu lesen, der eine Rede hält und darauf hin erleben muss, wie der Staatsapperat mit einer Härte Steine ins Rollen zu bringen beginnt, die unsereins sich heute nur schwer vorstellen kann? Vielleicht sollte man deshalb auch an solcherlei Dinge erinnern, womit wir wieder zurück bei den handlungsübergreifenden Motiven wären.

Diese Aspekte scheinen mir für die Betrachtung dieses Werks wichtiger als wenn ich näher auf die einzelnen Geschichten und Protagonisten eingehen würde. Zu schnell gerät man bei Kurzgeschichten in die Gefahrenzone des Spoilerns. Mir ist die thematische Umsetzung ebenso positiv aufgefallen, wie die sprachliche Unaufgeregtheit, aber auch einzelne Sätze, die für sich stehen können. Für jene die die beschriebene Zeitenwende bewusst erlebt haben, kommt der Wirkungsaspekt noch hinzu, für Lesende wie mich, diese vor Augen zu führen, was passieren könnte, wenn …, wobei ja das Erinnern und Vergessen als solche zeitunabhängig sind. Auch das hat der Autor hier übrigens nicht aus dem Blick verloren.

Das Erinnern und Vergessen macht Geschichten. Aus der Feder Kuhnerts lohnen sie sich zu lesen.

Autor:

Reinhard Kuhnert wurde 1945 in Berlin geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, Regisseur, Schauspieler und Synchronsprecher. Er studierte zunächst an der Theaterhochschule und am Literaturinstitut Leipzig, bevor er als Schauspieler, Regieassistent und Regisseur an mehreren Theatern arbeitete, Bis 1983 war er als Dramatiker in Ost-Berlin tätig, bevor er nach West-Berlin übersiedelte und seine Arbeit vor allem im Ausland fortsetzte, u. a. in Luxemburg, Irland und Australien. Er schreibt für Theater, Rundfunk und Fernsehen, war zeitweilig gastdozent an der Universität Galway, Irland. 1999 erhielt er den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin und 2017 deie Goldene Schallplatte als Erzähler der Hörbücher von “Games of Thrones”.

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Tatsuo Hori: Der Wind erhebt sich

Inhalt:

Die zwischen 1936 und 1938 entstandene Novelle “Der Wind erhebt sich”, betitelt nach einem Gedicht von Paul Valery, beschreibt die platonische Liebe des Ich-Erzählers zu seiner an Tuberkulose erkrankten Verlobten Setsuko. Ihre vom Tod überschattete, kurze Liason verleben sie größtenteils fernab der Gesellschaft in einem Lungensenatorium in den Bergen. Beruhend auf den persönlichen Erfahrungen schildert Tsatsuo Hori mit feinem Gespür die Psyche der beiden Protagonisten und ihre ambivalente Beziehung, was in der lyrischen Darstellung der Umgebung im Wandel der vier Jahreszeiten eine äußere Entsprechung findet.

Mit der Novelle “Der Wind erhebt sich” kann das Lesepublikum hierzulande eine der wichtigsten japanischen Kostbarkeiten des 20. Jahrhunderts nun erstmals auf Deutsch für sich erlesen und eine Tür in eine fremde und doch seltsam nahe Gedankenwelt öffnen. (Klappentext)

Rezension:

Im Vergleich zu anderen Region begegnet uns Japan zumindest literarisch noch sehr dosiert. Um so interessanter sind Erst- und Neuübersetzungen, die jetzt nach und nach auch hier eine Leserschaft gewinnen. Darunter nun eine kleine zarte Novelle, die mit wenig Worten auskommt, jedoch eine sehr besondere Wirkung entfaltet. Die Rede ist von “Der Wind erhebt sich”, aus der Feder des japanischen Schriftstellers Tatsuo Hori, der sich auf sehr einfühlsame Art und Weise mit dem Loslassen und dem Tod beschäftigt.

Die kleine Novelle beginnt inmitten der Natur die Lesenden auf eine Reise durch das Jahr mitzunehmen. Zwei Menschen treffen aufeinander, vom Erzähler selbst erfährt man wenig, überhaupt werden Informationen sehr dosiert und gezielt eingestreut, dennoch hat man sofort ein klares Bild vor Augen. Das Glück der beiden Protagonisten scheint oberflächlich nur von kurzer Dauer, doch im Angesicht des Fortschreitens der Krankheit gewinnt der Zusammenhalt und das Beisammensein Konturen, die die kompakte Erzählung tragen.

Betont zurückhaltend baut Hori die Welt einer Beziehung auf, die, wären die Protagonisten gesund, nur ein Aufeinanderzustreben kennen würde, doch fühlt der Erzählende seine Liebe im Verlauf immer mehr entfliehen. Im Wissen um das baldige Ende versucht der Protagonist die gemeinsame Zeit festzuhalten und kann doch dem Schicksal nicht entkommen.

Sehr poetisch wirkt das zu weilen. Zeile für Zeile verrinnt zwischen den Fingern. Schnell ist man inmitten der Geschichte, fühlt sich als danebenstehender Beobachtende. Der erzählte Zeitraum umfasst dabei nur wenige Monate. Der Autor hat hier einen Spagat zwischen gemächlich wirkender Sprache und doch schnellem Erzähltempo geschaffen. Der Titel alleine lässt bereits zu Beginn den Ausgang erahnen.

Neben der Ausarbeitung der Protgaonisten, von denen man nur das Notwendige erfährt, liegt die Stärke der Novelle vor allem in Orts- und Landschaftsbeschreibungen, die sofort Bilder im Kopf entstehen lassen. Auch ein Fenster in die Gefühlswelt der sonst so zurückhalenden Japaner wird geöffnet, das bereits in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, was an sich schon hervorzuheben ist. Zudem bringt der Autor ein Teil seiner eigenen Biografie mit ein, nimmt seinen Weg vorweg.

Der Fokus liegt auf die zwei Hauptfiguren, die klar gezeichnet werden. Andere werden kaum erwähnt. Sie spielen schlicht und einfach fast keine Rolle im Zusammenspiel der Protagonisten, bleiben daher bewusst blass. Beschrieben werden eine Liebe ohne Zukunft, formvollendete Hingabe, Loslassen und Verarbeitung. Ziemlich viel für wenig Seiten, was leicht hätte misslingen können. Alleine, hier funktioniert es. Kein Wort ist zu viel, Auslassungen wurden bewusst gesetzt. Die behutsame Übertragung von Sabine Mangold ins Deutsche hat das Übrige dazu beigetragen, damit die Novelle auch bei uns ihre Wirkung entfalten kann.

Die erzählende Figur weiß von Beginn an um den Ausgang, während das Gegenüber gleichsam zum Symbol, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wird, die einfach nur berührt. Die Erzählung in Form einer Art Tagebuch gehalten, wird dadurch aufgelockert und gewinnt zugleich an Bedeutung. Absätze zwingen einem, dies vergleichsweise langsam zu lesen, ab und an innezuhalten.

Der Aufbau einer persönlichen Katastrophe, die Beschreibung der Unausweichlichkeit ist das, was diese Novelle ausmacht, zudem die Zustandsbeschreibung der Abgeschiedenheit in Angesicht des Todes. Das kann nur berühren, zudem wenn man um die Geschichte des Autoren weiß, der selbst an Tuberkulose litt, jedoch aus der Position der Angehörigen heraus schrieb. Beinahe so, als wollte Hori etwas Tröstendes hinterlassen.

Sehr poetisch werden Bilder aufgebaut, die einem so schnell nicht mehr loslassen. Diesen Stil muss man mögen, eröffnet jedoch einen Blick in diese damals doch sehr geschlossen wirkende Gesellschaft Japans. Die beschriebene Zurückhaltung funktioniert in diesem Setting sehr gut, wäre verbunden mit anderen Ortsbeschreibungen nicht ganz so glaubwürdig. Die charakterliche Stärke beider Protagonisten tut ihr übriges dazu bei.

Nur ein paar kleine Szenen brechen den Lesefluss und wirken so, als hätte der Autor zwischendrin noch das Gefühl gehabt, noch ein paar Zeilen mehr füllen zu müssen. Das ist jedoch Jammern auf hohem Niveau. Nichts destotrotz kann ich jedem empfehlen, ein paar Stunden mit dieser schönen Novelle, die wohl auch als Anime verfilmt wurde, zu verbringen.

Autor:

Tatsuo Hori wurde 1904 in Tokio geboren und war ein japanischer Übersetzer und Schriftsteller. Zunächst studierte er Japanische Literatur, verfasste während seines Studiums Übersetzungen französischer Dichten und schrieb für die Literaturzeitschrift Roba. 1930 erhielt Hori Anerkennung für seine Kurzgeschichte Sei kazoku (wörtlich “Die heilige Familie”) und ließ eine Riehe von Novellen und Gedichten folgen, die sich oft mit dem Tod beschäftigten. Später erkrankte er an Tuberkulose. Diese Erfahrung verarbeitete er in einer weiteren Geschichte. Er starb 1953 in Tokio.

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Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Inhalt:

Ein Sommer in der Normandie, in den 1980er Jahren. Der zehnjährige Erzähler verbringt die Ferien mit seiner Großmutter am Meer. Er ist noch in diesem Zustand der Kindheit, wo man alles intensiv erlebt, wo man noch nicht genau weiß, wer man ist oder wo der eigene Körper beginnt, wo eine Ameiseninvasion der Erklärung eines Kriegs gleichkommt, den man mit all seinen Kräften wird führen müssen. Eines Tages trifft er einen anderen Jungen am Strand, der ihm die Freundschaft anbietet, eine Freundschaft, die auf einem Ungleichgewicht beruht. Denn Baptiste ist ein »richtiger Junge«, hat eine »richtige Familie« – für den Erzähler der Inbegriff eines Glücks, das er dort erstmals findet und das er in jedem Moment wieder zu verlieren fürchtet.

Seine geliebte Großmutter, die den Holocaust überlebte und deren Schtetl-Akzent ihn vor den anderen Familien am Strand mit Scham erfüllt, und seine verhasste »monströse« Tante bedeuten für ihn zugleich widerwillige Geborgenheit und die beständige Gegenwart einer Vergangenheit, deren Trauma auf seinen Schultern liegt.

In so gefühlvoller wie genauer Sprache erzählt Hugo Lindenberg diesen Roman in einer Reihe von Szenen des Sommers, der Stille, des Lichts, der Begegnungen, in einer Stimmung sich dem Ende zuneigender Sommerferien und doch durchzogen von einer Unheimlichkeit und Bewegungslosigkeit, die unter die Haut gehen. (Inhalt lt. Verlag)

Rezension:

Es ist ein unbestimmtes, nicht zu erklärendes und doch alles beschreibende Gefühl im Inneren, welches der Junge besitzt, welches ihm besitzt und mit ihm unzähliger Nachfahren von jenen, die dem Schrecken nicht entkamen. Warum lebe ich? Warum haben es andere Linien meiner Familie nicht geschafft, konnten den Unheil nicht entkommen?

In der Psychologie spricht man da vom transgenerationalem Trauma, szenischem Erinnern, welches selbst jene erfasst, die die unmittelbaren Schläge aufgrund schon des Abstands zur Historie nicht erlebt haben können. Eine von vielen Problemstellungen, mit denen die Nachfahren Holocaust-Überlebender zu kämpfen haben. Was schon in der Theorie schwierig ist, zu erfassen, hat der französische Autor Hugo Lindenberg in eine Erzählung zu gießen versucht. Dabei herausgekommen ist ein erdrückender und zugleich berührender Debütroman.

Dieser wird aus der Sicht des Protagonisten erzählt, einen namenlosen Jungen, der seine Ferien am Strand verbringt, bei seiner Großmutter und Tante, jedoch zumeist sich selbst überlassen. Dort beobachtet er die Menschen, die ihn umgeben. Familien faszinieren ihn und er stellt sich vor, ein Teil von ihnen zu sein. Vollständige Familien sind für ihn, der das nicht hat, Inbegriff des Glücks und so denkt er sich in die Leben anderer hinein, bleibt dennoch unsichtbar.

Seit meiner Ankunft, eigentlich serit immer schon habe ich mit meiner Großmutter mit niemandem geredet.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Ein Junge, der keine Stimme findet, wie soll er auch, wird kaum auch von anderen bemerkt. Bis auf einem, der das Spiel unterbricht. Zusammen töten beide Quallen am Strand. Der Junge aber beginnt einen Sommer lang zu leben.

Nichts ist mir fremder als Jungen in meinem Alter.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Sätze, die sich in die Netzhaut einbrennen, sind es, die der Autor gekonnt setzt, um seine Geschichte und die unzähliger Menschen zu erzählen. Selten wurde Leere so schön beschrieben, doch erreichen die Worte hier auch die Lesenden. Können sie auch nicht anders, doch diese Traurigkeit, Melancholie, die im nächsten Moment in die Unsicherheit des Jungen zu kippen droht, muss man aushalten können. Da die Gefühlswelt für diesen kaum zu beschreiben ist, verlegt er sich aufs Sachliche und versucht doch eine Normalität zu erreichen, die ihm nicht gegeben ist.

Ich muss mich konzentrieren, damit man mir meine Aufregung nicht anmerkt, damit ich wie ein kleiner Junge wirke, der Zärtlichkeit gewohnt ist.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Der kleine Protagonist gewinnt so, mit zunehmender Seitenzahl an Ecken und Kanten, derer viele. Die sich aufbauende Jungenfreundschaft symbolisiert das Durchbrechen. Es scheint, als wäre gefühlsmäßig zum ersten Mal für den Jungen etwas greifbar. Die Angst, das zu verlieren, schimmert Zeile für Zeile durch. Leuchtet hell.

Beschrieben wird ein unbestimmter Zeitraum von wenigen Tagen bis ein paar Wochen. Genauer wird es nicht, ist auch nicht wichtig, in der Kindheit verläuft die Wahrnehmung von Zeit ohnehin anders. Dieses Gefühl wiederzugeben ist Hugo Lindenberg gelungen, wie auch der Aufbau der anderen Figuren, von denen nur zwei, die der Großmutter und der Tante, Konturen bekommen. Sie umkreisen den Jungen, sind nah und doch so fern. Baptiste ist hingegen das, was der Junge sich wünscht, der seinerseits die Ferienbekanntschaft ebenso faszinierend findet.

Der Gegensatz ist folglich keine Gegenüberstellung aus Gut und Böse, eher unterschiedlicher Vorstellung von Leben. Was wäre, wenn? Was ist mit mir? Was mit meiner Familie? Große Fragen, versammelt in diesem sehr kompakt gehaltenen Roman. Kein Wort ist hier zu viel.

Der kleine Hauptprotagonist lässt uns seinen Gedanken folgen. Gesprochene Sätze fallen auf, da sie so rar gesät sind. Wie Nadelstiche oder Sandkörner auf der Haut fühlt sich das an. Nach und nach enthüllt sich die Traurigkeit der Hauptfigur, die nur in Rollen lebt, die sie zu spielen zu müssen meint. Was aber genau macht das mit einem? Diese Frage seziert der Autor und lässt sie den Jungen ergründen. Oberflächlich passiert nicht viel. Aus Kindersicht um so mehr. Zu viel für die schmalen Schultern der Hauptfigur?

Normalerweise fragten die anderen, wo ist denn deine Mutter, und ich wusste, dass sie es wussten, abver sie wollten den Tod hören, wegen dem Nervenkitzel. […] Sie blieben, solange der Nervenkitzel anhielt, dann wandten sie sich leicht angeekelt ab.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Nur in Bruchstücken erfährt man Hintergründe, wie auch der Junge nur lose Fetzen Erinnerungsstücke festhält. Der Vater abwesend, keine Mutter mehr vorhanden und die ihn direkt umgebenden Erwachsenen haben ja auch keine Worte. Für ihn, das Kind, ohnehin nicht. Der Protagonist ahnt nur, weshalb er leidet.

Ich kenne meine Rolle genau. Zehn Jahre alt, hasenzähne, große schwarze Locken und lange Wimpern, Sommersprossen auf der Nase, ziemlich schüchtern, brave Kleider, einen kleinen Strauß Magnolien in der Hand. Ich bin das Leben.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

In beinahe poetischer, dann wieder ins Nüchterne wechselnde Sprache hat Hugo Lindenberg diese Erzählung, gleichsam eine Novelle aufgebaut, die einem auch nach Umblättern der letzten Seite kaum loslassen wird. Zunächst wird man hineingesogen in die Geschichte, spürt den Sand unter die Zehen knirschen, den Lärm der Umgebung, der ausgeblendet wird, wenn sich der Protagonist fokussiert. Mit dieser Dichte die hintergründige Thematik veranschaulicht zu bekommen, ist selten in dieser Form zu lesen.

Dieses Bild von mir würde ich nicht mehr loswerden, das wusste ich. Und tatsächlich bin ich es bis heute nicht losgeworden.

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Sowohl sprachlich, damit ist nicht gemeint, dass man praktisch jeden zweiten Satz sich anstreichen und herausschreiben möchte, als auch erzählerisch zieht einem die Lektüre hinein und wirft die Lesenden dann um. Heftiger kann eine ruhige Erzählung kaum wirken. Nur im ersten Moment meint man eine Coming of Age Geschichte vor sich zu haben, doch entdeckt darunter noch so viel mehr. Sachbücher gibt es wohl einige, die sich mit dem Übertragen von Traumata in die nachfolgenden Generationen beschäftigen. In Romanform ist zumindest mir dies so noch nicht untergekommen.

Von der sich dadurch umgebenden Heftigkeit sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen. Es ist ja gerade dadurch auch eine wunderbare Lektüre. Hier ist Hugo Lindenberg ein tolles Debüt gelungen, auf Grundlage dessen, was sich in vielen Familiengeschichten wieder findet. Ungesagtem eine Stimme zu geben, hat hier wunderbar funktioniert.

Eine absolute Lese-Empfehlung.

Autor:
Hugo Lindenberg wurde 1978 gebopren und ist ein französischer Journalist. “Eines Tages wird es leer sein”, iost sein erster Roman, der bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Der Autor lebt in Paris.

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E. T. A. Hoffmann: Meister Floh

Inhalt:

E. T. A. Hoffmann hat seinen Meister Floh unter der bedrohlichen Metternich-Zensur in seinem Todesjahr 1822 veröffentlicht. Die sieben verwickelten Abenteuer, in denen der Herr Peregrinus Tyß “manches Seltsame in und an sich trug” und aberwitzige, groteske Erlebnisse hat, sind in der “berühmten schönen Stadt Frankfurt am Main” angesiedelt. Darin verschmelzen Traum und Märchenrealität auf eine Weise, die die Gestaltungskraft des FAUST-Zeichners Alexander Pavlenko befeuerte. (Klappentext)

Rezension:

Klassiker neu herauszugeben, unterliegen der Schwierigkeit, dass man zunächst sich einmal den historischen Kontext ihrer Entstehungszeit ins Gedächtnis rufen muss, damit sie überhaupt noch funktionieren und eine Übertragung ins Heute funktioniert. Nicht anders ist es mit Hoffmanns Erzählung “Meister Floh”, die dieser nach der Niederlage gegen Napoleon zur Zeit der Restauration zwischen politischer Satire und Kunstmärchen angesiedelt hat.

Der Autor entführt uns nach Frankfurt am Main, wo unser Hauptprotagonist durch wundersame Ereignisse in eine Geschichte gerät, in der nicht mehr klar zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden ist, menschliche Charakterzüge ebenso aufs Korn genommen werden, wie der Versuch staatlicher Kontrolle, dargestellt durch ein mikroskopisches Glas, dessen Träger damit die wirklichen Gedanken seiner Gegenüber wissen lässt. Daraus entspinnt sich eine wundersame Erzählung in sieben Teilen, welche nicht nur ein politisches Großereignis jener Tage in den Fokus rückt, wenn auch verdeckt, ansonsten jedoch kaum zu greifen ist.

Wie angedeutet, nicht einmal das Genre ist auf dem ersten Blick klar umrissen, was es mitsamt der für uns heute ungewöhnlichen Sprache schwer macht, da hinein zu finden. Der Stil ist gewöhnungsbedürfig, wenn auch einzelne Abschnitte sehr klar wirken. Doch beschleicht beim Lesen einem das Gefühl, dass die Kapitel sehr willkürlich angeordnet sind. Einen einzelnen Tausch würde man kaum merken, so auch die Protagonisten anfangs ähnlich schwer zu greifen sind. Unklar umrissene Übergänge zwischen einzelnen Szenarien, sowie Auslassungen, die heute in moderner Prosa so wohl kaum gemacht werden würden, tragen das Übrige dazu bei.

Der reale Teil ist klar in der Zeit der letzten Lebensjahre des Autoren angesiedelt, als man diesen in einen innenpolitischen Konflikt hineinbugsieren wollte, so weist auch die Handlung einiger Kapitel nicht nur Namensähnlichkeiten in Bezug auf einzelne Protagonisten auf, durfte daher zunächst auch nur zensiert erscheinen. Der mrächenhafte Anteil in Gestalt des Oberhauptes der Flöhe, der dem Hautprotagonisten Zugang zu den tatsächlichen Ansichten seiner Gegenüber verschafft, stellt das ergänzende Element.

Nicht klar zunächst, die Positionen der einzelnen Figuren, geht es doch auch um menschliche Eigenschaften, von denen wir alle gute und weniger gute in uns tragen. Wie diese zu werten sind, ist Sache der Interpretation. Und diese fällt je nach zeitlichen Abstand oder Position von einem selbst unterschiedlich aus. Gerade das macht die Geschichte heute kaum greifen. Längen, die sicherlich damals nicht als solche empfunden wurden, fallen heute allzu sehr auf und machen ein Mitfühlen mit den Figuren mehr als schwer. In jede Richtung. Da nützen dann auch einzelne sprachlich immer noch sehr schöne Elemente wenig.

Immerhin, unterschiedliche Perspektiven bringen dann doch einen gewissen Wechsel, damit eine funktionierende Dynamik in die Erzählung, wenn auch die anstrengend zu lesen sind. Wer ist schon nach einem Monolog sofort aufnahmefähig für den nächsten? Hier wird Lesenden sehr viel Geduld abverlangt, die wahrscheinlich in Zeiten immer kürzerer Aufmerksamkeitsspannen nicht mehr vorhanden ist. Das geht dann auch auf Kosten des Verständnisses, zumal der Schreibstil damals funktioniert haben mag. Die Erzählung heute so geschrieben, funktioniert einfach nicht mehr mit der gleichen Wirkung.

Wer sich mit dem historischen Kontext ein wenig beschäftigt, wird die Erzählung mit mehr Gewinn lesen. Anderenfalls wird es schwierig, Zugang zu finden. Funktioniert haben die Verarbeitung von Denunziation und Kontrolle, auch mit diesem Wissen, die Anlehnung an damals geschehene politische Ereignisse. Die Umsetzung jedoch wirkt mehr als anstrengend, zudem Geduld und Vorstellungsvermögen arg auf die Probe gestellt werden. Die Antenne sollte man schon haben. Oder man liest es als geschichte eines durch eines Flohbisses in den Wahnsinn Getriebenen.

Um das Repertoire an klassischer Literatur zu erweitern, lohnt sich die Lektüre, aber auch um sich vor Augen zu führen, wie damals mit politischer Zensur und Kontrolle umgegangen, diese verarbeitet wurde. In Bezug dazu könnte man die Geschichte auch als Mahnmal dessen lesen, was uns blüht, wenn wir nicht aufpassen. Rein um des Lesegenusses wegen, geht dabei jedoch leider heute viel verloren.

Autor:

E. T. A. Hoffmann wurde 1776 geboren und war Komponist, Künstler und Schriftsteller. Nach einem Jura-Studium in Königsberg ging er 1798 an das Berliner Kammergericht, arbeitete ab 1800 in Posen, Plock (Weichsel) und Warschau. Danach wirkte er als Kapellmeister in Bamberg, 1814 als Mitglied des Kammergerichts Teil der Zensurbehörde. In mehreren Geschichten verarbeitete er diese Doppelexistenz. “Meister Floh” ist seine letzte Erzählung, bevor er 1822 starb.

Illustrationen:

Alexander Pavleno ist ein deutsch-russischer Illustrator und Trickfilmzeichner. 1963 in Rjasan, Sowjetunion geboren, studierte er dort und in Moskau Kunst, Geschichte und Animation, nevor er für diverse Filmstudios und Medienunternehmen arbeitete. Seit 1992 lebt er in Deutschland. Seine Comics wurden in zahlreichen ländern publiziert. Für “Meister Floh” von E. T. A. Hoffmann bediente er sich der Scherenschnitttechnik.

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Claudia Eilles: Einstweilen ertrunken

Inhalt:

“Die können dir helfen.” Ein freundlicher, ein harmloser, ein verheerender Satz. Ein Trojanisches Pferd. Im Inneren klebrige Krieger, deren Auftrag darin besteht, deine Würde zu zersetzen.

Schulden, Affären und die Folgen eines Kletterunfalls. Carlo, einst kreativer Werbetexter und Lebenskünstler, steckt in einer Krise. Dort, im Basislager der Neurotiker, betäubt er seine Ängste mit Alkohol, bis der Anruf eines internationalen Unternehmens die Wende verspricht: Geld, erfolg, die Chance auf ein neues Leben.’

Und während carlo im täglichen Irrsinn einer Großstadt um den auftrag kämpft, bahnt sich eine wandlung an. in der Beziehung zu seiner besten Freundin Sue. Vor allem aber in ihm selbst. Am Ende steht er vor einer Entscheidung. Und vor der Frage: Wer will er sein?
(Klappentext)

Rezension:

Was macht man, nachdem man sich aus einer Welt des Dazwischen herausgekämpft hat? Wie funktioniert das überhaupt? Carlo ist gerade dabei, den für sich richtigen Weg zu suchen und sich für eine Richtung zu entscheiden. Noch liegt er am Boden, versucht gerade wieder aufzustehen. Was macht das also mit einem? Von dieser Phase handelt das Romandebüt von Claudia Eilles.

Die vorliegende Erzählung erzählt sehr kompakt von dem, was sich in unserem Inneren abspielt, wenn wir mögliche Auswege aus einer Krise suchen, von dem Moment, an dem wir uns entscheiden, wenigstens zu versuchen, der Ausweglosigkeit zu entkommen. Innerhalb sehr kompakt wirkender Kapitel begleiten wir den Protagonisten, der zu Beginn nicht wirklich weiß, wie es weitergehen soll als er vor den Trümmern seines Lebens steht. Wieder zurück in Altbekanntes? Die Chance bietet sich, als er in das Auswahlverfahren eines globalen Konzerns gerät. Oder doch etwas ganz anderes? Nur, was ist das genau?

Schritt für Schritt baut die Autorin das Szenario auf. Der Protagonist bekommt nach und nach seine Konturen. Dabei hilft, dass die Umgebung verhältnismäßig blass gezeichnet wirkt, zudem sich Claudia Eilles auf ein überschaubares Figurenensemble beschränkt. Der Fokus selbst liegt auf Carlo. Ihn mag man für seine Schwächen, für die Konsequenzen, die er daraus ziehen wird am Ende der Handlung. Nicht zuletzt, da das Gegenüber, was der Protagonist einmal selbst gewesen ist und ihm droht, wieder werden zu können, schnell klar ist. Auch dieser Antagonist ist sehr stark formuliert. Wird Carlo dem widerstehen können?

Kaum ein Wort ist überflüssig. Sehr kompakt beschreibt Claudia Eilles die wenigen Wochen, die hier erzählt werden, in denen alles zusammenkommt. Und auch, wie schnell sich Leben eben ändern können. Mit feiner Nadel ist das gestrickt, nicht immer ganz einfach zu lesen. Zuweilen nervig. Man möchte den Protagonisten schütteln, der um die notwendigen Konsequenzen fürchtet, aber im Innersten schon zu Beginn weiß, dass sich etwas ändern muss.

Das Szenario, in das sich der Protagonist hineinzubewegen droht, ist dass der Unternehmensberatung, wo mit Worten und Versprechungen viel Geld gemacht werden, die zum überwiegenden Teil nur aus leeren Hülsen bestehen, woraus aber ein erbitterter Kampf gemacht werden kann. Ansätze davon kennen womöglich alle, die auch nur einmal Kommunikationsschulungen oder irgendwelche Vorstellungsspielchen über sich ergehen haben lassen müssen. Die Zahl derer, die so etwas mögen, dürfte überschaubar sein. Dies und die wenigen Figuren, allem voran Carlo, sind es, die die Geschichte bestimmen. Mehr braucht es nicht. Mehr wäre zu viel.

Die Erzählperspektive wechselt nur absatzweise, nur am Ende dann noch etwas prägnanter. Ansonsten folgen wir dem Hauptprotagonisten von Herbst bis Jahresende. Kalenderdaten bilden die Kapitelüberschriften. Mehr wäre kitschig. Der Roman wirkt in sich schlüssig, hat jedoch einige Längen. Entweder ist das ein Kunstgriff, der die Sinnsuche verdeutlichen soll oder einfach der Punkt, an dem man der Autorin ihr Schreibdebüt anmerkt. Kann man sich aussuchen, wobei es manchmal schon arg an Vorabendfilm und Telenovela vorbeischrammt. Nur ist der Protagonist eben männlich.

Carlo legt die Bruchstücke, die Anfang fehlen, um Zugang zur Figur zu finden, selbst offen. Immer mehr erfahren wir von seinen Hintergründen. Um so klarer das Bild der Vergangenheit, um so fester umrissen wird der Weg, für den der Protagonist sich wohl entscheiden wird. Mit zunehmender Zeilenanzahl weiß man rein intuitiv, worauf das ganze hinauslaufen wird. Nur um dann vor einem halboffenen Ende zu stehen. Vielleicht ist das aber besser so. Immer ein guter Kniff, um Kitsch zu vermeiden.

Insgesamt kann man sich das alles gut vorstellen. Die wenigen Figuren sind klar gezeichnet, die Hauptfiguren mit etwas mehr Ecken und Kanten, hier würde auch der Begriff Dellen passen. Die Schausplätze sind mal aalglatt, mal stehen sie sinnbildlich für den Niedergang. Alles könnte tatsächlich so oder so ähnlich passieren. Das macht die Eindrücklichkeit der Erzählung aus. Doch so wie “Einstweilen ertrunken” eine Geschichte des Dazwischen ist, ist auch das Lesen des Romans selbst. Etwas Futter für Zwischendurch. Nicht besonders anspruchsvoll, man hat das schnell wieder vergessen, aber weit weg von Zeitverschwendung ist es eben auch.

Interessant wäre hier, und das kann ich nicht beantworten, wie die Erzählung wirken würde, wäre man selbst schon einmal so tief im Schlamm versunken, in den Abgrund hinein gefallen? Bekommt der Roman dann einen ganz anderen Dreh? Oder sollte man den Text dann lieber gar nicht lesen. Weil er da vielleicht um so heftiger wirkt? Das müssen andere beantworten.

Was mich beeindruckt hat, ist dann auch eher einer der Szenarien, die beschriebene Welt der Kommunikationsunternehmen, wie oben erwähnt, in denen aus Nichts Gold gemacht wird. Ein hartes Geschäft des Scheins, welches um seiner selbst Willen existiert, aber real kaum einen Nutzen für jene bringt, denen es Nutzen suggeriert. Hier merkt man den praktischen Hintergrund der Autorin an. Sie führt übrigens eine Praxis für Konfliktmanagement und Coaching.

Autorin:

Claudia Eilles ist promovierte Psychologin und führt eine Praxis für Coaching und Konfliktmanagement in Frankfurt/Main. Sie ist Autorin mehrerer Artikel und Kolumnen und hat bereits mehrfach an psychologischen Fachbüchern mitgearbeitet. 2018 erschien ein Sachbuch im Campus-Verlag, “Einstweilen ertrunken”, ist ihr erster Roman.

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Stefan von der Lahr: Bariello & Montebello 3 – Dämonen im Vatikan

Inhalt:

Mitunter ist man im Vatikan der himmlischen Ruhe näher, als einem lieb ist. Diese Erfahrung macht auch das Ermittlerduo Commissario Bariello und Weihbischof Montebello in seinem dritten Fall: Als die Archäologie geheiligte Glaubensgrundsätze zu erschüttern droht, ruft sie Verteidiger auf den Plan, die vor nichts zurückschrecken. In einem Nebel aus Lügen, Intrigen und rätselhaften Todesfällen scheint ein unseliges Machtkartell auf dem Weg zum ewigen Heil sehr irdische Interessen zu verfolgen. Hinter den Mauern des Vatikans ist bald schon niemand mehr sicher. (Klappentext)

Einordnung in der Reihe:

Stefan von der Lahr: Bariello & Montebello 1 – Das Grab der Jungfrau
Stefan von der Lahr: Bariello & Montebello 2 – Hochamt in Neapel
Stefan von der Lahr: Bariello & Montebello 3 – Dämonen im Vatikan

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Rezension:

Selbst Rom kann sehr kalt sein. Dennoch ist Commissario Bariello überrascht, als er zu einem Toten gerufen wird, der offenbar erfroren ist. Wie das im Hochsommer möglich ist, ist zunächst völlig unklar, ebenso, was es mit den Dämonen auf sich hat, die das Opfer, ein Priester und Redakteur des Osservatore Romano zuvor zu sehen geglaubt hatte.

Vor einem ganz anderen Rätsel steht indes Montebello, der Weihbischof von Neapel, der in einer einzigartigen Ausgabe der Legenda Aurea, einst das meistgelesene Buch des Mittelalters, Zeichnungen entdeckt, die die Grundfeste der katholischen Kirche erschüttern könnten. Beide Nachforschungen stören schnell offenbar gleichermaßen die Interessen von Wirtschaftspotentaten und Kirchenfürsten. Sehr schnell häufen sich die Todesfälle. Innerhalb der Mauern des Vatikans ist bald niemand mehr sicher.

Dass das Machtzentrum der katholischen Welt sich für packende Geschichten förmlich anbietet, dürfte spätestens mit den Veröffentlichungen von dan Brown oder etwa Robert Harris jedem bewusst sein. Auch im Verlag C. H. Beck, der jetzt nicht gerade für packende Krimis bekannt ist, die gehören normalerweise nicht zum Verlagsprogramm, ist eine derart und doch sehr besonders angelegte Reihe zu finden, die es in sich hat. Vorausgeschickt, die vorangestellten Bände sind mir noch unbekannt, und so habe ich den dritten sozusagen als Stand Alone ohne Vorwissen mir zu Gemüte geführt. Das funktioniert mit Kriminalromane recht gut und auch hier wurde ich nicht enttäuscht, konnte ohne Probleme in die Geschichte eintauchen.

Stefan von der Lahr hat hier nur wenige Seiten benötigt, um die Vorgeschichte aufzubauen, die für einen Kriminalroman zunächst relativ unscheinbar beginnt, gleichwohl man ahnt, dass mit wenigen Sätzen eine Dynamik angelegt wird, derer man sich lesend kaum entziehen wird können. Schnell gewinnt die Geschichte an Tempo. Vielleicht muss man, wer jetzt nicht häufig mit südländischen Namen in Berührung und von kirchlichen Hierarchien keine Ahnung hat, das eine oder andere Mal innehalten, aber das gibt sich schnell. Genau so wie die Perspektivwechsel der sehr kompakt angelegten Kapitel, die ihren Anteil zur Dynamik beitragen.

Interessant ist, das wird mit den vorangegangenen Bänden nicht anders sein, die Figurenkonstellation, durch die zunächst getrennte Ansätze in der Ermittlung durchgeführt, jedoch sehr schnell zusammengeführt werden müssen. Diese unterschiedlichen Sichtweisen des Ermittler-Duos, diese Perspektiven werden spannend dargestellt, was jedoch dem Autoren nicht genügt. So hat von der Lahr auch die Sichtweisen der Gegenspieler eingewoben, ohne sich in der Vielzahl der Handlungsstränge zu verlieren. Der Autor behält den Überblick bis zuletzt, den sich die Lesenden zusammen mit den beiden sympathischen Protagonisten Bariello und Montebello erst schaffen müssen.

Beide Charaktere sind gut ausgestaltet, wozu man jetzt keine Vorkenntnisse aus den vorherigen Bänden haben muss, wenn auch Anspielungen natürlich vorhanden sind. Die sind dann durch Fußnoten gekennzeichnet. Nicht nur daran erkennt man übrigens, die Nähe des Autoren zum Verlagshaus. Das dem Roman zugrunde liegende Recherchematerial, welches zur Konstruktion des Szenarios verwendet wurde, wird ebenso aufgelistet, wie verschiedene Begriffe innerhalb eines Glossars und richtig gut, ein Personenverzeichnis. Könnte dies bitte jeder Roman oder Krimi bekommen? Es erleichtert wirklich das Behalten des Überblicks ungemein.

Mit diesen Aspekten versehen liegt hier eine sehr spannende und schlüssige Erzählung vor, in der penibel darauf geachtet wurde, keine sichtbaren Logikfehler aufkommen zu lassen. Um dies so auszugestalten braucht es die für das Genre doch im Vergleich zu anderen Werken relativ hohe Seitenzahl. Keine Zeile ist überflüssig, jedes Wort ist notwendig und keines zu viel. Auch das trägt zur Spannung bei, wie auch zahlreiche Wendungen, die vor allem in der Zahl der den Handlungssträngen zu Opfer fallenden begründet liegen. Gefühlt zumindest stirbt ständig jemand. Ob das wirklich so ist, ist es wert, das selbst herauszufinden.

Stefan von der Lahr schafft es damit, die Lesenden in diese sehr eigentümliche Welt, in der nicht nur religiöse Interessen verfolgt werden, hinein zu ziehen. Fast meint man, die Abläufe hinter den Mauern des Vatikans sich genau so vorstellen zu können. Das ist dann auch irgendwie bezeichnend für die reale Instution. Den Weg der Auflösung des Falls und die Zusammenhänge zu ergründen, ist ungeheuer spannend, nicht nur für Fans der an solch besonderen Orten spielenden Geschichten, die natürlich für eine sehr eigene Atmosphäre sorgen.

Auch Lesende klassischer Krimis mit einem einnehmenden Ermittler-Duo im Vordergrund kommen auf ihre Kosten. Wer dazu noch schon Gelegenheit hatte, einmal die italienische Hauptstadt und den Vatikan selbst zu besuchen, für dem ist das entstehende Kopfkino perfekt. Ob man wohl mit diesem Krimi in der Tasche eingelassen werden würde?

Nochmal zu den Vorkenntnissen, weder religiöse noch zu den vorangegangenen Bänden muss man welche haben. Unklarheiten werden durch die Figuren selbst beseitigt. Die Lust, Buch 1 und 2 zu lesen, ergibt sich ohnehin durch die Lektüre. Und das muss ein dritter Band auch erst mal schaffen. Es lohnt sich sicherlich und es bleibt zu hoffen, dass mögliche Nachfolge-Bände genau so packend sein werden. Der Spurensuche Bariellos und Montebellos folgt man nämlich gern.

Autor:

Stefan von der Lahr ist promovierter Altertumswissenschaftler und arbeitet seit dreißig Jahren bei C. H. Beck.

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